Читать книгу Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell - Страница 9

2002

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Edda: Die private Abschlussfeier war wirklich super. Unsere ganze Klasse feierte, zusammen mit anderen Freunden, Geschwistern und Bekannten, außerdem war die 13b mit von der Partie, ebenso deren Freunde, Bekannte und Geschwister. Die Stim-

mung war ausgelassen, alle waren lustig drauf und verspürten dieses erleichternde Gefühl, es endlich, endlich geschafft zu haben.

Die Aufregung, die alle empfanden, war ebenfalls deutlich wahrnehmbar. Da waren tausend Wege, tausend neue Möglichkeiten, und auch wenn manche schon ganz genau wussten, welchen Weg sie einschlagen wollten, so ganz genau wusste keiner, was die Zukunft bringen, was ihn erwarten würde.

Ich tanzte eng umschlungen mit Timo zu romantischem Kuschelrock, hüpfte ausgelassen mit Kim und zwei weiteren Freundinnen, Patricia und Melanie, zu poppigen Countrysongs im Kreis herum und ließ mich einfach treiben ‒ von der Musik, der Stimmung, von dem Gefühl purer Freiheit. In dieser Nacht empfand ich reine, ungetrübte Lebensfreude.

„So sollte sich das Leben anfühlen“, dachte ich, als Timo mir einen pinkfarbenen Cocktail mit Schirmchen in die Hand drückte und meine Hand nahm. Das Prickeln auf der Haut, das Kribbeln im Kopf und der Drang, laut schreien zu wollen vor Glück. Ich nuckelte mit Hingabe an meinem Strohhalm, saugte das köstliche, fruchtige Getränk auf und lachte über irgendeinen Witz, den der Freund von Kim, Bastian, riss.

Timo legte den Arm um mich und trank einen Schluck Bier. „Bist du glücklich?“, raunte er mir ins Ohr.

Ich wandte mich ihm zu, legte eine Hand auf seine Wange und gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. „Ich glaube, so glücklich war ich noch nie“, teilte ich ihm mit, korrigierte mich aber gleich darauf. „Oder doch, warte ... an dem Tag, an dem du mein Freund wurdest. Da war ich noch glücklicher als jetzt.“ Ich sah ihm in die Augen und beobachtete, wie sie vor Freude aufblitzten.

„Das war auch der schönste Tag meines Lebens“, ließ er mich wissen und küsste mich auf den Scheitel. „Ich liebe dich, Edda.“

„Und ich liebe dich, Timo“, sagte ich und hatte in meinem Leben noch nie etwas so ernst gemeint. „Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt.“

Ich stellte meinen halb vollen Drink ab, warf ihm die Arme um den Hals und begann, ihn zu küssen. Er erwiderte den Kuss inbrünstig, leidenschaftlich und voller Verlangen. Ich musste lächeln.

Timo spürte das natürlich, ließ kurz von mir ab und sah mich fragend an. „Was?“

„Ach, nichts.“ Ich zog seinen Kopf wieder zu mir herab. „Ich musste nur gerade daran denken, was für ein unglaubliches Glück ich mit dir habe.“

Da lächelte auch er, hob mich hoch und wirbelte mich herum. „Und ich hab mit dir unverschämtes Glück“, verkündete er, während er mir durch die rote Mähne fuhr. „Du bist nämlich das schönste Mädchen auf dem Planeten mit einem goldenen Herzen und einem Hammercharakter. Ich liebe einfach alles an dir.“

Oh, er war so süß, mein Timo. Ich war wirklich froh und dankbar, dass ich ihn gefunden hatte, dass er mich und keine andere liebte. Ich wusste nicht, womit ich ihn verdient hatte, aber ich würde alles tun, um ihn zu halten, um für immer mit ihm zusammen zu sein. Der Gedanke, jemals ohne ihn zu sein, war unerträglich für mich. Er war meine große Liebe, daran zweifelte ich keine Sekunde. Und wenn man mit 18 seine große Liebe gefunden hatte, war das wirklich großartig. Man konnte sich die ganze Sucherei sparen, musste keine Panik schieben, dass man nie den Partner fürs Leben finden würde, musste nicht auf Ü-30-Partys gehen und sich mit Leuten herumschlagen, die an ihrem Expartner hingen, betrogen oder sonst irgendwie geschädigt worden waren. Sehr angenehm. Ich war mir sicher, dass Timo und ich irgendwann mal heiraten und entzückende Kinder kriegen würden, mit seinen zerzausten blonden Locken und meinen großen blauen Augen. Wie Engelchen würden sie aussehen, unsere Goldschätze.

In dieser Zukunftsversion gefangen, grinste ich völlig grenzdebil vor mich hin, kuschelte mich eng an Timo und schloss genießerisch die Augen, atmete seinen vertrauten männlichen Duft ein und konnte mir nicht vorstellen, dass es auf der ganzen Welt einen schöneren Platz gab als diesen hier. Stirn an Stirn wiegten wir uns zu einem besonders romantischen Song von Whitney Houston, danach lief Thriller von Michael Jackson und wir tanzten und grölten lautstark mit.

Plötzlich war Kim da, fasste nach meinen Händen und wir begannen uns im Kreis zu drehen, immer schneller und schneller, und alles um mich herum verschwamm, mir wurde schwindelig.

Kim kreischte übermütig, wirbelte in einer Pirouette unter meinem Arm hindurch. Ich kicherte, bis ich bemerkte, dass ich das Gleichgewicht verlor. Kims Hände entglitten mir, ich kreischte erschrocken auf, fiel nach hinten um ... und landete wohlbehalten in Timos Armen. Er stellte mich wieder auf die Beine, strich mir eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr und sah mich besorgt an. „Alles okay, Süße?“

„Ja, alles bestens“, keuchte ich und zupfte mein Kleid zurecht.

„Mensch, Kim“, gespielt vorwurfsvoll sah Timo meine beste Freundin an, „mach sie mir nicht kaputt, ich brauch sie noch.“

„Ach, die hält schon was aus.“ Wohlwollend tätschelte Kim ihm die Schulter. „Außerdem hat sie ja dich. Du fängst sie auf, wenn sie fällt.“

„Immer“, antwortete Timo sofort.

Später in dieser Nacht tanzten wir ausgelassen Polonaise, sangen lautstark mit und waren erneut froh, dass die Schülersprecher einen Park gemietet hatten, der weit genug von den Siedlungen entfernt lag, sodass sich niemand durch unsere Party gestört fühlte.

Um halb vier Uhr nachts beschloss ich, dass es für heute genug war. Meine Ohren dröhnten von der lauten Musik, mir war schwummrig von dem vielen Alkohol, den ich getrunken hatte, auch wenn ich zwischendurch immer mal wieder Pausen eingelegt und Wasser geschlürft hatte. Es gab Leute, die in weitaus schlechterer Verfassung waren und geradewegs auf einen Filmriss zusteuerten, das ahnte ich. Eben hatte ich Claudia Sauermann dabei erwischt, wie sie einem Kastanienbaum eine Liebeserklärung machte und der festen Überzeugung war, es handele sich um ihren heimlichen Schwarm Mario, der jedoch in den Büschen mit der Freundin seines besten Freundes rumknutschte.

Jener wiederum hatte wohl dank des Alkoholkonsums festgestellt, dass er eigentlich auf Jungs stand, denn ich hatte ihn vor gut zehn Minuten eng umschlungen mit Leon in einem anderen Gebüsch verschwinden sehen. Schon verrückt, was so alles passierte, wenn man betrunken war ...

Etwas abseits der noch immer feiernden Meute zückte ich mein Handy und rief meine Eltern an. Es handelte sich hierbei um mein allererstes Handy, das ich letztes Jahr zum Geburtstag bekommen hatte und das ganz praktisch war, wenn man hin und wieder von unterwegs aus jemanden anrufen musste. Manchmal schrieb ich auch eine SMS.

Meine Eltern und ich hatten vereinbart, dass ich sie anrufen solle, sobald die Party für mich zu Ende war, egal, wie spät es wäre. Einer von ihnen würde dann kommen, mich abholen und auch Kim, Timo und Bastian nach Hause bringen. In unserer Verfassung war keiner mehr in der Lage, Auto zu fahren.

Nach dem zweiten Klingeln hob Papa ab, er klang hellwach. „Schiller.“

„Hallo Papa“, meldete ich mich.

„Edda! Mensch, ist das schon spät, halb vier ... ist die Party denn vorbei?“

„Paps, ich bin 18“, erinnerte ich ihn und rollte mit den Augen. „Und nein, die Party ist noch nicht vorbei, aber für mich und die anderen schon. Ich muss ja morgen ... äh, heute auch noch essen gehen mit Oma und Opa und euch und so. Da dachte ich, es reicht jetzt.“

„Gute Entscheidung.“ Ich konnte das Bett am anderen Ende der Leitung quietschen hören, als Papa sich eilig erhob. „Pass auf, stellt euch schon mal raus, ja? Ich bin in zwanzig Minuten da und habe keine Lust, noch ewig zu warten. Also seid bitte pünktlich.“

„Ja, Paps, versprochen“, seufzte ich und legte auf. War ich schon mal unpünktlich gewesen? Nein. Ich war sogar immer zu früh da. Fünf Minuten vor der Zeit war die deutsche Pünktlichkeit.

Ich machte mich auf, um meine Freunde zusammenzusammeln, denn im Gegensatz zu mir kamen die immer zu spät. Kim aus Prinzip mindestens fünfzehn Minuten, Timo wegen schlechter Organisation mindestens zehn Minuten und Bastian aufgrund mangelhaften Erinnerungsvermögens mindestens fünfundvierzig Minuten. Man gewöhnte sich dran, immer auf alle warten zu müssen. Ich nahm mir inzwischen schon immer ein Buch mit. Einmal hatte ich wahrhaftig einen halben Roman gelesen, während ich mir die Beine in den Bauch gestanden und auf Kim und Bastian gewartet hatte.

Diese beiden waren in dem Partygetümmel schnell gefunden, nämlich eng umschlungen mitten auf der Tanzfläche und knutschend. Ich drängte mich zu ihnen durch und tippte Kim so lange energisch auf die Schulter, bis sie sich schließlich widerwillig von Bastian löste und mich nicht gerade freundlich ansah. „Was denn?“, wollte sie wissen.

„Mein Vater holt uns in ... fünfzehn Minuten ab“, brüllte ich ihr ins Ohr. „Also seid dann bitte rechtzeitig draußen.“

„Ja, ja.“ Sie winkte lässig ab. „Keine Sorge, Edda.“ Sie wollte ihre Lippen wieder auf Bastians pressen, leider musste ich sie noch mal kurz unterbrechen.

„Habt ihr Timo irgendwo gesehen?“

„Hm?“ Kim schielte ein wenig, konnte nicht mehr klar fokussieren. Ohne Zweifel, meine beste Freundin war hinüber.

„Timo!“, schrie ich sie an. „Meinen Freund Timo. HABT IHR IHN GESEHEN?“

„Aua!“ Sie hielt sich empört die Ohren zu. „Schrei doch nicht so. Nee, keine Ahnung, wo der ist. Schatz, hast du ihn gesehen?“ Sie sah fragend zu Bastian auf, der sie nur verständnislos musterte.

„Wen?“, lallte er.

Oh Mann! Ich vergrub das Gesicht in den Händen.

„Na, Timo. Eddas Freund. Hast du ihn gesehen?“

„Ich weiß, wer Timo ist“, erwiderte Bastian fest.

„Schön. Und weißt du auch, wo er ist?“, brüllte Kim ungeduldig.

„Hm ...“ Er dachte kurz nach. „Hab ihn vorhin mit Hanna aus der Parallelklasse Bier trinken sehen, hatten’s wohl sehr lustig, die beiden. Aber keine Ahnung, wo die hin sind.“

Na, hoffentlich nicht in die Büsche! Ein schmerzhaftes Ziehen machte sich in meiner Brust bemerkbar, die Eifersucht traf mich völlig unerwartet, wie ein Schlag ins Gesicht. Mit Hanna also ... Hanna mit den langen Beinen, dem hüftlangen dunklen Haar und den schönen braunen Augen. Sie war sehr hübsch und sehr beliebt in ihrer Klasse. Aber nur, weil sie mit Timo abhing, musste ich nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Ich vertraute ihm doch. Oder nicht? „Hey, Süße, alles klar?“ Kim sah mich besorgt an und etwas an ihrem Blick verriet mir, dass sie genau wusste, was mit mir los war. Das machte mich stutzig und misstrauisch. Warum wusste sie, dass ich eifersüchtig war? Sah man es mir so deutlich an oder ... gab es einen Grund dafür?

„Sei nicht albern, Edda!“, schalt ich mich selbst. „Timo liebt nur dich. Du kannst ihm vertrauen. Denk an eure gemeinsame Zeit.“ Aber mit einem Mal konnte ich mich nicht mehr beruhigen, ich musste Timo finden, jetzt, sofort, schnell ...

„Hey.“ Kim griff nach meinem Ellenbogen. „Soll ich mitkommen, dir suchen helfen?“

„Nein“, sagte ich brüsk und machte mich von ihr los. Was auch immer Hanna und Timo trieben, falls es zum Äußersten gekommen war, sollte das keiner sehen außer mir.

Ich fragte mich, was auf einmal mit mir los war. Warum nur war ich so misstrauisch, fühlte mich hintergangen? Timo und ich hatten doch einen wundervollen Abend miteinander verbracht, wir hatten Spaß gehabt und einander gesagt, wie sehr wir uns liebten, was war also das Problem?

Das Problem war, dachte ich, während ich mir unsanft einen Weg durch die Menge bahnte und hin und wieder meine Ellenbogen einsetzte, dass Hanna unglaublich gut aussah, dass sie und Timo sich schon immer blendend verstanden hatten und dass ich mir, wann immer ich mit meinem Freund unter Leuten, insbesondere Frauen, war, minderwertig vorkam. Wenn wir beide allein waren oder einen innigen Moment teilten, glaubte ich ihm sofort, dass er nur mich liebte und ich das schönste Mädchen der Welt für ihn war. Doch wenn ich mir die anderen Mädels genauer ansah, wurde mir schnell klar, dass er mich belog. Es gab Hunderte, Tausende, Millionen, ach was, Milliarden von Mädchen, die besser aussahen als ich. Wie sollte ich gegen die jemals ankommen, noch dazu mit roten Haaren und ohne Busen?

„Hey, Edda. Edda!“ Paul aus meiner Klasse stand plötzlich vor mir und umarmte mich.

Das kam ziemlich überraschend, wir hatten während der Schulzeit nie viel miteinander am Hut gehabt. „Es ist schön, dich zu kennen, Edda“, lallte er mir ins Ohr und gab mir einen feuchten Schmatz auf die Wange. Bäh!

„Äh ... ja. Danke, Paul, es ist auch schön, dich zu kennen“, behauptete ich, während ich mir mit dem Handrücken über meine Backe wischte. „Äh, du, sag mal, hast du Timo gesehen?“

„Ach, warum interessierst du dich für Timo?“ Er legte einen Arm um mich und zog mich enger an sich. Er war hackedicht, schwankte unsicher hin und her und stank wie eine Wodkabar. Wenn ich ihn jetzt umschubste, würde er einfach auf dem Rücken liegen bleiben wie ein dicker Maikäfer, dessen war ich mir sicher.

