Читать книгу Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell - Страница 13

2004

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Edda: Der Wecker ging um sieben Uhr morgens und ich hätte ihn am liebsten gegen die Wand gedonnert. Mit geschlossenen Augen tastete ich orientierungslos auf meinem Nachtkästchen herum, bis ich das lärmende Teil zu fassen bekam. Ich drosch zweimal

mit der flachen Hand darauf ein und atmete erleichtert auf, als das durchdringende, ohrenbetäubende Schrillen abrupt abbrach.

Ganz langsam machte ich ein verquollenes Auge auf, linste in Richtung Fenster. Schwach drangen die ersten Sonnenstrahlen durch den dünnen weinroten Vorhang, Vögel trällerten in den Bäumen ein fröhliches Morgenlied und ich hatte miese Laune. Es war Montag, eine neue Woche erstreckte sich scheinbar endlos vor mir, ohne irgendwelche Höhepunkte, sie würde ebenso langweilig und gewöhnlich werden wie all die anderen tristen grauen Wochen zuvor.

Ach, vielleicht würde mir heute wieder ein Kind das Shirt vollkotzen wie letzten Donnerstag oder Luca, dieser unerzogene Rotzlöffel, würde mich in die Hand beißen, sobald ich versuchte, ein Spielzeug aus seinen klebrigen, pummeligen Patschhändchen zu befreien. Oder Kevin würde mir seinen Frühstücksteller mit dem Marmeladenbrötchen darauf in den Schoß kippen und das Brötchen würde, welche Überraschung, mit der bestrichenen Seite nach unten auf meiner Hose landen. Ja, solch aufregende Dinge erlebte ich Tag für Tag mit den kleinen Rowdys.

Allein der Gedanke an den kommenden 1. September hielt mich aufrecht ‒ dann würde ich abfliegen. Nach Australien. Zu meiner Gastfamilie. Mittlerweile hatte sich bei dem Au-pair-Programm nämlich ganz schön was getan. Ich hatte zu mehreren Gastfamilien aus Australien, dem Land, für das ich mich entschieden hatte, Kontakt gehabt, alles Eltern, die sich meine Bewerbungsunterlagen und das kleine Vorstellungsvideo, das ich von mir gedreht und ebenfalls an die Vermittlungsagentur gesendet hatte, angesehen hatten und mich kennenlernen wollten. Wir hatten miteinander telefoniert, über Skype sowie per E-Mail Kontakt gehabt und von einigen Kindern hatte ich schon gemalte Bilder zugeschickt bekommen.

Von Anfang an hatte ich mich mit der Familie aus Sydney am besten verstanden, wir sprachen locker und zwanglos miteinander, die Worte kamen mir leicht über die Lippen und alle Familienmitglieder waren mir äußerst sympathisch. Schlussendlich entschied ich mich für diese Familie, obwohl ich noch zwei andere zur Auswahl gehabt hätte.

Er hieß Liam, sie Chloe und gemeinsam hatten sie drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Der Älteste der Rasselbande hieß Cooper und war zehn Jahre alt, Noah war sechs und die kleine Mia erst ein Jahr alt. Sie waren alle drei zuckersüß und unglaublich wohlerzogen und freundlich. Ich freute mich wahnsinnig darauf, sie bald richtig kennenzulernen, die ganze Familie Adams.

Aber jetzt war erst Mai, mir standen noch vier ätzend lange Monate bevor, ehe ich endlich die Biege machen konnte. Es nützte alles nichts, ich musste aufstehen, in einer Stunde musste ich im Kindergarten sein. Freispiel, Morgenkreis, noch mehr Freispiel, Frühstück, die Kinder für den Garten fertig machen, mit ihnen draußen spielen, wieder rein, Mittagessen, Nachmittagsprogramm ... es war immer dasselbe.

Ich wusste, dass ein geregelter Tagesablauf für Kinder wichtig war, sie brauchten Routine. Ich hingegen langweilte mich zu Tode. Immerzu dasselbe, tagein, tagaus.

Ich war unzufrieden mit meinem Leben und schämte mich dafür, da andere Leute es wesentlich schlimmer getroffen hatten als ich, aber mir ging es momentan einfach nicht gut. Es war, als wäre mein Leben zum Stillstand gekommen, nichts ging voran, alles schien ein einziger fetter Klumpen aus bedeutungslosen Ereignissen zu sein. So hatte ich mir mein Leben wirklich nicht vorgestellt. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Ein Praktikum im Kindergarten ... vielleicht hätte ich einfach zu studieren anfangen sollen, auch wenn ich nach wie vor nicht wusste, was eigentlich.

Lustlos schwang ich die Beine aus dem Bett und hievte mich in die Höhe. Kurz verharrte mein Blick auf den Fotos über meinem Bett. In einem weißen Rahmen zierte das Foto von Chris und mir Arm in Arm im Park Güell die Wand, daneben hing ein Bild, auf dem wir Blödsinn machten und wilde Grimassen schnitten. Es war an einem Abend in einer Bar aufgenommen worden, als Chris letzten Oktober für ein Fotoshooting in Köln gewesen war. Wir hatten uns, so oft es ging, getroffen und er hatte mich immer wieder aufs Neue zum Lachen gebracht. Zwar hatten wir auch über alles Mögliche gezankt, aber das gehörte bei uns einfach dazu.

Außerdem hing ein Zeitungsartikel an meiner Wand, es war ein Artikel über Chris aus einer kleinen Modezeitschrift. Eine Doppelseite, gespickt mit Fotos. Sie nannten ihn Newcomer und Good-looker und Bad boy with a good heart. Das mit dem guten Herzen spielte auf die Werbekampagne gegen Pelz an, die er im letzten Jahr abgedreht hatte, und auf seine Aussagen, dass er außer gegen Pelze auch noch gegen Massentierhaltung und Tierversuche war. Er hatte sich beim breiten Publikum als Tierfreund profiliert, und obwohl Chris mit Tieren eigentlich nicht viel am Hut hatte, wusste ich, dass er es nicht ertragen würde, ein Tier leiden zu sehen. Ich fand es gut, dass er seine steigende Bekanntheit dazu nutzte, die Gesellschaft auf das Negative aufmerksam zu machen. Vielleicht würden einige Mädchen, die in Chris verschossen waren, in Zukunft darauf verzichten, in echten Pelz gewandet herumzustolzieren. Vielleicht erinnerten sie sich an die Message der Werbekampagne: Keiner braucht den Pelz so sehr wie die Tiere selbst.

Chris’ Karriere war im letzten halben Jahr steil bergauf gegangen, er hatte einige Aufträge an Land gezogen, Plakate von ihm mit nacktem Oberkörper und selbstbewusstem Blick hingen überall in der Stadt. Er war umgeben von Tieren ‒ Kaninchen, Ziegen, Schafen und Lämmern, Rindern, Waschbären, Iltissen und Bibern, die natürlich nicht mit ihm zusammen posiert hatten, sondern im Nachhinein mit aufs Bild kopiert worden waren. Über allem prangte in riesigen Buchstaben:

Natürlich schön ‒ trag deine eigene Haut!

Chris erinnerte bei genauerem Hinsehen an Noah, nur ohne Arche, und manchmal musste ich schmunzeln, wenn ich durch die Stadt ging und sein Konterfei mir von einer Werbetafel entgegengrinste.

Aber er war auch in Katalogen abgebildet, wo er irgendwelche Klamotten präsentierte, neulich war er über den Catwalk in Berlin geschritten, er warb für Duschgel, Shampoo und alle möglichen Pflegeprodukte, für Pralinen und Bonbons und in einer Fernsehwerbung für Zahnpflegekaugummis hatte ich ihn erst kürzlich ebenfalls entdeckt. Auf dem Bildschirm wirkte er fast noch attraktiver als in echt, er strahlte Mut und Selbstbewusstsein aus und ich empfand Stolz, wenn ich ihn im Fernsehen sah und daran dachte, dass wir befreundet waren.

In größeren, für ihre Mode bekannten Städten Europas war er auch schon zugange gewesen, auf Modepartys, Shootings, Meetings mit irgendwelchen Stardesignern und so weiter ‒ Paris, Mailand, London und Antwerpen.

Wenn ich mit ihm telefonierte, klang er stets fröhlich und energiegeladen, meist war er gerade auf dem Sprung, weil er irgendwelche Termine hatte ‒ Castings, Interviews, Shootings.

Als ich einmal besorgt nachfragte, ob ihm das alles nicht zu viel wurde, meinte er nur: „Ach, Unsinn, Ed. Ich lebe meinen Traum, da kann es gar nicht zu viel werden. Du hast doch selbst gesagt, dass ich mich richtig reinhängen muss, wenn ich was erreichen will. Ich bin jung, ich bin gesund, ich steck das schon weg. Ich feiere nicht mehr so viel wie früher und ich trinke nicht mehr so häufig, muss auf mein Image achten. Keine Sorge, mir geht’s prima.“

Ich glaubte ihm. Er war auf dem Weg die Karriereleiter hoch und ich würde ihn in seinem Eifer nicht bremsen. Er machte eine gute Figur vor der Kamera, wirkte, egal, was er machte, authentisch und hatte eindeutig viel Potenzial, das war selbst mir als Laie klar.

Ich kramte in meinem Kleiderschrank nach einem passenden Outfit für den heutigen Tag, suchte mir eine weite weiße Leinenhose und ein figurbetontes dunkelgraues Top aus, zog den Schlafanzug aus, frische Unterwäsche und die ausgewählten Kleidungsstücke an, schleppte mich zum Bad und stand vor verschlossener Tür. Dampfschwaden drangen darunter hervor.

Ich stöhnte genervt und hämmerte energisch gegen die Tür. „Mutter“, schnauzte ich. „Ich muss rein. Ich hab’s eilig.“ Wie üblich hörte sie nichts, weil sie irgendeine Melodie vor sich hin summte und, wie ich vermutete, die Ohren voller Badeschaum hatte.

Meine Mutter war seit Monaten abartig guter Laune, ständig strahlte sie von einem Ohr bis zum anderen, tippte in einem fort auf ihrem Handy herum, erhielt irgendwelche SMS und kicherte blöd. Papa kommentierte das nicht, starrte nur teilnahmslos auf seinen überladenen Teller und tat, als ginge ihn das alles nichts an.

Ich hielt es kaum noch aus, mit den beiden am Tisch zu sitzen in der Gewissheit, dass ihre Ehe immer mehr den Bach runterging und keiner den Mund aufmachte. Ein paarmal war ich kurz davor gewesen, etwas zu sagen, hatte mich dann aber dagegen entschieden, schließlich war ich nur das Kind und eh bald wieder weg. Ich verkniff mir also jegliche Bemerkung, auch wenn ich oft fast daran erstickte, und sah dabei zu, wie die Ehe der beiden in sich zusammenfiel wie ein Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen geholt und dann stehen gelassen hatte.

Meine Mutter hatte einen Lover, dessen war ich mir ziemlich sicher. Das würde ihre permanent gute Laune erklären. Und Papa war das vollkommen egal.

Ich war im April 20 geworden. Ich war also kein Kind mehr. Falls die beiden sich scheiden lassen wollten, würde mich das nicht allzu sehr beeinträchtigen. Ich überlegte mir oft, wie es wohl für mich wäre, wenn die beiden die Scheidung einreichen und von da an getrennte Wege gehen würden. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn sie an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Häusern leben würden, nur noch das Nötigste miteinander redeten und sich ansonsten aus dem Weg gingen. Oder würden sie Freunde bleiben so wie Timo und ich?

Eigentlich hatte ich kein Recht, von den beiden zu verlangen, für immer zusammenzubleiben. Wenn es sich nicht mehr richtig anfühlte, wäre es okay, wenn sie sich scheiden ließen. Alles andere würde sie nur kaputt machen. Mama könnte mit ihrer neuen Liebe glücklich sein und Papa könnte sein Alkoholproblem wieder in den Griff kriegen.

Andererseits war es bei ihnen anders als bei Timo und mir. Sie waren seit dreißig Jahren zusammen, seit zweiundzwanzig verheiratet und sie hatten sich zusammen ein Leben aufgebaut. Sie hatten ein gemeinsames Kind, nämlich mich, und Tausende Erinnerungen. Konnte man das wirklich so einfach aufgeben? Ich kannte die Antwort nicht, stellte mir aber vor, wie schwer es sein musste, plötzlich ohne jemanden leben zu müssen, mit dem man dreißig Jahre lang so gut wie jeden Tag verbracht hatte. Jemand, der so lange Zeit Teil des eigenen Lebens, beinahe Teil des eigenen Selbst gewesen war, konnte man einen solchen Menschen überhaupt verlassen?

Energisch klopfte ich erneut gegen die Tür. „Mutter!“, brüllte ich und rüttelte an der Türklinke. „Lass mich rein!“ Das Wasser wurde abgestellt, ich hörte sie pfeifend aus der Dusche kommen, ergriff meine Chance und schlug mit der Faust fest gegen die Tür. „Mama!“

„Moment noch, Liebes“, rief sie vergnügt, ich hörte ein Klappern und Scheppern, etwas fiel zu Boden, dann wurde die Tür geöffnet und Mama stand mir gegenüber, Dampfschwaden waberten um ihren Kopf, ihr Haar hing nass herab, sie war in ein übergroßes gelbes Handtuch gewickelt und lächelte mir zu. „Geduld ist eine Tugend“, sagte sie weise.

„Ja, ja, schön. Treue auch“, entgegnete ich spitz, schob sie genervt beiseite und knallte die Tür zu. Ich erstickte fast hier drin, es war stickig und unerträglich heiß. Ich riss das große Fenster sperrangelweit auf, beugte mich hinaus und schnappte hektisch nach Luft.

Mama stand hinter mir und sah mich erschrocken an. „Was willst du damit sagen?“, fragte sie, ihre Stimme zitterte leicht.

Ich füllte meine Lungen noch mal mit Sauerstoff, ehe ich mich mit gestrafften Schultern zu ihr umwandte. „Mama, ich bin nicht blöd“, sagte ich geradeheraus. „Denkst du, ich hab nicht kapiert, was hier läuft?“ Ich drängte mich an ihr vorbei zum Waschbecken. „Glaubst du, ich hab nicht längst geschnallt, dass du eine Affäre hast? Mit wem auch immer, es interessiert mich eigentlich gar nicht, ich finde es einfach nur ziemlich billig und geschmacklos, dass du Papa so was antust. Nach dreißig Jahren Beziehung beschmutzt du eure Liebe, indem du mit irgendeinem anderen ins Bett steigst. Warum machst du nicht vorher Schluss, bevor du was Neues anfängst?“ Ich schnappte mir die Wimperntusche und machte mich ans Werk, meine Hand zitterte ganz leicht.

Mama stand schweigend hinter mir und sah mir dabei zu, wie ich mich schminkte. Ihre Unterlippe zitterte leicht, ihr Gesicht war knallrot, ob von den Dämpfen oder aus Scham konnte ich nicht sagen. Aber sie stritt es nicht ab. Sie stritt nicht ab, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gab, einen, mit dem sie schlief. Ich spürte, wie ich wütend wurde. Wütend auf sie, weil sie Papa betrog mit irgendeinem Wildfremden. Oder vielleicht war es auch kein Fremder? Wütend auf Papa, weil er sie nicht zur Rede stellte, sondern soff und schwieg. Und auch auf mich, vor allem auf mich, weil ich nicht einfach die Klappe gehalten hatte. Warum hatte ich mich nicht rausgehalten? Meine Eltern waren erwachsen. Sie waren erfahrener als ich, in jeder Hinsicht.

Mama räusperte sich, wollte etwas sagen, stockte. Ich griff zum Kajal, zum Lippenbalsam, zur Haarbürste, kämmte mir das Haar so grob, dass ich es mir büschelweise ausriss. Ich spürte den Schmerz kaum.

„Edda, das ist nicht so einfach“, sagte sie zögernd und strich sich eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr. War das nun ein Schuldeingeständnis? „Es ist ... weißt du, zwischen Papa und mir lief es schon lange nicht mehr rund, schon bevor du nach Südafrika gegangen bist, hat es gekriselt. Ich hab so gehofft, dass wir das wieder hinkriegen, weil ich deinen Vater liebe, wirklich, das tue ich und das werde ich immer. Peter wird stets ein Teil von mir sein. Aber wir kennen uns so lange, Edda, über dreißig Jahre, wir sind so lange zusammen, unser halbes Leben. Und wir haben uns beide bemüht, haben versucht, die Ehe zu reparieren. Wir wollten dir gute Eltern sein, Maus, und das haben wir geschafft. Nun bist du erwachsen und ziehst in die weite Welt hinaus und für uns gibt es nichts mehr zu tun als Eltern.“

„Ich brauche immer noch Eltern“, murmelte ich matt.

Mama seufzte leise, streckte die Hand aus, als wolle sie mich berühren, doch als sie meinen Blick im Spiegel auffing, brachte irgendwas in meinen Augen sie dazu, die Hand zu senken.

„Natürlich, Süße, entschuldige, das war unglücklich formuliert. Ich meine nur, du bist kein kleines Kind mehr, du stehst auf eigenen Beinen, machst dein Ding und wir sind beide wahnsinnig stolz auf dich. Ich hatte diese ... Sache nicht geplant, Edda, ehrlich. Es ist einfach passiert. Zwischen mir und Paul, das ist was Besonderes. Zumindest fühlt es sich besonders an. Dein Vater weiß nichts davon und ich würde dich darum bitten, ihm nichts zu erzählen. Ich will ihn nicht verletzen.“

Ich schnaubte. „Das hast du längst getan“, sagte ich bitter und band meine Haare zu einem Knoten zusammen, sie waren hoffnungslos zerzaust trotz der Kämmerei. „Warum sagst du ihm nicht einfach die Wahrheit? Sag ihm, dass du ihn nicht mehr liebst und die Scheidung willst.“ Meine Stimme klang so emotionslos, dass ich selbst erschrak.

Mama schluckte schwer, ehe sie sich verzweifelt zu erklären versuchte. „Edda, ich kann ihn nicht verlassen. Nicht jetzt! Hast du nicht mitbekommen, wie er drauf ist? Er ... er hat Alkoholprobleme, Edda, er ist jeden Abend so betrunken, dass er in einen komatösen Schlaf fällt. Er ist kurz davor, seinen Job zu verlieren, seine Firma steht vor dem Bankrott. Ich kann ihn nicht verlassen, das würde ihn umbringen. Er braucht mich jetzt. Außerdem ist da das Haus, es gehört uns beiden zusammen. Ich kann deinen Vater nicht auszahlen, falls er ginge, und er mich nicht, falls er bliebe. Wir lassen alles vorerst so, wie es ist. Aber ich brauche Paul in meinem Leben, Edda, ohne ihn halte ich es nicht mehr aus. Er bringt mich auf andere Gedanken, er bringt mich zum Lachen, er ist mein Fels in der Brandung.“ Eine kleine Träne kullerte ihr über die Wange, schnell wischte sie sie fort. „Er gibt mir so viel Kraft“, flüsterte sie, „ohne ihn würde ich das alles nicht durchstehen.“ Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und begann zu schluchzen. Ihre Schultern bebten heftig.

Rasch senkte ich den Blick. Ich hatte meine Mutter bisher selten weinen sehen und wie jedem Kind zerriss es auch mir fast das Herz, sie so verzweifelt und traurig zu sehen. Wir Kinder waren es so sehr gewöhnt, von den Eltern beschützt und getröstet zu werden, dass wir aus allen Wolken fielen, wenn sie mal von uns Schutz und Trost brauchten.

Ich hatte nicht gewusst, dass Papa pleite war. Oder dass es so schlimm war mit der Trinkerei. Ich hatte nichts von Mamas Verzweiflung geahnt. Wie musste es sein, in einer so ausweglosen Situation zu stecken? Was, wenn man zu schwach war, um zu gehen, aber zu stark, um zu bleiben?

In meinem Kopf drehte sich alles und mir war klar, dass ich hier rausmusste, wenn ich nicht den Verstand verlieren wollte. Ich wirbelte herum und huschte an Mama vorbei. Im Vorbeigehen berührte ich kurz ihre Schulter. „Mach dich nicht kaputt“, flüsterte ich tonlos, dann rannte ich in den Flur, schlüpfte in meine Turnschuhe, schnappte mir den Autoschlüssel und stürmte ins Freie. Endlich konnte ich wieder durchatmen.

Wie in Trance fuhr ich zum Kindergarten, stellte mich schräg auf zwei Parkplätze, machte den Motor aus und lehnte mich erschlagen gegen die Rückenlehne. Das musste ich alles erst mal sacken lassen. Mein Elternhaus brach in sich zusammen und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis lediglich ein Haufen Schutt und Asche übrig blieb. Gab es die Option, dass die beiden sich wieder zusammenrauften?

Sie waren ihr halbes Leben lang ein Paar. Sie kannten einander besser als irgendwer sonst. Würde das ausreichen, um ihre Liebe zu retten? Was war mit diesem Paul? War er nur ein Trostpflaster für meine Mutter, ein rettender Anker auf stürmischer See? Oder war er ihre neue Liebe, jemand, mit dem sie gerne ihr restliches Leben verbringen würde?

Mir war schlecht und ich hatte Bauchschmerzen, Tränen lauerten hinter meinen Lidern und drohten überzulaufen. Ich fühlte mich erschöpft und ausgelaugt. Konnte ich nach Australien gehen, wenn bei meinen Eltern alles zusammenbrach? Konnte ich sie im Stich lassen, jetzt da sie mich brauchten?

Als ich daran dachte, Australien sausen zu lassen, liefen die Tränen über, rannen mir heiß über die Wangen und rissen die Wimperntusche mit. Australien war für mich, was Paul für Mama war. Der Fels in der Brandung. Der Anker. Das, was mich aufrecht hielt. Was mich durchhalten ließ.

Seit Kim und Chris weg waren und Timo und ich getrennt, gab es in dieser Stadt niemanden mehr, mit dem ich mich verbunden fühlte. Marlene hatte inzwischen einen neuen Freund und verbrachte ihre gesamte Zeit mit ihm, außerdem hatte sie ein paar Ansichten, die ich absolut nicht vertreten konnte. Und sie war der Meinung, ein chaotisches Leben ohne Plan wäre nur halb so viel wert wie ein durchorganisiertes, geordnetes. Es machte keinen Spaß, außerhalb eines Kinos Zeit mit ihr zu verbringen, weshalb dieser Kontakt ziemlich eingeschlafen war.

Kim und Timo waren während der gesamten Schulzeit meine engsten Freunde, die engsten Vertrauten gewesen. Wir waren meist unter uns geblieben und die Leute, mit denen ich sonst hin und wieder etwas unternommen hatte, waren lediglich Bekannte, aber keine Freunde. Ihnen konnte ich mein Herz nicht ausschütten.

Zu Miriam und Philipp, die ich in Neuseeland kennengelernt hatte, hatte ich nur noch sporadisch Kontakt, Tayo und ich hatten schon seit Monaten nichts mehr voneinander gehört.

Im Februar dieses Jahres war ein neues soziales Netzwerk online gegangen ‒ Facebook. Ich hatte mich sofort angemeldet, weil es eine Chance bot, mit den Menschen in meinem Leben Kontakt zu halten ‒ mit Tayo in Südafrika, Philipp und Miriam in Duisburg, Chris in Berlin und Kim in Bayreuth. Auch mit Timo war ich auf Facebook befreundet, aber wir hatten noch nie miteinander geschrieben. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass Timo nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Er hatte, wie ich über die Angabe des Beziehungsstatus auf seiner Facebookseite herausgefunden hatte, eine neue Freundin namens Valentina, die ich nicht kannte, die aber wohl noch zur Schule ging, und zwar auf jenes Gymnasium, das ich vor knapp zwei Jahren verlassen hatte. Ihn konnte ich also auch nicht kontaktieren.

Kim war so sehr mit Leon, dem Studium und ihrem eigenen Leben beschäftigt, dass ich sie mit meinen Problemen nicht langweilen wollte, sie schien ohnehin in letzter Zeit gelangweilt von mir zu sein. Nie hatte ich was Spannendes zu berichten, nichts über neue Freunde oder heiße Nächte, nur über überlaufende Windeln und Rotznasen konnte ich Geschichten erzählen.

Plötzlich dachte ich an Chris und in meinem Inneren wurde es wohlig warm. Chris war mein Fels in der Brandung. Ihm konnte ich mich anvertrauen. Warum war mir das nicht früher eingefallen? Hastig zückte ich mein Handy und durch den Schleier meiner Tränen hindurch tippte ich eine SMS.

Hallo Chris! Ich hoffe, dir geht’s gut. Mir geht’s leider gar nicht gut, es gibt Probleme mit meinen Eltern und überhaupt erscheint mir mein ganzes Leben momentan so sinnlos ... Können wir reden? Kannst du mich in meiner Mittagspause anrufen? 12-13 Uhr? Ich brauche jemanden, der mir zuhört, und das kann keiner so gut wie du. Danke!

Ich versendete die Nachricht, förderte aus dem Handschuhfach ein Päckchen Taschentücher zutage und putzte mir die Nase, anschließend behob ich den Schaden in meinem Gesicht, hoffte, dass meine Haut nicht allzu fleckig und meine Augen nicht allzu glasig aussahen, stieg aus dem Auto und betrat die Höhle der Kleinkinder.

Ich schleppte mich durch den Vormittag, hörte mir im Sitzkreis die Wochenendgeschichten der Kinder an, die allesamt spannender waren als meine, las Bücher vor, malte, trocknete Tränen, schlichtete Streits, kuschelte mit besonders liebesbedürftigen Kindern und versuchte, mir meine eigenen Sorgen und Probleme nicht anmerken zu lassen.

Gegen Mittag half ich den Kleineren beim Anziehen der Gartenschuhe, ehe ich mich mit den Größeren daran machte, Blumentöpfe aus Ton mit Serviettentechnik, Perlen, Farben und Glitzerstiften zu verzieren. Später würden wir Blumen hineinpflanzen, ein Schleifchen drumherum binden und es wären tolle Geschenke für die Eltern.

Die Kids hatten ihren Spaß, ließen ihrer Kreativität freien Lauf, malten, schnippelten und klebten. Ich half, so gut ich konnte, verzierte meinen eigenen Blumentopf und sehnte die Mittagspause herbei. Während ich meinen Pinsel in die weiße Farbe tauchte und damit den Topf bestrich, stellte ich mir vor, wie ich mir alles von der Seele redete, und fühlte mich gleich besser.

Als es endlich so weit war, verzog ich mich mit meinem Handy in die Tiefen des Personalraums, in dem sich an diesem sonnigen Maitag keiner außer mir aufhielt, und wartete, ob Chris sich meldete.

Um fünf nach zwölf klingelte mein Handy, ich las seinen Namen auf dem Display, lächelte und ging ran. „Hey, Chris. Schön, dass du anrufst.“

Seine Stimme klang zärtlich und fürsorglich. „Hi Rotschopf. Schieß los, was ist passiert?“

***

Chris: „Alter, das ist echt so was von krass. Das ist doch Wahnsinn, Mann! Bist du dir auch ganz sicher, dass du das willst?“

„Ja, du Schwachkopf.“ Marvin warf mir einen bösen Blick zu. „Laura ist die Frau meines Lebens

und heute wird sie meine Frau werden. Davon hab ich die letzten Monate geträumt.“

Er hatte seltsame Träume, mein bester Kumpel. Ich zog und zerrte an meiner Krawatte herum und war zunehmend genervt, weil ich es einfach nicht hinbekam, sie richtig zu binden. Ich fühlte mich ganz und gar unwohl in dem steifen Anzug, ich war nun mal kein Anzugträger. Dabei war es ein wirklich schickes Exemplar von Hugo Boss, bestehend aus grauer Hose, schwarzem Hemd, schwarzer Krawatte und grauem Sakko mit nur einem Knopf etwa in Höhe des Bauchnabels. Dennoch kam ich mir verkleidet vor und die Krawatte trieb mich in den Wahnsinn.

„Komm, ich mach das, das kann man ja nicht mit ansehen.“ Marvin kam mir zu Hilfe, mit wenigen Griffen hatte er die Krawatte ordentlich gebunden und zurechtgerückt. Er klopfte mir auf die Schulter und grinste. „Das hätten wir. Hast du die Ringe?“

Ich befühlte die rechte Sakkotasche mit der Hand, ertastete die kleine, viereckige Schachtel und beschloss, meinem besten Kumpel einen Streich zu spielen, das Schauspielern fiel mir nicht mehr schwer.

Ich zog ein langes Gesicht, riss entsetzt die Augen auf. „Scheiße, Alter, sie sind weg“, stieß ich gespielt erschrocken hervor. „Verdammt, wie kann das denn sein? Eben waren sie doch noch da.“

Wie vorausgesehen bekam Marvin schier einen Nervenzusammenbruch, raufte sich das wenige Sekunden zuvor noch ordentlich zurechtgekämmte Haar und sprang im wahrsten Sinne des Wortes im Viereck. „Scheiße, nee, das kann jetzt nicht wahr sein! Chris, wir heiraten in knapp eineinhalb Stunden und du hast die Ringe verloren? Ist das etwa dein verdammter Ernst?“ Er schlug mir wütend gegen die Schulter. „Ich hab’s gewusst, ich hätte die Ringe selber behalten sollen. Das passiert, wenn man seinem schwachköpfigen besten Kumpel was Wichtiges anvertraut. Ich fass es nicht! Wie soll ich das denn Laura erklären, hm, kannst du mir das mal verraten?“ Mit flackerndem Blick sah er mich an.

Ich konnte mir das Grinsen nicht länger verkneifen. „Ihr könnt ja Serviettenringe nehmen“, schlug ich belustigt vor. „Oder ihr nehmt einfach die hier.“ Mit diesen Worten zog ich die Schachtel hervor und hielt sie hoch.

Marvin klappte den Mund auf und wieder zu, griff sich an die Brust und gab ein lautes Stöhnen von sich, während ich mich schlapplachte. Mein Gott, was schob der für eine Panik wegen dieser albernen Hochzeit!

„Tu das nie wieder!“ Er verpasste mir eine leichte Ohrfeige. „Ich schwör’s dir, Mann, das nächste Mal verpass ich dir eine.“

Ich lachte amüsiert. „Warum bist du denn so nervös, Mann? Denkst du, die Braut bekommt kalte Füße und macht sich vom Acker?“

Er warf mir einen finsteren Blick zu. „Das ist nicht witzig, Chris.“

„Meine Güte!“ Ich verdrehte die Augen. „Laura liebt dich, ihr seid seit hundert Jahren zusammen, als ob sie dich sitzenlassen würde an eurem großen Tag. Ich mach doch nur Spaß, Marv, du kennst mich doch.“

„Kannst du das heute bitte lassen?“ Er trat vor den Spiegel und richtete seine Frisur. „Laura ist heute etwas ... emotional, und wenn du sie nachher fragst, ob sie es sich nicht noch mal anders überlegen will, bricht sie prompt in Tränen aus und bringt das Jawort nicht mehr raus.“

Damit spielte er wohl auf den Tag des Probeessens vor ein paar Wochen an, als ich Laura scherzhaft gefragt hatte, ob sie einen Chaoten wie Marvin wirklich zum Mann nehmen wolle oder ob ich mir schon mal einen Fluchtplan für sie überlegen solle. Sie hatte mich so bestürzt angesehen, als hätte ich ihr vorgeschlagen, eine Affäre mit mir anzufangen, und hatte den ganzen restlichen Tag über kein Wort mehr mit mir gewechselt. Später berichtete Marvin mir, Laura meinte, dass ich einen schlechten Einfluss auf ihn hätte. Sie habe gefragt, ob er mit mir zusammen wieder Drogen nähme oder ob es sonst etwas gäbe, das sie wissen sollte, bevor sie seine Frau würde.

Sie hatte eindeutig nicht meinen Sinn für Humor und war so was von verkuscht, dass ich mich mehr und mehr fragte, ob Marvin mit diesem Mädel wirklich sein Glück finden würde. Aber ich würde ihm da nicht reinreden, er hatte so sehr um Laura gekämpft, hatte sie endlich bekommen und es sogar geschafft, sie dazu zu bringen, ihn zu heiraten. Heute war der große Tag und nun war es zu spät, um Zweifel zu säen.

„Chris? Hast du mich verstanden?“ Marvin blickte sich nach mir um und ich beeilte mich zu nicken.

„Ja, Mann, ist schon gut. Ich halte die Klappe.“

„Das hoffe ich für dich.“

Es klopfte an der Tür. Marvin und ich drehten uns beide um. „Herein!“, rief er.

Edda steckte ihren Kopf ins Zimmer und lächelte warm, als sie Marvin und mich in den schicken, eleganten Anzügen erblickte. War ja klar, dass ihr das gefiel.

„Na, Jungs, seid ihr so weit?“, fragte sie.

„Ja, wir sind fertig.“ Marvin lächelte nervös. „Wie geht’s Laura?“

Edda winkte beruhigend ab. „Alles in bester Ordnung. Du siehst übrigens großartig aus, Marvin.“

„Danke“, er lächelte ihr zu, „du kannst dich aber auch sehen lassen, Ed.“

Das stimmte. Edda trug ein bodenlanges, trägerloses cremefarbenes Kleid, das Oberteil lag eng an und betonte ihre festen, kleinen Brüste, der Rock fiel wasserfallartig hinab auf den Boden, der Schlitz an der Seite war verführerisch und aufreizend, und wenn man Glück hatte, erhaschte man einen Blick auf Eddas langes, glattes schneeweißes Bein. Ihr Haar hatte sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, zahlreiche Klammern und Spangen hielten das Kunstwerk zusammen. Eine lockige Haarsträhne fiel ihr keck ins Gesicht und ich war mir sicher, dass das Absicht war. Sie trug nur wenig Make-up, dafür aber knallroten Lippenstift, sodass ihre sinnlichen Lippen zu einem echten Hingucker wurden. Die Schuhe konnte man aufgrund des langen Kleides nicht erkennen, doch ich war mir sicher, dass sie flach waren ‒ Edda konnte auf hohen Hacken nicht laufen. Als ich beruflich in Köln gewesen war, waren wir in einem Schuhladen gewesen, weil ich ihr unbedingt hohe Schuhe schenken wollte. Ich hatte nicht glauben können, dass es eine Frau gab, die keine Absatzschuhe besaß. Die Mädchen, von denen ich sonst umgeben war, besaßen um die fünfzig, wenn nicht noch mehr High Heels.

Das Ergebnis war, dass Ed unsicher und taumelnd in traumhaften roten High Heels herumgestolpert war, sich fast den Fuß gebrochen und ausgesehen hatte wie der Storch im Salat. Wir hatten uns beide halb kaputt gelacht über ihr wackeliges Herumtorkeln, mir tat hinterher alles weh. Das Ende vom Lied war, dass Edda in den Schuhen umknickte und den Absatz abbrach. Wir mussten die Schuhe also bezahlen, obwohl sie wohl nie damit laufen würde. Ich bezahlte, obwohl sie lautstark protestierte, und hinterher war sie so geknickt, dass ich sie auf ein gigantisches Eis einlud, um ihre Laune zu heben.

Ich wusste, dass es Edda unangenehm war, dass ich alles bezahlte. Es gefiel ihr nicht, dass ich so viel Geld für sie ausgab, und sie sagte mir ständig, dass es nicht nötig wäre, weil sie selbst Geld verdiente.

Als ich zurück nach Berlin fuhr, schenkte sie mir zum Abschied ein Paket voll mit meiner Lieblingsschokolade, das sie bestimmt eine ganze Stange Geld gekostet hatte, was ich aber wahnsinnig süß von ihr fand.

Ed war einer der wenigen Menschen, denen ich noch vertraute. Langsam, aber sicher wurde ich berühmt, und wenn man in der Öffentlichkeit stand, hatte man plötzlich eine ganze Menge Freunde. Nicht nur Frauen, sondern auch Männer sprachen mich häufig an und wollten irgendwas von mir ‒ Freundschaft, Sex, Partnerschaft oder einfach nur ein Date. In ihren Augen jedoch konnte ich Dollarzeichen leuchten sehen. Vielleicht tat ich einigen damit unrecht, aber ich war überzeugt davon, dass die meisten nur mit mir befreundet sein wollten, um einen Teil meines momentanen Ruhms abzubekommen und im Rampenlicht zu stehen.

„Ich wollte nur kurz Bescheid sagen, dass Lauras Schwester jetzt da ist, mit ihr wolltest du doch zur Kirche fahren, oder?“, erkundigte Edda sich bei Marvin und der nickte.

„Ich schätze, dann geht’s jetzt los“, meinte er und atmete tief durch. Man sah ihm die Nervosität an der Nasenspitze an und mit einem Mal war er ganz blass.

Ich tätschelte ihm beruhigend die Schulter. „Hey, lächle mal, Kumpel. Du heiratest heute die Frau deines Lebens. Es ist alles vorbereitet, du musst nur noch Ja sagen.“

„Ich weiß“, Marvin lächelte gequält, „aber ich hab grad echt Schiss, Mann.“

„Das ist nur die erste Aufregung“, meinte Edda beruhigend, kam zu ihm und umarmte ihn rasch. „Das geht vorbei. Wenn du sie erst siehst, wirst du es kaum noch erwarten können, ihr das Jawort zu geben. Sie sieht wunderschön aus, Marvin.“

Die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem noch immer bleichen Gesicht. „Ich weiß. Sie ist schließlich die schönste Frau auf dem Planeten ... dicht gefolgt von dir natürlich.“

Edda lachte glockenhell und ich beobachtete die beiden zufrieden. Es freute mich, dass mein bester Freund und meine beste Freundin sich so gut verstanden. Letzte Woche hatten sie sich beim Polterabend kennengelernt.

Ende Mai hatte Marvin mir erzählt, er hätte Laura einen Antrag gemacht und sie hätte ihn angenommen. Der Hochzeitstermin sei am 16. Juli angesetzt, sie hätten einen Termin beim Pfarrer bekommen, obwohl der Juli wohl der Monat schlechthin zum Heiraten und die Kirche ziemlich ausgebucht wäre. „Fügung des Schicksals“, hatte Marvin strahlend erklärt. „Ich will sie so schnell wie möglich zu meiner Frau nehmen und das wird klappen.“

Die Hochzeit sollte in Heidelberg stattfinden, der Stadt, in der Laura studierte.

Überrumpelt hatte ich dagestanden und nach Worten gesucht. Marvin aber hatte mir eine elfenbeinfarbene Einladung in die Hand gedrückt und verkündet, ich könnte gerne eine Begleitung mitbringen, es sei sogar erwünscht. Ich hätte ja reichlich Auswahl.

Ich hatte nicht lange überlegen müssen, wen ich mitnahm. Ich wollte nicht mit einer hirnlosen Sexbombe dort auftauchen, die mich vielleicht sogar noch blamieren würde. Außerdem war ich in letzter Zeit in Bezug auf Frauen vorsichtiger geworden, ich ließ mich nicht mehr sofort auf jede ein. Die meisten wollten nämlich nur mit mir schlafen, um hinterher überall herumerzählen zu können, dass sie mit mir im Bett gewesen seien. Eine Frau hatte sogar mal Fotos von uns beim Knutschen geschossen, keine Ahnung, wie sie das hinbekommen hatte, ohne dass ich es bemerkte, und diese Fotos anschließend einer Zeitschrift verkauft. Die reißerische Schlagzeile lautete: Ist DAS Christophers Mädchen?

Joachim war alles andere als begeistert gewesen. „Du musst ein bisschen aufpassen, Chris“, hatte er gesagt. „Im Netz kursieren auch schon die wildesten Gerüchte. Wenn du nicht aufpasst, wirst du in der Presse bald als männliche Schlampe verbraten.“

Was leider gar nicht mal so weit an der Wahrheit vorbeizielte ...

Wie dem auch sei, seitdem hielt ich mich zurück. Was mir bei dem ein oder anderen hinreißenden Geschöpf doch ziemlich schwerfiel. Was sollte ich sagen, es gab eben viele Versuchungen ...

Ich hatte Edda angerufen und sie gefragt, ob sie mit mir auf die Hochzeit meines besten Freundes gehen wollte. Ihr ging es gerade nicht so gut, ihre Eltern hatten wohl ziemliche Probleme und Edda, einfühlsam, wie sie war, nahm sich das sehr zu Herzen, obwohl es sie eigentlich gar nicht betraf. Ein bisschen Abwechslung und Ablenkung, um sie auf andere Gedanken zu bringen, konnten also nicht schaden. Es gefiel mir nicht, wie piepsig und erschöpft ihre Stimme klang, wann immer ich mit ihr telefonierte. Sie wirkte mutlos, entkräftet.

Als sie mich gefragt hatte, ob sie das Au-pair-Jahr in Australien absagen sollte, um ihren Eltern beizustehen, war ich richtig wütend geworden. „Lass nicht zu, dass sie dir das kaputt machen“, hatte ich aufgebracht ausgerufen. „Sie sind erwachsen, Ed, sie müssen ihre Probleme alleine auf die Reihe kriegen, sie hätten dich da gar nicht mit reinziehen dürfen. Außerdem glaube ich kaum, dass es etwas an der Situation ändern wird, wenn du bleibst, außer vielleicht dass es dir dann noch schlechter geht.“

„Es geht hier aber nicht nur um mich“, hatte sie verzweifelt ausgerufen. „An erster Stelle geht es um meine Eltern, Chris. Sie brauchen mich jetzt, besonders Papa. In letzter Zeit geht es ihm richtig beschissen, er trinkt zu viel, neulich wäre er fast die Treppe runtergefallen. Er hat niemanden außer mir, nur ich kann mit ihm reden, mir vertraut er sich an, auf mich hört er. Er hat seinen Job verloren, seine Ehe ist kaputt, er steht praktisch vor dem Nichts.“

„Das ist nicht dein Problem“, hatte ich lapidar erwidert, „an erster Stelle in deinem Leben solltest immer du stehen, Edda, niemand sonst. Du musst dich in erster Linie um dich kümmern. Das tut nämlich sonst keiner.“

„Es kann nicht jeder so gefühllos sein wie du“, hatte sie verärgert ausgerufen. „Und überhaupt, du hast ja keine Ahnung, wie das ist, wenn man seinen Eltern nahesteht. Wir waren all die Jahre eine intakte, glückliche Familie, ich lasse nicht zu, dass meine Eltern das wegschmeißen. Nur weil du ein schlechtes Verhältnis zu deinem Vater hast, heißt das nicht, dass ich es auch so halten muss. Schon klar, dass du dich ein Leben lang nur für dich selbst interessiert hast, du egoistischer Mistkerl, aber bei mir ist das anders.“

Dann hatte sie aufgelegt und ich war dagestanden mit dem Telefonhörer in der Hand, bebend vor Zorn. Wie konnte sie es wagen? Sie hatte keine Ahnung, was mein Vater mir angetan hatte. Keine Ahnung, dass ich ohne Mutter aufgewachsen war. Sie wusste nichts über meine Kindheit, nichts über die Trauer und Verzweiflung, die ich damals empfunden hatte, weil ich nicht wie all die anderen Kinder um mich herum ein sorgloses Leben führen konnte.

Ich hatte sie zurückgerufen, einmal, zweimal, dreimal. Jedes Mal hatte sie mich weggedrückt. Ich hatte dem Drang, etwas zu zerstören, nachgegeben und mein Zimmer komplett verwüstet. Als ich wieder zur Besinnung kam, schwer atmend und mit aufgeschürften Fingerknöcheln, sah ich mich in dem von mir angerichteten Durcheinander um, wischte mir erschöpft den Schweiß von der Stirn und dachte, dass es allmählich an der Zeit wäre, jemandem von meinem Vater zu erzählen. Davon, wie er damals mit mir umgegangen war. Ich wollte endlich loswerden, dass meine Mutter mich verlassen hatte, als ich zehn war, dass ich nur deshalb ein egoistischer Mistkerl geworden war, um mich zu schützen. Dass ich nicht verstehen konnte, warum Edda ihren Eltern beistehen wollte, weil ich vor meinem Vater immer nur weglaufen wollte. Mir war egal, was aus ihm wurde. Wenn ihn damals jemand umgebracht hätte, wäre ich ihm vermutlich sogar dankbar dafür gewesen. Das klang schrecklich, war aber so. Ich wollte jemandem erklären, warum ich manchmal so schnell aggressiv wurde, warum ich mich früher so oft geprügelt hatte und warum ich keinen anderen Weg fand, um meiner Wut Luft zu machen. All das wollte ich Edda sagen, doch ich war so wütend auf sie, dass ich sie in diesem Moment vermutlich nur angeschrien und beleidigt hätte. Außerdem ging sie ohnehin nicht ans Telefon.

Später am Abend meldete sie sich bei mir, sie klang zerknirscht und war reumütig. „Was ich gesagt hab, tut mir leid, Chris“, sagte sie mit zitternder Stimme, „und ich nehme alles zurück, ich hab’s nicht so gemeint. Tut mir leid. Bitte sei mir nicht mehr böse.“

„Bin ich nicht“, hatte ich sofort gesagt und ihr augenblicklich verziehen, weil ich nicht wollte, dass sie noch mehr litt. „Und? Kommst du mit mir zu der Hochzeit?“

Diese Frage schien sie zu überraschen, sie stockte, zögerte, räusperte sich. „Ich kenne das Brautpaar doch gar nicht.“

„Dann lernst du die beiden eben kennen“, meinte ich unbekümmert. „Marvin, mein bester Freund, würde sich freuen, dich mal kennenzulernen, und mit Laura, der Braut, wirst du dich sicher gut verstehen. Sie ist ... sehr nett.“ Tja, entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber egal.

„Wann findet die Trauung denn statt?“, wollte sie wissen.

„16. Juli“, antwortete ich.

„Da muss ich arbeiten“, seufzte sie resigniert, „es wird also nichts draus.“

„Du könntest dir freinehmen“, meinte ich achselzuckend. „Der 16. Juli ist ein Freitag, das heißt, du könntest übers Wochenende bei mir bleiben und ich könnte dich auf andere Gedanken bringen. Du hast noch zwei Monate Zeit, um diesen Tag zu blocken und deinen Kolleginnen mitzuteilen, dass sie an dem Freitag auf dich verzichten müssen. Also? Bitte, Ed! Ich weiß nicht, wen ich sonst mitnehmen soll.“

„Och, da sitzen bestimmt schon einige Kandidatinnen in den Startlöchern, oder?“, erwiderte sie, doch ich merkte, dass ihr Widerstand bröckelte. Ich würde nicht mehr viel Überredungsarbeit leisten müssen.

„Komm schon, Ed“, bat ich flehend. „Ich will keine andere mitnehmen, sondern dich. Du bist die Erste, die ich frage, weil du meine erste und einzige Wahl bist. Wenn du nicht mitkommst, bin ich aufgeschmissen. Dann muss ich sicher neben irgendeiner alten, sabbernden Tante sitzen, die nach Mottenkugeln und Flieder riecht, mir die ganze Zeit die Hand tätschelt und mir von ihren sieben Katzen erzählt. Bitte, das kannst du mir nicht zumuten.“

Sie musste lachen. „Du bist echt unmöglich“, verkündete sie.

„Ich weiß.“ Ich grinste verschlagen. „Also? Begleitest du mich?“

„Na gut. Könnte ja ganz lustig werden.“

Juhu! Ich klopfte mir im Geiste selbst auf die Schulter und meinte in schmeichlerischem Tonfall: „Wenn wir beide zusammen sind, ist es doch immer lustig, oder? Weißt du noch damals, als wir Absatzschuhe für dich kaufen wollten?“

„Oh Gott, erinnere mich nicht daran ...“

„Marvin ist ein einziges Nervenbündel“, raunte ich Edda zu, als wir den schmalen Flur entlang in Richtung Badezimmer gingen, wo die Braut sich noch immer aufhielt, in Gesellschaft ihrer besten Freundin und Mitbewohnerin Saskia und ihrer hysterischen Mutter Lydia.

„Laura auch“, flüsterte Edda, „vorhin hat sie vor Aufregung fast geheult und damit das gesamte Make-up ruiniert. Das hat Saskia wirklich klasse hinbekommen. Lydia macht es nicht gerade besser, mit ihrem aufgeregten Geschnatter steigert sie die Aufregung nur noch.“

Ich verdrehte die Augen, ich hatte Lydia kürzlich beim Probeessen kennengelernt und sie war mir fürchterlich auf die Nerven gefallen. Sie war klein und mopsig, trug ihr schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar als strengen Bob, der wie ein Stahlhelm am Kopf anlag, und ihren grauen Augen entging nichts. Sie hatte eine Hakennase wie Kapitän Hook aus Peter Pan und ihre Lippen waren schmal und blutleer. Wenn sie die Lippen zu einer schmalen Linie zusammenkniff, was sie oft tat, sah es manchmal aus, als besäße sie gar keinen Mund. Das war extrem gruselig.

„Ich kann sie nicht ausstehen“, ließ ich Edda halblaut wissen, dann standen wir auch schon vor der Badezimmertür.

Edda pochte mit den Fingerknöcheln sanft dagegen, und als ein schwaches „Herein“ erklang, drückte sie die Klinke herunter und zog mich an der Hand mit sich.

Laura stand in einem Monstrum von Brautkleid vor dem Spiegel und kontrollierte ihr Spiegelbild, während Lydia sich die Lippen mit pfirsichfarbenem Lipgloss bemalte und Saskia sich mit irgendeinem roten Zeug ihre Wangen bestäubte. Lauras Kleid war zweifellos maßgeschneidert, es lag eng am Körper an und sah aus, als wäre sie hineingenäht worden. Vermutlich bekam sie in dem Ding keine Luft.

Laura wandte sich um, nickte mir kurz und knapp zu und richtete das Wort an Edda: „Und?“

„Marvin ist mit deiner Schwester gerade losgefahren“, teilte sie ihr ruhig mit. „Er freut sich schon wahnsinnig auf die Trauung.“

„Ja“, dachte ich zynisch, „so wahnsinnig, dass er sich vor Panik gleich in die Hosen macht.“

„Okay“, Laura sah unsicher zu ihrer Mutter, „dann gehe ich jetzt mal runter. Papa wartet schon, oder?“

„Ja, Kind.“ Lydia nickte energisch und lächelte fratzenartig, an ihrem Schneidezahn hing Lipgloss.

Ich fand, dass ihr Gesicht immer merkwürdig verzerrt aussah, wenn sie lächelte. Ob sie dabei Schmerzen hatte? Sie das jetzt zu fragen, wäre vermutlich nicht angebracht.

„Wir sehen uns in der Kirche, meine Liebe. Ich kann es kaum erwarten.“

Laura nickte nervös. „Ich auch nicht, Mama.“ Sie drehte sich nach ihrer Freundin um. „Saskia, hilfst du mir mit der Schleppe?“

Diese nickte hilfsbereit und ging ihrer Freundin zur Hand. Kurz darauf schoben sich die beiden mit locker zehn Meter weißer Seide, Spitzen, Rüschen und Taft an uns vorbei. Es war ein Wunder, dass die Braut überhaupt durch die Tür passte.

Im Vorbeigehen drückte Laura kurz Eddas Hand. „Wir sehen uns gleich in der Kirche, ja?“

„Ja“, bestätigte Edda freundlich. „Bis gleich, Laura.“

Nachdem die beiden weg waren, stellte Lydia ihr Gepinsel ein, wandte sich uns zu und scannte mich von oben bis unten mit strengem Blick. „Na“, meinte sie schließlich, „du siehst ja ganz passabel aus, junger Mann.“

Pah, als ob es mich interessieren würde, was diese alte Ziege dachte! Sie sah in ihrem lächerlichen rosafarbenen Prinzessinnenkleid, das den Blick direkt auf ihr faltiges Dekolleté lenkte, aus wie die böse Fee aus Dornröschen und der pfirsichfarbene Lipgloss machte die Sache nicht besser.

Ed trat mir leicht auf den Fuß und signalisierte mir mit einem kurzen Augenrollen, dass ich wohl mal den Mund aufmachen und irgendwas erwidern sollte, Lydia guckte mich erwartungsvoll an.

„Ähm, ja ... danke, Frau Hofer. Sie sehen auch ... äh ... wirklich scharf aus“, log ich.

Während Frau Hofer missbilligend mit der Zunge schnalzte, trat Ed mir erneut mit voller Kraft auf die Zehen und machte sich schnell daran, meinen Fauxpas auszubügeln. „Er meinte natürlich, dass Sie fantastisch aussehen, Frau Hofer, dieses Rosa steht Ihnen ausgezeichnet“, behauptete sie dreist.

„Oh, vielen Dank.“ Lydia lachte geschmeichelt, sie war tatsächlich so blöd und glaubte das auch noch.

„So, Leute.“ Saskia stand plötzlich wieder hinter uns und erschreckte uns alle drei gleichermaßen. Ich zuckte heftig zusammen, Ed klammerte sich reflexartig an meinen Arm und Lydia stieß einen spitzen Schrei aus und wankte, als würde sie gleich bewusstlos zu Boden stürzen. Falls sie damit rechnete, dass ich sie auffing, hatte sie sich aber geschnitten.

„Tut mir leid, ich wollte euch nicht erschrecken.“ Saskia sah uns entschuldigend an.

Lydia schnaubte und presste ihre dicken Wurstfinger auf ihr Herz. „Nicht erschrecken, du bist lustig. Fast hätte mich hier und jetzt ein Herzinfarkt ereilt“, schimpfte sie und sah Saskia so vorwurfsvoll an, als hätte diese das beabsichtigt.

„Das wäre natürlich tragisch gewesen“, meinte ich sarkastisch, da ich wusste, dass die gute Lydia nicht in der Lage war, Sarkasmus zu erkennen.