„Wie wäre es denn mit uns beiden, hm?“ Er kniff mir doch tatsächlich in den Po. „Ich fand dich schon immer süß, Edda, hast du das nie gemerkt?“ Sein Gesicht kam dem meinen gefährlich nahe und ich stieß ihn entschlossen von mir.

„Nein, Paul, ich habe es nicht bemerkt, weil es da nichts zu bemerken gab. Du fandst mich nie süß, sondern hast mich entweder ignoriert oder mich Rotkäppchen genannt, also verschon mich bitte mit irgendwelchen Liebeserklärungen. Geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus. Alles Gute für dich!“ Er bekam von mir zum Abschied ein Schulterklopfen, dann schob ich mich hastig an einem knutschenden Pärchen vorbei und fahndete weiter nach meinem Freund.

Ich musste nicht lange suchen, neben einem großen Baum, einer mächtigen Eiche, soweit ich das erkannte, lungerte Hannas Clique herum, alle mehr oder weniger hinüber. Die Pärchen saßen dicht beisammen und knutschten, zwei Mädels hatten einen sentimentalen Moment und heulten, weil nun alles vorüber war, und Hanna und Timo standen etwas abseits. Er hielt ihre beiden Hände in seinen und sie redete eindringlich auf ihn ein.

Der Schlag in den Magen traf mich mit voller Wucht, wie angewurzelt blieb ich stehen. Plötzlich war meine Sicht verschwommen, ich blickte wie durch dichten Nebel. Mir war, als würde er sie liebevoll ansehen, als würde sie mehrfach sehnsuchtsvoll seufzen. Wollte sie ihn dazu überreden, mit mir Schluss zu machen und mit ihr zusammenzukommen? Oder wollte sie ihn zu einer Affäre überreden? Oder ...

Meine Überlegungen wurden unterbrochen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, ihn auf die Wange küsste und anschließend fest umarmte.

Das Herz hämmerte so laut in meiner Brust, dass ich meinte, jeder müsste es hören. „Ganz ruhig“, sagte ich mir, „bleib ruhig, Edda. Wir haben alle was getrunken. Es ist unsere Abschlussparty. Wir haben das Abi, werden uns vielleicht niemals wiedersehen, da wird man eben sentimental ... Ganz ruhig.“ Paul hatte mich auch auf die Wange geküsst und ich hatte es zugelassen. Er hatte mich auch umarmt, das hier war das Gleiche ...

Ach, Herrgott, nein, es war nicht das Gleiche! Ich war ein hilfloses Opfer gewesen, während Timo den Eindruck erweckte, als wolle er Hanna nie wieder loslassen. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die beiden sich näherstanden, als sie je zugegeben hatten. Oder sah ich Gespenster?

Ich versuchte, meine Eifersucht zu zügeln, aber es war verdammt schwer, wenn nicht gar unmöglich. In diesem Moment ging etwas zwischen uns kaputt, obwohl ich es nicht wollte, aber es war deutlich spürbar. Mein Urvertrauen in ihn, der Glaube daran, dass Timo mich nie betrügen, nie verletzen würde, wurde in diesem Augenblick unwiederbringlich ausgelöscht.

Er löste sich von Hanna. Nach einer halben Ewigkeit. So lange dauerte keine normale Umarmung unter Freunden. Das war eine sehnsuchtsvolle Ich-wünschte-wir-wären-mehr-als-Freunde-Umarmung gewesen, und zwar von beiden Seiten.

Timo drehte den Kopf und fing meinen Blick auf, einen Moment lang sah er erschrocken aus, ehe er schnell ein strahlendes Lächeln aufsetzte und mir zuwinkte. Mechanisch winkte ich zurück, mein Arm fühlte sich an, als würde er gleich abfallen, mein Mund war staubtrocken. Auch Hanna hatte mich nun entdeckt und winkte mich zu sich herüber. „Edda, hallo. Komm doch her.“

Meine Beine fühlten sich zentnerschwer an. Nur mit Mühe schaffte ich es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich bei den beiden ankam. Ich stellte mich neben Timo, allerdings nicht nah genug, als dass er mich hätte berühren können. Ich musste nachdenken über das, was ich gerade gesehen hatte, und dafür brauchte ich körperlichen Abstand.

„Na, wie fühlst du dich?“, wollte Hanna wissen und sah ehrlich interessiert aus. „Du kannst es doch sicher kaum erwarten, endlich loszulegen, oder? Ich meine, mit einem Einserabitur in der Tasche ...“

„Erst mal will ich reisen“, erklärte ich ausweichend und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte weder Zeit für noch Lust auf Smalltalk. Das hatte ich sowieso schon immer bescheuert gefunden, dieses Gequatsche über nichts, Gerede, nur damit man was zu sagen hatte. Unnötig, vor allem, wenn man sich mit Leuten unterhielt, die betrunken waren. Die erinnerten sich am nächsten Morgen ohnehin an nichts mehr.

„Oh.“ Hanna sah überrascht aus. „So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.“

„Wie?“, fragte ich lauernd.

„Na ja“, Hanna rang die Hände, wirkte verlegen, „so abenteuerlustig und weltoffen. Ich hätte angenommen, du bereitest dich die ganzen Ferien über auf die Uni vor, und dann gehst du hin und ziehst dein Studium durch.“

Aha. Das war ich also in den Augen aller. Eine langweilige, eingestaubte Streberin, die sich die ganzen Ferien über verkroch und paukte. Na super!

„Nein, nein“, widersprach ich und fühlte mich unbehaglich, „ich werde mir erst mal die Welt ansehen.“

„Wie schön.“ Hanna lächelte erst mich, dann Timo breit an. „Werdet ihr zusammen reisen?“

Ich blinzelte verdutzt. Wieso zusammen? „Nein, ich werde alleine reisen“, erklärte ich unsicher, „ich hab das schon vor Monaten geplant. Im September fliege ich nach Südafrika, da wirke ich an einem sozialen Projekt mit für sechs Monate. Anschließend häng ich noch vier bis fünf Monate Neuseeland hinten dran, dort mach ich Work-and-Travel und lerne Land und Leute kennen.“ Träumerisch lächelnd blickte ich auf einen kleinen roten Fleck auf Hannas weißem Kleid, stellte mir vor, ich wäre schon in Kapstadt oder Neuseeland oder wo auch immer es mich hin verschlagen würde. Ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel, eine Veränderung, was Neues.

„Ach so“, Hanna lächelte verunsichert, „klingt spannend. Aufregend, nach einem Abenteuer. Ich werde für ein Jahr nach Südamerika gehen, habe ich beschlossen. Ich denke, man sollte was von der Welt sehen, solange man jung ist. Später, wenn man einen Job, einen Mann, Kinder und tausend Verpflichtungen hat, kann man das wohl vergessen.“

Ich nickte zustimmend. Genau deshalb würde ich auch jetzt gehen, solange ich noch frei und ungebunden war. Timo und ich hatten schon besprochen, wie es mit uns als Paar weitergehen sollte. Während ich ein Jahr auf Reisen wäre und er ein Jahr durch Deutschland tourte, würden wir zusammenbleiben und einander die Treue halten. Und wenn wir anschließend beide wieder hier in Köln zusammentrafen, würden wir uns um Studienplätze in derselben Stadt bewerben, zusammenziehen und dann ... ja, dann würden wir weitersehen.

Bis eben noch war mir das wie ein großartiger Plan vorgekommen, doch nun stellte ich mir die Frage, was wäre, wenn sich die Gefühle innerhalb des einen Jahrs der Trennung grundlegend ändern würden. Also, nicht meine, sondern Timos. Was, wenn er ein anderes Mädchen kennenlernte, das ihm besser gefiel als ich? Was, wenn er in dem Jahr merkte, dass ich gar nicht so besonders war, wie er immer angenommen hatte? Was, wenn er einem Mädchen begegnete, das ihn umhaute, das ihn vergessen ließ, dass es irgendwo da draußen auch noch mich gab?

Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus, ich bekam Gänsehaut.

„Tja, und ich sehe mir die Großstädte Deutschlands an“, erzählte Timo Hanna gerade und sie lächelte begeistert.

„Klingt auch sehr spannend. Du musst mir auf jeden Fall schreiben, wo du gerade steckst, ja? Am besten schickst du eine Karte. Und du auch, Edda, ja?“ Sie lächelte mir zu, ich lächelte verkniffen zurück.

Meine Mundwinkel zuckten, es fiel mir schwer, das Lächeln im Gesicht zu halten. „Timo, wir müssen los“, sagte ich, meine Stimme klang fremd, tonlos. „Mein Vater holt uns gleich ab, ich glaube, er wartet sogar schon draußen.“

„Oh, okay.“ Timo wirkte enttäuscht. Etwa weil er sich schon von seiner Hanna trennen musste?

„Hör auf rumzuspinnen!“, schalt ich mich in Gedanken und biss mir auf die Lippe. Ich benahm mich vollkommen lächerlich.

„Also dann.“ Hanna und Timo umarmten sich noch mal innig, ich wandte so lange den Blick ab. „Edda, Süße, komm her, lass dich auch drücken.“ Hanna schlang ihre Arme um mich und hielt mich eine halbe Ewigkeit an sich gepresst, ehe sie mich auf die Wange küsste und lächelnd zurücktrat.

Ich blinzelte verwirrt. Warum knutschte sie mich denn jetzt ab? Wir hatten nie wirklich viel miteinander zu tun gehabt und jetzt ... wollte sie damit irgendwas bei Timo erreichen?

„Wir bleiben in Kontakt, ja? Timo, du hast meine Handynummer, die kannst du gerne an Edda weitergeben. Also, wenn du willst, Edda.“

„Ja, gerne“, erwiderte ich lahm.

Timo griff nach meiner Hand. „Wir sollten deinen Pa nicht zu lange warten lassen, Schatz“, sagte er. „Tschüss, Hanna, mach’s gut. Hab eine schöne Zeit in Südamerika!“

„Danke. Euch beiden auch ’ne tolle Zeit! Tschüss.“

Damit bahnten wir uns einen Weg durch die Menge. Ich schwieg verletzt, Timo war damit beschäftigt, sämtlichen Kumpeln und Klassenkameraden noch ein letztes Mal zuzuwinken. Schließlich erreichten wir den Ausgang. Papas Mercedes parkte bereits vorm Maschendrahtzaun. Ich sah mich nach Bastian und Kim um. Waren sie schon eingestiegen?

„Hey, alles in Ordnung mit dir?“ Timo legte den Arm um mich, blickte fragend auf mich hinab. „Du bist so still.“

„Ich bin nur müde“, flunkerte ich und imitierte ein Gähnen, das er mir jedoch abkaufte.

„Ja, ich auch. Ich könnte sogar auf einem Stein schlafen“, stimmte er mir zu. Wir näherten uns dem Auto und erleichtert erkannte ich, dass die beiden anderen schon drinsaßen. Kim hatte den Kopf an Bastians Schulter gelegt und schlummerte friedlich, er hatte die Augen ebenfalls halb geschlossen.

Neidisch betrachtete ich die beiden ‒ sie liebten sich wirklich und wahrhaftig, kuschelten sich hier auf der Rückbank zusammen, während vor meinem inneren Auge das Bild von Hanna und Timo herumschwirrte.

„Steig du vorne ein“, sagte Timo, löste sich von mir, öffnete die Hintertür und glitt geräuschlos neben Kim auf den Sitz. „Hi Peter“, begrüßte er meinen Vater.

„Hallo Timo, altes Haus, na, wie geht’s, wie steht’s?“, fragte Papa und drehte sich zu ihm nach hinten. Mein Vater mochte Timo und meine Mutter liebte ihn geradezu. Liebevoll und neckisch nannte sie ihn Schwiegersohn, manchmal kam ich nach Hause und traf die beiden, Limonade trinkend und schwatzend, mit Sonnenbrillen auf den Nasen in den Liegestühlen an. Manchmal war ich geradezu eifersüchtig auf ihre Beziehung, was natürlich albern war.

„Hallo Paps“, nuschelte ich, als ich mich neben ihn auf den Beifahrersitz fallen ließ.

„Hey, Sonnenschein.“ Er drückte kurz meine Hand. „War’s eine gute Party? Aus Kim war nicht mehr viel rauszubekommen, sie hat Hallo gemurmelt und ist in den Dornröschenschlaf gefallen, ihr Freund gleich hinterher. Mich hat es nur gewundert, dass die zwei pünktlicher waren als du.“ Er startete den Motor.

„Ja, wir wurden aufgehalten.“ Ich gähnte, mit einem Mal erfasste mich eine bleierne Müdigkeit, das Adrenalin, das während des Tanzens in meinen Adern pulsiert hatte, war aufgebraucht.

„Die Party war gut“, berichtete Timo, während ich mich zurücklehnte und die Augen schloss.

„Hallo Flocke.“ Ich kraulte unserer schlohweißen Hündin den Kopf. Sie bekam ihre Freude darüber, mich zu sehen, nur schwer wieder in den Griff.

„Ich glaube, sie muss mal raus.“ Papa rieb sich die Augen und ließ den Autoschlüssel auf die Kommode im Flur fallen. „Kannst du sie noch kurz in den Garten lassen, Edda? Ich bin hundemüde, ich muss ins Bett. Ich bin zu alt, um so früh schon in der Gegend rumzugurken. Gott, gleich fünf ...“

„Ja, Papa, mach ich“, sagte ich sofort bereitwillig, obwohl ich selbst todmüde war. Doch ich war ihm dankbar dafür, dass er uns mitten in der Nacht abgeholt hatte.

„Nacht“, murmelte er, während er die Jeansjacke, die er getragen hatte, einfach zu Boden fallen ließ und die Stufen zum elterlichen Schlafzimmer hocheilte. Er trug noch immer seinen rot-weiß gestreiften Schlafanzug.

„Komm, Flocke“, lockte ich die Hündin leise, machte die Haustür auf und pfeilschnell schoss sie an mir vorbei nach draußen, wobei sie mich um ein Haar umrannte. Ich warf einen kurzen Kontrollblick aufs Gartentor, um sicherzustellen, dass es geschlossen war, dann sank ich auf den Treppenstufen, die hinauf auf die Veranda führten, zusammen, ließ den Kopf zwischen meine Knie sacken, gähnte und schloss die Augen. Fast wäre ich eingeschlafen, doch als ich spürte, wie ich nach vorn kippte, riss ich die Augen auf und hievte mich in eine aufrechte Position. Schon wieder musste ich gähnen, mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft von dem ganzen Alkohol.

Die Nacht war mild, die Luft frisch und klar und ich sog sie gierig in meine Lungen. Die Morgendämmerung war bereits vorüber, der Himmel hatte sich von tiefschwarz zu babyblau verfärbt und am Horizont ging golden die Sonne auf. Lächelnd überlegte ich, wann ich zuletzt einen Sonnenaufgang miterlebt hatte. Das musste schon ewig her sein, ich erinnerte mich nicht mal mehr. Dabei gehörten Sonnenaufgänge, genau wie Sonnenuntergänge, zweifellos zu den schönsten Naturerlebnissen überhaupt.

Es raschelte in den Büschen und kurz darauf tauchte Flocke wieder auf, schwanzwedelnd und mit zerzaustem Fell, sie wirkte um einiges ruhiger als vorher, was mir verriet, dass sie ihr Geschäft erledigt hatte. Erleichtert stand ich auf, voller Vorfreude auf mein Bett. Endlich ein paar Stunden Schlaf. „Na komm, Süße.“ Ich pfiff leise durch die Zähne, um Flocke anzulocken. „Lass uns in die Heia gehen, wenigstens für ein paar Stunden.“ Doch mit einem Mal änderte sich etwas. Flocke blieb wenige Meter von mir entfernt wie angewurzelt stehen und spitzte die Ohren. Aus ihrer Kehle drang ein tiefes, fast schon Furcht einflößendes Knurren. Beunruhigt blickte ich umher, meine Beine zitterten wie Wackelpudding, ich umklammerte das Treppengeländer.

„Flocke?“, rief ich halblaut, als meine Hündin sich von mir abwandte. Ein letztes tiefes Knurren, dann raste sie in einem Affenzahn los, laut bellend und knurrend, in Richtung Zaun. Was sollte denn das jetzt? Hatte sie ein Eichhörnchen gesehen?

Sie bellte wie verrückt und ich geriet in Sorge, sie könnte meine Eltern oder gar die Nachbarn wecken. Taumelnd, stolpernd und schimpfend rannte ich ebenfalls zum Gartentor, strauchelte, fand jedoch im letzten Moment mein Gleichgewicht wieder.

„Flocke!“ Energisch packte ich sie am Halsband, zog sie zurück. Beinahe hysterisch sprang sie am Gartenzaun hoch, bellte immer lauter und lauter. Entschlossen hielt ich ihr die Schnauze zu. „Jetzt ist es aber gut“, zischte ich böse. „Halt die Klappe, Flocke! Du weckst noch alle auf.“

Sie sah mich aus ihren braunen Augen beinahe flehend an, knurrte, wobei ihre Schnauze in meiner Hand vibrierte. Ich fragte mich, was sie so aufregte ... bis ich den Kopf drehte und die Gestalt auf dem Bürgersteig erspähte. Torkelnd und wankend, eindeutig betrunken. Meine Hand schloss sich um Flockes Halsband, ängstlich sah ich hinüber zu dem Suffkopf. Es musste nicht sein, dass er uns sah.

„Lass uns reingehen“, raunte ich meiner Hündin zu und wollte sie mit mir ziehen, doch in diesem Moment stolperte die betrunkene Gestalt über ihre eigenen Füße und stürzte der Länge nach auf den Gehsteig. Ohne, wie es eigentlich reflexartig geschehen sollte, die Arme nach vorn auszustrecken und den Sturz abzufangen. Die Person knallte volle Pulle aufs Gesicht. Ich meinte, ein lautes Stöhnen zu vernehmen, dann war es still. Totenstill.

Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf den am Boden Liegenden, auf seine schwarze Hose, das zerrissene Hemd, die dunklen Schmalzlocken. Er lag vollkommen regungslos da. Ich kam mir vor wie in einem Horrorfilm, Gänsehaut überzog meine Arme. Flocke knurrte, war unruhig und mir wurde allmählich klar, dass ich nicht einfach ins Haus und schlafen gehen konnte. Das hier war keineswegs eine harmlose Situation. Wenn dieser Mensch da auf der Straße ernsthaft verletzt war und ich nichts unternahm, wäre das unterlassene Hilfeleistung. Ich biss mir fest auf die Unterlippe. Ich hatte Angst, ja, aber gleichzeitig war da ein Gefühl in mir, das mich dazu drängte, sofort zu dem Verletzten zu rennen, zu sehen, was ich für ihn tun könnte.

Tief durchatmend wandte ich mich an meine Hündin. „Flocke, sitz!“, befahl ich. Sie gehorchte nicht. Also setzte ich meine herrische Stimme ein. „Sitz!“ Widerwillig führte sie den Befehl aus, winselte leise.

Ich stieß das Gartentor auf, ließ es einen Spaltbreit offen, sodass sie mir zu Hilfe eilen konnte, falls es nötig sein sollte. Flocke und ich waren ein eingespieltes Team, keine würde die andere jemals hängen lassen. Meine Hündin würde alles tun, um mich zu beschützen, das wusste ich. Notfalls würde sie sogar für mich sterben. Aber so weit würde es hoffentlich nicht kommen.

Ich kratzte meinen ganzen Mut zusammen, schlüpfte durch das Tor und überquerte die Straße. Ich warf einen Blick zurück. Flocke war aufgestanden, lauerte dicht am Tor, verließ aber nicht den Garten. Ich hob beruhigend eine Hand und rief: „Bleib, Flocke, alles gut. Braves Mädchen.“

Noch zwei Schritte, dann stand ich direkt vor der gestürzten Person. Es war ein Mann, ein junger Mann in modernden, völlig zerfetzten Klamotten.

Ich ging vor ihm in die Hocke, streckte die Hand aus, berührte seine Schulter. „Hallo?“, sagte ich schüchtern. Keine Reaktion. „Hallo?“ Ich rüttelte ihn fester, mein Puls war mittlerweile auf 180. Was, wenn er bewusstlos war? Musste ich dann eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen? Was, wenn er sich dabei übergab?

Oh Gott, das war mir alles zu viel. Mein Kopf war vollkommen leer, ich fühlte mich heillos überfordert und war den Tränen nahe. Warum passierte so was eigentlich immer mir? Und nicht den Leuten, die jeden Tag andere wiederbelebten?

„Hallo?“ Meine Stimme klang hörbar verzweifelt, als ich den Kerl erneut mit aller Kraft an der Schulter rüttelte. „Hören Sie mich? Hallo? Hallo?“

Er stöhnte.

Na, immerhin lebte er noch!

Erleichtert über dieses Lebenszeichen, packte ich ihn mit festem Griff an den Schultern und drehte ihn herum, sodass sein Gesicht nicht mehr auf dem Asphalt klebte. Oh mein Gott ... Ich schnappte entsetzt nach Luft. Der Anblick war echt nichts für schwache Nerven. Sein Gesicht war angeschwollen und sah aus wie eine zermatschte Pflaume, aus seiner Nase liefen Rinnsale hellroten Blutes, seine Lippe war aufgeplatzt, über seiner rechten Augenbraue befand sich ein unschöner, ziemlich tief aussehender Kratzer. Sein linkes Auge lief bereits blau an. Ein sehr schönes Veilchen!

Das, was mich an all dem jedoch am meisten schockierte, war die Tatsache, dass es sich hierbei um keinen Geringeren handelte als um ...

„Chris?“, stieß ich fassungslos hervor. „Christopher Waldoff?“

„Ja. Der bin ich“, lallte er, kniff die Augen zusammen und versuchte offensichtlich, sich zurechtzufinden, herauszubekommen, wie er in diese missliche Lage geraten war.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich, nach wie vor nicht ganz Herrin der Lage, und half ihm ungeschickt dabei, sich aufzusetzen, wobei ich beinahe auf ihn fiel. Er war ziemlich schwer, hatte ordentlich Muskelmasse. Dem Fitnessstudio sei Dank.

„Ich ... äh ... hab keine Ahnung“, nuschelte er, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und betrachtete interessiert die Blutspur auf seiner Hand. Ich unterdrückte einen Würgereiz, der Anblick von Blut hatte mir noch nie behagt. „Ich hab mich wohl verlaufen“, murmelte er und versuchte sich aufzurichten, schwankte aber nur wie die Titanic nach der Begegnung mit dem Eisblock und plumpste wieder auf den Hosenboden.

„Warte, ich helfe dir“, sagte ich eilig, griff nach seinem Arm, legte eine Hand auf seinen Rücken und gab ihm den Halt, den er brauchte, um halbwegs sicher auf seinen Beinen stehen zu bleiben.

„Danke, eh“, murmelte er und fuhr sich durch die Haare. Dann sah er sich um, doch das Licht der Straßenlaternen schien ihn zu blenden, denn er bedeckte seine Augen. „Scheiße, eh, wo bin ich hier nur?“, murmelte er verwirrt.

Bereitwillig nannte ich ihm den Namen der Straße, woraufhin er mich ansah, als wäre ich ein Außerirdischer.

Fast hätte ich „Ich komme in Frieden, Erdling“ ausgerufen, doch ich hielt mich zurück. Das hier war wirklich schon abstrus genug. Da stand ich zu nachtschlafender Zeit mit dem begehrtesten und arrogantesten Jungen der Schule auf offener Straße, während er aussah, als wäre er gerade zusammengeschlagen worden, voll war wie eine Strandhaubitze und weder er noch ich wussten, was wir tun sollten. Verdammt, das glaubte mir doch kein Mensch! Ein Lachkoller bahnte sich an, doch ich drängte ihn gewaltsam zurück. Das hier war nicht zum Lachen.

Fragend blickte ich zu ihm auf. „Erinnerst du dich, wo du hinwolltest? Nach Hause vielleicht?“

„Nach Hause?“ Er schnaubte abfällig. „Ich hab kein Zuhause mehr.“

Oh, oh, das klang gar nicht gut! Herr Waldoff war allem Anschein nach nicht begeistert gewesen über das Zeugnis seines Zöglings, aber dass er ihn gleich rauswarf, fand ich schon ziemlich hart. Wie sollte Chris denn alleine zurechtkommen, wenn er schon am ersten Abend besoffen und blutverschmiert auf irgendeiner ihm fremden Straße zusammenbrach?

„Okay, äh ... und von wo kommst du? Kannst du dich daran noch erinnern? Oder warum du so aussiehst?“ Ich deutete auf sein ramponiertes Gesicht. „Hast du dich mit jemandem geprügelt?“

Statt einer Antwort stöhnte er laut auf und hielt sich den Kopf. „Au, mein Schädel“, stöhnte er.

„Tja, kommt davon“, erwiderte ich mitleidlos. „Warum säufst du dir auch sämtliche Gehirnzellen weg? Jetzt kannst du dich nicht mal mehr dran erinnern, ob du gegen einen Laternenpfahl gelaufen bist oder dich geprügelt hast.“

„Oh Mann.“ Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Ich versteh nicht mal die Hälfte von dem, was du da redest, Mädchen. Hast du zufällig ’n Auto?“

Hatte er zufällig den Verstand verloren?

„Ein Auto, wofür brauchst du denn ein Auto?“, wollte ich verdattert wissen.

Er rollte mit den Augen und redete direkt über meinen Kopf hinweg mit dem Pfahl der Straßenlaterne. „Zum Weitwurfüben ... Meine Fresse, wofür braucht man ein Auto? Zum Fahren natürlich! Also?“

„Du fährst sicher heute nirgendwo mehr hin, schon gar nicht mit unserem Auto. Du hast bestimmt zwei Promille“, meinte ich streng und sah nachdenklich zum Haus hinüber. Das Licht auf der Veranda brannte, Flocke wartete schwanzwedelnd auf mich und ich hatte nicht vor, hier noch ewig stehen zu bleiben. Peter Mahler, der Nachbar zu meiner Linken, verließ immer bereits um halb sechs das Haus und machte sich auf den Weg zur Arbeit, auch samstags. Ich wollte nicht, dass er mich hier mit einem betrunkenen Jungen rumstehen sah, das würde mein Image als braves Mädchen von nebenan schädigen.

„Hör ma“, verkündete Chris und sah mich aus seinen dunklen Augen durchdringend an.

Ich bekam Gänsehaut und mir wurde heiß unter seinem Blick. Wenn man genau hinsah, konnte man um seine zu groß wirkenden Pupillen herum goldene Pünktchen erkennen.

Einen Moment lang schien er den Faden verloren zu haben, während er mir in die Augen sah. Dann räusperte er sich und verkündete fest: „Du bist nicht meine Erziehungsberechtigte. Es geht dich ’nen Scheiß an, wie viel ich trinke. Kapiert, Rotschopf?“

Oh, okay, jetzt wurde er also beleidigend. Wütend funkelte ich ihn an. „Weißt du was, Christopher, es interessiert mich nicht die Bohne, wie viel du trinkst, ob du Drogen nimmst oder sonst irgendeine Scheiße machst, aber unser Auto steht für dich nicht zur Verfügung. Vielleicht tanzen alle anderen Mädchen immer nach deiner Pfeife, aber ich bestimmt nicht. Sieh zu, wie du allein klarkommst, ich geh ins Bett.“

Damit wollte ich mich umdrehen und weggehen, doch Chris sagte: „Warte!“, taumelte auf mich zu, verlor den Halt und fiel mir entgegen. Automatisch machte ich einen Satz nach vorn und breitete die Arme aus, um ihn aufzufangen. Wir wären beide zu Boden gestürzt und hätten uns dabei sämtliche Rippen gebrochen, wäre nicht hinter uns eine Mauer gewesen. Ich spürte spitze Steine, die sich mir in den Rücken bohrten, gleichzeitig aber auch den sicheren Halt und atmete erleichtert auf. Meine Arme lagen um Christophers Taille und seine Hände umklammerten mit einem schraubstockartigen Griff meine Schultern. Wir atmeten beide schwer, mein Herz raste, nicht nur von dem Schreck, sondern auch ob der plötzlichen Nähe zwischen uns. Die Hitze seines Körpers sprang direkt auf mich über.

Ich hob zögernd den Blick und stellte fest, dass er mich ansah. In seinen Augen lag mit einem Mal Wärme, er lächelte schief und seine Lippe war in etwa doppelt so dick wie vorher. Aber alles in allem hatte er einen schönen Mund, die Oberlippe klein und geschwungen, die Oberlippe voll ... sehr einladend. Moment mal, was dachte ich denn da?

Chris begann zu kichern und tippte mir mit einem Mal auf die Stirn. „Es sieht aus, als hättest du drei Augen“, gackerte er albern.

Der nahe Moment zwischen uns war vorüber und mir war klar, wie dicht und vermutlich auch mit Drogen zugedröhnt Chris war. Er redete total verwaschen, sodass man ihn kaum verstehen konnte, seine Augen blickten plötzlich in zwei verschiedene Richtungen und er war kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Außerdem war er verletzt. War ja auch vollkommen egal, woher diese Wunden kamen (von einer Schlägerei, dessen war ich mir sicher und hoffte mit einer Inbrunst, die mich selbst überraschte, dass der andere schlimmer aussah), jedenfalls würde ich ihn hier nicht einfach stehen lassen.

Sanft hakte ich mich bei ihm unter. „Komm mit“, sagte ich flüsternd, „ich bring dich erst mal ins Haus. Wir müssen uns deine Verletzungen ansehen.“ Er wehrte sich nicht, als ich ihn mit mir zog. Er war ohnehin nicht mehr besonders widerstandsfähig.

Mit dem Fuß stieß ich das Gartentor auf, Flocke sprang aufgeregt beiseite und kläffte leise, doch nachdem ich „Pscht!“ gezischt hatte, war sie zum Glück still.