Dafür trat Ed mir erneut auf den Fuß und zwickte mich auch noch leicht in den Unterarm. „Au!“ Ich schlug reflexartig nach ihren Fingern. „Spinnst du?“ „So redet man nicht mit einer Frau“, schalt Lydia mich empört und sah mich mit funkelnden Augen an. „Haben Sie das denn nicht gelernt, junger Mann?“

Ehe ich darauf antworten konnte, gesellte sich Edda rasch an ihre Seite und griff sanft nach ihrem Unterarm. „Chris macht nur Spaß, Frau Hofer. Wissen Sie, wir sind beste Freunde, da ist der Umgangston manchmal etwas flapsig. Wir sollten langsam mal los, nicht, dass Laura und Marvin ewig auf uns und die Ringe warten müssen.“

Lydia nickte energisch. „Ja, Sie haben ganz recht, mein Kind.“

Die beiden liefen an mir vorbei durch die Tür und den Flur entlang, Saskia und mich in ihrem Schlepptau.

„Dass so ein nettes junges Mädchen wie Sie mit einem solchen Unhold befreundet ist, ist mir völlig unverständlich“, verkündete Lydia laut genug, dass ich es hören konnte.

Gereizt verdrehte ich die Augen, beugte mich zu Saskia hinab und raunte ihr ins Ohr: „Diese alte Schrapnelle geht mir wahnsinnig auf die Nerven.“

Saskia schmunzelte und nickte verständnisvoll. „Ich verstehe dich, sie ist wirklich eine ekelhafte Giftspritze.“ Froh darüber, mit meiner schlechten Meinung über die zukünftige Schwiegermutter meines besten Freundes nicht allein dazustehen, grinste ich Saskia zu.

Kurz darauf standen wir draußen neben meinem ganzen Stolz: einem knallroten Mercedes, den ich erst vor wenigen Wochen gekauft hatte. Mein Baby hatte ordentlich Speed unter der Haube und der Motor schnurrte wie ein Kätzchen. Nun ja, zumindest bisher. Als ich vorgestern die Fahrt von Berlin nach Heidelberg angetreten hatte, war ich zeitweise ein wenig beunruhigt von dem Verhalten meines neuen Lieblings gewesen, nicht nur, dass die Motorleistung spürbar schlechter gewesen war als zuvor, es war auch eine Reihe merkwürdiger Geräusche erklungen, die mir nicht ganz geheuer gewesen waren, ein seltsames Klackern und Rattern, Ticken und Klopfen.

Ich hatte an einer Autobahnraststätte eine Pause eingelegt und unter die Motorhaube gesehen, allerdings hatte ich nichts Verdächtiges entdecken können. Was nicht viel hieß, so peinlich mir das als Kerl auch war, ich hatte keinen blassen Schimmer von Motoren, Kabeln oder sonstigen mit Autos zusammenhängenden Dingen. Ich konnte gut fahren, ich konnte einwandfrei einparken, ich konnte Reifen wechseln und wusste, wie man den Ölstand ablas und wo man anschließend das Öl einfüllen musste. Außerdem wusste ich, welcher Behälter für das Kühlwasser bestimmt war. Das war’s. Ich war also, um es deutlich zu sagen, mit meiner Fachkenntnis Autos betreffend auf dem gleichen Stand wie viele Frauen, aber das würde ich natürlich nie laut aussprechen.

Stattdessen entriegelte ich die Türen meines neuen Schätzchens, damit die Damen einsteigen konnten. Saskias Augen huschten bewundert über mein rotes, luxuriöses Prachtstück, das hier in dieser Straße, wo hauptsächlich Fahrräder, Motorroller und ramponierte alte Pkws herumstanden, auffiel wie ein bunter Hund. Es war zudem recht groß und bullig und so blank poliert, dass das Metall in der Sonne glänzte.

„Netter Wagen“, meinte Saskia anerkennend, ich lächelte dankend und öffnete ihr galant die Tür.

Lydia betrachtete erst das Auto, dann mich aus schmalen Augen und mit zusammengepressten Lippen. „Typisch“, stieß sie schließlich hervor. „Auffallen, nichts als auffallen! Und das auch noch negativ. Ich hoffe, Sie rasen nicht wie ein Irrer, junger Mann.“ Ich zog es vor, darauf nicht zu antworten, sie warf mir einen scharfen Blick zu und blökte Saskia, die sich bereits angeschnallt hatte, an: „Na, rutsch durch, Mädchen, eine Dame lässt man nicht auf der Straße einsteigen. Sonst fahren die mich noch platt, diese Verrückten.“

Augenrollend sah ich dabei zu, wie Saskia unter einigen Schwierigkeiten versuchte, sich und ihr langes, voluminöses lavendelfarbenes Kleid mit dem schwingenden, ausladenden Rüschenrock auf den anderen Hintersitz zu verfrachten, während Lydia ungeduldig mit der Zunge schnalzend dastand und auf den Fersen vor- und zurückwippte.

„Komm, steig schon mal ein“, wies ich Edda an und öffnete ihr die Beifahrertür.

Sie war bis eben in die Betrachtung des Wagens vertieft gewesen, blickte mir nun in die Augen und verzog leicht spöttisch den Mund. „Noch ’ne Nummer größer ging’s wohl nicht, was? Musstest du dir gleich so ein Schlachtschiff zulegen? In dieser Bonzenkarre fallen wir ja mehr auf als die Limo, mit der die Braut vorgefahren ist.“

„Tja, weißt du, als ich mir das Auto gekauft hab, hatte ich seltsamerweise überhaupt nicht Marvins Hochzeit im Kopf“, gab ich giftig zurück und klopfte genervt aufs Autodach. „Steigst du jetzt mal ein oder was?“

„Ja doch.“ Edda kletterte auf den Beifahrersitz. „Ich frage ja nur, hätte es nicht auch ein schlichterer, etwas weniger auffälliger Wagen getan? Oder ist das hier so was wie dein Statussymbol?“

„Unsinn“, sagte ich ungehalten, knallte die Tür zu, eilte um den Wagen herum und klemmte mich hinters Lenkrad.

Auch Lydia war mittlerweile umständlich eingestiegen. Saskia half ihr freundlicherweise beim Anschnallen.

„So, können wir los?“, fragte ich betont fröhlich und warf einen raschen Blick in den Rückspiegel. Saskia blickte kurz auf und reckte den Daumen in die Höhe, was ich als Zustimmung wertete. Ich holte tief Luft, hoffte, dass mein Baby sich nun wieder normal verhielt und mich nicht blamierte, drückte die Kupplung durch und drehte den Zündschlüssel im Schloss. Der Motor erwachte zum Leben.

„Du lieber Himmel“, ächzte Lydia, als ich den Wagen auf die Straße hinaussteuerte, „ich hoffe nur, wir kommen mit dieser Höllenmaschine lebend in der Kirche an.“

Einige Straßen weiter, noch ein gutes Stück von der Kirche entfernt, begann der Wagen plötzlich zu spinnen. Die mir bereits vertrauten Geräusche erklangen erneut, wir kamen mit der schwachen Motorleistung kaum noch den Berg hoch, außerdem erklangen von hinten, vom Auspuff, ganz merkwürdige Geräusche, ein Bollern und Knallen. Beunruhigt blickte ich immer wieder durch den Rückspiegel nach hinten, konnte aber nichts Auffälliges feststellen.

Meine Mitfahrer, anfangs noch ganz entspannt, wurden allmählich nervös. Lydia zeterte seit etwa zehn Minuten herum, von wegen sie habe ja gleich gesagt, dass dieses Auto unsere Eintrittskarte in die Hölle sei, Saskia und Edda diskutierten laut miteinander, fachsimpelten, was wohl los sein könnte. Ich sah stur geradeaus und versuchte, alles aus meinem Wagen herauszuholen.

„Chris? Was ist das?“, fragte Edda mich schließlich eindringlich. „Oder hörst du das etwa gar nicht, dieses Bollern und Rattern und Rumpeln?“

„Das ist ganz normal“, behauptete ich, „entspannt euch einfach.“

Weitere fünf Minuten später begann eine Kontrollleuchte vorne zu blinken, es war die Meldung für zu wenig Kühlwasser. Was nicht sein konnte, da ich das erst vor drei Tagen nachgefüllt hatte. Irgendwas stimmte absolut nicht. Schweißtropfen sammelten sich auf meiner Stirn, liefen mir über den Rücken, während ich krampfhaft einen Gang runterschaltete und mich über eine leichte Anhöhe kämpfte. Der Wagen hinter mir blendete auf und hupte schließlich sogar, erst dachte ich, es läge daran, dass ich ihm zu langsam fuhr ‒ schneller ging es nun mal nicht ‒, doch dann entdeckte ich die weißen Rauchschwaden, die aus meinem Auspuff quollen und die Sicht nach hinten vernebelten.

„Ich bin zwar kein Experte“, meinte Edda vorsichtig, „aber das sieht nicht gut aus.“

„Ja, verdammt noch mal“, zeterte Lydia außer sich, „ist das denn die Möglichkeit? Jetzt raucht diese Schrottkarre wie ein Zelt voll Indianer, der Klepper kommt ja nicht mal mehr den Berg hoch, da bin ich ja mit dem Fahrrad flotter. Pass auf, gleich rollen wir rückwärts in den anderen rein. Du lieber Gott, steh mir bei!“

„Am besten, Sie beten ein Ave Maria“, knurrte ich durch zusammengebissene Zähne, „und halten ansonsten den Rand.“

Das hatte Lydia zwar nicht gehört, dafür aber Edda. „Das bringt uns nicht weiter“, raunte sie mir zu.

„Herzlichen Dank, du Klugscheißerin“, erwiderte ich wütend.

Mit knapper Not schafften wir es den Berg hinauf. Ich blinkte und fuhr rechts ran in eine Bushaltestelle. Mit einem jämmerlichen Winseln starb der Motor ab. Hastig zog ich die Handbremse an und drehte den Zündschlüssel um, das Licht der Warnleuchte erlosch. Schwer atmend hing ich über dem Lenkrad und fragte mich, wie das hatte passieren können. Mein neuer Wagen!

„Wir kommen zu spät zur Trauung. Ich verpasse die Hochzeit meiner jüngsten Tochter und sitze stattdessen in einer rauchenden Konservendose fest“, kreischte Lydia erbost. „Das ist unerhört! Das glaubt mir kein Mensch.“

„Die können ohne uns gar nicht heiraten“, verkündete ich tonlos, griff in meine Sakkotasche und hielt die samtene kleine Schachtel hoch, „ich hab nämlich die Ringe.“

Entsetzt schlug Lydia sich die Hand vor den Mund. „Auch das noch! Himmel, Maria und Josef! Ich torpediere die Hochzeit meiner eigenen Tochter, das wird sie mir niemals verzeihen.“

„Jetzt übertreiben Sie aber, Frau Hofer“, mischte Saskia sich sanft ein. „Chris hat das sicher nicht mit Absicht gemacht. Es gibt eben ein kleines Problem am Wagen, sicher nicht so schlimm ...“

„Von wegen nicht so schlimm“, dachte ich bitter, „der Wagen ist nagelneu.“

„Komm, Chris“, Edda hatte schon die Autotür geöffnet, „wir sehen uns das mal rasch an. Vielleicht hat sich ja nur ein Kabel gelöst oder so.“

Das wagte ich zu bezweifeln. Ich glaubte nicht, dass sie oder ich den Wagen auf die Schnelle wieder zum Laufen bringen würde, der musste in die Werkstatt.

Dennoch stieg ich aus, allein schon um Lydias nervtötendem Gezeter zu entgehen, sie benahm sich, als hätte ich das mit Absicht gemacht. Dass sie keine allzu hohe Meinung von mir hatte, wusste ich. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass Marvin mein bester Freund war, musste sie mich für einen ziemlichen Mistkerl halten, wenn sie wirklich glaubte, ich würde versuchen, ihm die Hochzeit zu verderben.

Ich klappte die Motorhaube hoch und Edda und ich beugten uns darüber. Ich las dieselbe Ratlosigkeit in ihrem Blick, die ich selbst empfand.

„Hm.“ Sie rümpfte die Nase, rieb sich die Stirn, deutete dann plötzlich auf den Öldeckel, auf dem sich weißer Schaum gebildet hatte. „Schau mal, das sieht nicht normal aus, oder?“

„Hm, nein“, murmelte ich und rieb mir den Nacken, „glaub nicht.“ Verlegen blickte ich meine beste Freundin an. „Ich hab leider nicht so viel Ahnung von Autos, Ed.“

Sie zuckte die Achseln. „Ich auch nicht. Man muss ja auch nicht alles wissen.“ Sie boxte mir kameradschaftlich gegen die Schulter.

„Na ja, aber ich bin ein Kerl“, erwiderte ich peinlich berührt und wusste ganz genau, dass ich niemals mit einem anderen Mädchen über mein fehlendes Fachwissen im Bereich Auto reden würde. Ed konnte ich vertrauen, ich wusste, dass sie mich nicht auslachen oder verachten würde.

„Na und?“ Edda sah mich kopfschüttelnd an. „Ich bin ’ne Frau und kann nicht stricken oder kochen. Ich meine, wir leben im Zeitalter der Gleichberechtigung, da könnten Frauen genauso über Autos Bescheid wissen wie Männer.“

Gott, ich liebte dieses Mädchen! In einer Anwandlung von Zärtlichkeit zog ich sie an mich und küsste sie auf die Wange. „Danke, Ed“, ich sah sie dankbar an, „du bist die Beste.“

Es war süß, mit anzusehen, wie sie errötete. Im Versuch, es zu verbergen, legte sie hastig die Hände an die Wangen, räusperte sich und stotterte: „Ja, äh, ja ... danke. Äh ... was machen wir jetzt?“

„Also, wenn du mich fragst, stimmt irgendwas mit dem Kühlwasser nicht. Vorhin hat die Kontrollleuchte geblinkt und dieser Schaum hier hängt auch irgendwie mit dem Kühlwasser zusammen. So viel weiß ich immerhin. Also ...“ Ich kratzte mich an der Stirn.

„Rufen wir den Pannendienst?“, schlug Ed vor.

Vermutlich war das die einzige Option, die uns blieb, aber alles in mir sträubte sich dagegen. Es würde ewig dauern, bis der Pannendienst da wäre, bis dahin hätten Marvin und Laura bereits einen Nervenzusammenbruch erlitten und Lydia hätte mich mit ihrem Gemecker in den Wahnsinn getrieben.

„Wie sollen wir dann noch rechtzeitig zur Trauung kommen?“, fragte ich leicht verzweifelt. „Mann, Marvin reißt mir den Kopf ab, wenn ich das versaue. Saskia ist Lauras Trauzeugin, ich bin seiner und die Brautmutter sollte auf ’ner Hochzeit auch nicht fehlen. Es reicht schon, dass Marvins Eltern nicht da sind. Außerdem hab ich die verdammten Ringe.“ Ich raufte mir das mittlerweile wieder längere Haar. „So eine Scheiße! Ich könnte kotzen, das Auto ist nagelneu.“ Frustriert trat ich gegen den Autoreifen und knallte die Motorhaube zu.

„Chris“, Edda sprach ganz ruhig, „ich sehe leider keinen anderen Weg, als den Pannendienst zu verständigen. So wie’s aussieht, können wir selbst nichts ausrichten, und wenn wir hier noch länger tatenlos herumstehen, verlieren wir nur unnötig Zeit. Also schlage ich vor, wir rufen den Pannendienst und ein Taxi. Ihr drei fahrt schon mal zur Kirche vor, ich warte hier auf den Abschleppwagen und komm später nach. Was hältst du davon?“

„Kommt gar nicht infrage“, sagte ich abwehrend. „Ich hab dich nicht nach Heidelberg mitgeschleift, um dich dann irgendwo in einer fremden Stadt allein stehen zu lassen. Ich lass dich hier nicht einfach zurück. Wir müssen einen anderen Weg finden.“

„Ich sehe aber keinen anderen Weg“, meinte Edda ruhig. „Überleg mal, Saskia, du und Lydia, ihr seid wichtig für Laura und Marvin, ihr habt eine Aufgabe bei dieser Hochzeit. Mich kennen die beiden doch gar nicht richtig. Es ist schon okay, wenn ich hierbleibe, Chris.“ Ich machte den Mund auf, um ihr zu widersprechen, doch sie legte hastig ihre Finger auf meine Lippen und lächelte warm. „Ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen, ehrlich. Aber ich bin ein großes Mädchen, ich kann schon allein auf mich aufpassen. Vergiss nicht, ich war mal ein Jahr lang allein in Südafrika und Neuseeland unterwegs, da wird mir in Heidelberg schon nichts zustoßen.“

Womit hatte ich eine solche Freundin verdient? Sie war so mutig, so taff, sie hatte ordentlich Eier in der Hose, mehr als so mancher Mann.

„Ich mach mir nicht um dich Sorgen“, sagte ich scherzhaft und liebevoll zugleich, „sondern darum, dass du mit irgendeinem anderen Kerl durchbrennst, der dich hier aufgabelt, und ich dann doch allein dastehe und neben einer zahnlosen Tante mit hundert schwarzen Katzen sitzen muss.“ Ich verpasste ihr einen leichten Nasenstüber.

Sie lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist und bleibst unmöglich, Waldoff! Also, was ist jetzt?“

„Du hast gewonnen“, gab ich nach, „obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass Marv und Laura mir dafür ordentlich den Kopf waschen werden. Sie mögen dich sehr, weißt du. Laura kann dich sogar mehr leiden als mich.“

Ed lachte. „Tja, so bin ich eben ... allseits beliebt.“

In diesem Moment wurde die Hintertür des Autos aufgestoßen und Saskia streckte den Kopf heraus. Mittlerweile war auch ihr die Nervosität deutlich anzusehen, sie hatte rote Flecken im Gesicht und ihr Blick flackerte. Sie musste sich sichtlich zu einem Lächeln zwingen. „Chris, dein Handy klingelt. Habt ihr schon die Ursache für das Problem gefunden?“

Mist, das war sicher Marvin, der wissen wollte, wo wir so lange steckten. Es wurde brenzlig. Ich berührte Edda kurz an der Schulter. „Rufst du schon mal ein Taxi? Ich beruhige Marvin und verständige dann den Pannendienst.“

„Okay.“ Edda nickte gehorsam und zog ihr Handy aus der kleinen cremefarbenen Umhängetasche, die ich bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte.

„Ja, was ist denn nun?“, rief Lydia leicht panisch, als ich die Beifahrertür aufriss und mein Handy aus dem Handschuhfach nahm.

Auf dem Display leuchtete Marvins Name. Mist!

„Wir sollten seit zehn Minuten an der Kirche sein“, kreischte Lydia zwei Oktaven zu hoch.

Mir klingelten von dem Gebrülle die Ohren. „Ja, danke, ich kann die Uhr selbst lesen“, erwiderte ich patzig. Klar, es motzte sich leicht, wenn man untätig herumsaß und andere machen ließ. Ich nahm das Gespräch an, bemühte mich um einen beruhigenden, besänftigenden Tonfall. „Hey, Kumpel. Alles klar bei euch?“

Lydia schnaubte aufgebracht und rief: „Es ist nicht zu fassen.“

„Chris, sag mal, wo steckt ihr denn?“, rief Marvin wütend und ein klein wenig besorgt. „Wir warten hier schon alle. Und was soll die bescheuerte Frage, natürlich ist nichts klar. Die Trauzeugen sind mitsamt Brautmutter und Eheringen spurlos verschwunden, ihr haltet es wohl nicht mal für nötig, anzurufen und Bescheid zu sagen. Ihr solltet seit einer Viertelstunde hier sein, verdammt noch mal! Was ist da los?“

„Äh ... es gibt ein kleines technisches Problem ... das Auto spinnt. Also, wir haben eine Panne, aber keine Panik, Mann. Edda ruft gerade ein Taxi, der Pannendienst wird auch informiert, wir lassen das Auto stehen und fahren mit dem Taxi zur Kirche.“

„Mit dem Taxi ... mit dem Taxi!“, kreischte Lydia im Crescendo. „Ich erscheine in einem Taxi zur Hochzeit meiner Tochter? Wahrscheinlich auch noch mit einem wild gewordenen Taxifahrer, der kein Deutsch spricht und die Blumenkübel vor der Kirche über den Haufen fährt. Was werden die Leute denken?!“

„Frau Hofer, bitte, beruhigen Sie sich“, sagte Saskia besänftigend.

„Hör zu, Marv, wir kommen, so schnell wir können, aber“, ich warf einen verdrossenen Blick auf den dichten Verkehr um uns herum, „hier staut sich gerade alles ein bisschen. Kann sein, dass wir nicht so leicht durchkommen. Hör zu, kannst du den Pfarrer und deine Braut vielleicht noch etwas hinhalten? Eine halbe Stunde oder so?“

„Eine halbe Stunde?“, fragte Marvin fassungslos.

„Eine halbe Stunde?“, brüllte Lydia und bekam im Anschluss daran einen Hustenanfall. Saskia klopfte ihr den Rücken und sah mich mit schreckgeweiteten Augen an. Was für ein Chaos!

„Christopher, dir ist hoffentlich klar, dass der Pfarrer heute noch mehr Paare trauen will, oder?“, fragte Marvin mit bebender Stimme. „Wir hatten Glück, dass wir diesen Termin überhaupt bekommen haben. Und jetzt steckt ihr irgendwo im Nirgendwo fest und das Taxi kommt nicht zu euch durch? Ich hoffe, du verarschst mich.“

„Chris.“ Edda tippte mir heftig auf die Schulter, ich drehte mich zu ihr um. Sie sprach sehr schnell: „Pass auf, ich hab hier grad ein sehr nettes Taxiunternehmen an der Strippe. Ich hab ihnen unsere Situation und den Standort geschildert, der Herr meinte, er komme in der nächsten halben Stunde nicht zu uns durch. Es hat wohl einen Unfall gegeben, deshalb staut es sich in beide Richtungen. Aber wenn ihr ein Stück die Straße runterlauft, kommt ihr zu einem Kreisverkehr, gegenüber davon ist ein Hotel, vor dem ganz viele Taxen parken. Wenn ihr wollt, sagt er einem seiner Kollegen dort Bescheid, der bringt euch zur Kirche, zwar muss er einen Umweg fahren, weil er sonst in den Stau gerät, aber ihr seid immer noch schneller, als wenn ihr wartet, bis das Taxi hierherkommt. Was sagst du?“

Im Bruchteil einer Sekunde traf ich meine Entscheidung. „Er soll seinen Kollegen anrufen. Wir kommen.“ Ich riss die hintere Autotür auf. „Meine Damen, wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang“, verkündete ich. Dann fiel mir Marvin wieder ein.

Seine Stimme drang gedämpft durchs Handy: „Chris? Chris? Bist du noch da? Was ist denn jetzt?“

„Marv, wir sind so gut wie unterwegs“, verkündete ich aufgeregt. „Ich hab keine Zeit mehr zu reden. Drück uns die Daumen, dass wir gut durchkommen. Ciao.“

„Aber ...“, setzte er an, doch ich legte auf. Für ein Schwätzchen blieb nun keine Zeit.

Saskia war bereits ausgestiegen und Lydia quälte sich schimpfend und fluchend ebenfalls heraus. „Unfassbar, unglaublich, das kann doch nicht wahr sein! Zu meiner Zeit konnte ein richtiger Mann noch Autos mit den eigenen Händen reparieren, aber heutzutage grinst man lieber dämlich in der Gegend rum und modelt, anstatt etwas über Autos zu lernen. Die Hochzeit des besten Freundes ruiniert man, aber Hauptsache, man fährt einen schicken Schlitten ... der den Geist aufgibt.“

Ich rollte mit den Augen, hatte aber keine Zeit, mich auf eine Diskussion einzulassen. „Wir müssen ein Stück laufen, das Taxi kommt nicht durch“, erklärte ich den beiden. „Ed hält hier die Stellung. Los, kommt!“

Saskia nickte ergeben und zog hastig ihre schwarzen Killer-High-Heels aus. Auf dem Kopfsteinpflaster hätte sie sich damit sicherlich sämtliche Knochen gebrochen und das wäre es, was uns gerade noch gefehlt hätte.

„Was, rennen?“, rief Lydia außer sich. „Ja, bin ich denn verrückt? Ich will doch nicht verschwitzt und besudelt ...“

„Los, wir müssen uns beeilen“, mischte Saskia sich ein und packte Lydia fest am Handgelenk. „Denken Sie an Laura.“

„Ed, du kommst klar?“ Ich sah meine tolle beste Freundin an.

Sie nickte. „Klar, lauft los. Ich ruf den Pannendienst und kümmere mich um alles Weitere. Viel Spaß!“

Sie winkte, ich winkte zurück, wirbelte herum und sprintete los, die keuchenden Damen im Schlepptau. Dank meines anspruchsvollen Personal Trainers verfügte ich über eine gute Fitness und Kondition, sodass ich locker und problemlos die Strecke in hohem Tempo schaffte. Lydia und Saskia keuchten hinter mir her und jammerten über Seitenstiche.

„Das glaubt mir kein Mensch“, ächzte Lydia.

„Nicht reden, rennen“, japste Saskia.

Wir boten sicher ein lustiges Bild, wie wir da so durch die Straßen eilten ‒ ein junger Mann im schicken Anzug vorneweg, eine keuchende junge Frau im kurzen Kleidchen mit Hochsteckfrisur und Schuhen in den Händen hinterdrein, gefolgt von einer mopsigen, einer Bulldogge nicht unähnlichen älteren Frau mit angeklatschtem Haar, der die Zunge aus dem Hals hing.

Wenn die ganze Sache nicht so ernst wäre, würde ich lachen.

Wir brauchten wahrhaftig nur fünfundzwanzig statt der befürchteten dreißig Minuten bis zur Kirche, aber auch nur, weil der Taxifahrer wie von Furien gehetzt fuhr. Lydia presste sich die ganze Fahrt über die Hand vor den Mund und umklammerte mit der anderen so fest Saskias Unterarm, dass diese sich einen Aufschrei sichtlich verkneifen musste. Als wir schließlich mit einer Vollbremsung vor dem Kirchenportal hielten, wobei Kies quer durch die Gegend spritzte, bekreuzigte sie sich und stürzte wimmernd aus dem Wagen.

„Danke“, sagte ich inbrünstig zum Taxifahrer und drückte ihm einen Schein in die Hand. „Der Rest ist für Sie.“

Saskia und ich verabschiedeten uns höflich und stiegen aus, meine Knie waren ebenfalls butterweich, auch wenn ich das niemals zugegeben hätte. Saskias Wangen waren erhitzt, auf ihrer Stirn glänzte eine dünne Schweißschicht, ihr Haar war vom Rennen zerzaust, ihr Make-up leicht verlaufen, dennoch sah sie bezaubernd aus. Spontan legte ich ihr einen Arm um die Schultern.