Ich führte Chris die wenigen Stufen zur Veranda hinauf und umklammerte dabei so fest seinen Arm, dass ich vermutlich die Blutzirkulation abquetschte, doch ich wollte auf keinen Fall, dass er noch mal fiel.

Es war mühsam, ihn die steile Wendeltreppe nach oben ins Badezimmer zu führen, ich hatte Angst, dass er stürzte oder wir Lärm machten und meine Eltern aufweckten. Als wir endlich oben anlangten, war ich schweißgebadet. Ich bugsierte ihn ins Badezimmer und schloss die Tür ab, Flocke wartete draußen auf uns. Ich half Chris dabei, sich auf den heruntergeklappten Toilettensitz zu setzen, öffnete eine Schublade an einer Kommode aus dunklem Eichenholz und förderte einen Waschlappen zutage. Ich machte ihn nass, atmete tief durch und drehte mich zu Chris um. Er hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt und starrte blicklos ins Leere.

Mit erhobenem Waschlappen trat ich auf ihn zu. „Das wird wahrscheinlich ein bisschen brennen“, murmelte ich unbehaglich.

Er zuckte die Achseln. „Das halt ich schon aus“, lallte er.

Ich beugte mich über ihn, ignorierte die Tatsache, dass ich Herzklopfen bekam, wenn ich ihm so nahe war, und machte mich behutsam daran, das Blut von seinem Gesicht zu wischen. Hin und wieder stöhnte er leise auf, doch er war wirklich tapfer, wofür ich ihn bewunderte. Vielleicht war er vom Alkohol auch so betäubt, dass er gar nichts mitbekam. Ich wunderte mich darüber, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte, obwohl er nach Schweiß, Alkohol und Zigarettenrauch stank und sein Gesicht wohl noch nie unattraktiver ausgesehen hatte. Es wirkte asymmetrisch durch die Schwellungen und Schrammen und das eine Auge war so zugeschwollen, dass er vermutlich gar nichts mehr damit sehen konnte.

Nachdem ich sämtliches Blut fortgewischt und die Blutung der Nase zum Stillstand gebracht hatte, betrachtete ich ihn prüfend. Er sah nicht wirklich besser aus, auch wenn das Blut weg war. Er brauchte etwas Eis fürs Auge und ich sollte irgendwas gegen die Schwellung des Gesichts unternehmen.

Oben auf dem Regal neben sämtlichen Cremes und Döschen und Flaschen fand ich unseren Verbandskasten mit Desinfektionsspray, Kompressen, Pflastern und einer Arnikacreme. Soweit ich wusste, half die gegen Schwellungen. Ich las mir die Rückseite der Packung durch und richtig: Sie half gegen Prellungen und Schwellungen.

Nachdem ich Christophers Kratzer über der Augenbraue sorgfältig desinfiziert und verpflastert hatte, schmierte ich sanft Arnika auf seine pulsierenden Wangenknochen und die Lippe, dann half ich ihm aufzustehen und führte ihn die Treppe wieder hinunter, wobei ich nicht zum ersten Mal Todesangst empfand. Ich fragte mich, wie viel er wohl getrunken hatte, dass er so hinüber war. Wie viel Promille er wohl hatte? Zwei? Mehr? Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können ... Er hätte vor ein Auto laufen können oder jemand hätte ihn ausrauben, anschließend ermorden und die Leiche irgendwo entsorgen können. Keiner hätte sich um ihn gesorgt, keiner hätte sich die Mühe gemacht, ihn zu suchen. Ich kämpfte mit den Tränen und wunderte mich darüber. Chris lag mir nicht am Herzen, er war mir nicht wichtig. Warum nahm mich das alles so mit?

Weil ich kein Unmensch war. Weil er mir leidtat, da er offensichtlich niemanden hatte, der sich um ihn sorgte, sich seiner annahm. Ich fragte mich, was wohl aus Olivia geworden war. Warum war sie nicht da, wenn er sie brauchte? Warum hatte sie ihn allein stehen lassen? In seinem Zustand? In diesem Moment verabscheute ich sie noch mehr als je zuvor.

Wir kamen in meinem Zimmer an, und obwohl es mir sonst immer etwas unangenehm war, einen Jungen zum ersten Mal in meine vier Wände zu lassen, in meine Privatsphäre, war es mir an diesem seltsamen Morgen vollkommen gleichgültig. Ich verfrachtete Chris, der sich mittlerweile mit seinem ganzen Gewicht auf mich stützte und mindestens eine Tonne wog, auf mein schwarzes Schlafsofa, zuerst jedoch musste ich Schaf und Teddy runterkicken, meine Kuscheltiere, die dort sonst immer saßen. Ich deckte ihn zu und huschte noch mal in die Küche, um eine große Flasche Wasser und Eis für sein Auge zu holen, das ich in ein Handtuch wickelte.

Schließlich kniete ich neben ihm, half ihm beim Trinken und fühlte mich merkwürdig. Wie ich da so auf ihn hinabblickte und zusah, wie er mühsam trank, wie die Hälfte danebenging und ihm in Sturzbächen übers Gesicht lief, entwickelte ich zärtliche Gefühle für ihn. Ich hatte das dringende Bedürfnis, für ihn da zu sein, ihn zu beschützen, und kam mir dabei unbeschreiblich dämlich vor. Christopher Waldoff brauchte niemanden, der ihn beschützte, schon gar nicht mich. Aber an diesem Morgen war alles anders. Jetzt war er nicht der arrogante Kotzbrocken, sondern ein hilfsbedürftiger Junge, der meine Unterstützung brauchte.

Als er fertig getrunken hatte, schraubte ich die Flasche zu, stellte sie auf den Boden und breitete die Decke über ihm aus. „So“, flüsterte ich, „jetzt solltest du schlafen.“ Ich zog rasch die Vorhänge zu und sperrte so das Sonnenlicht aus, das zusammen mit Vogelgezwitscher und dem ersten Verkehrslärm durch das dünne Glas meines Fensters drang. Die Welt wachte auf. Das normale Leben begann und diese seltsame Nacht war vorüber. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder traurig sein sollte.

Ein letztes Mal ging ich zu Chris, um zu sehen, ob er alles hatte, was er brauchte. Er hatte die Augen schon leicht geschlossen, seine Lider flatterten, als ich mich kurz über ihn beugte und lächelte. „Schlaf gut, Christopher“, hauchte ich.

Er streckte matt den Arm nach mir aus. „Bleib“, murmelte er. „Bitte bleib!“

Mein Herz setzte einen Schlag aus, mir wurde ganz warm in der Magengegend, als er meine Hand nahm und mich zu sich zog. Ganz still harrte ich neben ihm aus, wagte nicht, mich zu rühren. Er gab mir ein Stück des dünnen Lakens ab, das ich als Decke für ihn verwendet hatte.

„Danke“, murmelte ich mit heftigem Herzklopfen, mein Kopf war voll mit Gedanken, die ich nicht haben sollte, mein Inneres voll mit Gefühlen, die ich nicht empfinden sollte. Ich fühlte mich zerrissen, völlig aus dem Konzept gebracht und fragte mich, was Timo davon halten würde, sähe er mich hier so liegen. Er würde auf der Stelle Schluss machen, das stand fest. Ich erschauerte und im nächsten Augenblick lag Chris’ heißer Arm um meine Taille, er zog mich enger an sich. Ich hielt vor Schreck den Atem an und verkrampfte mich.

„Ist schon okay“, nuschelte Chris, „ich wärme dich nur. Alles gut.“

Allmählich entspannte ich mich in seiner Umarmung, atmete so ruhig wie möglich weiter und bemühte mich darum, nicht an Timo zu denken. Das hier war kein Betrug. Ich war nur für Chris da, weil er jemanden brauchte ... weil er mich jetzt brauchte. Wir waren keine Freunde. Wir waren quasi Fremde, auf der Abiturfeier hatte ich das erste Mal überhaupt mit ihm gesprochen. Gott, das war alles so verrückt! Und jetzt, nur ein paar Stunden später, lag er hier auf meiner Couch und hatte den Arm um mich gelegt. Himmel!

Mein Rücken war an seine Brust gepresst und die Hitze seines Körpers sprang auf meinen über. „Du bist total nett“, murmelte er schläfrig in mein Haar und ich spürte, wie mir köstliche heiße Schauer über den Rücken rannen. „Warum bist du nicht schon früher gekommen, mein Engel?“

Sein Engel? Oh Mann, wie betrunken war der denn? Oder ... war er am Ende gar nicht so arg betrunken? Wusste er noch, was er da sagte?

„Weil du bisher lieber mit Mädchen wie Olivia abgehangen bist“, flüsterte ich mit wild pochendem Herzen, als ich spürte, wie er nach meiner Hand griff. Unsere Finger verschränkten sich ineinander. Ich dachte nicht mehr an Timo. Nur noch an Christopher, an ihn und mich, uns, Hand in Hand, Arm in Arm, während draußen Menschen auf die Straße traten, Kindergeschrei und Hundegebell laut wurden und der Geruch von Kaffee nach oben waberte. Unten im Erdgeschoss konnte ich Stimmen hören. Meine Eltern waren wach und schon auf den Beinen. Gott, hoffentlich kamen sie nicht hoch. Ich wollte gar nicht wissen, was sie hiervon halten würden ...

Ich sollte wirklich aufstehen und in mein Bett kriechen, ich sollte schlafen und vergessen, dass Chris auf meiner Couch lag ... aber ich wollte nicht. Schlicht und einfach. Ich wollte nicht aufstehen, wollte seinen Arm nicht von mir schieben, seine Hand nicht loslassen, ich wollte nicht die Hitze seines Körpers an meinem Rücken missen, ich wollte, dass alles so blieb, wie es gerade war. Weil es ein wunderschönes Gefühl war.

Ich kuschelte mich enger an ihn. „Was findet ihr Jungs nur an Mädchen wie Olivia?“, murmelte ich müde und streichelte mit dem Finger seinen Handrücken. Er hatte eine kleine Narbe unterhalb des Daumens und ich fragte mich, wo die wohl herkam. Eigentlich hatte ich keine Antwort erwartet, doch ich bekam eine, postwendend. „Sie ist sexy. Hat geile Titten und ’nen tollen Arsch. Gut im Bett. Schönes Gesicht.“

Kurz war ich angeekelt und wollte von ihm wegkriechen, doch sein Arm gab mich nicht frei. Und eigentlich war mir die Antwort schon von vornherein klar gewesen.

„Das ist widerlich“, ließ ich ihn wissen, „widerlich und total oberflächlich.“

„Und?“, nuschelte er. „Ihr Mädchen seid doch ganz genauso. Ihr wollt auch ’nen Kerl mit Waschbrettbauch und Sixpack, mit schönem Gesicht und Knackarsch, oder?“

Ich schwieg eine Weile. Sicher, die meisten Mädchen wollten das. Einen Mann mit Adoniskörper. Männlich, stark, muskulös. „Ich nicht“, flüsterte ich, „ich interessiere mich nicht für Sixpacks und Knackärsche. Ich interessiere mich für den Charakter.“ Doch darauf antwortete er nicht mehr. Er war nämlich eingeschlafen, ich spürte seinen heißen Atem im Nacken und lauschte seinen tiefen, gleichmäßigen Atemzügen, bis auch ich einschlief.

***

Chris: Sie war süß. Total niedlich eigentlich, auch wenn ich nicht auf Rothaarige stand. Aber wie sie so dalag, in meine Arme gekuschelt, friedlich schlummernd, das feuerrote Haar fächerförmig auf dem Kissen verteilt, wirkte sie höchst anziehend auf

mich. Sie hatte ein wirklich hübsches Gesicht, eine süße, kleine Stupsnase, volle kirschrote Lippen, Grübchen, wenn sie lachte, und ihre azurblauen Augen waren sowieso der absolute Megahammer. Jetzt konnte ich sie leider nicht sehen, denn sie schlummerte ja noch. Ihre Gesichtszüge waren entspannt und ruhig und ich freute mich, dass sie sich in meinen Armen offensichtlich wohlfühlte. Ich betrachtete unsere Hände, die noch immer ineinander verschlungenen Finger, folgte der Spur ihrer Sommersprossen, die Hand hinauf über den Arm bis zur Schulter. Sie hatte wirklich überall Sommersprossen ...

Hm. Ich erinnerte mich nicht mehr so genau daran, wie ich hierhergekommen war, ausgerechnet zu diesem Mädchen ins Bett ... äh ... auf die Couch. Ich erinnerte mich nur noch verschwommen daran, dass ich auf Simons Party eine Auseinandersetzung mit einem Typen gehabt hatte, der behauptete, Olivia wäre seine Freundin. Da sie es nicht leugnete, ging ich mal davon aus, dass es stimmte. Ich wäre daraufhin sowieso abgezogen und hätte ihm kampflos das Feld, das Mädchen ... äh ... die Schlampe überlassen, aber nein, dieser Kerl war total aggressiv geworden und hatte mir kräftig eine gescheuert. Dann hatte er mich am Kragen gepackt und wie ein Wahnsinniger auf mich eingedroschen. Wären Simon und die anderen nicht gewesen, läge ich jetzt vermutlich im Leichenschauhaus unter einem weißen Laken.

Olivia hatte mich kurz angesehen, die Achseln gezuckt und war zu ihrem Schlägertypen gerannt. „Baby, beruhige dich“, hatte sie gesäuselt. „Bitte, beruhige dich. Christopher und ich hatten nichts miteinander, ganz ehrlich. Ich liebe doch nur dich.“

Aha, wir hatten also nichts miteinander, so, so.

Dabei erinnerte ich mich noch deutlich daran, wie sie sich unter mir aufgebäumt hatte, wie sie gestöhnt und gekeucht hatte: „Ja, Chris, ja, ja, schneller, bitte, bitte, tiefer ...“

Aber egal.

„Du kannst deine kleine Hure behalten“, hatte ich dem Typen zugerufen, woraufhin er schon wieder ausgerastet war und gebrüllt hatte: „Beleidige noch mal meine Freundin und ich breche dir alle Knochen, du Missgeburt!“

„Ich glaube, es wäre am besten, wenn du jetzt gehst“, hatte Simon entschieden gesagt und mich zur Balkontür rausgeworfen. „Ehrlich, Mann, mit Marco will ich keinen Stress.“ Hektisch hatte er umhergeblickt und mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. „Ich ruf dich an“, hatte er noch gerufen, dann war ich allein dagestanden und die Stille hatte in meinen Ohren gedröhnt.

Und ich hatte immer gedacht, Simon und ich wären Freunde, echte Kumpel. Aber da hatte ich wohl voll danebengelegen.

Zugedröhnt von irgendwelchen Partypillen und total betrunken war ich davongetorkelt, der Weg bis zum Haus dieses Mädchens fehlte in meiner Erinnerung, dann war ich irgendwie gestolpert und auf die Fresse gefallen. Irgendwann war sie schließlich erschienen und hatte mich vollgelabert. Hatten wir nicht sogar gestritten? Ach ja, und dann hatte sie meine Wunden versorgt, so was von liebevoll und sanft ... Beim Gedanken daran, wie sich ihre Finger auf meiner Haut angefühlt hatten, bekam ich ein warmes Gefühl im Magen und mir wurde heiß. Okay, ich sollte hier verschwinden, und zwar schleunigst.