„Wir haben’s tatsächlich geschafft“, prustete sie.

„Klar“, meinte ich betont locker, „hast du etwa daran gezweifelt?“

„Na ja ... zeitweise.“ Sie lachte leise, machte sich dann eilig von mir los und sauste hinüber zu Laura.

Die stand, zusammen mit ihrem Vater, einem ziemlich langen Lulatsch mit streichholzdünnen Beinen und Armen, die zu lang für seinen Körper zu sein schienen, vor dem Kircheneingang und wirkte nur noch wie ein Schatten ihrer selbst. Leichenblass und zittrig, klein und verloren, in dem gigantischen Kleid verschwand sie beinahe. Ich erkannte sogar aus dieser Distanz, dass sie geweint hatte. Vermutlich stand sie kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Wie konnte man nur so unentspannt sein?

Nun wurde sie von Mutter und Saskia geherzt, gedrückt und getröstet, während der Vater mir vorwurfsvolle Blicke zuwarf. Ich straffte die Schultern und ging ebenfalls zu der kleinen Gruppe hinüber.

„Entschuldige, Laura“, sagte ich sogleich, da es wahrscheinlich besser war, sofort vor ihr zu Kreuze zu kriechen und die Wogen zu glätten. Marvin würde mir später ohnehin noch die Leviten lesen. „Es tut mir leid, dass mein Auto kaputt gegangen ist und wir deshalb nicht rechtzeitig da sein konnten. Ich hoffe, du bist nicht allzu ... verstört.“

Laura schluckte. Lydia schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sie sehen ja wohl, wie verstört sie ist, Sie gefühlskalter Klotz.“

„Mama“, Laura streichelte sanft ihren Arm und holte tief Luft, „ist schon gut. Ich bin okay. Chris, schon gut. Ehrlich. Du hast es ja nicht mit Absicht gemacht.“ Sie sah mich an, als wollte sie ein „Oder?“ hinzufügen.

„Natürlich nicht“, antwortete ich auf ihre ungestellte Frage und senkte reumütig mein Haupt.

„Süße, ich denke, wir sollten mal reingehen“, meinte Saskia sanft, „sonst verlieren wir noch mehr Zeit.“

„Genau.“ Vater Holger, dem ebenfalls Schweiß von der Stirn perlte, nickte erleichtert. „Der arme Junge steht sich da drin seit Ewigkeiten die Beine in den Bauch.“

„Gut.“ Lydia tupfte sich mit der Hand vorsichtig über die Lippen, von ihrem Lippenstift war nichts mehr übrig. „Ich als Brautmutter gehe zuerst, Saskia, Herr Waldoff, ihr zählt bis zehn und kommt dann nach“, wies sie uns an, strich ihrer Tochter liebevoll über die Wange, richtete sich zu ihrer nicht gerade beeindruckenden vollen Größe auf und stolzierte in die Kirche.

Laura schluckte und sah sich um, runzelte mit einem Mal die Stirn. „Wo ist denn Edda?“, fragte sie mit schriller Stimme.

„Die muss sich ums Auto kümmern“, erwiderte ich bedauernd, „sie wäre gerne dabei gewesen, ehrlich. Aber sie kommt nach.“

Lauras Blick war wohl am besten mit angewidert zu beschreiben. „Du lässt deine angeblich beste Freundin in einer fremden Stadt einfach stehen, nur weil dein beschissenes Auto streikt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Was bist du bloß für ein Mensch?“

„Also bitte“, wehrte ich mich sofort, obwohl ich Gewissensbisse hatte. Ich hätte Edda wirklich nicht stehen lassen dürfen. „Wer will denn unbedingt heiraten? Wer macht denn hier den ganzen Stress, hm?“, fuhr ich sie an, woraufhin sie erschrocken zurückwich.

Holger nahm sie schützend in den Arm und funkelte mich böse an. „Junger Mann, Sie gehen zu weit“, teilte er mir mit.

„Zehn“, rief Saskia laut dazwischen und packte mich grob am Arm. „Los, Chris, komm, wir sind dran.“

Sie hakte sich bei mir unter, warf ihrer besten Freundin noch einen ermutigenden Blick zu und zerrte mich aufs Kirchenportal zu. „Könntest du dich vielleicht etwas zusammenreißen?“, fragte sie ungehalten. „Laura ist eh schon völlig fertig, da brauchst du sie nicht auch noch blöd anzuquatschen.“

Da wir uns bereits auf dem Kirchgang befanden, verzichtete ich auf bissige Widerworte und konzentrierte mich lieber aufs Laufen. Ich stellte mir vor, das hier wäre ein Laufsteg und ich wäre beruflich hier. Gerade Körperhaltung, selbstbewusster Blick, Augen geradeaus, immer das Ziel im Visier.

Flüchtig nahm ich ein paar bekannte Gesichter in der ersten Reihe wahr, Layla, Amanda, Sophia und Luke. Klar, Luke und Marvin waren doch irgendwie Freunde geworden, Sophia war nach wie vor mit Luke zusammen und auch Amanda und Layla kannten und mochten Marvin seit einiger Zeit. Sie grinsten und winkten mir unauffällig zu, als wir nun vorne bei Marvin ankamen, der mit regloser Miene dastand, die Arme vor der Brust verschränkt. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich kurz Wut darin aufblitzen. Oh je!

Eine Stufe weiter oben stand der Pfarrer in weißer Robe, mit dem Kreuz um den Hals, einer Brille auf der Nase und der Bibel in Händen, und sah mich ebenfalls nicht gerade freundlich an.

Saskia zog ihren Arm aus meinem und positionierte sich auf der anderen Seite des Altars, während ich mich auf die unterste Stufe neben Marvin stellte.

Nun begann jemand, Orgel zu spielen ‒ den Hochzeitsmarsch. Marvin straffte die Schultern und ließ die Arme langsam sinken. Alle blickten zum Kircheneingang. Laura schwebte geradezu durch den Mittelgang, am Arm ihres Vaters, der sich im Mittelpunkt sichtlich unwohl fühlte und so gequält dreinschaute, als müsste er über glühende Kohlen laufen.

Lydia in der ersten Reihe schluchzte dramatisch und schlug sich die Hände vor den Mund, auch Sophia, Layla und Amanda, diese Heulsusen, hatten Tränen in den Augen. Ich fing Lukes Blick auf und rollte mit den Augen. Er legte den Arm um Sophia, grinste und zwinkerte mir zu.

Marvin stand der Mund offen, als er seine wunderschöne Braut auf sich zuschreiten sah, seine Augen waren groß wie Murmeln, und als Holger die Hand seiner Tochter in Marvins gleiten ließ, symbolisch dafür, dass er ihm quasi seine Tochter überreichte, schienen alle Anwesenden den Atem anzuhalten. Dann zog jemand geräuschvoll die Nase hoch, Holger schluchzte trocken auf, wandte den Blick ab und eilte hastig von dannen zu seiner Frau, die ebenfalls Rotz und Wasser heulte.

Marvin konnte sich sichtlich nur schwer daran hindern, seine Braut für einen langen Kuss an sich zu ziehen, riss sich aber zusammen und begnügte sich damit, ihr zu sagen, dass sie wunderschön aussähe.

Dann begann die Trauung. Die Rede des Pfarrers war unglaublich schmalzig und rief bei mir einen Würgereiz hervor, den ich nur schwer zurückhalten konnte. Laura weinte wie ein Wasserfall, auch in Marvins Augen schimmerten Tränen, alle schluchzten und schnieften gerührt, nur ich stand gelangweilt da, warf immer wieder einen Blick zur Kirchentür und machte mir Sorgen um Edda. Hoffentlich war ihr nichts passiert, hoffentlich war sie nicht per Anhalter gefahren und steckte nun im Schlamassel.

Ich überlegte, ob es wohl unhöflich wäre, kurz das Handy hervorzuholen und nachzusehen, ob sie vielleicht versucht hatte, mich anzurufen. Doch da kam die Frage des Pfarrers, die man mit „Ja, ich will“ beantworten musste, und das war mein Einsatz. Hastig zog ich die Schachtel mit den Ringen aus der Sakkotasche und war froh, dass ich sie nicht während des Laufens verloren hatte. Das wäre wohl der Super-GAU gewesen. Aber es war noch mal alles gut gegangen. Ich öffnete das Schächtelchen vorsichtig und hielt es Marvin hin. Er nahm den kleineren der beiden Ringe heraus und steckte ihn mit einem total dämlichen Lächeln der tränenverschmierten Laura an den Finger. Anschließend griff auch Laura zu, küsste den Ring mit großer Geste, ehe sie ihn über Marvins dargebotenen Finger schob. Ich trat einen Schritt zurück und verstaute das Kästchen wieder in der Sakkotasche.

„Hiermit erkläre ich euch im Angesicht Gottes zu Mann und Frau“, dröhnte der Pfarrer und irgendjemand jubelte begeistert. „Marvin, du darfst die Braut jetzt küssen.“

Das ließ mein bester Kumpel sich nicht zweimal sagen, er stürzte sich geradezu auf seine frischgebackene Ehefrau, riss sie an seine Brust und presste seine Lippen auf ihre. Sie warf ihm die Arme um den Hals und schmiegte sich an ihn.

Alle sprangen auf und klatschten wie die Bekloppten, die ganze Kirche bebte. Der Pfarrer warf mit gefalteten Händen einen Blick zur Kirchendecke hinauf. Vermutlich dankte er seinem Chef, dass die Trauung doch noch stattgefunden hatte.

Anschließend begann der Part der Umarmungen und Glückwünsche.

Laura flog Saskia um den Hals, Marvin und ich umarmten uns, während ich ihm „Glückwunsch, Mann! Und sorry noch mal“ ins Ohr raunte.

Er winkte ab. „Schon vergessen, Chris.“

Tja, Liebe wirkte wahre Wunder. Seine Wut auf mich schien tatsächlich verflogen zu sein.

Während alle das Brautpaar wild durcheinander umarmten und beglückwünschten, zückte ich mein Handy und sah nach, ob Edda sich gemeldet hatte, aber Fehlanzeige. Ich biss mir auf die Lippe, wo steckte sie nur?

Das Umarmen ging weiter, auch über mich fielen wildfremde Leute her, im Eifer des Gefechts landete ich sogar in Lauras Armen.

„Hey, Kumpel.“ Luke stand plötzlich vor mir und schlug mir krachend auf die Schulter. „Du hast es mal wieder spannend gemacht, was? Wir waren uns zeitweise nicht sicher, ob du überhaupt noch mal in diesem Leben hier aufschlägst.“

„Ach, erzähl keinen Unsinn, Schatz.“ Sophia erschien neben ihm, klapste ihm leicht auf den Arm und streckte die Arme nach mir aus. Ich musste mich etwas bücken, um sie in den Arm nehmen zu können. Sie war klein und zierlich und roch sehr blumig. Sie trug ein kurzes rosafarbenes Kleid mit Rüschen am Saum, eine ganze Ansammlung von goldenen Armbändern am linken Handgelenk, Perlenohrringe, eine Kette mit Herzchenanhänger. Ihr dunkles, volles Haar hing ihr in dicken Locken wasserfallartig über den Rücken hinab und sie hatte einen Kranz aus Gänseblümchen auf dem Kopf.

Alles in allem sah sie wirklich bezaubernd aus und einen Moment lang beneidete ich Luke um sie. Bis mir wieder einfiel, dass ich nicht gut für sie wäre. Irgendwann würde ich sie verletzen, ohne es zu wollen, weil ich einfach nicht dazu gemacht war, treu zu sein.

Lukas wusste nicht, dass Sophia mal Gefühle für mich gehabt hatte. Weder sie noch ich hatten es ihm je gesagt und es spielte ohnehin keine Rolle mehr, immerhin war das längst Geschichte.

„Hallo Chris. Ich hab immer gewusst, dass du es irgendwie rechtzeitig hierher schaffen würdest“, erklärte Sophia und strahlte mich an.

„Äh, danke“, erwiderte ich und war überrascht darüber, wie viel selbstbewusster sie nun auftrat. Dieser stolze Blick, die gerade Körperhaltung, das nach vorn gereckte Kinn, all das verlieh ihr eine ganz andere Ausstrahlung. Sie war nicht mehr länger das schüchterne, zurückhaltende, kleine Bambi, sondern eine Frau, die wusste, was sie wollte. Sehr sexy.

„Chris, hallo.“ Als Nächstes stand Amanda neben mir, sprang wie so oft an mir hoch und knutschte mich ab. Sie war nach wie vor recht beleibt, hatte sogar zugenommen, wenn ich richtig sah. Sie trug ein hellblaues Ballonkleid, das ihre dicken, stampferartigen Beine nicht gerade vorteilhaft betonte, dafür aber ihren Bauch versteckte. Dazu trug sie flache schwarze Riemchensandalen. Ihr Haar hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt und ins Gesicht hatte sie sich eine halbe Tonne Make-up geklatscht, vermutlich um all die Pickel zu kaschieren, die momentan ihr Gesicht bevölkerten. Aber ihre warmen Augen und ihr breites Lächeln, das durch die knallrot geschminkten Lippen besonders auffiel, machten sie noch immer sympathisch und auf gewisse Weise attraktiv.

„Mensch, Am, du hast sein ganzes Gesicht mit deinem Lippenstift verschmiert.“ Layla schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge, leckte ihren Finger ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und wischte in meinem Gesicht herum.

Amanda verzog angeekelt das Gesicht, Sophia rümpfte ihr niedliches Näschen.

„Igitt, Layla, musst du deinen Sabber in seinem Gesicht verschmieren?“, fragte Amanda.

„Wieso, er tauscht auch sonst mit allen möglichen Weibern Spucke aus“, entgegnete Layla ungerührt. „Warum nicht mal auf diese Weise? Nicht wahr, Baby?“

Luke lachte laut auf. „Der war gut, Layla, der war richtig gut.“

Sophia bedachte ihn mit einem finsteren Blick, Amanda seufzte tief.

Ich kniff Layla in den Hintern, zog sie an mich und umarmte sie fest. „Sei nicht so frech, Babe, ja?“, raunte ich ihr ins Ohr.

Sie kicherte, ich spürte ihren warmen Atem an meinem Hals. „Sag mal, Süßer, wo steckt eigentlich deine Begleitung?“ Sie löste sich von mir und sah sich suchend um. „Abgehauen in letzter Sekunde? Oder hast du irgendein Supermodel mitgebracht, das spontan zu einem Job nach New York musste?“

Ich verdrehte die Augen, sie stellte sich mein Leben aufregender vor, als es tatsächlich war. „Ich bin mit Ed hier, meiner besten Freundin, wenn du’s unbedingt wissen willst. Sie ist noch ... beschäftigt, kommt aber bald.“

„Hoffentlich“, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Ach?“ Layla sah mich neugierig an. „Ich wusste gar nicht, dass man mit dir einfach nur befreundet sein kann. Oder“, sie beugte sich vertraulich zu mir, „ist sie lesbisch?“

„Edda?“ Ich lachte leise. „Nee, kein Stück. Aber was ist mit dir, Süße, wo steckt deine Begleitung?“

„Och, da drüben“, sie deutete vage ins Gewühl, „er heißt Max, wir sind während der Schulzeit mal kurz miteinander gegangen und nun hat er mir die Ehre erwiesen.“

Ich grinste wissend. „Dein Ex, ja? Und? Läuft wieder was zwischen euch?“

„Bisher nicht.“ Layla seufzte, grinste kurz darauf aber fröhlich: „Aber wer weiß, was nicht ist, kann ja noch werden. Der Tag ist noch jung.“

Layla sah jedenfalls aus, als wäre sie zu allem bereit, sie trug einen recht kurzen weißen Wickelrock, auf den silberne, kleine Perlen aufgestickt waren, und dazu ein rotes, trägerloses Top, das ein Stück ihres gebräunten Bauchs freiließ. Dazu hatte sie silberne High Heels kombiniert.

„Was ist mit dir, Am?“ Ich legte einen Arm um sie. „Wo ist dein Begleiter?“

„Der wartet“, seufzte Amanda, „irgendwo in der fernen Zukunft. Darauf, dass ich ihn finde und ihn zukünftig mit zu Hochzeiten bringen kann.“ Sie lächelte schief. „Ich bin allein hier. Hab keine passende Begleitung gefunden. Na ja, erst wollte ich bei ’nem Escortservice anrufen und einen heißen Hengst buchen, aber dann hab ich gelesen, dass man, wenn die Chemie stimmt, ab und zu noch miteinander ins Bett geht.“ Sie rollte dramatisch die Augen. „Und ich hatte wirklich keine Lust, mir die Bikinizone zu enthaaren, meine Zehennägel zu schneiden und all den Mist zu tun, den Frauen in Beziehungen ständig tun müssen.“ Sie stieß Sophia an. „Wie machst du das nur? Geht es dir nicht manchmal schrecklich auf den Geist?“

„Also, ich ...“ Sophia warf mir einen kurzen Blick zu und wurde puterrot. Layla kicherte blöd.

Luke legte schützend den Arm um seine Freundin und setzte zu einer Erklärung an, doch in letzter Sekunde rettete Marvin uns, dem es inzwischen gelungen war, seine Braut an seine Seite zu ziehen. Er küsste sie, woraufhin wieder alle applaudierten, dann verkündete er laut: „So, dann begeben wir uns mal alle nach draußen und machen uns auf den Weg zur Feierlocation. Laura und ich freuen uns wahnsinnig, dass ihr alle gekommen seid, wir lieben euch.“

Noch mehr Applaus, Holger, Lydia und Schwester Maja umarmten ihren Familienzuwachs und dann schritten die beiden frisch Vermählten allen voran in Richtung Ausgang. Zwei niedliche kleine Mädchen in rosa Prinzessinnenkleidern, das eine blond, das andere rothaarig, streuten Blumen und hopsten vergnügt hinter dem Brautpaar her.

Beim Anblick des kleinen Rotschopfs dachte ich unwillkürlich wieder an Edda und ein sorgenvoller Stich schoss mir durchs Herz. Ich kramte abermals mein Handy hervor, keine neue Nachricht.

Kurz entschlossen schrieb ich ihr selbst eine.

Hey, Ed, alles gut bei dir? Allmählich mache ich mir Sorgen, melde dich bitte!

Amanda hakte sich bei mir unter, als wir von der Menge zum Ausgang getragen wurden. „Und? Wie fandest du die Trauung?“, wollte sie erwartungsvoll wissen.

Ich zuckte unschlüssig die Achseln. „Okay, schätze ich. Bisschen kitschig vielleicht.“

„Unsinn, kitschig!“ Amanda schlug mir fest auf den Arm. „Irre romantisch war das.“

„Hey, Chris.“ Luke, der direkt vor mir ging, drehte sich nach mir um. „Du brauchst jetzt ’ne Mitfahrgelegenheit, schätze ich. So ohne Auto?“

Ich nickte dankbar. „Ja, das wäre super. Habt ihr noch ’nen Platz frei?“

„Ja, einen noch. Ich bin mit dem VW-Bus von meinen Alten da, das ist ’n Sechssitzer. Also, kommst du?“

Ich nickte und trottete hinter Layla und ihrem Typen, Sophia und Luke her, Amanda hatte sich immer noch bei mir untergehakt.

Gerade als wir einstiegen, brummte mein Handy. Erleichtert las ich Eddas Nachricht.

Hey, Waldoff, machst du dir etwa Sorgen um mich? Ist ja süß! Du weißt ja, bisher hielt ich dich für einen egoistischen Mistkerl. :) Mir geht’s super, das Auto ist in der Werkstatt, ich mach mich jetzt auf den Weg. Sag mir den Namen vom Hotel, in dem die Feier ist, ich komm dann dahin.

Ich grinste über ihre freche Spitze, schrieb ihr hastig, wo die Feier stattfinden sollte, und lehnte mich entspannt zurück, als Luke den Motor startete.

Sophia, die vorne saß, legte ihm eine Hand auf den Arm. „Warte noch einen Moment, Luke, das Brautpaar fährt zuerst los, das ist ein alter Brauch.“

Das Brautpaar wurde in einem uralten Käfer chauffiert, das war, wie ich dank Marvin wusste, Lauras großer Wunsch gewesen. Vorne auf der Haube befand sich ein hübsches Blumengesteck in Herzform aus Efeuranken, gelben und weißen Tulpen, Margeriten und orangefarbenen Gerbera, darum war ein weißes Satinband geschlungen. Schade eigentlich, dass man die ganze Blumendekoration später wegschmeißen würde.

Schließlich setzte der Käfer sich brummend und schleichend in Bewegung, die hinten festgebundenen Blechbüchsen schepperten laut über den Kies und kurz darauf über den Asphalt der Straße. Ich hoffte, dass die alte Karre nicht auch den Geist aufgab.

Eine Karawane von Autos setzte sich in Bewegung, alle fuhren nach und nach vom Kirchenparkplatz. Luke legte den ersten Gang ein, fädelte sich ein und kurz darauf waren wir auf dem Weg zur Feierlocation. Ich freute mich auf Ed. Sehr sogar.

Bei dem Hotel, in dem gefeiert wurde, handelte es sich um ein ziemlich schickes, längliches Gebäude mit rundem Anbau nach vorne raus und einem riesigen Garten mit Brunnen in der Mitte, von dem aus vier Wege in alle Himmelsrichtungen abgingen. Es gab einen riesigen Parkplatz, auf dem Dutzende von Parkanweisern standen und hektisch winkend jedem seinen Platz zuwiesen.

Luke parkte in einer recht engen Lücke zwischen einem Mercedes und einem ohnehin schon verbeulten Polo. Er öffnete behutsam die Tür und ging um den Wagen herum, um die andere für Sophia zu öffnen. Ich zog die Schiebetür auf und ließ Amanda, Layla und Max, der sich mir mittlerweile als guter Freund Laylas vorgestellt hatte, den Vortritt, ehe auch ich aus dem Wagen kletterte.

„Wow, nicht schlecht“, meinte Layla und pfiff anerkennend durch die Zähne, als wir die lange, von Hecken gesäumte Auffahrt zum Hotel hochgingen.

„Nobel geht die Welt zugrunde“, meinte Luke bewundernd, „da haben Lauras Eltern wohl ganz schön was springen lassen. Meine Eltern würden das nie zahlen.“

„Und meine Eltern könnten das nie zahlen“, brummte Sophia.

„Ach, kein Problem, Schatz.“ Lukas küsste sie auf die Wange. „Ich würde dich auch in einer Würstchenbude heiraten.“

Sophia verdrehte die Augen. „Klingt ja wildromantisch.“

„Ihr seid so süß zusammen, ihr beide“, rief Amanda schwärmerisch. „Ihr seid das süßeste Pärchen, das ich je gesehen hab.“

Luke gluckste, Sophia lächelte zurückhaltend und warf mir erneut einen raschen Blick zu. Oder bildete ich mir das nur ein?

„Hallo und herzlich willkommen im Hotel Kaiserhof.“ Ein hübsches Mädchen in einem recht kurzen schwarz-weißen Kellnerinnenoutfit hielt uns ein Tablett mit gefüllten Champagnergläsern unter die Nase. „Bedienen Sie sich!“

„Sehr gern, schöne Frau“, flirtete ich sie an, lächelte gewinnend und nahm schwungvoll zwei Gläser auf einmal vom Tablett. Eins davon reichte ich an Amanda weiter. Der Reihe nach hielt ich Layla, Max, Luke und Sophia ebenfalls ein Glas hin, zu guter Letzt nahm ich mir selbst eines und zwinkerte dem Mädchen, das mich eingehend gemustert hatte, zu. Sie errötete leicht und senkte verschüchtert den Blick.

„Er ist ein so selbstloser Charmeur“, trällerte Layla amüsiert.

Dafür trat ich ihr auf den Fuß und drohte ihr spielerisch mit dem vollen Glas. „Hey, Leute. Könnt ihr bitte mal alle zusammenkommen, ja? Kommt mal alle her.“ Marvin klatschte in die Hände und Laura formte ihre Hände zum Trichter und krähte: „Wir möchten mit euch allen anstoßen.“

Kurz darauf hörte man nichts als Gläserklirren und Glückwunschrufe, mein Glas war leer, nachdem ich mit fünf Leuten angestoßen hatte.

Marvin reichte mir ein neues, als er vor mir stand, und umarmte mich noch mal. „Prost, Kumpel. Auf dich“, meinte ich und trank einen großen Schluck.

„War ’ne tolle Trauung, oder?“, fragte Marvin glücklich grinsend. Ich nickte nur und verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass ich sie sehr kitschig und übertrieben sentimental gefunden hatte.

Gerade als ich zum dritten Mal mit der gleichen fülligen, grauhaarigen Tante anstieß, kam eine Gestalt den Weg entlang. Eine junge Frau im cremefarbenen Kleid, mit feuerroter, etwas zerzauster Frisur.

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. „Edda“, rief ich erleichtert.

Die alte Dame schaute erstaunt, folgte meinem Blick, lächelte sanft. „Ihre Freundin, junger Mann? Ein hübsches Mädchen haben Sie sich ausgesucht. Und sie hat ein reines Herz, das sehe ich von hier, obwohl ich schlechte Augen habe.“

„Entschuldigen Sie, könnten Sie das eben halten?“ Ich drückte der Dame mein Glas in die Hand und sprintete über den gepflegten Rasen auf meine beste Freundin zu, die mich ebenfalls schon erblickt hatte und mir zuwinkte.

Mein Herz klopfte schneller, während ich auf sie zurannte. Meine Beine waren mit einem Mal nicht mehr zu bremsen. Ich wollte so schnell wie möglich bei ihr sein. Sie war so ein gutes Mädchen, mein Engel! Sie hatte sich um mein Auto gekümmert, ohne irgendwelche Zicken zu machen, sie hatte uns das Taxi besorgt, das uns so schnell wie möglich zur Trauung hatte bringen können, und überhaupt war ich einfach froh, dass ihr nichts zugestoßen war.

„Ed!“ Ich breitete die Arme aus, als ich nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, und sie trabte ebenfalls los. Im Näherkommen erkannte ich einen dunklen Ölstreifen auf ihrer Stirn, ihre Wangen waren erhitzt, sie sah zum Anbeißen aus.

Nun war sie bei mir und warf sich oscarreif in meine Arme. Ich hob sie hoch und wirbelte sie einmal im Kreis herum, sie umklammerte meine Schultern, lachte und seufzte.

„Ed, schön, dass du da bist“, flüsterte ich in ihr Haar und küsste sie spontan auf die Stirn.

„Ich bin auch froh, bei dir zu sein. Puh, das war vielleicht was.“ Sie löste sich aufatmend von mir, seufzte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, mit der anderen Hand hielt sie sich noch immer an meiner Schulter fest. „Ich kann dir sagen, das war eine ganz schöne Prozedur. Weil alle Straßen verstopft waren, brauchte der Pannendienst ewig, bis er mal zu mir durchgedrungen ist. Dafür haben, kurz nachdem ihr weg wart, ein paar Typen neben mir angehalten und wollten wissen, ob sie mir irgendwie weiterhelfen könnten. Sie waren richtig aufdringlich, haben mich Süße genannt und sexistische Bemerkungen von sich gegeben. Einer hat mich sogar begrapscht, aber ich hab ihm zwischen die Beine getreten. Da sind sie zum Glück abgehauen.“ Sie blies die Backen auf und ließ die Luft zischend entweichen. „Der Typ meinte noch zu mir, er würde jetzt ins Krankenhaus gehen, seine Eier untersuchen lassen und mir die Rechnung schicken.“ Sie verdrehte die Augen. „Ein absoluter Vollidiot. Zum Glück kam dann bald der Pannendienst.“

Ich spürte, wie ich wütend wurde. Ich hatte Edda allein gelassen und irgendwelche Typen hatten die Situation ausgenutzt, ein junges Mädchen im sexy Kleid allein mit einer Autopanne. Was ihr alles hätte passieren können ... ich durfte gar nicht drüber nachdenken.

Zornig knirschte ich mit den Zähnen. „Am liebsten würde ich die Typen aufspüren und verprügeln“, verkündete ich und spürte das Adrenalin durch meinen Körper jagen. „Solche miesen ...“

„Hey, es ist doch alles gut“, unterbrach Edda mich, legte ihre kleinen Hände auf meine Schultern und sah mich eindringlich an. „Mir ist nichts passiert, okay? Wie du siehst, kann ich mich super selbst verteidigen. Ich brauche dich nicht als Helden, Chris. Ich komme prima allein klar.“

„Ich will aber immer für dich da sein“, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und wusste nicht, wohin mit der brodelnden Wut in meinem Bauch. „Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.“

„Jetzt hör schon auf, du Macho.“ Sie schlug mir leicht gegen die Brust. „Du brauchst dich für mich nicht mit irgendwelchen Typen im Dreck zu wälzen, okay? Ich finde im Übrigen, dass wir jetzt mal zu den anderen gehen sollten, immerhin ist das hier eine Hochzeit, und zwar nicht unsere.“ Sie grinste verschmitzt. „Komm runter, Waldoff, und lass uns gehen!“ Sie griff nach meiner Hand und zog mich mit sich.

Ich biss mir auf die Lippe und ärgerte mich über mich selbst. Was war nur in mich gefahren, dass ich mich wie Rambo aufführte? Ed brauchte offensichtlich niemanden, der sie beschützte, sie kam bestens allein klar. Ich hoffte nur inständig, dass sie dem Kerl so fest in die Eier getreten hatte, dass er die nächsten zehn Jahre keinen Spaß mehr beim Sex haben würde. Keiner begrapschte ungestraft mein Mädchen ...

Halt, was dachte ich eigentlich? Ed gehörte nicht mir. Sie war nur meine beste Freundin. Nicht meine feste Freundin. Nicht mein Mädchen.

Ich spürte ein paar unverwandte Blicke auf mir ruhen, als wir uns dem wartenden Pulk näherten, die uns irgendwie alle mit Argusaugen anglotzten. Keine Ahnung, was die hatten. Amanda und Layla sahen irgendwie verdattert aus. Lukes Mund stand offen. Sophia presste sich fest an ihn und schaute, wenn ich mir das nicht einbildete, etwas eifersüchtig aus der Wäsche.

„Übrigens“, raunte Ed mir zu, der die merkwürdigen Blicke der anderen nicht aufzufallen schienen, „dein Baby ist stehen geblieben, weil die Zylinderkopfdichtung defekt ist. Die Leute vom Pannendienst meinten, da muss man ’ne neue reinmachen, sonst würde das nichts bringen. Sie haben die Karre in eine Werkstatt gebracht. Ich hab Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben. Wenn du willst, kannst du später mal da anrufen.“

„Danke, Ed. Du bist großartig“, sagte ich inbrünstig.

„Ich weiß. Und jetzt schleim nicht rum.“ Sie grinste, zog auf den letzten Metern ihre Hand aus meiner und schaufelte sich einen Weg zum Brautpaar frei. „Marvin! Laura!“ Sie nahm erst ihn, dann sie in die Arme. „Alles, alles Gute, ihr beiden! Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich nicht dabei sein konnte.“

„Kein Problem“, erwiderte Laura und winkte ab. „Hauptsache, du bist jetzt hier.“

„Genau, Ed.“ Marvin reichte ihr ein Glas Champagner. „Hier, wir müssen noch anstoßen.“

Nachdem das erledigt war, eröffneten die beiden frisch Angetrauten das Buffet, das eine reichhaltige Auswahl bot.

Reihen langer Tische waren auf der großen Wiese aufgestellt worden und es herrschte freie Platzwahl. Auf jedem Tisch standen mehrere Töpfe, aus denen es dampfte und ein köstlicher Duft emporstieg. Die Hochzeitssuppe, wie ich annahm. Dahinter gab es mehrere Tische mit weißen Tischdecken, auf denen auf Wärmeplatten oder hübschen rosa Tischsets die Hauptgerichte, Beilagen und Nachspeisen standen. Aufwendiger Blumenschmuck aus rosafarbenen und weißen Blüten in bunten Vasen zierte überall die Tische, auf einem kleinen Extratisch entdeckte ich eine gigantische dreistöckige Hochzeitstorte mit einem winzigen Ehepaar obendrauf.

Auf einem Stehtisch mit rosa Tischdecke stapelten sich die Geschenke fast bis in den Himmel und ich hatte das Gefühl, der Haufen könnte schon umfallen, wenn ich ihn nur schief ansähe.

Während Scharen hungriger Gäste zu den Tischen strömten, positionierten Marvin und Laura sich für den eigens zu diesem Event engagierten Hochzeitsfotografen, der ungefähr drei Milliarden Fotos von den beiden schoss. Wie sie sich küssten, umarmten oder verliebt ansahen. Lydia stand mit verschränkten Armen und strengem Blick daneben und sah zu, dass der gute Mann auch alles richtig machte. Holger harrte tapfer neben ihr aus, sah aber immer wieder sehnsüchtig hinüber zum Buffet. Saskia wartete ebenfalls, spähte aber auch bisweilen gierig zum Essen hinüber. Warum genau ich hier doof in der Gegend herumstand, war mir nicht ganz klar. Ich war damit beschäftigt, Edda dabei zuzusehen, wie sie sich meinen Freunden vorstellte. Layla und Amanda fragten sie eindeutig über unser Verhältnis aus, denn sie schüttelte immer wieder den Kopf, winkte ab und gestikulierte wild. Ich wünschte, sie würden sie einfach in Ruhe lassen. Gerade als ich mich fragte, ob ich ihr zu Hilfe kommen und die Mädels in ihre Schranken weisen sollte, rief Marvin nach mir.

„Hey, Kollege, komm mal her. Der Trauzeuge muss auch mit aufs Foto. Komm her! Saskia, du auch.“

Unwillig setzte ich mich in Bewegung, die Pflicht rief. Ed würde allein klarkommen müssen. Aber sie brauchte meine Hilfe ohnehin nicht, wie sie vorhin großspurig behauptet hatte.

So kam es, dass ich kurze Zeit später mit Marvin, Laura und Saskia für die Fotos posierte, mich jedes Mal, wenn der Fotograf abdrückte, anders hinstellte und einen anderen Gesichtsausdruck aufsetzte. Ich hatte mir das bei den zahlreichen Fotoshootings, die ich schon hinter mir hatte, angeeignet.

„Sie machen das großartig, junger Mann. Sagen Sie mal ...“ Der Fotograf ließ die Kamera sinken, sah mich prüfend an. „Sind Sie nicht Christopher Waldoff? Joachim Bernsteins neuester Schützling?“

Geschmeichelt verneigte ich mich. „Der bin ich“, sagte ich grinsend.

„Wahnsinn.“ Der Fotograf huschte zu mir herüber, um mir die Hand zu schütteln. „Sie haben viel Potenzial, Junge. Echt. Aber Jo hatte schon immer einen guten Blick für so was. Er hat die Spreu vom Weizen getrennt, schon damals, als er noch Juror bei der Modelshow war.“

Ich war verblüfft. „Joachim war mal Juror in einer Fernsehshow?“, hakte ich nach.

„Ja, ja. Wussten Sie das nicht?“ Der Fotograf schaute überrascht. „Da haben wir uns kennengelernt. Ich hab die Models fotografiert, die er in seiner Sendung hatte. Hübsche Dinger waren das, Donnerwetter. Mit der einen oder anderen hatte er auch eine Affäre.“

„Joachim hatte Affären mit Models?“ Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Dieser alte Moralapostel ... soweit ich wusste, war er seit acht Jahren verheiratet. Ich musste mich unbedingt mal informieren, wann er in dieser Show mitgemacht hatte.

Aber nicht jetzt. Denn wie mir wieder einfiel, war das hier die Hochzeit meines besten Freundes. Nicht der geeignete Zeitpunkt, um mit dem Fotografen zu quatschen.

Lydia ging natürlich bereits entschieden dazwischen: „Also bitte, bei aller Berühmtheit, das geht zu weit. Wir bezahlen Sie hier fürs Fotografieren, guter Mann, nicht dafür, dass Sie mit diesem ... diesem ... selbstverliebten Schönling ein Schwätzchen halten!“

„Mama“, rief Laura peinlich berührt und sah den Fotografen entschuldigend an. An mich verschwendete sie weder Blicke noch Worte. „Entschuldigen Sie, Herr Lichtenstein, meine Mutter ist nur etwas aufgeregt.“

„Oh, keineswegs“, keifte Lydia. Konnte der nicht mal jemand den Mund zukleben? Das war ja nicht auszuhalten, dieses dauerhafte Gezeter!

„Im Gegenteil, Frau Hofer, äh, Verzeihung, Frau Lieblich ... ich muss mich entschuldigen.“ Der Fotograf klopfte Laura jovial auf die Schulter. „Ich hab mich zu einem Schwätzchen hinreißen lassen. Dabei bin ich doch beruflich hier. Herr Waldoff“, er nickte mir zu, „stellen Sie sich wieder in Position. Frau Hofer, Herr Hofer, Sie sollten als stolze Brauteltern auch mit aufs Foto. Na los, Aufstellung!“

Das fehlte noch, ein Foto von mir zusammen mit dieser Schreckschraube.

Fünf Minuten später, nachdem ich auch noch mit Saskia und Marvin einzeln posiert hatte, war ich endlich entlassen. Ich wollte mich auf den Weg zum Buffet machen, denn mein Magen knurrte und ich hatte unglaublich großen Hunger, als der Fotograf nach vorn hechtete und mich am Jackett festhielt.

„Entschuldigung, Herr Waldoff, Christopher, eine Sekunde noch.“ Er kramte in seiner Hemdtasche herum und steckte mir seine Visitenkarte zu. „Ich mache manchmal Fotoprojekte zu ganz verschiedenen Themen, das wird immer groß angekündigt. Im Internet, Fernsehen, Radio ... Wenn Sie mal Lust auf eine Zusammenarbeit hätten oder ich was für Sie tun kann, kontaktieren Sie mich einfach.“ Er lächelte mich gewinnend an.

Ich nickte. „Gerne, das mach ich. Und ... äh ... Sie können mich duzen.“ Ich reichte ihm die Hand. „Ich bin Chris.“

Der Fotograf grinste. „Freut mich, ich bin Nico.“

„Herr Lichtenstein!“, kreischte Lydia in diesem Moment. „Kommen Sie endlich! Sie haben zu tun!“

Nico zuckte leicht zusammen, rollte mit den Augen. „Eine grauenhafte Person.“ Kurz darauf weiteten sich seine Augen und er sah mich erschrocken an. „Du ... äh ... du bist doch nicht mit ihr verwandt, verschwägert oder sonst was, oder?“

„Oh nein!“ Abwehrend hob ich die Hände. „Um Gottes willen! Das ist mir zum Glück erspart geblieben.“

Nico grinste. „Glück gehabt, ich dachte schon, ich wäre ins Fettnäpfchen getreten. Puh! Aber den Bräutigam kennst du näher?“

„Er ist mein bester Freund“, erklärte ich.

„Ach was! Haha, ich sag’s immer wieder, die Welt ist ein Nest.“ Nico lachte. „Also, ich werd dann mal wieder, bevor der Drache noch Feuer spuckt. Viel Spaß dir weiterhin!“

„Danke, dir auch.“ Ich hob die Hand zum Abschied, verstaute die Visitenkarte in der Hosentasche und stapfte hinüber zum Buffet.

Auf halbem Weg gesellte sich Edda zu mir. „Na?“, fragte sie.

„Na?“, erwiderte ich. „Alles gut?“

„Ja. War gerade auf der Toilette und hab mir die Autoschmiere aus dem Gesicht gewaschen. Danke auch fürs Bescheidsagen.“ Sie sah mich vorwurfsvoll an, ich zuckte die Achseln.

„Das sah süß aus, fand ich. Passte gut zu deinen roten Haaren.“

„Haha!“ Sie boxte mir fest gegen den Oberarm. „Layla war so nett, es mir mitzuteilen, gleich nachdem sie mich darüber ausgefragt hat, ob wir zusammen sind, ich mit dir ins Bett gehe, auf dich stehe, in dich verliebt bin, war, sein werde und so weiter.“ Sie klang genervt, ich grinste breit.

„Und? Was hast du geantwortet?“, neckte ich sie.

Sie schnaubte. „Nein, nein und hundertmal nein!“, verkündete sie laut. „Eher friert die Hölle zu, als dass ich mit dir in die Kiste steige. Im Übrigen schienen Amanda und Layla mit diesen Antworten nicht zufrieden zu sein. Und diese eine, die Freundin von Lukas, hat mich angesehen, als würde sie mir kein Wort glauben und mich am liebsten erwürgen. Was ist denn mit ihr, hattest du etwa mal was mit der?“

Also bildete ich es mir doch nicht ein ‒ die eifersüchtigen Blicke, das Erröten, wenn ich sie ansah, das war alles wirklich passiert. Vermutlich hatte Sophia nach wie vor eine Schwäche für mich. Der arme Luke! Und die arme Edda, die darunter leiden musste. Ich legte einen Arm um sie. „Sie war mal verliebt in mich, hatte aber nie eine Chance. Jetzt ist sie mit meinem Kumpel Luke zusammen und der Keks ist gegessen. Wie sieht’s aus, hast du Hunger?“

Edda sah nicht überzeugt aus, ließ sich aber von der Frage ablenken und nickte eifrig. „Wie ein Bär, ich verhungere gleich“, verkündete sie.

„Das kann ich natürlich nicht zulassen. Komm, ab ans Buffet!“

Der Caterer war nur weiterzuempfehlen. Selten hatte ich so gut gegessen. Die klassische Hochzeitssuppe mit Eierstich, Nudeln und frischen Kräutern schmeckte hervorragend und verwöhnte den Gaumen. Als Hauptspeise gab es Schweinelendchen mit Champignons in Rahmsoße, dazu frische Spätzle, Kartoffelkroketten und eine große Auswahl an Gemüse. Als Beilagen wurde Forellenfilet mit Honig-Dill- oder Sahne-Meerrettich-Soße serviert, alternativ konnten die Gäste sich zwischen Melonenspalten mit mildem Parmaschinken, Hähnchenschenkeln mit Früchten oder Salaten entscheiden. Wer dann noch Platz im Magen hatte, konnte Mousse au Chocolat, Obstsalat, Rote Grütze oder gemischtes Eis mit Sahne genießen.

Edda und ich futterten uns durchs Buffet und es machte einen Riesenspaß, mit einem Mädchen mit gutem Appetit zusammen zu essen, das nicht auf Kalorien achtete und wie ein Huhn im Salat rumpickte, sondern die guten Seiten des Lebens zu schätzen wusste. Meine weiblichen Modelkolleginnen hielten sich beim Essen größtenteils sehr zurück, aßen winzige Häppchen, von denen ich mich niemals ernähren könnte, ohne an Mangelerscheinungen zu leiden. Ed war da zum Glück ganz anders. Wir luden beide unsere Teller randvoll, schnabulierten, setzten professionelle Feinschmeckermienen auf und kommentierten das Essen: „Hauchzarte Lenden vom Schwein, serviert in cremiger Rahmsoße mit schmackhaften Champignons.“ Oder: „Frisches Forellenfilet direkt aus dem Bach, eingetaucht in süße Honig-Dill- oder scharfe Meerrettichsoße, ein Fest für den Gaumen.“

Wir kamen auf unsere Kosten, alberten herum und ließen es uns schmecken, während Marvin und Laura ganz ungestört den Hochzeitswalzer zu Queen of My Heart von Westlife tanzten. Eine gute Band, wie ich fand.

Als die beiden schließlich Arm in Arm eintrudelten, hatten die Gäste schon ein gehöriges Loch ins Buffet gerissen. Lydia machte ein langes Gesicht, sie hatte den Hochzeitstanz ihrer Tochter genau verfolgt und dabei leider verpasst, aufs Essen aufzupassen.

„Unmöglich“, echauffierte sie sich, „dabei wollten wir doch Reden halten vorm Essen, wie sich das gehört, aber diese jungen Leute stürzen sich ja wie die Tiere auf alles Essbare.“

„Ach, Mama, lass gut sein“, seufzte Laura. „Reden sind eh stinklangweilig.“ Lydia schmollte beleidigt.

Marvin und Laura schnitten die Hochzeitstorte an, Nico war dabei und knipste eifrig. Laura hatte die Hand oben. Das hieß, dass Marvin von nun an bis in alle Ewigkeit unter ihrer Fuchtel stehen würde.

„Sie sind ein schönes Paar“, murmelte Edda und wischte sich etwas Dillsoße aus dem Mundwinkel. „Sie passen gut zusammen. Äh ... der Fotograf sieht zu uns rüber. Er grinst und winkt.“

„Ja?“ Ich war noch mit meiner Mousse au Chocolat beschäftigt, sah aber trotzdem auf.

Nico winkte mir kokett zu und grinste. Ich winkte zurück und grinste ebenfalls, den Mund voll Schokolade. Er zeigte zwischen Edda und mir hin und her und zog fragend die Brauen hoch. Ich schüttelte vehement den Kopf. Nicht, dass er auch noch Fotos von uns schoss und sie an die Presse vertickte.

„Äh, was soll das jetzt?“ Sie knuffte mich in die Seite und blickte mich auffordernd an. Ich erzählte ihr kurz, wer er war und wie wir uns vorhin kennengelernt hatten. „Aha.“ Sie seufzte tief. „Anscheinend müssen Laura und Marvin heute hart darum kämpfen, die Hauptpersonen auf ihrer eigenen Hochzeit zu bleiben, was? Irgendwie stehst du ständig im Mittelpunkt, Mr Populär. Oh je, jetzt winkt er dich zu sich rüber.“

„Nee, er winkt uns zu sich rüber“, verbesserte ich sie und in mir regte sich etwas. Mein Ehrgeiz? Mein Streben nach Ruhm und Erfolg? Vielleicht war’s auch einfach die Eitelkeit, jedenfalls fühlte ich mich geschmeichelt von Nicos offensichtlichem Interesse an mir. Ich griff nach Eddas Hand und zog sie hoch. „Komm, wir sagen kurz Hallo.“

„Chris, ich will ihm nicht Hallo sagen“, entgegnete Edda ungehalten, „ich will meinen Obstsalat essen und danach ein bisschen mit Laura und Marvin quatschen. Und vielleicht ein paar andere Leute kennenlernen. Bitte, zieh mich nicht in diesen Berühmtheitsquatsch mit rein, ja?“

„Stell dich nicht so an, Ed.“ Ich zerrte die bockige Edda hinter mir her, bis sie sich schließlich widerstrebend in ihr Schicksal fügte und mitkam. „Hey, Nico.“ Ich hob die Hand, er schlug ein. „Was gibt’s?“

„Och, nichts Besonderes. Ich wollte nur deine bezaubernde Freundin kennenlernen.“ Er streckte Edda die Hand hin. „Hallo, schöne Frau. Darf ich deinen Namen erfahren?“

„Edda“, sagte sie nicht gerade freundlich, „aber ich bin nicht berühmt, falls Sie das denken.“

Nico lachte laut. „Das macht nichts, Süße. Allein deine Schönheit macht dich schon zu einer Berühmtheit.“ Er zwinkerte ihr zu und sie blinzelte verdutzt. Machte er sie etwa an? Hatte er uns deshalb zu sich beordert?

„Also, äh ... danke“, stotterte sie überrumpelt.

„Gerne, Schätzchen. Ein schönes Mädchen wie du bekommt doch sicher ständig Komplimente, was?“ Nico grinste. „Ein Glück für Chris, dass er dich hat.“

Kein Zweifel, er machte sie an! Wie alt war er überhaupt? Mindestens Anfang, wenn nicht gar Mitte dreißig. Viel zu alt für Ed.

„Also, wir sind nicht zusammen“, erklärte Edda vorsichtig.

Eine Regung huschte über Nicos Gesicht. Freude? „Ach nein? Nun, das sah vorhin aber anders aus.“

„Vorhin?“, fragte ich lauernd.

„Na ja, als du angekommen bist, Emma ...“

„Edda“, korrigierte ich ihn düster.

„Ja, klar, Edda. Da seid ihr euch doch in die Arme gefallen. Ich hab Fotos gemacht, weil ich das so emotional und romantisch fand, wisst ihr, ein perfektes Bild von Liebenden. Ihr wart so miteinander beschäftigt, dass ihr es gar nicht mitbekommen habt. Wollt ihr mal sehen?“

„Äh, ehrlich gesagt ...“ Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, stand er zwischen uns und knipste eifrig auf seiner Kamera herum. Ich roch sein männlich-herbes Aftershave, fühlte mich unwohl und machte einen Schritt zur Seite, um Abstand zwischen uns zu bringen, doch er rückte sofort nach und hielt mir seine Spiegelreflexkamera unter die Nase.

„Da, guckt. Süß, oder? Wildromantisch! Wie ihre Haare im Wind fliegen. Wie sie vom Boden abhebt ... Traumpaar!“

Ich glotzte auf die zig Fotos, die er von Edda und mir gemacht hatte, wie wir Arm in Arm dastanden, ein Augenblick in unserem Leben, doch Nico hatte es geschafft, alle Emotionen einzufangen ‒ Freude, Erleichterung, Zuneigung, Freundschaft. Alles, was ich in diesem kleinen Moment empfunden hatte. Er war echt ein spitzenmäßiger Fotograf. Dennoch fand ich diesen Auftritt hier ein wenig seltsam. Ed dagegen biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Nun wandte Nico sich ihr zu, legte sogar einen Arm um sie, zeigte ihr die Fotos. Ich erwartete, dass sie den Arm abschüttelte, doch sie wehrte sich nicht, lehnte sich sogar an ihn und kicherte, als er rasch durch die Fotos klickte. Ich konnte es kaum fassen.

Schließlich nahm Nico den Arm weg und sah uns beide unter halb gesenkten Lidern prüfend an. „Ihr seid also nicht zusammen, ja?“

„Nein“, verkündeten Edda und ich unisono.

„Seid ihr euch sicher?“

„Ich glaube, das wäre uns aufgefallen“, brummte ich sarkastisch.

„Wir sind nur Freunde. Beste Freunde“, prustete Ed und rang einen Lachanfall nieder.

Ich wusste nicht, was daran so komisch sein sollte, und warf ihr einen finsteren Blick zu. Gleich würde er sie nach ihrer Nummer fragen, ich sah es schon kommen.

„Wie schön!“ Nico strahlte. „Kann ich vielleicht ein Bild von euch machen? Deshalb hab ich euch eigentlich gerufen. Ihr seid ein sehr schönes Motiv. Ich schicke die Abzüge dann direkt an das neue Ehepaar. Na?“

„Äh ... ach, von mir aus.“ Vielleicht gab er dann endlich Ruhe.

Ed trat neben mich und legte mir den Arm um die Hüfte, den Kopf bettete sie an meiner Schulter. Die ganze Zeit über spürte ich deutlich ihr unterdrücktes Lachen, das machte mich ganz wuschig.

Als er endlich fertig war, löste Edda sich von mir und keuchte prustend: „Okay, willst du auch noch ein Foto von dir und Chris?“

Was?! Ich sah sie entsetzt an. Ihr Gesicht war ganz verzerrt von der Anstrengung, das Lachen zu unterdrücken. Ich kam mir vor, als hätte ich einen Witz verpasst, und sah sie ärgerlich an. Edda prustete schon wieder los.

„Äh ... nein, danke“, lehnte Nico nach einem kurzen Blick auf sie ab und hatte es mit einem Mal sehr eilig. „Ich muss noch ein paar Sachen mit Frau Hofer besprechen. Also, hat mich gefreut, ihr beiden. Danke für eure Zeit.“

„Gern“, kicherte Edda. „Tschüss, Nico.“

„Ciao, meine Hübsche.“ Er zwinkerte ihr zu.

Ich ballte verärgert die Fäuste. Hatten die beiden sich vielleicht gerade per Geheimsprache zum Stelldichein verabredet und ich hatte es nicht mitbekommen? Warum sonst gackerte Edda so albern?

Der Fotograf wandte sich zum Gehen, doch mir fiel noch etwas ein und ich hielt ihn zurück. „Äh, Nico?“

„Ja?“ Als er sich umdrehte, sah er geradezu hoffnungsvoll aus.

„Äh ... das hier ist privat. Also, die Hochzeit. Ich bin privat hier. Nicht als Model, sondern einfach als Freund des Bräutigams. Könntest du vielleicht darauf verzichten, die Bilder von mir öffentlich zu machen? Ginge das?“

Nico lächelte sanft. „Klar, kein Ding. Hatte ich eh nicht vor. Tschüss.“

„Tschüss.“ Ich sah ihm nach, unschlüssig, was ich von ihm halten sollte.

Edda währenddessen brach lachend zusammen, krümmte sich und hielt sich den Bauch. Immer mehr Leute sahen zu uns rüber.

Entnervt ging ich zu ihr. „Kannst du mir vielleicht mal erklären, was los ist? Warum lachst du jetzt so blöd? Was sollte das alles?“

„Ich ... oh Gott ... Chris, er wird die Bilder nicht veröffentlichen. Wahrscheinlich macht er eher eine Tapete aus den Fotos von dir und hängt sie in sein Schlafzimmer.“ Sie bekam kaum noch Luft, Tränen rannen ihr übers Gesicht.

„Ed?“ Sie saß in der Hocke am Boden und krümmte sich, ich kniete vor ihr nieder. „Was ist denn in dich gefahren? Er hat dich total angemacht, okay, aber dass dich das so aus der Bahn wirft ...“

Ed kippte fast hintenüber. „MICH angemacht?“ Sie keuchte vor Lachen. „Oh, Chris, du hast wirklich keine Menschenkenntnis.“

„Offenbar nicht“, sagte ich unwirsch, „sonst hätte ich früher gemerkt, dass du einen totalen Knall hast.“

„Und du hättest ... gemerkt, dass ... dass Nico ... stockschwul ist und ... voll auf dich abfährt ... Ich kann nicht mehr!“ Ed gab sich ihrem Lachanfall hin und rollte hin und her, mir wich alle Farbe aus dem Gesicht.