Hatte sie nicht einen Freund? Diesen komischen Surfertypen mit dem blonden Haar, den blauen Augen und diesem megabeknackten, selbstverliebten Lächeln im Gesicht? Timo oder so. Wenn der jetzt käme und uns so daliegen sähe, würde er das bestimmt nicht sonderlich witzig finden. Und ich war nicht in der Verfassung für einen Faustkampf, auch wenn ich diesen Hanswurst locker besiegt hätte. Aber allein beim Gedanken daran, mich zu prügeln, tat mein ganzer Körper weh. Wäre jetzt wohl keine gute Idee.

Wie spät war es überhaupt? Ich sah suchend umher und entdeckte tatsächlich eine funktionierende Uhr an der Wand ‒ sie zeigte ein Bild vom Tower in London, außerdem verriet sie mir, dass wir halb elf hatten. Halb elf Uhr vormittags. Mann, da war ich aber früh aufgewacht. Was vermutlich mitunter an den hämmernden Kopfschmerzen lag, die mir schier den Schädel zu sprengen drohten, ebenso wie an meinem schmerzenden Auge und der Tatsache, dass ich weder auf der einen noch auf der anderen Gesichtshälfte liegen konnte, ohne dass es wehtat.

Ich ließ meinen Blick umherschweifen und sah mir alles genau an. Ich war schon lange nicht mehr im Zimmer eines Mädchens gewesen, meistens nahm ich sie mit zu mir, weil mein Alter eh nie da war und ich immer sturmfrei hatte. Oder wir machten es im Auto, im Park oder auf irgendeiner Kaufhaustoilette ...

Es war ein typisches Mädchenzimmer, schätzte ich. Ziemlich viel Rosa. An den Wänden hingen Poster von Michael Jackson und Madonna, King und Queen of Pop. In der Ecke stand eine Stereoanlage, daneben war ein Regal, in dem sich CDs türmten. Es gab ein aus allen Nähten platzendes Bücherregal, ein großes, eisernes Himmelbett, einen ordentlich aufgeräumten Schreibtisch sowie einen kleinen Glastisch mit einer Sitzgruppe aus dunklen Ledersesseln drumherum. Zwischen den Postern hingen vereinzelt Fotos von ihr Arm in Arm mit einem sehr schönen braunhaarigen Mädchen, vermutlich war das ihre beste Freundin. Sie schnitten entweder Grimassen, lächelten strahlend oder knutschten sich ab. Auch ihr Freund hing mehrfach an der Wand, dieser teiggesichtige Milchbubi. Ich fragte mich, was sie wohl an ihm fand.

Der Kleiderschrank war, wie bei den meisten Mädels, riesig und ich hätte nur zu gerne mal einen Blick hineingeworfen. Anhand der Kleidung eines Mädchens konnte man jede Menge über den Charakter herausfinden und ich hätte eine Wette darauf abgeschlossen, dass sich in diesem Schrank nur züchtige Kleidungsstücke befanden. Knielange Röcke, geschlossene Oberteile, nichts, was zu viel Haut zeigte oder auf irgendeine Art und Weise aufreizend war.

Aber wie auch immer, das Ganze hatte mich eigentlich nicht zu interessieren. Ich würde weder dieses Zimmer noch dieses Mädchen jemals wiedersehen. Denn wie mir nun wieder einfiel, war gestern die Abiturfeier gewesen. Ich hatte es geschafft, die Schulzeit lag hinter mir und ich konnte endlich ins richtige Leben starten. Das würde ich damit beginnen, erst mal nach meinem Ursprung zu suchen ‒ meiner Mutter, die abgehauen war, als ich zehn gewesen war, weil sie es nicht länger ertragen hatte, bei meinem Arschlochvater zu bleiben. Seit nunmehr neun Jahren wollte ich sie fragen, warum sie mich damals nicht mitgenommen hatte.

Vorsichtig löste ich meine Finger aus ihren und zog den Arm unter ihr weg. Mit einem tiefen Seufzen sank sie auf das weiche Leder des Sofas, nach wie vor schlief sie tief und fest. Das sollte auch so bleiben.

Ich kletterte so geräuschlos wie möglich von der Couch, mein Kopf fühlte sich zentnerschwer an. Ich trat auf einen am Boden liegenden Teddybären, neben dem ein wolliges Schäfchen lag und mich vorwurfsvoll ansah, als wäre es meine Schuld, dass es heute Nacht auf dem Boden hatte liegen müssen. Achselzuckend sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Fenster? Ich ging hin und sah hinaus. Äh ... nö. War zwar nicht arg hoch, aber ich hatte keine Lust, in einen Rosenbusch zu springen. Ich stand nicht so auf Schmerzen und die Wunden von gestern taten schon genug weh. Also musste ich wohl zur Tür raus. Aber sollte ich echt gehen, ohne wenigstens Danke zu sagen? Immerhin hatte sie mich bei sich aufgenommen, mich bei sich schlafen lassen, meine Wunden versorgt ...

Auf dem Schreibtisch lag ein ganzer Haufen Papier und in einem lilafarbenen Becher steckten Stifte. Ich nahm mir eines der Blätter und einen grünen Filzstift, dachte kurz nach und schrieb dann:

Hey Rotschopf,

danke für diese Nacht, also fürs Bett und so. Und für deine Hilfe, das hätte nicht jede gemacht. Danke!

Wenn du mal irgendwas brauchst oder ich mich revanchieren kann, ruf mich einfach an. Okay? Danke noch mal.

Liebe Grüße

Chris

Ich kritzelte meine Nummer drunter und steckte die Kappe auf den Stift. So, jetzt konnte ich ruhigen Gewissens verschwinden. Blieb nur zu hoffen, dass sie mich nicht wirklich anrief. Nicht, dass sie sich noch in mich verliebt hatte oder so einen Mist. Das konnte ich echt nicht brauchen. Aber zur Not würde ich eben meine Nummer wechseln.

Ich streckte gerade meine Hand nach der Türklinke aus, als diese heruntergedrückt wurde und die Tür aufging. Ich bekam sie fast an den Kopf, rettete mich mit einem Hechtsprung zur Seite und versteckte mich mit wild klopfendem Herzen hinter der Tür. Mann, das war knapp gewesen!

Ich spähte um die Ecke und erblickte eine rothaarige Frau, wahrscheinlich die Mutter des Mädchens, dessen Namen ich noch nicht mal kannte, wie mir soeben auffiel. Sie hatte einen kurzen, flotten Bob, war schlank, modisch gekleidet in eine enge dunkle Röhrenjeans und ein figurbetontes weißes T-Shirt.

Nun trat sie an die Couch, beugte sich hinab und redete mit sanfter Stimme auf ihre Tochter ein: „Edda, aufwachen! Schatz, komm, aufstehen! Ich weiß, es war lang gestern, aber wir gehen gleich zum Mittagessen. Komm, Sonnenschein, aufstehen.“

Edda hieß sie also. Schöner Name.

Ebendiese grummelte irgendwas, zuckte dann heftig zusammen und fuhr hoch, sodass auch ihre Mutter erschrocken zurückwich. Sie hatte beide Hände fest an die Brust gepresst.

„Edda, um Himmels willen. Hab ich dich so erschreckt? Ich war extra vorsichtig. Du schaust ja, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

„Äh ... ich ...“, stotterte sie und tat mir in dem Moment richtig leid. Wahrscheinlich erinnerte sie sich gerade daran, dass sie heute Nacht nicht allein auf der Couch genächtigt hatte, und fragte sich jetzt panisch, wo ich wohl steckte. „Ich ... hab nur schlecht geträumt“, murmelte sie. Ich nahm eine Bewegung wahr, sie setzte sich wohl auf, hielt sich den Kopf und stöhnte leise. „Aua, scheiße. Diese verdammten Cocktails“, fluchte sie.

Ich wusste genau, was sie meinte. Ich hatte zwar keine Cocktails getrunken, dafür aber Wodka Tonic, jede Menge Bier und Erdbeerbowle, die verdammt lecker geschmeckt hatte. Mit einem Mal war ich froh, dass ich nicht auch noch gekifft hatte, nicht mal an einem Joint hatte ich gezogen, zu sehr war ich mit Olivia und später mit ihrem Macker beschäftigt gewesen. Von den rosa Pillen hatte ich auch nur eine genommen, sodass mir die Welt zwar ein bisschen bunter und fröhlicher erschienen war und ich bessere Laune gehabt hatte als zuvor, aber wirklich beeinflusst hatte sie mich nicht. Zumindest hatte ich nicht das Gefühl gehabt, fliegen zu können. Ich hatte auch keine Angst vor Häusern gehabt oder was einem sonst so alles zustieß, wenn man dieses Zeug einwarf.

„Tja, Sonnenschein, da musst du jetzt wohl durch“, sagte die Mutter mitleidig, „das ist eine Erfahrung, die man besser in der Jugend schon macht, damit man später die Finger vom bösen Alkohol lässt. Also, Süße, raus aus den Federn. Ich geh schnell mit Flocke spazieren, dein Vater ist noch im Bad, aber er müsste eigentlich gleich fertig sein. Ich würde dir dringend raten, noch zu duschen, du riechst ein wenig streng, meine Liebe. Also, bis gleich, hab dich lieb.“

„Ich dich auch“, murmelte Edda erschlagen.

Ihre Mutter rauschte aus dem Zimmer und ließ die Tür sperrangelweit offen stehen. Ich hatte es immer gehasst, wenn mein Alter reingeplatzt war, ohne anzuklopfen, und die Tür beim Rausgehen offen gelassen hatte, als wäre mein Zimmer, meine Privatsphäre, ein Zugabteil, durch das man eben mal durchrennen konnte und dessen Türen sich von selbst schlossen. Ätzend!

Edda stöhnte und wimmerte leise. „Oh Gott, scheiße, oh Mann, scheiße ...“

Also, so dramatisch war es jetzt auch wieder nicht gewesen. Wir hatten uns nicht mal ausgezogen oder Doktorspiele gemacht oder sonst irgendwas, das Spaß machte. Obwohl ich ehrlich zugeben musste, dass es sich gut angefühlt hatte, mit ihr zu kuscheln.

Obwohl es megapeinlich sein würde, plötzlich hinter der Tür hervorzuspringen, konnte ich nicht ewig hier stehen bleiben. Ich hatte auch gar keine Lust mehr, mich hier zu verbergen, denn erstens musste ich dringend aufs Klo und zweitens wollte ich mein neues Leben nicht damit anfangen, unnötig Zeit zu verschwenden. Also machte ich einen Schritt nach vorn, gab der Tür einen festen Stoß und stand in meiner ganzen zerknautschten Pracht vor der erschrocken aufkreischenden Edda.

„Ganz ruhig, Rotschopf“, beruhigte ich sie und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. „Ich bin’s doch nur.“

„Oh mein Gott“, stieß sie hervor.

„Danke, aber du kannst mich gerne Chris nennen“, scherzte ich, doch der Witz drang gar nicht bis zu ihr durch.

Sie sah nicht gerade aus wie das blühende Leben, ihre Augen waren vom Schlaf noch ganz verklebt und rot gerändert, ihre Nase wirkte spitz, sie war noch blasser als sonst und ihre Haare standen in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab. Sie sah, um es deutlich zu sagen, aus, als hätte sie eine verdammt harte und verdammt kurze Nacht gehabt. Was auch stimmte, schließlich waren wir erst um sechs oder so eingeschlafen, jetzt war es kurz vor elf, machte insgesamt fünf Stunden. Nicht gerade viel Zeit, um sich zu erholen. Ich fragte mich, ob ich mich schuldig fühlen sollte.

„Ich kriege gleich einen Herzinfarkt“, murmelte Edda, rieb sich die Augen, räusperte sich und blickte mich dann aus zusammengekniffenen, schmalen Augen an. „Christopher. Du bist tatsächlich hier, hab ich das also nicht nur geträumt.“ Aha! Vielleicht träumte sie wirklich manchmal von mir, wer wusste das schon. Ich war ja auch ein geiler Typ.

Grinsend sah ich sie an. „Es war was viel Besseres als ein Traum, Babe, es war Realität“, ließ ich sie wissen. „Wir haben miteinander geschlafen.“

Sie wurde, wenn möglich, noch blasser, ihre Augen weiteten sich geschockt, sie starrte mich fassungslos an. „Wa...wa...was?“, stammelte sie. Mein Gott, sie hatte eindeutig nicht meine Art von Humor.

„Auf einer Couch, meine ich. Nicht sexuell gesehen“, sagte ich beschwichtigend.

Wie um sicherzugehen, dass ich sie nicht anlog, hob sie probeweise die Decke, guckte darunter und atmete erleichtert aus, als sie feststellte, dass sie nicht nackt war. Ein wenig beleidigt war ich schon. Sex mit mir war nun wirklich nicht das Schlechteste der Welt. Aber, schon klar, irgendwo im Hintergrund gab es noch diesen blonden Surferheini.

„Sehr witzig, Christopher, echt“, fauchte sie mich an, schlug die Decke zurück und glitt langsam von der Couch. Ihr orangegoldenes Kleid, das sich böse mit ihren roten Haaren biss, war völlig zerknittert und zerknautscht.

„Okay, ich sehe schon, du bist nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen“, meinte ich nach einem Blick in ihre Funken sprühenden blauen Augen, die ich nicht zu lange und zu genau betrachten durfte, weil ich sonst ihrem Bann verfiel. „Und ich kann’s dir echt nicht übel nehmen. Ich wollte eh gerade abhauen.“

„Aha.“ Sie klang so was von unversöhnlich und sauer, als hätte ich es versaut, dabei hatte ich doch nichts gemacht, oder? Wahrscheinlich plagten ihr ehrliches, kleines Herz Schuldgefühle wegen ihres Freundes, weil sie Arm in Arm mit mir geschlafen hatte, unsere Körper eng aneinandergeschmiegt. Du meine Güte!

„Also ...“ Ich leckte mir über die Lippen, fuhr mir durch die langen dunkelbraunen Locken und war mit einem Mal nervös. Sie einfach hier stehen zu lassen, war nicht die feine Art. Und obwohl mich alle Welt für ein Arschloch hielt und ich an diesem Ruf auch nicht ganz unschuldig war, war ich eigentlich keines. Ich war vielmehr ein netter Kerl ... wenn man mich nicht verarschte oder verliebt anschmachtete. Eines dieser beiden Dinge taten Mädchen nämlich immer. Entweder sie verarschten mich oder sie verliebten sich in mich. Ich wusste nicht, was schlimmer war. Diese Edda mit der wilden roten Mähne passte jedoch nicht in dieses Muster. Ich glaubte nicht, dass sie sich jemals in mich verlieben würde, und verarschen würde sie mich wohl auch nie, dazu war sie viel zu ehrlich, hatte ein viel zu gutes Herz. Deshalb war ich ein wenig verunsichert, wusste nicht weiter. Nur eins war klar wie Kloßbrühe: Ich musste endlich hier verschwinden, verdammt!