„W...was?“, entfuhr es mir. Ich war mehr als entsetzt. Nein, das konnte nicht wahr sein!

Ich hatte nichts gegen Schwule. Absolut nicht. Jeder hatte das Recht zu lieben, wen er wollte. Es war absolut okay, es gab keinen Unterschied zwischen homo- und heterosexueller Liebe. Aber dass ein Schwuler auf mich stand und mich anmachte, ohne dass ich es checkte, das schockte mich bis ins Mark. „Oh Gott, ich mach mir gleich in die Hose ... ich muss aufs Klo.“ Edda rappelte sich taumelnd auf und sauste mit zusammengekniffenen Beinen davon.

Kopfschüttelnd sah ich ihr nach. „Das ist ein Witz, aber ohne Pointe“, murmelte ich fassungslos.

„Hey, Chris.“ Layla, mit einer Schale Obstsalat in den Händen, führte mich zu ihrem Tisch hinüber, an dem auch der Rest der Bande, das Brautpaar sowie eine Menge Leute in unserem Alter saßen, die ich nicht kannte.

Ich quetschte mich zwischen Amanda und Layla und versuchte, den unterschiedlichen Gesprächsthemen zu folgen. Layla und Max flirteten miteinander und waren wohl dabei, ihre Romanze aus der Schulzeit wieder aufzuwärmen. Zwei Typen in meinem Alter, beide in schwarzen Anzügen und mit roter Krawatte, der eine mit raspelkurzem blondem, der andere mit braunem Haar, geierten nach den anwesenden Mädchen und überlegten sich Strategien, wie sie sich eine klarmachen konnten. Eine Vierergruppe Mädchen lästerte über eine dicke ehemalige Klassenkameradin, die wohl auch auf der Feier gesichtet und noch fetter geworden war. Ein Mädchen und ein Junge, eindeutig ein Liebespaar, flüsterten miteinander, hielten dabei Händchen und erweckten den Eindruck, als würden sie auch gerne bald heiraten. Laura und Marvin schwelgten im siebten Himmel, fütterten sich gegenseitig mit Hochzeitstorte und sahen ekelhaft verliebt aus.

„Ed ist ein süßes Mäuschen“, meinte Amanda plötzlich.

Ich zuckte leicht zusammen, blinzelte und fragte: „Hm?“

„Na, Edda. Deine beste Freundin. Sie ist süß“, wiederholte Amanda langsam, als wäre ich schwer von Begriff, und sah mich eindringlich an. „Komisch, dass du nichts mit ihr gehabt hast.“

„Ach, Am“, ich verdrehte die Augen, „auch wenn mein Ruf was anderes vermuten lässt, aber ich steig nicht mit jeder ins Bett. Und Ed ist mir irgendwie zu dünn und knochig, wenn du verstehst, was ich meine. Ich hätte Angst, sie zu zerbrechen oder so.“

Ich zuckte die Achseln. „Ich steh einfach nicht auf sie. Wir sind beste Freunde und das will ich echt nicht kaputt machen, indem ich auf Biegen und Brechen versuche, mit ihr zu vögeln.“

Amanda sah mich nachdenklich an, nickte schließlich. „Gute Einstellung, Chrissiboy. So, ich werde mir dann noch mal ein Stück Hochzeitstorte holen, willst du auch?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke, ich bin randvoll.“

Amanda zuckte die Achseln, hielt sich an mir fest, während sie ungeschickt ein Bein über die Bank schwang und sich ächzend auf die andere Seite hievte. Die lästernde Viererclique taxierte sie mit bohrenden Blicken, dann steckten sie ihre Köpfe zusammen und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Demonstrativ drehte ich ihnen den Rücken zu, ich hasste solche Weiber.

Später dann fand der Vater-Tochter-Tanz statt. Die Gästeschar stand im Halbkreis um sie herum und guckte zu. Holger, anfangs zittrig und nervös, war ein hervorragender Tänzer und auch Laura machte wirklich eine gute Figur, wie sie da an seiner Brust scheinbar schwerelos über den Boden schwebte. Marvin stand mit verklärtem Gesichtsausdruck neben mir und ich konnte die Liebe zu ihr in seinen Augen sehen.

Zu meiner Linken stand Edda und schniefte gerührt. Ein Blitzlichtgewitter aus zig Kameras ging auf die beiden nieder. Ich fragte mich, wo Nico abgeblieben war, hoffte aber, dass er nicht zu uns rüberkam.

Holger und Laura tanzten zu dem Lied Butterfly Kisses von Bob Carlisle, einem Lied, das von der intensiven Bindung zwischen Vater und Tochter und ihrer innigen Beziehung zueinander handelte. Ich dachte an meinen eigenen Vater und schluckte. Ich hatte ihn nie geliebt. Hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt.

Mein Blick fiel auf Edda, die die Lippen zusammengekniffen hatte und sichtlich mit den Tränen rang. Wahrscheinlich dachte sie an ihren Vater und daran, dass sich ihre Eltern womöglich bald trennen würden. Ich wusste, dass sie zu beiden ein enges Verhältnis hatte, dass die drei einst ein eingespieltes Team gewesen waren und immer aufeinander zählen konnten.

Einerseits war ich neidisch darauf, so etwas nie gehabt zu haben. Andererseits wollte ich nicht wissen, wie weh es tat, wenn man das verlor.

Ich legte einen Arm um sie und zog sie zu mir heran. Dankbar kuschelte sie sich an mich und barg ihr Gesicht an meiner Brust. Ich streichelte ihr übers Haar und dachte, dass ich später mal in Ruhe mit ihr reden musste. Ich musste ihr einfach klarmachen, dass sie sich die ganze Sache nicht so sehr zu Herzen nehmen durfte. Klar, es ging um ihr Elternhaus, ihre Familie brach auseinander. Aber es war nicht ihr Leben. Ob die beiden sich trennten oder nicht, war letztendlich nicht ihre Entscheidung. Sie war erwachsen, würde ihren eigenen Weg gehen. Sie musste aufhören, sich immer für alles und jeden verantwortlich zu fühlen.

Nachdem der Vater-Tochter-Tanz zu Ende war und Lydia erst ihre Tochter, dann ihren Mann schluchzend umarmt hatte, wurden ein paar fröhliche, flippige Songs gespielt und immer mehr Pärchen fanden sich zusammen und hüpften ausgelassen auf der Tanzfläche herum. Lydia und Holger schwangen ebenfalls die Hüften, fühlten sich sichtlich jugendlich und sahen absolut albern aus. Allerdings interessierte das niemanden hier, die Hauptsache war, dass man Spaß hatte. Ich ergriff kurz entschlossen Eddas Hand und zog sie mit mir auf die Tanzfläche. Tanzen war gut gegen Depressionen.

Edda lag der Rhythmus im Blut, wie mir recht schnell auffiel. Sie war ein wahrer kleiner Wirbelwind, drehte vergnügt Pirouetten, wirbelte unter meinem Arm hindurch, sprang herum und drehte sich im Kreis. Ihre Augen funkelten leidenschaftlich und ein Strahlen stahl sich nach und nach auf ihr Gesicht, das der Sonne Konkurrenz machte. Ich war froh darüber, sie auf andere Gedanken gebracht zu haben.

Irgendwann verlor ich sie in der dichten Masse aus sich aneinanderreibenden Körpern aus den Augen, dafür packte ein schmales, ziemlich klein geratenes, brünettes Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen meine Hand und drehte sich geschickt in meine Arme.

„Hi“, brüllte sie mir über den Lärm der Musik hinweg ins Ohr. „Ich bin Pia.“

„Chris“, schrie ich zurück, „freut mich.“

Sie grinste und tippte mir leicht auf die Brust. „Ich weiß, wer du bist. Du modelst doch, oder? Hast du nicht diese Kampagne gegen Pelze gedreht?“

Ich nickte stolz. Sie war nicht die Erste, die mich darauf ansprach. Es freute mich ungemein, dass vor allem Mädchen auf die Kampagne aufmerksam wurden und sich vielleicht überlegten, in Zukunft auf das Tragen von Pelzen zu verzichten.

„Weißt du“, schrie sie mir ins Ohr, „ich kaufe, seit ich dich auf dem Plakat gesehen hab, keine Pelze mehr. Und ich esse auch kein Fleisch mehr, ich bin Vegetarierin geworden.“

Ich hob überrascht eine Braue. „Echt jetzt?“, fragte ich nach.

Sie nickte eifrig. „Ja. Du hast mich total überzeugt. Es ist echt schlimm, was den armen Tieren angetan wird. Ich hab mich auch über Massentierhaltung und so informiert, echt krass. Du hast mir die Augen geöffnet, ich hab das Interview in Mittelpunkt Mensch gelesen, wo du gesagt hast, dass du gegen Massentierhaltung bist. Echt, das hat mich voll überzeugt. Das ist so krass, wie die mit den Tieren umgehen. Die halten Hühner in Legebatterien und lassen sie wochenlang in ihrem eigenen Dreck sitzen, ohne mal auszumisten, die armen Viecher können sich kaum bewegen. Und die Schweine werden gemästet und gemästet, bis sie fast platzen, dabei werden sie regelrecht zusammengepfercht. Da dachte ich mir, nee, echt nicht, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Meine Ma kauft, seit ich mit ihr geredet hab, nur noch Biofleisch, aber ich krieg keinen Bissen davon mehr runter, seit ich gesehen hab, wie die die Hühner umbringen. Die werden mit den Füßen in die Metallbügel einer Förderkette eingehakt, dann geht’s mit dem Kopf nach unten ab in Richtung Elektrowasser. Du musst dir vorstellen, die leben dabei noch! Was denkst du, was die für ’ne Panik haben? Dann tauchen sie mit dem Kopf in das Elektrowasser und werden betäubt, danach hängen sie so scheintot rum, während sie geradewegs auf ihr sicheres Ende zusteuern ‒ Halsschnittautomaten, wo ihnen die Kehle durchgeschnitten wird. Ekelhaft, oder? Oft sind sie durch das Elektrowasser gar nicht richtig betäubt und kriegen richtig mit, wie ihnen die Kehle durchgeschnitten wird. Voll krank und pervers! Ich meine, warum lässt man die Tiere nicht einfach in Freiheit aufwachsen, füttert und säubert sie gut und bietet ihnen ein anständiges Leben, und wenn man unbedingt ’nen Braten will, schleicht man sich an sie ran und schlägt ihnen den Kopf ab, ganz schnell und schmerzlos. Ich check nicht, warum man die kopfüber aufhängen muss, wenn sie bei vollem Bewusstsein sind. Und rein in dieses Scheißwasser, das nicht mal richtig betäubt. Die armen Tiere haben Todesangst, das klingt für mich, als hätte irgendein sadistischer Psychopath seinen kranken Fantasien freien Lauf gelassen. Unfassbar, dass so was erlaubt ist, dabei macht Deutschland doch sonst um alles so ein Geschiss. In keinem Land gibt’s so viel Papierkram wie hier und so viele Straßenschilder. Ich mein, überall wollen sie für Recht und Ordnung sorgen und bei so einer Schweinerei schauen sie tatenlos zu? Tierquälerei ist das! Ich weigere mich, so was zu essen. Ich will nicht genüsslich ein Tier verspeisen, das diese eiskalten Mörder kaltblütig um die Ecke gebracht haben. Wie siehst du das? Du bist doch bestimmt auch Vegetarier, oder?“

„Äh ... ich ...“ Mir war ganz anders. So intensiv hatte ich mich mit dem Thema gar nicht auseinandergesetzt. Ich hatte beschlossen, nach der Antipelzkampagne gleich noch mein Statement gegen Massentierhaltung und Tierversuche abzugeben, einfach deshalb, weil es Themen waren, die sehr oft totgeschwiegen und ignoriert wurden. Keiner wollte zugeben, dass er Hähnchen aus Bodenhaltung als Sonntagsbraten aß oder dass sein wasserfester Eyeliner im Test einem armen Kaninchen zum Verhängnis geworden war. Außerdem mochte ich Tiere. Zwar hatte ich nie Haustiere gehabt (mein Alter hätte nie etwas erlaubt, das mich glücklich machte, wie ein Hund als Kumpel es gekonnt hätte), doch mit Marvins Katze Muschi verstand ich mich beispielsweise bestens. Sie sprang mir jeden Morgen beim Frühstück auf den Schoß und kam regelmäßig zu mir ins Zimmer zum Schmusen. Als Vierjähriger hatte ich Besuche mit meiner Mutter in Tierparks geliebt, wo ich Ziegen und Schafe streicheln und füttern und ein paar Stunden lang das Leben eines normalen Kindes führen konnte. Die Tiere mit ihrer Zuneigung und zutraulichen Art zeigten mir, dass es eine Welt außerhalb der Gewalt gab, die ich zu Hause erlebte.

Natürlich wusste ich, wie vermutlich die meisten Menschen, im Allgemeinen Bescheid über Massentierhaltung. Dass die Tiere nicht artgerecht gehalten und versorgt wurden. Dass sie ihr Leben lang litten. Aber von den grausamen Tötungsarten hatte ich nichts gewusst. Diese Pia hingegen hatte das getan, was man eigentlich tun sollte, sie hatte sich ausreichend informiert und vertrat ihren Standpunkt nun entschlossen. Sie war eine echte Bereicherung für diese Welt.

„Ich bin direkt dem Tierschutzverein beigetreten“, verkündete sie außerdem, während sie ihre Arme um meinen Hals legte und mich zu einem schnellen Hip-Hop-Song im Kreis herumwirbelte, dass mir fast Hören und Sehen verging.

Ich hatte die Sache mit den Elektrobädern noch nicht ganz verdaut. Ab jetzt war ich auch Vegetarier ...

„Das alles verdanke ich dir, weil du das Thema angesprochen hast, hab ich mich darüber informiert und mich verändert. Ich glaub, du kannst ganz viele Menschen da draußen erreichen, Chris. Finde ich toll, dass du dich für so was einsetzt.“

Mir wurde warm ums Herz. Diese Pia war ein tolles Mädchen. Sie hatte mich ermuntert, meine Popularität weiterhin zu nutzen, um bestimmte Werte und Ansichten zu vertreten und auf herrschende Missstände aufmerksam zu machen. Mir wurde plötzlich klar, dass es nicht nur darum gehen sollte, es mit Duschgelwerbung bis ganz nach oben zu schaffen, sondern an erster Stelle darum, mit seinem Namen für eine gute Sache zu stehen oder für etwas, das einem wichtig war. Unzählige Möglichkeiten spielten sich in meinem Kopf ab, ich könnte mich für Kinderrechte in der Dritten Welt starkmachen oder gegen Hungersnöte dort vorgehen, für mehr Frauenrechte kämpfen, gegen Mobbing ...

Plötzlich hörten wir, wie jemand nach Pia rief, ein hübsches Mädchen mit goldblondem Haar im rosa Kleidchen, das ihr zuwinkte.

Pia löste sich, wenn auch widerstrebend, von mir. „Also, Chris, war schön, dich kennenzulernen. So persönlich, mein ich.“ Sie zwinkerte mir zu. „Du bist mein Idol, weißt du. Mein großes Vorbild. Ich werde mich für das einsetzen, was auch dir wichtig ist.“

„Danke“, sagte ich mit belegter Stimme und war richtig gerührt. Deshalb ließ ich auch diesen total kitschigen Spruch vom Stapel: „Du machst die Welt zu einem besseren Ort, Pia. Schön, dass es dich gibt.“

Sie strahlte, bevor sie zu ihrer Freundin rannte. Schön, wenn man einem Mädchen so leicht ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte.

„Na, du alter Charmebolzen?“ Wie aus dem Nichts tauchte Edda vor mir auf und legte mir die Arme um den Hals. „Die hat dich ja ganz schön zugequatscht, was? Hat mich gewundert, dass sie dich nicht gleich noch abgeknutscht hat, so begeistert, wie sie von dir war.“

„Ach, Ed, wir haben nicht geflirtet“, sagte ich abwehrend. Sie sollte nicht denken, dass es bei mir immer nur darum ging. „Wir hatten ein richtig gutes Gespräch über Tierversuche und so. Stell dir vor, durch mich ist sie Vegetarierin geworden und dem Tierschutzverein beigetreten.“

„Ach.“ Edda wirkte erstaunt. „Das ist ja toll.“

„Ja, oder?“ Ich lächelte. „Genau das wollte ich erreichen, ein Umdenken.“

Edda legte den Kopf in den Nacken, betrachtete mich sekundenlang lächelnd und verkündete plötzlich: „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ein ganz toller Mensch bist, Waldoff? Gar nicht so oberflächlich und mies, wie ich immer dachte.“

Diese lieben Worte verschlugen mir tatsächlich die Sprache ‒ etwas, das tatsächlich nicht oft vorkam. Ich zog Edda in eine feste Umarmung und murmelte „Danke“ in ihr Haar. Wenn mein Alter mich jetzt so sehen könnte ...

Die Musik änderte sich mit einem Mal, der poppige Liebessong klang aus und ein neues, ruhigeres Lied erklang.

Ed blinzelte. „Kennst du den Song?“, fragte sie lächelnd, während sie verlegen dastand und nicht genau wusste, was sie tun sollte.

Ich lauschte kurz mit gerunzelter Stirn und lächelte, als es mir einfiel. „I’ll Stand By You“, verkündete ich. Es war mal der Lieblingssong meiner Mutter gewesen.

„The Pretenders“, flüsterte Edda. „Das ist das Lied meiner Eltern. Also, ihr Liebeslied.“ Tränen schimmerten in ihren Augen, die sie verzweifelt zurückzudrängen versuchte.

Entschlossen zog ich sie eng an mich, legte eine Hand an ihren Hinterkopf. „Dann sollten wir dazu tanzen“, schlug ich halblaut vor.

Sie nickte an meiner Brust und schlang die Arme um mich.

Ringsherum gingen die Paare auf Tuchfühlung, kuschelten sich aneinander und wiegten sich eng umschlungen zu dem Lied, das von unendlicher Treue, Liebe und ja, auch Freundschaft sprach. Ich fand, dass es zu Edda und mir passte.

Oh, why you look so sad?

Tears are in your eyes,

come on and come to me now.

Don’t be ashamed to cry,

let me see you through,

’cause I’ve seen the dark side too.

When the night falls on you,

you don’t know what to do.

Nothing you confess,

could make me love you less.

Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass es tatsächlich stimmte ‒ egal, was Edda mir jemals über sich gestehen, beichten würde, falls es da denn überhaupt etwas gab, es würde nichts an meinen Gefühlen für sie ändern. Ich würde sie deshalb nicht weniger lieben, als ich es jetzt tat. Rein freundschaftlich natürlich. Aber aus tiefstem Herzen freundschaftlich. Noch nie hatte mir ein Mädchen so viel bedeutet, wie sie mir bedeutete. Sie war neben Marvin der wohl wichtigste Mensch für mich geworden und ich wusste gar nicht mehr, wie mein Leben ohne sie gewesen war. Traurig vermutlich. Langweilig und leer.

Fast vier Minuten dauerte das Lied, und als die letzten Töne verklangen, fühlte ich mich seltsam benommen und beklommen zugleich. Es fühlte sich so gut an, Edda im Arm zu halten, so fest an mich gepresst, dass es mir falsch vorkam, sie nun einfach von mir zu schieben. Nach wie vor hatte ich eine Hand auf ihrem Hinterkopf, die andere lag locker auf ihrer Hüfte und ich verspürte den Drang, sie noch enger an mich zu drücken. In meinem Magen war ein merkwürdiger Aufruhr und merkwürdigerweise verspürte ich das kaum zu unterdrückende Bedürfnis, Edda zu küssen. Um sie zu trösten, ihr zu zeigen, wie viel sie mir bedeutete, wie wichtig sie mir war, wie sehr ich sie mochte. Aber das würde niemals gut gehen. Was, wenn sie sich in mich verliebte und eine Beziehung mit mir anfangen wollte? Dann würde alles in die Brüche gehen. Bisher hatte jedes Mädchen, mit dem ich zu tun gehabt hatte, mehr als Freundschaft von mir gewollt (bei Amanda und Layla war ich mir sicher, dass eine engere Freundschaft nicht funktionieren würde) und ein Kuss hatte immer gleich zum nächsten Schritt geführt. Nicht selten hatte es nach dem Sex dann Tränen gegeben, weil die Mädchen nicht akzeptieren konnten, dass ich sie nicht im Ganzen wollte, sondern nur meinen Spaß.

Nein, ich ließ es lieber bleiben. Ich wollte Edda nicht verletzen. Ich wollte sie nicht verlieren.

Max hatte da wohl weniger Hemmungen. Über Eddas Kopf hinweg hatte ich freie Sicht auf ihn und Layla, die bis eben auch eng umschlungen zu dem Song getanzt hatten. Nun neigte sie sanft den Kopf nach hinten. Ich sah Max’ zärtlichen Blick, ehe er seine Lippen auf Laylas presste und die alte Jugendliebe wieder aufleben ließ. Ob es mit den beiden funktionieren würde? Ich wusste es nicht. Ich wusste auch nicht, ob es mit Marvin und Laura funktionieren würde, aber momentan schienen sie rundum glücklich zu sein, denn sie standen so dicht aneinandergepresst da, dass kein Blatt mehr zwischen sie gepasst hätte, hatten die Augen geschlossen und knutschten, als gäbe es kein Morgen.

Edda währenddessen zog schniefend die Nase hoch und löste sich nur langsam und zaghaft von meiner Brust.

„Ed?“ Ich senkte den Kopf zu ihr herab. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Ich ... mein Gott, ja, entschuldige.“ Sie schniefte und schluchzte und versuchte, sich wieder in den Griff zu kriegen. „Wie peinlich. Geht gleich wieder. Ich ... oh Mann, ich glaub, ich hab einen Fleck auf dein Hemd gemacht. Tut mir leid, Chris.“

„Hey.“ Sanft hob ich ihr Kinn mit einem Finger an, mit dem Daumen der anderen Hand wischte ich ihr die Tränen weg. „Ist doch alles gut“, sagte ich sanft. „Der Fleck ist doch scheißegal, es ist nur ein blödes Hemd. Und es muss dir nicht peinlich sein, vor mir zu weinen, du Idiotin. Ich glaub, es hat noch kein Kerl so viele heulende Mädchen gesehen wie ich ... du brauchst dich also nicht zu genieren.“

Sie lachte unter Tränen und klapste mir leicht auf den Arm. „Wie gut, dass du ganz und gar nicht eingebildet bist, du Blödmann.“

Ich zuckte gespielt locker die Achseln, obwohl ich mich befangen und unsicher fühlte, da ich nicht so recht wusste, wie ich ihren Tränenfluss stoppen sollte. Mit meinem kleinen Witz hatte ich sie wohl ein klein wenig aufgemuntert, aber sie sah doch ziemlich niedergeschlagen aus. Die Sache mit ihren Eltern machte sie wohl ziemlich fertig.

Vielleicht sollte ich noch mal Nico holen, nachdem sie sich vorhin so köstlich darüber amüsiert hatte, dass er sich für mich interessierte und ich es nicht raffte.

„Hey, Leute. Gott, ich kann euch sagen, von diesem ganzen Getanze kommt man völlig aus der Puste. Aber dieses Lied eben, das war richtig schön. I’ll Stand By You. Ich hab mit einem Typen getanzt, Markus heißt er, ist wohl ein entfernter Cousin von Laura oder so. Der ist richtig süß und auch allein hier, weil seine Freundin letzte Woche Schluss gemacht hat ... Versteh ich nicht, wie man so ein Sahneschnittchen verlassen kann.“ Amanda stand mit knallrotem Kopf, zerstörter Frisur und funkelnden Augen sowie einem Glas Champagner in der Hand vor uns und plapperte wie ein Wasserfall.

Edda wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht, doch offenbar war Nachschub schon unterwegs. Hilflos musste ich zusehen, wie noch mehr Tränen kullerten.

Auch Amanda war inzwischen aufgefallen, dass Edda nicht gerade in bester Verfassung war, und sah erschrocken von mir zu ihr. „Ach, du liebe Güte, was ist denn los, Süße? Habt ihr euch gestritten?“ Sie sah mich prüfend an.

Edda schluchzte zittrig. „Nein ... es ist ... tut mir leid, ich geh wohl besser mal rasch zur Toilette. Bin gleich zurück.“

„Ed“, rief ich ihr nach.

„Mir geht’s gut, Chris“, log sie und begann zu rennen. Wenige Sekunden später war sie im Gedränge verschwunden.

Amanda und ich blieben zurück. „Ach du liebes Lieschen“, sagte sie betroffen, „hab ich was Falsches gesagt?“

„Nein“, beruhigte ich sie, „es geht um ihre Eltern. Die wollen sich wohl scheiden lassen und das nimmt Edda ziemlich mit, wie du ja gesehen hast. Der Song, der gerade lief, ist ... war das Liebeslied ihrer Eltern.“

„Oh je.“ Amanda seufzte voller Mitgefühl. „Die Arme! Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwölf war, es war die Hölle für mich. Mein ganzes Leben ist über mir zusammengebrochen.“

„Hm.“ Nachdenklich sah ich sie an. Vermutlich war ich bei der ganzen Elterngeschichte der falsche Ansprechpartner. „Könntest du vielleicht mal nach ihr sehen? Ob sie zurechtkommt und so? Ich mein, du weißt wahrscheinlich besser als ich, was sie gerade durchmacht.“

Amanda biss sich kurz auf die Lippe, nickte dann aber und reichte mir ihr Champagnerglas. „Okay. Ich kümmere mich um sie, wenn du im Gegenzug ein Auge auf Layla hast. Sie macht mit Max rum, aber ich weiß nicht so genau, ob es klug wäre, wenn sie gleich mit ihm, du weißt schon ... wenn sie gleich aufs Ganze geht.“

„Aha“, sagte ich verständnislos, „ist doch ihr Leben.“ Als ich Amandas Miene sah, lenkte ich schnell ein. „Gut, okay, schön. Sollte es nötig sein, werde ich mich zwischen sie werfen wie ein Berserker.“

Amanda grinste. „Super. Aber lass dich ja nicht zu einem flotten Dreier überreden, ja?“ Sie zwinkerte mir zu.

„Unsinn. Wenn, dann mach ich’s mit zwei Mädchen“, entgegnete ich ernsthaft. Amanda holte tief Luft, beschloss dann aber wohl, dass dieser Spruch keine Antwort wert war, und machte sich auf den Weg zu den Toiletten.

Froh darüber, Edda in guten Händen zu wissen, leerte ich Amandas Champagnerglas, stellte es auf einen der kleinen Beistelltische und mischte mich wieder unters Volk. Ich tanzte mit ein paar Mädchen, redete, flirtete und ließ mich anschmachten, holte mir ein Glas Champagner und noch ein zweites in dem Wissen, dass ich heute nicht mehr fahren musste. Irgendwann tauchten Lukas und Sophia bei mir auf.

„Hey, Kumpel“, Luke schlug mir wie immer zur Begrüßung auf die Schulter, „kann ich meine Süße kurz bei dir parken, während ich pinkeln gehe? Sie kennt hier sonst niemanden und fühlt sich unwohl.“

Sophias Miene war unergründlich, sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ganz und gar nicht begeistert aus, nun bei mir abgesetzt zu werden. Ich konnte es ihr nicht verübeln, auch ich war nicht übermäßig erfreut. Nicht, weil ich plötzlich was gegen sie hatte, ganz im Gegenteil. Es war eher die Tatsache, dass Sophia mich nach wie vor mit diesem bestimmten Blick ansah, errötete, wenn ich mich ihr zuwandte, und Edda gegenüber eifersüchtig reagiert hatte, die mich beunruhigte. Ich war mir ziemlich sicher, dass Sophia noch immer Gefühle für mich hatte. Dass sie nach wie vor in mich verliebt war, obwohl sie nun mit Lukas zusammen war. Und dieser war mein Freund. Ich wollte nicht, dass er erfuhr, dass seine Freundin eigentlich total in mich verknallt war. Ich wollte keinen unnötigen Stress. Zwischen Sophia und mir würde nie etwas passieren. So ein Schwein war ich nicht. Von Freundinnen oder Exfreundinnen meiner Kumpel ließ ich die Finger. Das gebührte der Anstand. Bruder vor Luder. Uralter Ehrenkodex unter Männern.

„Ja, klar, ich pass auf sie auf“, entgegnete ich, obwohl mein Gefühl mir sagte, dass das keine gute Idee war, und lächelte Luke beruhigend zu.

„Danke, Mann.“ Lukas zog Sophia für einen kurzen Abschiedskuss an sich, dann verschwand er in Richtung Toiletten. Dahin schien es momentan überhaupt alle zu ziehen.

Ich reckte den Hals in der Hoffnung, Amanda und Edda zurückkehren zu sehen und der unangenehmen Situation zu entfliehen. Doch ich konnte nach wie vor keine Spur der beiden entdecken. Mist!

Sophia stand mit gesenktem Kopf da und scharrte mit der Schuhspitze auf dem Boden herum.

„Na?“, fragte ich und bemühte mich um einen zwanglosen Tonfall. „Wie geht’s? Im Laden und so?“

„Ganz gut“, erzählte Sophia ihren Schuhen in gleichgültigem Tonfall, „also, ich hör bald auf. Ich bin jetzt fertig mit der Schule und fang im September zu studieren an.“

Wow, so schnell ging die Zeit rum. Die kleine Sophia war fertig mit der Schule.

„Cool“, meinte ich vorsichtig, „was studierst du denn? Und wo?“

Sie kratzte sich am Kinn. „Lehramt“, sagte sie ausdruckslos. „Ich will Grundschullehrerin werden. Ich hab einen Studienplatz an der Uni in Regensburg bekommen, deshalb ziehen wir im August dahin.“

„Wir?“, hakte ich erstaunt nach.

„Ja. Luke kommt mit“, sagte Sophia, hob den Kopf und sah mir fest in die Augen. „Wir haben uns schon eine Wohnung gesucht. Die Miete ist nicht allzu teuer, ich hab einiges gespart, Luke auch. Er hat eine Stelle als Schlosser in Aussicht und zusammen mit meinem BAföG und einem Nebenjob sollte das eigentlich hinhauen.“

„Wow.“ Ich war wirklich verblüfft. Darüber, dass er nach Regensburg ziehen würde, hatte Lukas bisher kein Wort verloren. „Ist ja super. Lukes Mutter wird völlig aus dem Häuschen sein“, meinte ich, „ihr Sohn kriegt endlich mal den Arsch hoch, zieht in eine andere Stadt, hat einen gut bezahlten Job und eine bezaubernde Freundin.“

Okay, Letzteres hätte ich mir verkneifen können. Sophia errötete sofort bis zu den Haarwurzeln und schaute rasch weg. Ihr Blick schweifte über meiner linken Schulter in weite Ferne.

„Sie war auch zuvor schon stolz auf ihn“, merkte sie steif an. „Luke ist ein toller Junge.“

„Ja, ist er“, stimmte ich ihr zu und griff diesen Punkt dankbar auf. „Du kannst froh sein, ihn zu haben.“

Um ihren Mund zuckte es. „Weiß ich. Bin ich auch.“ Nun sah sie mich wieder an, reckte das Kinn vor. In ihren Augen lag ein kämpferisches Funkeln und sie verkündete fast bockig: „Ich will auch keinen anderen.“ Okay, das war eine klare Ansage.

„Gut“, erwiderte ich.

„Ja. Gut“, fauchte sie pampig. Wir schwiegen minutenlang, ehe sie sich räusperte und fragte: „Und wie sieht’s mit dir aus? Bist du ... mit jemandem zusammen? Mit Edda?“

Oh Mann, jetzt ging das also los. Wie gut, dass sie keinen anderen als Luke wollte.

„Nö, ich bin nach wie vor Single“, gab ich zu und rieb mir den Nacken. „Ich hab hin und wieder was mit ’nem Mädchen, aber das ist nichts Ernstes. Ich will mich nicht festlegen, weißt du.“ Ich hoffte, sie hatte es kapiert.

„Weiß Edda das auch?“, fragte sie dennoch nach.

Am liebsten hätte ich die Augen verdreht. „Ja, das weiß sie. Sie will außerdem nichts von mir. Wir sind nur Freunde.“

„Nur Freunde“, wiederholte Sophia ungläubig.

„Richtig“, sagte ich bekräftigend und kam mir vor wie ein Idiot, „alles rein platonisch.“

„Was ist rein platonisch?“ Marvin und Laura tauchten Arm in Arm neben uns auf und gesellten sich ungefragt und zu meiner Erleichterung zu unserer fröhlichen kleinen Runde. Selten hatte ich mich so gefreut, Laura zu sehen.

„Die Freundschaft zwischen Edda und mir“, erklärte ich den beiden.

Laura hob vielsagend eine Braue, Marvin grinste. „Bist du dir da sicher? Ihr habt vorhin ziemlich eng umschlungen zusammen getanzt, hm? Ich war mir sicher, dass da gleich ein Kuss folgt.“ Ich warf Sophia einen raschen Blick zu. Sie inspizierte mal wieder den Boden.

„Und ich war mir ziemlich sicher, dass Ed clever genug ist, dich nicht zu küssen“, verkündete Laura fröhlich. „Sie weiß wohl, dass du dich als Frosch entpuppen würdest, hm?“ Ihr neckischer Tonfall täuschte nicht darüber hinweg, dass sie mich nach wie vor für einen Frauenhelden hielt und mich nicht ausstehen konnte. Aber es war ihr Hochzeitstag, da wollte ich mal nicht so sein. Deshalb stimmte ich ihr freundlich lächelnd zu.

„Wo steckt Edda überhaupt?“, fragte Marvin und sah sich suchend um.

„Toilette“, antwortete ich.

„Und Luke?“

„Toilette“, murmelte Sophia.

Marvin schüttelte lachend den Kopf. „Es ist leichter, einen Sack Flöhe zu hüten, als euch mal alle auf einem Haufen zu erwischen“, meinte er gut gelaunt und sah mich anklagend an. „Dich hab ich heut auch noch nicht allzu oft zu Gesicht bekommen, Kumpel.“

„Tja, du bist der Bräutigam“, meinte ich achselzuckend. „Du hast zu tun.“

„Na ja, mit dem Fotografen hast du mehr geredet als mit deinem angeblich besten Freund“, meinte Laura herausfordernd.

Marvin bedachte sie mit einem ärgerlichen Blick. „Lass das, Laura.“

„Was denn?“, fragte sie unschuldig. „Ich sag ja gar nichts. Ist schon okay, wenn er seine Berühmtheit auf unsere Kosten ausleben will. Auf unserer Hochzeit!“Meine Güte, was war das nur für eine humorlose Zicke.

„Ich hab nur kurz mit Nico geredet. Über ein Fotoprojekt, das er in Angriff nehmen will“, flunkerte ich. „Er will mich als Model dabeihaben.“

„Natürlich will er das.“ Laura klimperte übertrieben mit den Wimpern. „Und er kann dich natürlich nicht auf normalem Wege buchen, nein, er schmeißt sich auf unserer Hochzeit an dich ran. Und du bist begeistert und stolzierst rum wie der prächtigste Hahn im Stall.“

Allmählich ging sie mir auf den Senkel. Blödes Weib!

„Also, ehrlich gesagt ...“, setzte ich an, doch unerwartet bekam ich Hilfe von Sophia.

„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Chris“, unterbrach sie mich bestimmt und funkelte Laura wütend an. „Lass ihn doch einfach in Ruhe. Genieße lieber deine Hochzeit, anstatt hier auf Chris rumzuhacken. Er hat dir schließlich nichts getan.“

„Ich finde auch, dass du es gut sein lassen solltest, Schatz“, meinte Marvin bestimmt und schenkte mir einen entschuldigenden Blick.

Laura überging ihn einfach und richtete ihre nächste Attacke stattdessen gegen Sophia. Süffisant lächelnd meinte sie mit samtweicher Stimme: „Schon klar, dass du auf Christophers Seite stehst. Schließlich bist du schon seit Ewigkeiten in ihn verknallt.“

„Lass das, Laura!“, zischte Marvin wütend und packte seine Braut überraschend fest am Arm. „Was soll das jetzt?“

„Ist doch wahr“, fuhr Laura ihn an. „Man sollte zumindest zu seinen Gefühlen stehen. Nur weil Luke zu blöd ist, um es zu bemerken, muss ich ja nicht die Klappe halten, oder?“

„Nur weil ich zu blöd bin, um was zu merken?“, fragte Luke scharf, der natürlich genau in diesem Moment zurückkommen musste. Perfektes Timing.

Marvin trat Laura auf den Fuß, damit sie die Klappe hielt. Die sah gemein lächelnd Sophia an, die wiederum dastand wie vom Donner gerührt, mit einem Mal leichenblass und zittrig wie ein Häufchen Elend, mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen.

Lukes Blick wanderte zwischen uns vieren hin und her, flackerte wie bei einem in die Enge getriebenen Tier. „Wovon sprecht ihr, verdammt? Was hab ich nicht gemerkt?“ Er sah seine Freundin an. „Sophia?“

„Ich ... ich ...“ Sie sah so verzweifelt aus, dass ich es nicht mehr aushielt.

„Nichts, Luke, gar nichts. Das ist alles nur ein Missverständnis. Laura hat da was missverstanden“, versuchte ich, meinen und Sophias Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich wünschte, Edda wäre hier. Sie könnte mit ihrer ruhigen, diplomatischen Art eine Deeskalation bewirken. Allerdings war von ihr weit und breit nichts zu sehen. Während sie sich wegen ihrer Eltern die Augen aus dem Kopf heulte, flog uns hier alles um die Ohren.

„Ach ja?“ Lukes Augen wurden schmal. „Und was hat sie missverstanden, Chris, hm? Was?“

Oh, oh. Er sah wütend aus. Was, wenn er tief drinnen immer schon gewusst hatte, dass Sophia was für mich empfand? Ein Mann wusste so was doch ... oder?

„Luke, ehrlich, es ist nichts“, sprang Marvin nun für uns in die Bresche und schob die protestierende Laura entschieden von sich. „Wirklich, Kumpel, alles gut. Wie gesagt, Laura hat da was falsch verstanden. Kommt, Leute, lasst uns feiern, ist schließlich unsere Hochzeit.“

„Seltsam, mir steht der Sinn gerade gar nicht nach feiern“, knurrte Luke ungehalten.

„Mir auch nicht“, blaffte Laura Marvin an. „Ist ja schön, dass du versuchst, mich ins Abseits zu drängen und meine Meinung als verblödetes Geschwätz hinzustellen. Toll, wie du zu mir ‒ deiner Frau ‒ hältst, Marvin, wirklich ein Wahnsinn.“

„Laura, bitte.“ Marvin hob in einer kapitulierenden Geste die Hände. „Nicht jetzt, okay? Du hast schon genug Chaos angerichtet.“

„Ich hab nur die Wahrheit gesagt“, schrie sie ihn an. Die Gespräche um uns herum verstummten, alle starrten uns an.

Die Eskalation stand kurz bevor. Mein Fluchtinstinkt setzte ein. Es wurde Zeit, mich aus dem Staub zu machen.

„Welche Wahrheit, Sophia?“ Luke sah ihr fest in die Augen. „Deine letzte Chance. Wenn du mir jetzt nicht sagst, was hier los ist, kannst du allein nach Regensburg gehen.“

Na toll. Super. Es zerbrach also gerade eine Beziehung direkt vor unseren Augen, und alles nur wegen dieser saublöden Schnalle Laura. Ich konnte nicht fassen, dass mein bester Freund der in die Falle gegangen war. Er hatte quasi vor wenigen Stunden die rechte Hand des Teufels geheiratet, ohne es zu bemerken.

„Okay, Leute, vielleicht beruhigen wir uns alle mal wieder ein bisschen“, versuchte Marvin, die Wogen zu glätten.

„Ich will mich nicht beruhigen, sondern wissen, was zur Hölle hier abgeht!“, zischte Luke wütend. „Sophia?“

Die Angesprochene hatte sich inzwischen wieder so weit gefangen, dass sie nicht mehr den Tränen nahe war. Stattdessen wirkte sie merkwürdig teilnahmslos, fast so, als hätte sie ihre Gefühle kurzzeitig abgeschaltet, um das hier zu überstehen.

Sie sah mich kurz an, konzentrierte sich dann auf Lukas. „Ich liebe dich, Luke“, verkündete sie fest. „Und wenn du nicht mit mir nach Regensburg kommen willst, fände ich das sehr schade. Aber ich hab dir nichts zu sagen. Ich habe nichts Unrechtes getan.“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und stolperte davon, so schnell ihre Beine sie trugen.

„Sophia! So leicht kommst du mir nicht davon. Komm zurück! Warte!“ Luke warf uns allen einen vernichtenden Blick zu und raste hinter ihr her wie ein wütender Stier. Ich hoffte, dass er sie in der Menge nicht so schnell fand.

Marvin sah Laura enttäuscht und fassungslos an. „Ich kann nicht glauben, dass du das echt getan hast“, verkündete er mit bebender Stimme. „Sophia und Luke sind enge Freunde von mir, wie konntest du sie nur so in die Scheiße reiten?“

„Was ... Marvin, ich ...“ Lauras Stimme wurde schrill wie die ihrer Mutter wenige Stunden zuvor. Anklagend zeigte sie mit dem Finger auf mich. „Ich kann nicht fassen, dass wir seinetwegen jetzt streiten. Das war die ganze Zeit seine Absicht, er will dich gegen mich aufbringen.“

Marvin fasste sie an beiden Oberarmen, schüttelte sie. „Was sagst du denn da? Laura, das hast ganz allein du verbockt.“

„Marvin, warum schüttelst du meine Tochter wie einen unartigen Hund?“, fuhr Lydia dazwischen und packte ihn am Arm. „Was ist denn hier los?“

„Mama, es ist so schrecklich. Marvin will die Wahrheit einfach nicht sehen“, schluchzte Laura theatralisch.

Ich kam mir vor wie im falschen Film. „Das wird mir hier echt zu blöd, ich verschwinde“, sagte ich laut. „Von diesem Sirenengeheul krieg ich Kopfweh.“

Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und schaufelte mir einen Weg durch die Menge. So was Dämliches! Wie konnte man nur so sein? So ein intrigantes Miststück!

Am liebsten würde ich von hier verschwinden, aber das ging nicht ohne Edda. Die war seit Stunden auf dem Klo. Mittlerweile vielleicht auch schon nicht mehr. Gott allein wusste, wo sie sich herumtrieb.

„So eine Scheiße!“, fluchte ich.

Kurz darauf fiel mir noch etwas ein und wie vom Donner gerührt blieb ich stehen. Max und Layla. Ich hatte die beiden völlig vergessen und natürlich längst aus den Augen verloren. Amanda hatte mich darum gebeten, auf sie aufzupassen. Keine Ahnung, warum. Eigentlich war es mir schnuppe und ging mich nichts an. Wenn sie es inzwischen miteinander trieben, war es nicht mein Problem. Oder doch?

Fluchend machte ich mich auf die Suche nach ihnen und hoffte, dabei nicht ausgerechnet Luke und Sophia in die Arme zu laufen. Der Hotelgarten war groß. Ich nahm den Brunnen als Startpunkt und lief alle vier Wege ab. In den Büschen regte sich oftmals etwas, viele Paare hatten sich zum Schäferstündchen dorthin verdrückt. Oftmals erklang ein erschrockenes Aufkreischen, wenn mein Gesicht inmitten des schützenden Blätterbaldachins erschien und ich auf die nackten, ineinander verschlungenen, in heftiger Ekstase zuckenden Leiber sah.

„Leute, nehmt euch ein Zimmer“, sagte ich jedes Mal ungerührt und schob das schützende Blätterdach zurück an Ort und Stelle.

Layla und Max blieben unauffindbar. Keine Ahnung, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Omen war. Für mich jedenfalls war der Tag gelaufen.

Nachdem ich die erfolglose Suche aufgegeben hatte, sank ich erschöpft auf eine Bank etwas abseits des Weges und zog eine Zigarettenpackung aus der Innentasche meines Sakkos. In der Schachtel befand sich das Feuerzeug. Ich steckte mir eine Kippe in den Mund und zündete sie an. Mit geschlossenen Augen paffte ich genüsslich vor mich hin, spürte, wie ich ruhiger wurde und mich entspannte.

Sobald ich die Kippe zu Ende geraucht hatte, würde ich Edda suchen. Dann würden wir von hier verschwinden und erst mal warten, bis Gras über die Sache gewachsen war.

Ob Sophia es schaffen konnte, Lukas davon zu überzeugen, dass wir von etwas völlig Harmlosem geredet hatten, das eigentlich keinerlei Bedeutung hatte? Nun da wir alle so ein Tamtam darum gemacht hatten, bestimmt nicht mehr.

Die Zigarette war schon fast zu Ende geraucht, da erschien ein fremdes Mädchen bei mir und setzte sich neben mich. „Hi“, sagte es und lächelte freundlich.

„Hi“, erwiderte ich zurückhaltend, musterte sie von oben bis unten. Sie sah nicht schlecht aus, trug ein enges grasgrünes Kleid mit Spaghettiträgern, unter denen verführerisch schwarze BH-Träger hervorlugten. Sie hatte ein sehr hübsches Gesicht, überdurchschnittlich hübsch, wie ich fand. Alles sehr symmetrisch, tolle, ausdrucksstarke grüne Augen, eine volle Unterlippe, schmale Oberlippe, glatte, reine Haut, Stupsnase, auf der sich vereinzelt Sommersprossen tummelten. Ihr langes kastanienbraunes Haar trug sie in einem geflochtenen Zopf, der ihr locker über die rechte Schulter hing. Sie hatte ziemlich große Brüste, die sie mir mit voller Absicht präsentierte, indem sie ihren Rücken durchdrückte.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und sah sie unverwandt an. Bei näherer Betrachtung ihres Gesichts fiel mir ein, dass ich vorhin schon mal mit ihr getanzt hatte. Sie hatte nichts weiter als „Hi, wie geht’s?“ gesagt und sich ansonsten vertrauensvoll an mich geschmiegt. Was wollte sie jetzt?

Sie deutete mit dem Kinn auf meine fast zu Ende gerauchte Zigarette. „Hast du für mich auch eine?“

Lachend schüttelte ich den Kopf, schnippte die Kippe ins Gras und trat sie aus. „Bist du überhaupt schon 18?“, fragte ich.

„Spielt das eine Rolle?“, fragte sie achselzuckend. „Ich kenne Leute, die rauchen schon mit 13.“

„Blöder Einfall“, entgegnete ich kopfschüttelnd und verdrängte dabei, dass ich ebenfalls schon mit 14 angefangen hatte zu rauchen. „Die werden für immer Zwerge bleiben.“

Das Mädchen kicherte, als hätte ich einen guten Witz gemacht, holte tief Luft und rückte näher an mich heran. „Ist egal, ich weiß sowieso was Besseres als rauchen“, verkündete sie. „Ach ja?“, fragte ich herausfordernd. Mal sehen, was sie vorhatte. „Und was?“

Sie lächelte vielsagend, beugte sich dann blitzschnell vor und drückte ihre Lippen auf meine.

Im ersten Moment war ich überrascht von so viel Wagemut und Dreistigkeit. Die Kleine war locker drei Jahre jünger als ich. Doch dann stellte ich fest, dass sie nicht mal schlecht küsste. Gut, ihr fehlte ein wenig die Übung, aber da konnte ich Abhilfe schaffen.

Ich überwand die letzten Zentimeter zwischen uns, umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht und übernahm die Kontrolle. Sie ließ es bereitwillig geschehen. Ich zog den Gummi von ihrem Zopf ab, vergrub meine Hände in ihrem Haar, öffnete mit meiner Zunge geschickt ihre Lippen und schob sie in das feuchte, glitschige Nass. Das Mädchen keuchte schockiert auf, ich spürte, wie die Kleine erschauerte. Wahrscheinlich hatte sie noch nie einen guten Zungenkuss bekommen.

Ich vergaß alles um mich herum, während ich das gesamte Repertoire meiner Kusstricks vorführte ‒ warum auch immer. Ich wollte abschalten, nicht mehr an das Desaster denken, das gerade vorgefallen war. Ich wollte ein bisschen Spaß haben, hatte ich schon viel zu lange nicht mehr gehabt. Vermutlich war es leichtsinnig, in aller Öffentlichkeit mit einer mir völlig Fremden rumzumachen, von der ich nicht mal wusste, ob sie überhaupt schon volljährig war. Aber im Moment interessierte es mich nicht. Mein Image interessierte mich nicht. Joachim würde nie davon erfahren. Vielleicht wusste das Mädchen gar nicht, wer ich war. Vielleicht guckte sie nicht so gern Fernsehwerbungen.

Ich nagte an ihrer Unterlippe und sie seufzte genüsslich. Meine Hände ertasteten ihren Körper und ich stellte fest, dass sie sich wirklich gut anfühlte. Kurvig, üppiger Hintern, schön was zum Anfassen. Ich zog sie auf meinen Schoß, sodass sie rittlings auf mir saß, umfasste ihren Hintern und begann, ihn zu massieren und zu kneten, was ihr ein begeistertes Stöhnen entlockte. Zeitgleich kreiste ich mit meiner Zunge um ihre, neckte sie, saugte daran, bis sie immer lauter und ungehemmter in meinen Mund stöhnte. Unsere Atemzüge wurden schneller, vermischten sich miteinander, sie krallte sich an meinen Schultern fest und begann, sich auf mir zu bewegen. Ich spürte, wie sich in meiner Hose was bewegte. Ich wurde langsam, aber sicher hart. Langsam und genüsslich ließ ich meinen Mund an ihrem Hals hinuntergleiten, leckte ihre Haut. Sie quiekte begeistert. Ich verharrte kurz auf ihrem Puls, spürte, wie schnell er schlug. Meine Hände näherten sich ihren Brüsten, ich umfasste ihren Brustkorb.

Dann erklang plötzliche eine Stimme: „Leute, nehmt euch ein Zimmer!“

Ich erstarrte mitten in der Bewegung, hielt inne. Was tat ich hier eigentlich zum Teufel? Auf einem öffentlichen Weg vollzog ich sexuelle Handlungen mit einem Mädel, das zwar äußerst attraktiv, aber eindeutig in dieser Hinsicht noch sehr unerfahren war. War ich denn von allen guten Geistern verlassen?

„Nicht aufhören“, protestierte sie und drückte ihre Lippen wieder auf meine. Mit mühsam zusammengekratzter Selbstbeherrschung drehte ich den Kopf weg.

„Bitte, mach weiter“, hauchte sie fast verzweifelt. „Lass den Idioten doch reden.“

„Nein, nicht hier draußen ...“ Entschlossen griff ich durch und schob sie ruckartig von meinem Schoß, stand auf und atmete ein paarmal tief durch, um wieder zur Besinnung zu kommen.

Sie stand benommen vor mir, mit komplett zerstörter Frisur, schwer atmend, der Rock ihres Kleides war hochgerutscht und gab den Blick auf das sexy schwarze Höschen frei, das sie trug. Ich räusperte mich, überlegte. Schließlich waren wir hier in einem Hotelgarten. Wäre doch gelacht, wenn in dem Hotel kein Zimmer mehr frei wäre.

Die Kleine versuchte mühsam, ihr Haar wieder in Ordnung zu bringen, und zog sich das Kleid über den Hintern.

„Hör zu“, sagte ich mit gedämpfter Stimme, bevor ich es mir anders überlegen konnte, „ich halte nicht viel davon, hier draußen rumzumachen. Ist mir ein bisschen zu öffentlich für diese Sache. Aber hier gibt’s schließlich ein Hotel, oder? Mit genug Zimmern. Da wird sich schon was Hübsches für uns beide finden, hm?“

Ruckartig hob sie den Blick, ihre Miene hellte sich auf. „Du meinst ... du willst weitermachen?“, fragte sie so begeistert, als könnte sie ihr Glück kaum fassen.

Ich zuckte die Achseln. „Ich bringe zu Ende, was ich angefangen hab“, antwortete ich lapidar.

Die Wahrheit war, dass ich ihretwegen erregt war, weil ich sie wollte und weil ich schon viel zu lange keinen Sex mehr gehabt hatte. Mindestens zwei Monate nicht mehr. Gott, wie hielt Edda das nur aus? Dieser Surfertyp mit der Deppenfrisur musste eine echte Niete im Bett gewesen sein, anders konnte ich es mir nicht erklären.

„Pass auf, ich geh vor und frag nach ’nem Zimmer, du kommst in ungefähr fünf Minuten nach, okay?“ Man musste uns ja nicht unbedingt zusammen sehen.

„Okay.“ Die Kleine war so aufgeregt, dass sie nicht nachfragte. „Super. Ich werde da sein.“

„Schön.“ Ich lächelte verwegen. „Wie heißt du eigentlich?“ Es war ja wohl das Mindeste, dass ich ihren Namen kannte, bevor ich mit ihr schlief.

„Jana“, antwortete sie und strich sich die Haare glatt. „Jana Hofer, ich bin Lauras Cousine.“

Ach du Scheiße! Sekundenlang wurde mir schwindelig. Ausgerechnet eine Hofer. Ausgerechnet die Cousine. Sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf schrillten los, doch meine pochende Männlichkeit war leider stärker. Außerdem kam mir in diesem Moment in den Sinn, dass es eine großartige Möglichkeit wäre, Laura eins auszuwischen, indem ich an ihrem Hochzeitstag ihre Cousine flachlegte. Jana würde sicher all ihren Freundinnen und auch ihrer Cousine begeistert davon erzählen. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Laura alles aus dem Gesicht fiel, wie sie kreidebleich wurde und einen Schreikrampf bekam. Ha, das würde ihr recht geschehen! Es reizte mich, ihr einen ordentlichen Denkzettel zu verpassen. Rache war süß. Vor allem war diese Jana niedlich und ich würde sie gleich ganz für mich allein haben.