„Also, Rotschopf“, ich nickte ihr wohlwollend zu, „danke für deine Gastfreundschaft. Und deine ... äh ... Hilfe gestern Abend.“ Es war mir total peinlich, als ich mich zurückerinnerte, wie sie mich die Treppen hinaufgehievt hatte, während ich wie ein nasser Sack an ihr gehangen hatte. Olivia hätte mich vermutlich auf halber Strecke absichtlich fallen gelassen, um sich weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen. Moment mal, warum dachte ich überhaupt noch an dieses kleine Fl... ach, egal. Ich strich sie aus meinen Gedanken.

„Ja, kein Ding, Christopher“, sagte Edda nun und klang nicht mehr ganz so kühl und abweisend. „Ich konnte dich ja nicht einfach da draußen liegen lassen.“ Sie zuckte die Achseln.

„Na ja, doch, hättest du tun können“, erwiderte ich. Wenn ich ehrlich mit mir ins Gericht ging, befürchtete ich sogar, dass ich, wäre ich an ihrer Stelle gewesen, einen betrunkenen Typen nicht in mein Haus gelassen hätte, nicht mal, wenn ich ihn flüchtig gekannt hätte. Bei einem Mädchen hingegen sähe das anders aus, die Arme würde ja meinen Schutz brauchen.

„Ach, schon in Ordnung, Christopher.“ Sie winkte ab. „Schwamm drüber. Ist ja jetzt vorbei. Wie geht’s dem Kopf?“

„Beschissen“, murmelte ich unkonzentriert. Warum nannte sie mich nur immer Christopher? Das machte mich ganz verrückt.

„Meinem geht’s auch nicht so gut“, teilte sie mir mit. Keine Ahnung, ob mich das jetzt trösten sollte. „Ich bin einen so hohen Alkoholkonsum einfach nicht gewöhnt.“ Spöttisch hob sie eine Braue. „Bei dir sieht das wohl anders aus, was, Christopher?“

Ach, verdammt noch mal! „Würdest du mich bitte nicht Christopher nennen?“, bat ich sie genervt. Hatte sie noch nicht mitbekommen, dass ich Chris hieß, oder wollte sie mich ärgern?

Unschuldig blinzelte sie mich an und riss ihre hammertollen Augen dabei ganz weit auf, das kleine Biest. „Aber so heißt du doch“, meinte sie, als wäre ich blöd und hätte meinen eigenen Namen vergessen.

„Ja, aber“, ich rieb mir gereizt den Nacken, „meine Freunde nennen mich Chris. Also tu du’s doch bitte auch, ja?“

„Aber wir sind keine Freunde, Christopher“, gluckste sie jetzt und klang amüsiert.

Okay, sie wollte mich auf den Arm nehmen, eindeutig. Ich rollte mit den Augen und machte einen Schritt auf sie zu, was sie zu verwirren schien. „Na ja“, ich senkte theatralisch die Stimme, sodass sie ganz rau klang, „irgendwie schon, oder? Ich meine, das, was du gemacht hast, tun Freunde normalerweise ... helfen, wenn Not am Mann ist.“

Sie war rot geworden und die kleinen Härchen auf ihren Armen hatten sich aufgerichtet. Ha! Sie stand also doch irgendwie auf mich, fand mich zumindest anziehend. Auf irgendeine Art und Weise. Einen Moment lang war ich enttäuscht, hatte ich doch gedacht, sie wäre immun gegen meinen Charme und mein Aussehen und damit mal was Besonderes. Aber gut, was hatte ich von einem Mädchen wie ihr auch erwartet? Sie bekam sicher nicht jeden Tag die Gelegenheit, einem heißen Typen nah zu sein. Und wenn’s mal so war, verliebte sie sich natürlich augenblicklich. Okay, das reichte, ich musste hier weg. Sofort!

„Also dann, Rotschopf.“ Ich zögerte kurz, bevor ich sie rasch umarmte, wobei ich für minimalen Körperkontakt sorgte. Sie duftete wirklich nicht gerade nach Blumenwiese, doch es war nicht schlimm. Ich wusste, dass ich auch nicht besser roch. „Mach’s gut, ja? Danke noch mal für alles.“

„Äh, ja, okay. Gern geschehen ...“, stotterte sie und sah mich irritiert an, als ich mich wieder von ihr löste. „Pass auf dich auf ... Chris.“

„Du auch auf dich“, sagte ich. Meine Güte, wir verabschiedeten uns, als wären wir seit hundert Jahren ein Paar und ich würde nun in den Krieg ziehen. „Tschüss, Rotschopf.“

„Ich heiße Edda. Nur falls es dich interessiert. Christopher.“

„Okay, hab’s kapiert.“ Gespielt resigniert hob ich die Hände und sie lachte glucksend. Sie hatte ein wirklich tolles Lachen, das wie Musik in meinen Ohren klang. Aber was spielte das noch für eine Rolle?

„Gut.“ Sie lächelte befriedigt. „Soll ich dir helfen, dich sicher nach unten zu schleichen, ohne dass mein Vater dich erwischt und dich lyncht? Auf halbem Weg könnte ich dir auch noch eine Kopfschmerztablette geben.“

Dieses Mädchen sah vielleicht aus wie Pumuckl, aber es war eindeutig ein Engel, auf die Erde gesandt, um meinen dröhnenden Kopfschmerzen Einhalt zu gebieten.

„Das wäre nett von dir“, sagte ich nickend.

Sie grinste. „Wie du gestern schon sagtest, Chris, ich bin nett.“

Hatte ich das gesagt? Hm, dann stimmte es wohl. Betrunkene und Kinder sagten immer die Wahrheit.

Wir schlichen wie die Indianer hinunter in die Küche, wo sie mir gleich zwei Kopfschmerztabletten und eine ganze Flasche Wasser überreichte.

„Danke, Rotschopf.“ Ich legte den Kopf in den Nacken, schluckte die Tabletten und trank gierig das kalte, prickelnde Wasser. Erst als ich mit dem Trinken fertig war, bemerkte ich, dass sie mich ansah, als hätte sie sich gewünscht, dass ich an dem Wasser erstickte. „Was denn?“, fragte ich, während ich die Flasche zuschraubte.

„Nenn mich nicht Rotschopf!“, fauchte sie verärgert. „Ich heiße Edda.“

„Okay“, ich hob beide Hände, „kein Grund, sich so aufzuregen.“

„Ich rege mich nicht auf“, schnaubte sie und zuckte leicht zusammen, als sie ein Poltern auf der Treppe hörte. „Mein Vater“, zischte sie. „Jetzt aber schnell!“

Sie packte mich überraschend fest am Arm und schleifte mich durch den Flug zur Haustür, riss sie auf und schubste mich hinaus. Anschließend warf sie einen prüfenden Blick in den Flur.

„Edda?“, vernahmen wir die Stimme ihres Vaters. „Bist du’s? Du kannst jetzt duschen, das Bad ist frei.“

„Oh ja“, feixte ich und beschloss, sie noch ein letztes Mal zu ärgern, „das solltest du wirklich tun. Du riechst nämlich ein bisschen streng, Rotsch... äh, Edda.“

Sie zeigte mir den Mittelfinger und sah nun ziemlich wütend aus. Zeit abzuhauen. „Verpiss dich, Waldoff“, brummte sie.

Ich salutierte übertrieben, reichte ihr die Wasserflasche, drehte mich um und ging raschen Schrittes den sauberen, gepflasterten Weg entlang zum Gartentor.

„Edda?“ Die Stimme des Vaters drang bis zu mir herüber, er musste schon fast an der Haustür sein.

Gerade als ich das Gartentor öffnete, rief Edda mir noch zu: „Ach, Chris?“ Ein letztes Mal sah ich sie an. „Wenn du in den Spiegel schaust, erschrick nicht.“ Dann wandte sie den Kopf, brüllte: „Alles gut, Paps, war nur ein Zeuge Jehovas“, und knallte die Tür lauter als nötig zu. Lachend und kopfschüttelnd machte ich mich vom Acker. Eine kleine Irre, dieser Rotschopf.

Mithilfe der öffentlichen Verkehrsmittel gelangte ich nach Hause, war froh, dass ich in der S-Bahn nicht beim Schwarzfahren erwischt wurde, und trabte trotz schmerzender Glieder die Straße entlang, in der mein Vater und ich lebten.

In einer alle anderen Häuser überragenden, schmucken, sonnengelb gestrichenen Bonzenvilla hausten wir. Vor der Garage parkte die Bonzenkarre meines Vaters, ein roter, pfeilschneller Porsche, und daneben stand, ebenfalls nagelneu, mein silbermetallicfarbener Mercedes, den mein Alter hatte springen lassen, als er noch geglaubt hatte, sich mit teuren Geschenken meine Liebe erkaufen zu können. Vor einem halben Jahr etwa hatte er mir den Wagen hingestellt und ich war, so oft es ging, damit rumgedüst, um Fahrerfahrung zu sammeln und nicht alles zu verlernen. Damit ich, wenn es so weit war, abhauen konnte. Jetzt war es so weit, doch ich konnte nicht abhauen, weil ich noch Restalkohol im Blut hatte.

Ich war vielleicht manchmal ein Hitzkopf, aber ich war kein Vollidiot. Ich wusste, dass es riskant war, nach einer feucht-fröhlichen Nacht mit Alk und Partypillen durch die Gegend zu fahren. Ich wollte schließlich meinen Führerschein nicht verlieren und schon gar nicht wollte ich irgendjemandes Leben gefährden. Außerdem, wenn die Bullen mich anhielten und mich blasen ließen, war ich geliefert. Wen würden sie wohl kontaktieren, damit er mich von der Polizeiwache abholte? Richtig, meinen Alten. Das Risiko war viel zu hoch, dass ich ihn dann wieder an den Hacken hatte, deshalb musste ich mindestens bis heute Abend warten, bevor ich abhauen konnte.

Ich bereute die bescheuerte Saufaktion längst. Der Sex mit Olivia war’s nicht wert gewesen zu bleiben, ich hätte gestern nach der Abiturfeier das Weite suchen sollen. Andererseits hätte ich Edda dann nie kennengelernt ... zumindest nicht auf diese Weise.

Egal. Ich wollte jetzt weder an Edda noch an Olivia oder sonst irgendein Mädchen denken. Alles, was zählte, war, dass ich mir ein paar Sachen aus meinem Zimmer holte und ungesehen verschwand, bevor mein Alter merkte, dass ich in seinem Haus abhing. Sonst würde er mich für den Rest meines Lebens einsperren, so viel war sicher.

Ich pirschte mich ans Haus heran, versicherte mich, dass die Luft rein war und er nicht mit seinen Mentholzigaretten im Vorgarten saß und die Umwelt verpestete, dann kletterte ich so behände wie in meiner Verfassung möglich (also wie ein Affe mit zwei gebrochenen Armen) an der großen, mächtigen Eiche hoch, die direkt vor dem Balkon meines Zimmers stand. Die vielen Äste und Knorpel am Stamm boten mir den Halt, den ich zum Klettern brauchte, und in null Komma nix saß ich rittlings auf einem dicken Ast und bewegte mich langsam auf den kleinen Balkon zu. Die Balkontür ließ ich immer offen, sodass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit von meinem Alten unbemerkt rein- und rauskonnte, wie ich wollte. Er hatte das in all den Jahren nie bemerkt. Während er mich, wenn er mir Hausarrest aufgebrummt hatte, reumütig auf meinem Zimmer wähnte, war ich über den Balkon abgehauen, hatte mich mit meinen Kumpeln betrunken, mit irgendeinem Mädchen geschlafen oder sonst irgendwie Spaß gehabt.

Mein Alter hätte das schon vor Jahren merken können, wenn er sich jemals für mich interessiert hätte. Was jedoch nicht der Fall gewesen war. Es hatte auch sein Gutes, wenn man den Eltern am Allerwertesten vorbeiging, man konnte tun und lassen, was man wollte.

Ich kraxelte vom Ast auf den Balkon und atmete auf. So, Schritt eins war geschafft. Ich stieß die Balkontür auf und betrat mein Zimmer, in dem wie immer Chaos herrschte, es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Der Boden war bedeckt mit Klamotten, Motorradzeitschriften und irgendeinem Schrott, der sich im Laufe der Jahre bei mir angesammelt hatte. Ich watete durch den ganzen Kram hinüber zu meinem Bett, das natürlich nicht gemacht war (wofür sollte man sein Bett machen, wenn man sich am Abend eh wieder reinlegte?), zog die oberste Schublade meines Nachtschranks auf und entnahm ihr einen dicken Briefumschlag, in dem sich um die tausend Euro befanden (ehrlich erarbeitet im mexikanischen Restaurant des Onkels eines Kumpels), eine angebrochene Packung Kippen, eine Blechbüchse, in der ich Kondome aufbewahrte, sowie ein Foto, das meine Mutter und mich zeigte.

Auf dem Bild war ich etwa fünf Jahre alt, schmiegte meinen Kopf an die Schulter meiner Mutter und kuschelte mich eng an sie, während wir beide ernst in die Kamera blickten. Ihre Arme hielten mich umklammert, als hätte sie Angst, ich könnte von ihrem Schoß rutschen und unter dem großen grauen Teppich verschwinden, der ebenfalls auf dem Foto zu sehen war. Sie wirkte blass, aber vielleicht hatte das nur am Licht gelegen, ihre blauen Augen sahen traurig aus, überhaupt wirkte die Stimmung auf dem Bild sehr gedrückt. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass die Oberlippe meiner Mutter ein bisschen angeschwollen war. Am Tag davor war meinem Vater die Hand ausgerutscht, als meine Mutter gesagt hatte, er solle mich nicht immer anbrüllen. Er ließ sich nicht gerne etwas sagen, schon gar nicht von Mama. Ich hatte gesehen, wie er meine Mutter schlug, und hatte augenblicklich angefangen zu weinen, woraufhin er auch auf mich losgegangen war. Meine Mutter hatte sich weinend dazwischengeworfen, sonst hätte ich wohl ebenfalls ein blaues Auge abbekommen.

Vor Wut ballte ich die Fäuste, als ich daran zurückdachte. Ich war ein fünfjähriges Kind gewesen, verdammt, und meine Mutter war eine zierliche, zerbrechliche Frau. Keiner von uns hatte sich gegen ihn wehren können, wir waren ihm hilflos ausgeliefert gewesen. Während er uns in unseren vier Wänden tyrannisiert und uns jeden Tag zur Hölle gemacht hatte, präsentierte er sich der Öffentlichkeit als liebender Familienvater und Ehemann. Irgendwann bröckelte die Fassade jedoch, spätestens als meine Mutter ihn verlassen hatte und ich die Wunden, die ich ihm zu verdanken hatte, nicht mehr versteckte. Nun wusste alle Welt, was für ein Scheißkerl er war, all seine Freunde mieden ihn, die Frauen machten einen weiten Bogen um ihn und die Angestellten erzitterten, sobald er die Firma betrat. Er führte ein erbärmliches Leben, jeder hasste ihn, er sich selbst wahrscheinlich am meisten. Doch er hatte es nicht anders verdient. Was nützte ihm all sein Geld, wenn er niemanden hatte, mit dem er es teilen konnte, und wenn er sich nichts davon kaufen konnte, das ihm wirklich Freude machte?

Jeder bekam, was er verdiente, das hatte meine Mutter schon immer gesagt. Und mein Vater bezahlte für alles, was er uns angetan hatte, mit diesem grauen, öden, lieb- und freudlosen Leben. Ich empfand kein Mitleid für ihn, sondern pure Genugtuung.

Ich riss die Schranktür auf, achtete nicht darauf, dass die Hälfte der Klamotten zerknüllt in die Fächer gestopft worden war, sondern holte meinen alten hellbraunen Seemannsrucksack aus dem obersten Fach. Er hatte mir schon früher gute Dienste geleistet, wann immer ich übers Wochenende von zu Hause ausgerissen und in Köln herumgezogen war. Ich stopfte das Briefkuvert, das Foto, die Kondome und die Kippen hinein, dann wühlte ich im Kleiderschrank herum und packte sechs Boxershorts, zwei Hosen, zwei T-Shirts und einen Kapuzenpullover ein. Mehr passte nicht hinein, der Rucksack platzte jetzt schon aus allen Nähten. Ich musste Gewalt anwenden, um den Reißverschluss zuzukriegen. So, das war geschafft!

Ich hörte ein Poltern im Flur und zuckte zusammen. Mist, er war schon wach, ich musste mich beeilen.

Ich hastete zu meinem Schreibtisch, dort lagen mein Portemonnaie mit meinem Ausweis, Führerschein und der Bankkarte darin, mein Handy und der Autoschlüssel. Ich stopfte alles in meine Hosentaschen und warf einen letzten Blick zurück. So, das war’s. Ich würde diese müffelnde Rumpelkammer nie wieder betreten.

„Na dann, tschüss“, murmelte ich, trat auf den Balkon und schloss leise die Tür. Von hier aus gelangte ich auf den Baum und nur noch ein Sprung trennte mich vom Boden. Als ich loslief, konnte ich es kaum fassen. Neunzehn Jahre Hölle lagen hinter mir, nun begann der Himmel.

Als ich einige Minuten später an der S-Bahn-Station stand, atmete ich erleichtert aus. Geschafft. Jetzt war ich wirklich ein freier Mensch. Später musste ich nur noch mein Auto holen, dann hielt mich nichts mehr hier.

Der Rucksack war schwer, ich stellte ihn vor mir auf den Boden, wippte unruhig auf den Fersen auf und ab. Die beiden jungen Mädchen, die mit mir auf die Bahn warteten, starrten mich entgeistert an, doch als ich zu ihnen hinüberblickte, guckten sie schnell weg. Ich sah an mir herab, gewahrte die dreckverschmierte schwarze Anzughose mit Loch am Knie, mein schmutziges weißes Hemd, das völlig durchgeschwitzt war, und konnte mir vorstellen, dass sie mich für einen Penner hielten. Oder einen Landstreicher. Und irgendwie war ich das auch ‒ heimatlos, nicht in der besten Verfassung und ich roch ziemlich übel. Mittlerweile wurde mir von meinem eigenen Körpergeruch schlecht. Ich beschloss, erst mal in ein Schwimmbad oder so zu gehen, um mich zu waschen.

In der Bahn setzte ich mich auf einen Fensterplatz, stellte meinen Rucksack auf den Sitz neben mich, damit keiner daraufkam, sich neben mich zu setzen, und blickte aus dem Fenster. Eine Fahrkarte kaufte ich mir nicht, ich hatte keine Lust, mein Geld für so was auszugeben. Außerdem hatte ich, unorganisiert, wie ich war, das Geldkuvert ganz unten verstaut, sodass ich erst mal alle Klamotten ausräumen müsste, wenn ich an die Kohle wollte.

Im Bahnfenster konnte ich mein Spiegelbild sehen und plötzlich checkte ich, was der Rotschopf gemeint hatte, als er sagte, ich solle nicht beim Anblick meines Spiegelbildes erschrecken. Mein Gesicht sah aus wie eine zermatschte Pflaume, meine Wangenknochen waren doppelt so dick wie normalerweise, mein Auge leuchtete gelblich violett, meine Lippe war aufgeplatzt und über meiner rechten Augenbraue klebte ein Pflaster. Oh Mann, da hatte der Kerl sich echt mal an mir ausgetobt.

An der letzten Station dieser Linie stieg ich aus und musste zugeben, dass es schon ziemlich dreist war, ohne Angst bis zur Endstation zu fahren, wenn man keinen Fahrschein bei sich hatte. Aber ich war eben ein ganz harter Bursche.

Grinsend stand ich auf dem schmutzigen Gehsteig und blickte mich um. War eigentlich eine ganz nette Gegend hier, eine Ex von mir wohnte in der Nähe und ich spielte mit dem Gedanken, sie zu besuchen. Zum Glück erinnerte ich mich noch rechtzeitig daran, dass unsere Beziehung zerbrochen war, weil ich mit ihrer Schwester geschlafen hatte, und da ich keine Zickereien oder gar Heulkrämpfe heraufbeschwören wollte, verwarf ich diese Idee gleich wieder, schulterte meinen Rucksack und folgte stattdessen dem Hinweisschild, das mir verriet, dass hier ganz in der Nähe ein Freibad war.

Ich grub am Eingang nach meinem Geldbeutel, stopfte anschließend die Klamotten unordentlich in den Rucksack zurück, ignorierte die geschockten, verwirrten oder angewiderten Blicke der Großfamilien und Senioren, die mein Tun beobachteten, und kaufte mir bei der netten Lady am Schalter eine Eintrittskarte. Gern hätte ich auch nach ihrer Handynummer gefragt, aber ich hielt mich zurück. So wie ich aussah, würde ich vorläufig keine ins Bett kriegen. Erleichtert betrat ich die Duschräume, ging in eine der Kabinen, verriegelte die Tür, zog mich aus und stellte mich unter den heißen Wasserstrahl. Ich wusch mein Haar, rubbelte meinen Körper ab und hielt mein Gesicht in den warmen Strahl. Danach fühlte ich mich fast wieder menschlich. Da ich kein Handtuch eingepackt hatte, trocknete ich mich notdürftig mit dem Kapuzenshirt ab, schlüpfte in frische Boxershorts, stopfte die getragenen Klamotten in den Rucksack und verließ die Kabine.

Wieder spürte ich Blicke auf mir, diesmal jedoch waren sie von der begehrlichen Sorte und stammten von jungen Mädchen, die sich am Anblick meines festen Waschbrettbauchs und meiner muskulösen, glatt rasierten Brust ergötzten. Ich wusste, dass ich einen guten Oberkörper hatte, nicht umsonst ging ich regelmäßig trainieren. Ich winkte einer vierköpfigen Mädchengruppe zu, die mich besonders auffällig anglotzte, und das Gekicher und Gekreische war groß. Grinsend ging ich weiter. Mädchen, so was von berechenbar!

Bei der netten, jungen Dame am Empfang kaufte ich mir eine große Flasche Wasser und ein Eis am Stiel. Vielleicht würde das gegen die noch immer in meinem Kopf tobenden Schmerzen helfen.

„Ach so, und wie viel muss ich zahlen, damit du mir auch noch deine Handynummer gibst?“, flirtete ich sie nun doch an, als ich ihr einen Fünfer für Eis und Wasser rüberschob. Vielleicht hatte ich mit nacktem Oberkörper bessere Chancen bei ihr, weil sie dann über mein Gesicht hinwegsah.

„Tut mir leid“, sie lächelte zurückhaltend, „aber ich steh nicht so auf Bad Boys.“

„Woher willst du wissen, dass ich ein böser Junge bin?“, fragte ich, setzte meinen unschuldigsten Dackelblick auf und schnappte mir Eis und Wasser.

Lachend wischte sie den klebrigen Tresen ab. „Hast du mal in den Spiegel geschaut?“, fragte sie. Nee, hatte ich nicht. Aber ins Bahnfenster ...

„Ach, das.“ Ich winkte gespielt gleichgültig ab. „Das sind doch nur ein paar Kratzer, nichts Dramatisches. Hatte nur ’ne etwas unschöne Begegnung mit einem Pfosten.“ Das traf es ganz gut.

Die Kassiererin lachte glockenhell und strich sich die honigblonden Haare aus der Stirn. Ich sah ihr in die Augen ‒ grün, geheimnisvoll, interessant, aber bei Weitem nicht so schön wie die von Edda. Herrgott, warum dachte ich eigentlich ständig über die Augen dieses Mädchens nach?

„Tut mir leid. Aber ich hab einen Freund“, erwiderte die Lady nun.

Ach, das fiel ihr jetzt ein? Interessant. Ich war mir sicher, dass sie den Freund nur erfunden hatte, aber da die Schlange hinter mir immer länger wurde und sich nun ein dicker Typ hinter dem Mädchen aufbaute, der nach Pommesfett roch und sich bestimmt nicht scheute, es einzusetzen, beschloss ich, es gut sein zu lassen. Ich hätte sie bekommen, wenn ich drangeblieben wäre. Ich bekam immer, was ich wollte. Oder wen ich wollte ...

„Na dann“, ich klopfte auf den Holztresen, „nichts für ungut. Ich glaub, dein Freund steht schon hinter dir. Tschüss.“ Während sie sich überrascht zu dem übergewichtigen Typen umdrehte, der locker ihr Großvater sein konnte, machte ich mich aus dem Staub.

Ich verbrachte den Nachmittag im Schatten der Bäume, schleckte mein Eis, leerte die Wasserflasche, döste vor mich hin und sah eine Weile den vier Mädels von vorhin beim Hockeyspielen zu. Sie hatten sich extra so positioniert, dass sie in meinem Blickfeld mit ihren süßen, leicht bekleideten Hinterteilen herumhüpften. Dabei brüllten sie so laut wie möglich die Namen ihrer Freundinnen durch die Gegend, damit ich auch mitbekam, wie sie alle hießen.

Irgendwann wurde mir das Ganze zu langweilig. Mittlerweile war es halb fünf, der Kater zog sich langsam zurück und ich fühlte mich um einiges klarer im Kopf. Ich schnappte mir meinen Rucksack, warf ihn mir über die Schultern und schlüpfte in meine schwarzen, ramponierten Turnschuhe. „Tschüss, Mädels“, rief ich, winkte ihnen lächelnd zu und stapfte davon, ohne mich noch mal umzudrehen und auf die Verzückungsschreie zu reagieren.

Ich hatte es tatsächlich geschafft. Nun saß ich in meinem Auto und war mit 150 Sachen auf der Autobahn unterwegs, auf dem Weg nach Berlin. Ich fühlte mich gut, die Kopfschmerzen waren weg, mein Gesicht tat zwar hin und wieder weh, aber nur, wenn ich lachte oder sonst irgendeinen Muskel bewegte.

Ein alter Freund von mir, Marvin, lebte in Berlin, vor vier Jahren war er dorthin gezogen. Früher waren wir zusammen geskatet, hatten uns auf Partys mit Mädchen vergnügt und den gleichen Dealer gehabt. So was verband. Jetzt war ich also auf dem Weg zu ihm, würde ein paar Nächte bei ihm pennen und in der deutschen Hauptstadt meinen Spaß haben, bevor ich mich daranmachte, den Aufenthaltsort meiner Mutter zu ermitteln. Ich wollte sie nicht aufsuchen, ehe meine Wunden verheilt waren, schließlich wollte ich sie nicht zu Tode erschrecken. Außerdem wäre mein Gesicht ein einziger Vorwurf gewesen, dass sie mich verlassen hatte. Und ich wollte ihr keine Vorwürfe machen. Ich wollte sie nur endlich wiedersehen, sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass ich sie liebte und vermisste.

Ich überholte einen Lkw, blieb gleich auf der Überholspur und gab mehr Gas. Die Geschwindigkeit berauschte mich, gab mir ein gutes Gefühl. In ein paar Stunden war ich in Berlin und dann konnte das wahre Leben beginnen.

***

Edda:Ich lag am Strand von Ibiza zwischen Timos Beinen, mein Kopf ruhte auf seiner Brust, ich hatte eine Sonnenbrille auf der Nase und eine Schirmmütze auf dem Kopf, während die Sonne unbarmherzig auf uns herabknallte. Ich konnte quasi da-

bei zusehen, wie sich meine Sommersprossen vermehrten.

Kim war im Wasser und knutschte mit irgendeinem spanischen Typen herum, den sie vor fünf Minuten kennengelernt hatte. Seit wir hier waren, riss sie einen nach dem anderen auf. Ich konnte noch immer nicht so ganz fassen, dass Bastian tatsächlich mit ihr Schluss gemacht hatte.

„Er will nichts verpassen“, hatte sie schluchzend erzählt, als wir uns getroffen hatten, um über die plötzliche Trennung zu reden. „Er meinte, wir würden doch jetzt ohnehin eigene Wege gehen, unsere Lebensentwürfe würden nicht zusammenpassen, er wolle uns beiden nicht die Chance auf neue Erfahrungen verbauen.“

„Was für ein Idiot“, hatte ich ausgerufen und meine am ganzen Körper schlotternde, völlig verzweifelte beste Freundin an mich gezogen. Ich hatte sie ganz fest gehalten, während sie trauerte.

„Ich liebe ihn, Edda. Ich liebe ihn so sehr, dass es wehtut“, schluchzte sie.

„Ich weiß“, hatte ich gemurmelt. „Ich weiß.“

„Es tut weh, es tut so weh. Mach, dass es aufhört, Edda!“

„Es wird vorbeigehen“, sagte ich sanft und streichelte ihr Haar. „Irgendwann wird der Schmerz weniger.“

„Ich will sterben.“

„Nein, das willst du nicht. Das willst du ganz und gar nicht, Kimmi. Dieser Idiot hat dich überhaupt nicht verdient. Du wirst einen Besseren finden, der dich von ganzem Herzen liebt und dich nie wieder verlässt.“

„Ich will aber keinen anderen. Ich will Bastian.“

„Du wirst einen anderen wollen. Schon sehr bald, das verspreche ich dir.“

Tja, so wie es nun aussah, wollte sie alle Junggesellen auf Ibiza. Das war schon der fünfte Kerl in sieben Tagen, dem sie sich gerade an den Hals warf. Und wir würden noch eine ganze Woche hier sein ... großer Gott!

„Schatz, wollen wir auch mal ins Wasser gehen?“, murmelte Timo und küsste meinen Nacken, während er mit den Fingern sanft meinen Arm streichelte. „Sonst schmelzen wir hier noch.“

„Hm.“ Ich rekelte mich träge in seinen Armen, der Schweiß perlte an mir herab, sammelte sich zwischen meinen Brüsten. Ein bisschen Abkühlung würde mir sicher guttun, ich fühlte mich schon ganz benommen von der Sonne.

„Na, komm schon!“ Er drückte leicht gegen meine Schenkel. „Hoch mit deinem süßen Hintern.“

Schwerfällig erhob ich mich, nahm den Hut und die Brille ab und schob beides in meine pinkfarbene Strandtasche, ehe ich mein giftgrünes Bikinioberteil, das ganz und gar nicht mit meinem Haar harmonierte, in Position rückte und das Bikinihöschen weiter über den Hintern zog. Zum wiederholten Male fragte ich mich, warum ich mich von Kim dazu hatte überreden lassen, so ein knappes Teil zu kaufen. Das Oberteil bestand eigentlich nur aus zwei Dreiecken, auch das Höschen war ein Hauch von nichts. Lediglich Kims schwarzer Pornobikini konnte das noch toppen, dieser war eigentlich nur ein schmaler Stoffstreifen zwischen den Beinen, der die Pobacken vollständig freiließ, auch vorne herum überließ er nichts der Fantasie. Und das Oberteil verhinderte nur mit knapper Not, dass die Brüste herauspurzelten. Kein Zweifel, Kim war der pure Sex in diesem Teil.

„Du siehst unglaublich scharf aus, Süße“, raunte Timo mir zu, der so dicht hinter mir ging, dass die Wärme seines Körpers meinen Rücken aufheizte.

Ich wusste, dass er nicht nur so dicht bei mir war, weil er meinen Hintern in dem knappen Höschen toll fand, sondern auch, weil er verhindern wollte, dass zu viele andere Kerle daraufglotzten. Obwohl ich zeit meines Lebens noch nie ein Männermagnet gewesen war, war ich hier auf Ibiza schon zweimal mit „Hola, guapa“ angesprochen worden, was übersetzt „Hallo Hübsche“ hieß. Und eine Gruppe heißer, braun gebrannter Spanier hatte mir hinterhergepfiffen, als ich morgens am Strand Yoga gemacht hatte. Natürlich war ich geschmeichelt gewesen von so viel männlicher Aufmerksamkeit, gleichzeitig war es mir aber auch unangenehm und ich hätte mich gerne irgendwo verkrochen. Der beste Schutz war in Timos Armen. Wenn ich mit ihm zusammen war, fühlte ich mich sicher.

Seit Bastian mit Kim Schluss gemacht hatte, machte ich mir insgeheim Sorgen, dass Timo vielleicht auch mit mir Schluss machen würde, bevor er seine Deutschlandtour antrat und ich nach Südafrika flog. Vielleicht wollte er auch ... neue Erfahrungen mit anderen Mädchen sammeln. Vielleicht war er auch der Ansicht, es würde uns um spannende Abenteuer bringen, wenn wir zusammenblieben. Eigentlich wusste ich, dass diese Spinnereien und Ängste völlig irrational waren, weil Timo mich wirklich liebte und mir das auch mehrmals täglich sagte. Aber dann tauchten plötzlich wieder die Bilder von Hanna und ihm in meinem Kopf auf, ich beobachtete die lange, intensive Umarmung vor meinem geistigen Auge und bekam prompt wieder ein schlechtes Gefühl.Dabei hatte ich Timo wohl schlimmer hintergangen ... als Chris und ich Arm in Arm auf meiner Couch geschlafen hatten. Manchmal kam ich mir absolut lächerlich vor, weil ich so viel über diese Nacht nachgrübelte, so häufig an Chris dachte und daran, wie es ihm wohl ging, wo er war, was er machte. Bestimmt erinnerte er sich schon gar nicht mehr an mich, weil er viel zu viele aufregende Abenteuer mit anderen Mädchen erlebte. Ihm hatte diese Nacht sicher nichts bedeutet, aber ich war ein Mädchen. Ich konnte nicht einfach Arm in Arm, Hand in Hand mit einem Halbfremden auf einer Couch liegen und das wieder vergessen.

Ich hatte Kim davon erzählt und erwartet, dass sie völlig ausflippte, aber sie hatte nur neugierig gefragt: „Und wie war’s? So Arm in Arm mit dem sexiest man alive? Ich meine, Christopher Waldoff ist zweifellos dumm wie Stroh und kein Umgang für dich, aber er ist schon verdammt heiß. Haha, ich würde zu gerne Olivias Gesicht sehen, wenn die wüsste, dass ihr euch so nahe wart ...“

„Gott, reib ihr das bloß nicht unter die Nase!“, hatte ich erschrocken ausgerufen. „Die bringt es noch fertig und erzählt Timo davon. Dann ist unsere Beziehung beendet.“

„Ach Quatsch!“ Kim hatte abgewinkt, dann kurz gestockt, die Augen zusammengekniffen und forschend nachgefragt: „Warte mal ... du willst ihm nichts davon erzählen?“

„Bist du verrückt?“, hatte ich geschockt ausgerufen. „Auf keinen Fall!“

„Aber ich dachte, es hätte nichts zu bedeuten?“

„Hat es auch nicht.“ Ich bekam rote Flecken im Gesicht vor Scham. „Genau deshalb braucht Timo es nicht zu erfahren.“

„Aha.“ Kim guckte verwirrt drein. „Ich finde, das wäre irgendwie ’ne witzige Anekdote.“

„Was? Du hast wohl einen Vogel“, sagte ich entgeistert. „Wie soll ich ihm das denn als lustige Geschichte verkaufen?“ Ich verstellte meine Stimme. „Ach, Schatz, neulich ist mir was total Spaßiges passiert. Ich habe Chris Waldoff, den größten Aufreißer der Stadt, stockbesoffen auf der Straße aufgelesen, seine Wunden versorgt und ihn mit in mein Zimmer genommen. Wir haben eng umschlungen zusammen auf meiner Couch übernachtet, haha, aber wir waren immerhin nicht nackt.“ Ich hatte meine beste Freundin finster angesehen. „Echt eine Superstorm, Kim.“

„Na ja“, sie knibbelte an ihrem Fingernagel herum, „das wäre wirklich noch ausbaufähig. Aber bist du dir ganz sicher, dass du ihm nichts sagen willst? Ich meine, du bist die aufrichtigste Person, die ich kenne. Meinst du, du hältst das durch?“

Ich wurde nervös, weil Kim die ganze Sache so dramatisierte, was normalerweise gar nicht ihre Art war. „Also, Kim, jetzt ist es aber gut“, hatte ich entschieden gesagt. „Ich bin doch nicht fremdgegangen oder so. Kein Sex, nicht mal fummeln, da war gar nichts. Ich glaube, Chris fand mich absolut unattraktiv. Warum also sollte ich ein schlechtes Gewissen haben? Ich hab Timo schließlich nicht betrogen.“

„Na ja, du weißt, Süße, Betrug fängt im Kopf an. Denkst du denn hin und wieder an Christopher?“

Ich wurde knallrot und riss die Hände in die Höhe. „Lieber Himmel, Kim, nein!“

„Und warum wirst du dann rot?“

Ich konnte ihr einfach nichts vormachen, also legte ich die Hände an meine überhitzten Wangen und sagte matt: „Können wir bitte über was anderes reden? Bitte?“

Sie hob die Hände. „Okay, wie du willst, Süße. Ich hoffe nur, das kommt nicht doch noch irgendwann raus.“

„Wie denn? Solange du die Klappe hältst, wird er’s nicht erfahren. Und du sagst Timo doch nichts, oder?“

„Natürlich nicht, wofür hältst du mich?“ Kim war ehrlich entrüstet. „Ich verstoße doch nicht gegen den unter besten Freundinnen geltenden Ehrenkodex.“

Richtig. Der Kodex lautete: Ich nehme die mir anvertrauten Geheimnisse meiner besten Freundin mit ins Grab und würde sie nicht mal unter Folter ausplaudern. Ich war jedoch nicht ganz ehrlich zu Kim gewesen. Denn ich dachte hin und wieder an Chris. Okay, ziemlich häufig sogar. Und in jener Nacht, als er mich im Arm gehalten hatte, hatte ich von ihm geträumt. Keine Ahnung, wieso, vermutlich, weil mein Hirn irgendwie verarbeiten musste, dass der Traum aller Frauen entstellt wie noch nie in meinem Zimmer lag und schlief wie ein Stein. Das Schlimmste an allem war, dass ich geträumt hatte, wir würden uns küssen. Es war mit einem Mal einfach so passiert, ohne dass ich es steuern konnte. Ich hatte geträumt, ich würde mich auf die Zehenspitzen stellen und ihn einfach küssen, dabei würden wie durch ein Wunder all die Wunden in seinem Gesicht heilen. Er lächelte und nannte mich seinen Engel, bevor er unglaublich zärtlich mein Gesicht umfasste und mir den besten Zungenkuss meines Lebens verpasste.

Mitten in diesem Traum hatte meine Mutter mich geweckt, was mit ein Grund dafür gewesen war, dass ich wie von der Tarantel gestochen aus dem Schlaf hochfuhr, als sie mich an den Schultern gerüttelt hatte.

„Hey, Edda.“ Timo schnippte mir sanft mit dem Finger gegen die Nase und ich kehrte ins Hier und Jetzt zurück.

Mein Gesicht glühte, was nicht nur an der Hitze lag, sondern auch an den Erinnerungen an jenen Traum, die gerade wieder hochgekommen waren. Was war nur los mit mir? Ich hatte den wundervollsten Freund der Welt und dachte an einen Playboy. Ich musste völlig verrückt sein. Womöglich lag es an der Hitze. „Schatz, du warst ja gerade meilenweit weg mit deinen Gedanken.“ Timo trat neben mich, nahm meine Hand und führte mich die letzten Schritte zum kristallklaren, in der Sonne verheißungsvoll glitzernden Wasser.

Ich schlüpfte aus meinen Flipflops und setzte langsam einen Fuß ins Nass. Herrlich erfrischend. Gerade als ich den zweiten Schritt machen wollte, packte Timo mich, zog mich an sich, hob mich hoch und rannte mit mir in die aufschäumenden Wellen hinein. „Timo! Timo, nicht!“, kreischte ich lachend in seinen Armen und klammerte mich an seinen starken, gebräunten Schultern fest. Er roch gut, nach Sommer, Sonnencreme und Salzwasser, und er trug mich auf Händen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich war einfach nur dumm, wenn ich meine Zeit weiterhin mit Gedanken an Chris verschwendete.

Er hatte mir seine Handynummer aufgeschrieben, ich hatte sie an jenem Abend auf meinem Schreibtisch entdeckt, zusammen mit dem Angebot, sich irgendwann mal zu revanchieren. Obwohl es bestimmt nicht so gemeint gewesen war, hatte das in meinen Ohren sehr zweideutig geklungen. Kurzerhand hatte ich die Nachricht in winzige Stücke zerrissen und aufgesaugt. Klar, ich hatte übertrieben, aber ich wusste mir im Chaos meiner Gefühle nicht anders zu helfen.

In dem Moment ließ Timo mich mitten im Wasser einfach fallen und ich klatschte platschend ins kühle Nass, Salzwasser stieg mir in die Nase, lief mir in den Mund, brannte in den Augen. Prustend kam ich wieder hoch und zahlte es ihm mit viel Gespritze und Gekreische heim. Schließlich war ich von dem ganzen Herumtollen so erschöpft, dass ich mich an seinen Schultern festhalten und wieder zu Atem kommen musste. Timo strich mir das schwere rote Haar über die Schulter, meine Hand wanderte in seinen Nacken, massierte ihn zärtlich, während wir uns hingebungsvoll küssten. Meine Beine schlangen sich um seine Hüfte, ich ließ mich von ihm über Wasser halten und kostete diesen Moment voll aus. Für ein Jahr würde es das letzte Mal sein, dass wir uns sahen. Dies hier war unser letzter gemeinsamer Urlaub, bevor wir durchstarteten, unser Abschiedsurlaub sozusagen. Seit einigen Wochen hatten wir nun das Abitur, die Sommerferien waren in ein paar Wochen zu Ende und dann begann der Ernst des Lebens.

Plötzlich wurden wir nass gespritzt, lösten uns widerwillig voneinander und sahen Kim auf uns zukraulen. Ihr braunes Haar war völlig zerwühlt von den Händen des unersättlichen Spaniers, ihre grünen Augen blitzten vergnügt und ihr schönes Gesicht strahlte vor Selbstzufriedenheit. Ich fragte mich, was wäre, wenn Bastian sie so sähe ‒ eng umschlungen mit anderen Jungs, in heiße, leidenschaftliche Knutschereien vertieft. Würde er eifersüchtig werden und die Trennung bereuen oder wäre er froh, dass Kim scheinbar über ihn hinweggekommen war? Ich wusste, sie war es nicht, sie verdrängte ihren Liebeskummer nur. Aber sie hatte ihren Spaß und das war vorerst das Einzige, was zählte. Wassertretend hielt sie neben uns an. „Na, ihr Turteltäubchen?“

„Na, du Aufreißerin?“ Ich griff unter Wasser nach ihrer Hand, hielt mich mit der zweiten weiterhin an Timo fest. „Konnte er gut küssen?“

Kim grinste und nickte begeistert. „Oh ja, er war der Beste bis jetzt. Ich sage dir, Edda, diese Südländer küssen so was von gut. Und sie sind alle wahnsinnig sexy, findest du nicht? Wie schade, dass du vergeben bist.“

„Hey!“, riefen Timo und ich unisono. Prompt tauchte mein Freund Kim unter. Prustend kam sie wieder hoch, lachte und wischte sich über die Augen. „Aber was soll’s, so bleiben immerhin mehr für mich.“ Sie zwinkerte uns zu, ließ sich auf den Rücken fallen und planschte sanft mit den langen, schlanken Beinen. Die rot lackierten Zehennägel leuchteten kilometerweit und lockten sicher schon den nächsten knutschfreudigen Kandidaten an.

„Wo hast du denn deinen Toyboy gelassen?“, wollte Timo spitz wissen, während er die Arme um meine Taille legte.

Kim warf ihm einen bösen Blick zu. „Sein Name ist Diego, wenn du es genau wissen willst, und er ist NICHT mein Spielzeug. Ich mag ihn wirklich.“

„Na dann“, sagte Timo, ohne zu erwähnen, dass sie das bei den vier Typen zuvor ebenfalls behauptet hatte, und deren Namen hatte sie schon wieder vergessen.

„Hey, lasst mich doch ein bisschen Spaß haben“, sagte sie achselzuckend. „Es muss ja nicht jeder so langweilig sein wie ihr und gleich den Erstbesten nehmen.“

Okay, das war jetzt wirklich unverschämt gewesen, aber ich würde es gut sein lassen. Sie meinte es nicht so, das wusste ich. Schnell küsste ich Timo, der bereits wütend den Mund öffnete, und flüsterte ihm ins Ohr: „Lass sie.“

Später, als Kim wieder mit ihrem Diego rummachte, erklärte ich ihm: „Tief in ihrem Inneren trauert sie um Basti. Sie hat ihn wirklich geliebt und dieser Mistkerl hat sie verlassen. Kim versucht, damit fertig zu werden, indem sie sich mit anderen Jungs ablenkt und sich selbst beweist, dass sie attraktiv genug ist, um andere auf sich aufmerksam zu machen.“

„Aha“, Timo sah mich kopfschüttelnd an, „die Psyche der Frauen kapiert kein Mensch.“

„Falsch“, murmelte ich und küsste ihn sanft, „nur Männer kapieren das nicht. Das ist zu hoch für euch.“ Als Strafe für diesen Spruch tunkte er mich unter.

Seit ich dich kenne ...

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