„Okay, Jana“, ich grinste sie breit an, „dann bis gleich.“

„Bis ... bis gleich“, stammelte sie und bekam vor Aufregung kaum noch Luft.

Ich schlich davon wie ein Dieb in der Nacht, schlängelte mich durch die nach wie vor feiernde und mampfende Hochzeitsgesellschaft. So wie es aussah, schien sich die aufgeladene Spannung wieder gelegt zu haben; jedenfalls waren die Gäste, die ich sehen konnte, vergnügt und gut gelaunt und wirkten nicht so, als hätte sich eine Katastrophe ereignet. Also hatten Laura und Marvin sich nicht die Köpfe eingeschlagen und einander ihre Ringe ins Gesicht geworfen und Luke und Sophia hatten auch keine Szene gemacht. Ich war erleichtert, zog den Kopf ein und verschwand ungesehen im Hotel.

Fünf Minuten später erschien Jana atemlos und mit rotem Kopf an der Rezeption. Ich hatte leider keine guten Nachrichten für sie. „Das Hotel ist leider voll, alle Zimmer sind ausgebucht“, raunte ich ihr zu, als sie näherkam. „Ein paar der Hochzeitsgäste übernachten heute hier, genau wie das Brautpaar.“

Jana machte ein bestürztes Gesicht. „Oh nein“, stieß sie hervor. „Und jetzt?“

In meinem Kopf hatte sich eine Idee festgesetzt. Sie war etwas pervers, andererseits wäre es das Tüpfelchen auf dem i bei meinem Rachefeldzug gegen Laura. Ich zog Jana dichter an mich und flüsterte ihr ins Ohr, was ich vorhatte. Sie riss die Augen auf, starrte mich entsetzt an. „Nein, das ... das können wir doch nicht machen“, hauchte sie schockiert. „Das geht wirklich zu weit. Dafür kriegen wir Riesenärger.“

„Unsinn“, erwiderte ich ruhig, zog sie an mich und küsste sie auf, wie ich wusste, unwiderstehliche Weise. „Marvin und Laura werden nie davon erfahren. Wir machen alles wieder sauber, sobald wir fertig sind. Komm schon.“ Ich streichelte ihre Wange und sah sie eindringlich an, beugte mich dicht an ihr Ohr und flüsterte: „Ich will dich und ich weiß, dass du mich auch willst.“

Sie erschauerte, und als ich sanft an ihrem Ohrläppchen knabberte, brach ihr Widerstand endgültig in sich zusammen. Es war so einfach, Mädchen zu verführen. Vor allem solche mit wenig Erfahrungen.

„Gut, okay.“ Jana holte tief Luft. „Versprich mir, dass Laura nichts davon mitkriegen wird.“

Oh, das wäre aber sehr schade. Na gut, wenn Jana darauf bestand, allein das Wissen, dass wir es getan hatten, würde mich befriedigen.

„Du hast mein Wort!“, verkündete ich feierlich. „Ehrenwort, Baby.“

Das gab den Ausschlag. Jana wollte mich offensichtlich so sehr, dass sie sogar bereit war, mit mir im für das Brautpaar vorbereiteten Bett zu schlafen. Es sprach nicht gerade für mich und meinen Charakter, dass ich erstens auf diese Idee gekommen war, zweitens diesen irren Plan tatsächlich durchzog und mich drittens diebisch darüber freute. Immerhin war Marvin mein bester Freund. Wenn er das rausbekäme, würde er mir nie verzeihen. Andererseits, vielleicht hätte er auch Verständnis für mich. Irgendwann. Klar, erst würde er sauer sein, aber irgendwann würde er einräumen, dass Laura nicht ganz unschuldig an dem Ganzen war, und wir würden vielleicht sogar darüber lachen. Wir waren so lange beste Freunde, hatten so viel Scheiße zusammen durchgemacht, da würde uns das nicht auseinanderbringen.

„Du musst den Schlüssel holen“, flüsterte ich Jana kehlig ins Ohr, „sonst schöpft der Mann an der Rezeption Verdacht, weil ich eben schon nach einem Zimmer gefragt hab.“

„Okay.“ Sie nickte. „Was ... äh ... soll ich sagen?“

Ich dachte kurz nach. „Behaupte einfach, du wolltest dem Brautpaar eine Überraschung aufs Zimmer bringen für später. Sag, das wäre mit Frau Hofer, deiner Tante, abgesprochen.“

„Okay. Alles klar.“ Sie straffte die Schultern, drehte sich um, hob den Kopf und stolzierte mit dem üblichen zur Schau gestellten Stolz einer Hofer auf den Typ an der Rezeption zu, der uns bis eben misstrauisch beäugt hatte.

Erst war er verhalten und stellte sich quer, doch Jana wäre keine Hofer, wüsste sie nicht, welche Knöpfe sie drücken musste.

„Meine Tante, Lydia Hofer, hat mich ausdrücklich darum gebeten“, sagte sie fest und selbstbewusst. „Laura ist meine Lieblingscousine, wissen Sie, und ich möchte ihr unheimlich gern diese Freude machen. Ich wäre untröstlich, wenn es mir nicht gelingen würde, das für sie zu tun. Es dauert auch nicht lange, eine halbe Stunde vielleicht.“

Eine halbe Stunde? Da hatte sie aber knapp kalkuliert. Mit Mühe verbiss ich mir das Lachen.

„Und der junge Herr da drüben kommt mit Ihnen?“, erkundigte sich der Portier argwöhnisch und deutete zu mir hinüber. Ich bemühte mich um einen arglosen Blick.

„Äh, ja.“ Jana leckte sich nervös die Lippen. „Er muss mir helfen, weil die Überraschung ziemlich groß ist, wissen Sie ... und ... äh, schwer. Deshalb brauch ich ihn, damit er mir beim Tragen hilft.“

„Verstehe“, murrte der Portier, „und wo ist die Überraschung jetzt?“ Er sah sich um. „Ich kann nichts Großes, Schweres entdecken.“

„Oh, die Überraschung ist ... äh ... schon im Zimmer des Brautpaars. Wir müssen sie nur noch verrücken.“

„Okay.“ Der Portier gab nach und reichte ihr den Schlüssel. „Viel Spaß. Heben Sie sich keinen Bruch. Kommt nicht so gut auf ’ner Hochzeit.“

„Äh, ja. Äh, nein. Mach ich nicht. Danke“, sagte Jana artig, drehte sich um und kam zu mir zurück. Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, sie hob den Schlüssel hoch und klimperte damit vor meinem Gesicht herum. „Hab ihn“, sagte sie stolz, als sie bei mir angekommen war.

„Gut gemacht, Baby.“ Ich zog sie hastig um die nächste Ecke, presste sie gegen die Wand und küsste sie, bis ihr die Luft wegblieb. „Das war erst das Vorspiel vom Vorspiel“, raunte ich ihr zu, „du kannst dich also freuen.“

Ihre Knie zitterten wie Wackelpudding, während wir auf den Fahrstuhl warteten. Wir konnten es beide kaum erwarten. Ich war wahnsinnig heiß auf sie und die Vorstellung, gleich mit ihr in dem für Marvin und Laura bestimmten Bett zu schlafen, machte mich ebenfalls an. Haha, wenn Laura das sehen könnte ...

Kurz fragte ich mich, ob ich mir Sorgen darüber machen sollte, dass ich so eine kranke Befriedigung bei der Vorstellung empfand, Laura könnte uns in flagranti in ihrem Hochzeitsbett erwischen, doch dann schob ich diesen Gedanken weit von mir. Sie hatte es nicht anders verdient. Sie hatte Luke gegen mich aufgebracht und versucht, einen Keil zwischen Marvin und mich zu treiben. Das hatte sie nun davon.

Endlich waren wir im richtigen Stockwerk, hetzten durch die Gänge und atmeten auf, als wir Zimmer 310, die Hochzeitssuite, erreichten. Es lag etwas abseits der anderen Zimmer, sodass das Brautpaar Ruhe hatte und ungestört die Ehe vollziehen konnte. Grinsend steckte ich den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und stieß die Tür auf.

Ein schwacher Duft nach frischen Blumen stieg mir in die Nase. Jana und ich betraten hintereinander das große, luftige, sehr schöne Zimmer mit einem gigantischen Ausblick über die Stadt. Das Bett war riesig und mit roten Rosenblättern bestreut. In einem Sektkühler steckte eine Flasche Champagner. Auf einem kleinen Tablett auf dem Nachtkästchen stand eine Schachtel mit Pralinen nebst einer Vase mit gigantischem Rosenstrauß. Überall im Zimmer thronten Kerzen und Vasen voller Blumen.

„Wow. Nicht schlecht“, kommentierte ich.

„Total schön.“ Jana ging ehrfürchtig auf das Bett zu, ließ sich auf die Matratze gleiten. Sie entdeckte eine Karte, die an der Pralinenschachtel lehnte, nahm sie und las laut vor:

Lieber Herr Lieblich, liebe Frau Lieblich, wir gratulieren Ihnen ganz herzlich zur Hochzeit und wünschen Ihnen für Ihren gemeinsamen Lebensweg alles erdenklich Gute. Ihr Hotelteam vom Kaiserhof.

„Ja“, dachte ich hämisch, „ganz viel Glück dem Brautpaar!“

Ich ging forschen Schrittes zu Jana hinüber, nahm ihr die Karte aus der Hand und legte sie zurück an ihren Platz. Dann schob ich mich über sie und drückte sie mit meinem Gewicht auf die Matratze. Um uns herum stoben die Rosenblüten in alle Himmelsrichtungen auseinander. Wir begannen uns zu küssen, ich stützte mich mit den Händen links und rechts von ihr ab, sie erkundete währenddessen mit ihren Händen meinen Körper, befühlte meine Brust- und Rückenmuskulatur, legte ihre Hände auf meinen Hintern und wagte sich schließlich an den Reißverschluss meiner Hose heran. Sie zögerte, traute sich nicht so recht. Ich überließ vorerst ihr die Führung, ließ ihr Zeit, meinen Körper kennenzulernen und sich an mein Gewicht auf ihr zu gewöhnen. Dann richtete ich mich leicht auf, zog mir in einer flüssigen Bewegung das Jackett aus und riss mein Hemd auf, die Knöpfe lösten sich und rollten fröhlich über den Boden. Ich warf meine Oberbekleidung hinterher.

Jana atmete schwer, fuhr über meine nackte, glatt rasierte Brust, folgte mit dem Finger dem dünnen Streifen Haare, der vom Nabel abwärtsführte und in der Hose verschwand. Am Bund meiner schwarzen Hose hielt sie zögernd inne. Mit einem Mal wirkte sie unsicher, nicht mehr so selbstbewusst und zielstrebig wie vorhin im Garten. Die neue Intimsphäre, die Tatsache, dass sie nun mit mir allein war, schien sie zu hemmen.

„Entspann dich“, flüsterte ich ihr ins Ohr, beugte mich zu ihr hinab und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit Küssen. Langsam öffnete ich den Reißverschluss an der Seite ihres Kleides, drehte sie so lange herum, bis es mir gelang, ihr das Dress abzustreifen. Nur in schwarze Reizwäsche gekleidet, lag sie vor mir und bot einen wunderschönen Anblick, der auch meinem kleinen Freund in den unteren Regionen recht gut gefiel. Ich wurde hart. So richtig. Sie hatte große, volle Brüste, einen flachen Bauch und ein Nabelpiercing, einen üppigen Hintern, den ich vorhin schon ertasten durfte, und gottgegebene Kurven. Sie war sehr weiblich. Es würde mir ein Vergnügen sein, ihren Körper zu erforschen.

Behutsam glitt meine Hand an ihrem rechten Schenkel hinab, mit der anderen stützte ich mich noch immer neben ihrem Körper ab. Gerade als meine Finger dabei waren, in ihr Höschen zu schlüpfen, zuckte sie zusammen und hielt meine Hand fest.

„Warte“, flüsterte sie, mir entging nicht das Zittern in ihrer Stimme und das nervöse Flackern in ihrem Blick. Sie musste wirklich tierisch aufgeregt sein. Sicher schlief sie nicht alle Tage mit einem Wildfremden

Beruhigend tätschelte ich ihren Schenkel. „Ganz ruhig, Baby, entspann dich“, flüsterte ich und befreite meine Hand sanft aus ihrem Griff. Ich senkte meinen Kopf auf ihren Hals, küsste sie sanft, meine Lippen glitten zu ihrem Dekolleté, verharrten dort sekundenlang. Dann wanderte meine Hand hinter ihren Rücken, um den BH zu öffnen.

Ihr ganzer Körper zitterte, ob vor Nervosität oder Lust war schwer zu sagen, doch ich merkte, dass sie ängstlicher war, als das normalerweise der Fall war. Sie war völlig verspannt, kniff ihre Augen fest zusammen in dem verzweifelten Versuch, lockerer zu werden, und krallte ihre Finger ins Laken, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Ich war vielleicht ein Arschloch, aber ein so großes dann doch nicht. Seufzend rollte ich mich von ihr herunter.

Sie öffnete ein Auge, sah mich erschrocken an. „Was ist?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Das frag ich dich“, erwiderte ich und fuhr mir durchs Haar. „Bin ich zu schnell? Fühlt sich was nicht gut an? Soll ich dich irgendwo anders berühren?“

Gott, wie unangenehm! Noch nie hatte ich mit einem Mädchen über dessen Vorlieben im Bett gesprochen, es war schlichtweg nie nötig gewesen. Ich wusste instinktiv, wie ich eine Frau anfassen musste, und mittlerweile hatte ich so viel Übung, dass ich spürte, was sie mochte und was nicht, ob sie es eher etwas grob oder ganz sanft und zärtlich mochte, ob sie eher auf hartes oder behutsames Zustoßen stand. Bei Jana jedoch stand ich vor einem Rätsel. Ihre Worte hatten mir deutlich gemacht, dass sie es wollte, ihr Körper jedoch schien sich dagegen zu wehren. Es schien eine Kopf-gegen-Herz-Situation zu sein. Der Kopf schien zu sagen: „Schlaf mit diesem Typen“, während das Herz meinte: „Tu’s nicht“.

Wie so oft siegte Herz über Kopf.

„Hör zu“, sagte ich, „wenn du das nicht willst, dann lassen wir’s. Ich dachte nur ... also, deine Signale vorhin im Garten, die waren ziemlich eindeutig, weißt du. Aber wenn du’s dir jetzt anders überlegt hast ...“

„Nein, ich ...“ Schnell setzte sie sich auf, doch als ihr einfiel, dass ihr BH hinten offen stand und die Körbchen zur Seite rutschten, packte sie sie hastig und hielt sie in Position, sie wurde puterrot und senkte den Blick.

Meine Lust war mittlerweile verflogen; ernüchtert stand ich auf und griff nach meinem Hemd. Na toll. Das war also draus geworden, aus meiner schönen Racheaktion. Eine Farce!

„Es tut mir leid, Chris“, stieß sie hervor.

Ich hielt mitten in der Bewegung inne und drehte mich langsam zu ihr um. „Du kennst meinen Namen?“, fragte ich stirnrunzelnd. „Du weißt, wer ich bin?“

Auch das noch! Wenn sie mit dieser Geschichte an die Öffentlichkeit ging, wäre die Scheiße am Dampfen. Joachim würde mich vierteilen, so viel war sicher.

„Weiß nicht jeder, wer du bist?“, fragte Jana matt, während sie sich verrenkte, um den BH wieder zu schließen. „Ich meine, es hat schließlich fast jeder mitbekommen, dass dieser Hochzeitsfotograf total auf dich abgefahren ist, weil du so berühmt bist. Tante Lydia hat gekocht vor Eifersucht und Missgunst und Laura war auch nicht begeistert ... na ja.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich sie an. „Und obwohl deine Familie nichts von mir hält, wolltest du mit mir in die Kiste?“

„Na ja“, sie zuckte die Achseln, sah mich verlegen an, während sie wieder in ihr Kleid stieg, „ich halte auch nicht viel von den beiden, weißt du.“

„Verstehe.“ Ich lachte freudlos. „Also wolltest du den beiden eins auswischen beziehungsweise deine Cousine bis auf die Knochen blamieren mit der Aktion hier oder was?“

Jana musterte mich minutenlang, plötzlich war sie ziemlich blass, holte tief Luft. „Ich will nicht, dass du mich für ein Miststück hältst“, erklärte sie.

„Tu ich nicht“, erwiderte ich. Tat ich wirklich nicht. „Schließlich war’s nicht deine Idee, es in der Hochzeitssuite deiner Cousine mit mir zu treiben.“

„Stimmt. Das war deine Idee“, gab sie zurück, „und ich dachte, Marvin wäre dein bester Freund.“

Ich schwieg und schämte mich mit einem Mal fürchterlich. Da war ich wirklich zu weit gegangen, viel zu weit. Das hätte ich niemals tun dürfen, was für eine verdammt dämliche Aktion. Ich hatte einfach nicht nachgedacht. Hatte ich vorhin tatsächlich noch geglaubt, Marvin könnte mir verzeihen, dass ich es in seinem für die Hochzeitsnacht reservierten Bett mit der Cousine seiner Frau getrieben hatte, so wurde mir nun schlagartig klar, dass er mir niemals verzeihen würde. Er würde mich dafür hassen, verachten. Und er würde mich aus seinem Leben streichen, so radikal, wie er auch seine Eltern daraus verbannt hatte. Wer seiner Liebe zu Laura in die Quere kam, war weg vom Fenster. Das war Realität und das hatte ich bisher eindeutig unterschätzt. Scheiße!

„Es ist nur ... ich meine ... also, ich bin 18 seit zwei Monaten und ich bin immer noch Jungfrau. All meine Freundinnen hatten schon ihr erstes Mal und langsam komme ich mir vor wie eine komplette Versagerin, weil ich ... noch nicht hab, verstehst du? Aber ich finde einfach nicht den Richtigen. Ich meine, ich kann ja nicht einfach mit irgendeinem dahergelaufenen Typen ...“ Sie stockte und mir schwante nichts Gutes.

„Oh nein.“ Gequält schloss ich die Augen, ließ mich erschlagen auf die Bettkante sinken. Das durfte alles nicht wahr sein. „Du wolltest, dass ich dir die Unschuld nehme, ja? Und das wolltest du dann ganz groß der Presse verkaufen?“

„Was? Nein, Unsinn!“ Nun klang sie verärgert. „Ich sagte doch bereits, dass ich kein Miststück bin, Chris. Ich wollte es einfach hinter mich bringen. Aber mit einem aus meiner Klasse kann ich es nicht tun, die sind alle so was von unreif, richtige Kinder, außerdem haben die meisten ’ne Freundin oder sind Exfreunde meiner Freundinnen und so was geht gar nicht. Mein bester Freund hat mir neulich eröffnet, dass er in mich verliebt ist, aber mit dem kann ich auch nicht. Den kenne ich schon viel zu lange. Und als ich dann erfahren hab, dass du zur Hochzeit kommst, dachte ich, das wäre die perfekte Gelegenheit. Ich meine, du bist älter, reifer, hast Erfahrung, bist sexy und heiß und ... was mir am wichtigsten war: Ich war mir sicher, dich zu kennen. Also, vom Charakter her. Ich hab dich hin und wieder im Fernsehen gesehen, all deine Interviews gelesen, ich hab Marvin über dich ausgefragt, natürlich alles unter dem Deckmantel des Fangirls. Und ich dachte mir, wenn du mit einem so tollen Kerl wie Marvin befreundet bist, musst du einfach nett sein. Vorhin als ich mit dir getanzt hab, hab ich so ein Kribbeln im Bauch gespürt und ich dachte echt, ich könnte es. Mit dir schlafen, meine ich. Aber wie sich herausgestellt hat, geht es doch nicht.“ Sie sah mich traurig lächelnd an. „Ich hab mich wie eine Idiotin benommen. Tut mir leid.“

Seufzend schüttelte ich den Kopf. „Der einzige Idiot hier bin ich. Ich hätte ablehnen müssen, als du mir gesagt hast, dass du Lauras Cousine bist. Ich hätte merken müssen, dass du wenig Erfahrung hast.“

„Wir waren wohl beide ziemlich blöde“, meinte Jana leise und deutete auf das zerwühlte Bett und die überall auf dem Boden herumliegenden Rosenblüten. „Lass uns das alles wieder auf Vordermann bringen und von hier verschwinden, bevor jemand was merkt.“

„Gute Idee“, nickte ich. „Und ... äh ... könnte das hier unter uns bleiben?“

Jana lächelte schwach. „Sicher, ich bin auch nicht wild drauf, dass irgendjemand mitkriegt, dass ich mich komplett zum Obst gemacht hab.“

Ich trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Jana, du bist so jung, du hast noch jede Menge Zeit, Erfahrungen zu sammeln. Du musst nicht unbedingt Sex haben, nur um dazuzugehören. Glaub mir, du wirst es bereuen, wenn du einfach mit irgend so einem dahergelaufenen Typen in die Kiste springst. Warte lieber ab, bis der Richtige kommt.“

Gott, ich konnte nicht fassen, dass ich diesen abgedroschenen Satz gerade wirklich von mir gegeben hatte, andererseits fand ich es tatsächlich nicht gut, wenn Mädchen ihr erstes Mal an einen Kerl verschenkten, der es nicht ernst mit ihnen meinte und nur seinen Spaß haben wollte.

Ich hatte noch nie ein Mädchen entjungfert und ich hatte es auch nicht vor, klar, es mochte ein tolles Geschenk von einem Mädchen an einen Jungen sein, eine große Ehre, aber die gebührte mir nicht. Mädchen sollten ihr erstes Mal mit einem Jungen haben, der sie wirklich und aufrichtig liebte, der die Beziehung nicht auf das rein Körperliche reduzierte. Das Mädchen sollte dem Jungen wichtig sein. Und sie sollte ihm vertrauen können.

Zu dieser Sorte Mann gehörte ich leider nicht. Mein erstes Mal war schrecklich gewesen, nicht etwa, weil meine Partnerin, die zwei Jahre älter gewesen war und wesentlich mehr Erfahrung gehabt hatte, schlecht gewesen war, sondern weil ich mir wie der größte Esel auf Erden vorgekommen war ‒ unbeholfen, linkisch, fast tollpatschig, schüchtern und unsicher. Die Erste, mit der ich geschlafen hatte, hatte mir allerhand Tricks beigebracht, hatte mir Kusstipps gegeben und mir geduldig erklärt, wie und wo man ein Mädchen anfassen musste, um es zu befriedigen, und wie man es anstellte, dass ihr der Sex gefiel und man selbst auch Spaß hatte. In vielerlei Hinsicht war sie mir eine gute Lehrerin gewesen, sie hatte mir nicht nur gezeigt, was den Mädchen gefiel, sondern auch, was mir gefiel. Dennoch war es eher eine unschöne Erfahrung für mich gewesen. Ich war mit einem Mal unglaublich froh, dass ich rechtzeitig abgebrochen hatte, bevor das hier hatte ausufern können. Ich hätte mir selbst nie verziehen, wenn ich diesem Mädchen die Unschuld genommen hätte, ohne es überhaupt zu wissen. Außerdem fiel mir in diesem Moment siedend heiß ein, dass ich gar keine Kondome dabeihatte. Gott, wie konnte man nur so verantwortungslos sein?

„Hey“, Jana stellte sich dicht vor mich und schlug mir leicht auf die Brust, „du hast dein Hemd falsch geknöpft.“

„Oh.“ Verdutzt guckte ich hinab auf ihre Finger, die gerade flink mein Hemd wieder öffneten. Zumindest die wenigen Knöpfe, die noch dran waren. „Stimmt.“

„Ich mach das für dich“, sagte sie lächelnd, „dann räumen wir den Saustall hier auf und vergessen das Ganze. Okay?“

Erleichtert nickte ich, umfasste ihr Gesicht sanft mit den Händen. „Du bist ein tolles Mädchen, Jana“, sagte ich und meinte es auch so. „Und du hast den coolsten Freund dieser Welt verdient.“ Ich senkte den Kopf und küsste sie, ein kleiner, süßer Abschiedskuss. Just in diesem Moment flog die Zimmertür auf.

Im Nachhinein konnte ich mich nicht mehr klar daran erinnern, was überhaupt geschehen war, es ging alles so furchtbar schnell. Im ersten Moment küsste ich noch Jana, im nächsten flog krachend die Tür auf und plötzlich war das Zimmer erfüllt von Stimmen, die aufgeregt kreischten, wütend durcheinanderschrien und hysterisch zeterten.

Ein großer, kräftig gebauter Mann mit schwarzem Schnauzer packte mich und riss mich von Jana weg, die erschrocken aufkreischte. „Du Dreckskerl, lass deine Griffel von meiner Tochter!“, brüllte er mich an und besprühte mein Gesicht dabei mit kleinen Spucketröpfchen.

„Papa, bitte“, rief Jana erschrocken, „wir haben nichts gemacht.“

„Nichts gemacht ... sein Hemd steht offen, deine Haare sind zerwühlt, dein Lippenstift ist verschmiert. Habt ihr etwa ...“ Er packte mich am Kragen, schüttelte mich. „Hast du etwa mit meiner Tochter gevögelt, du kleiner Bastard? Hm?“, brüllte er mich an.

Eindeutig ein Choleriker, meinem Vater nicht unähnlich.

„Papa, lass ihn los!“, schrie Jana weinend.

„Unglaublich, eine Unverschämtheit! So viel Dreistigkeit muss man erst mal besitzen“, kreischte Lydia, diese blöde alte Wachtel, in den höchsten Tönen. „Am Hochzeitstag meiner Laura! In der Hochzeitssuite! Wissen Sie, wie viel wir dafür hinblättern, für diese eine Nacht, Sie Mistkerl?“

Ich sah Laura, die schwer atmend und in Tränen aufgelöst an Marvins Brust lehnte. Ich sah meinen besten Freund, der mich mit unverhohlenem Abscheu ansah, nichts als Verachtung lag in seinem Blick.

Alle brüllten durcheinander, waren entsetzt über mein Verhalten und das verwüstete Zimmer. Janas Vater beschimpfte mich, dann sauste seine Faust auf mich nieder. Jana schrie auf, als der Schlag mich mit voller Wucht im Gesicht traf. Ich fiel nicht zu Boden, taumelte nur rückwärts. Ich schmeckte Blut. Der altbekannte Zorn flammte in mir auf, diese unbändige Wut, das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Ich wollte auf meinen Peiniger losgehen, der ebenfalls aussah, als wäre er auf eine Schlägerei aus, doch Marvin, Holger und einige andere Männer, die sich im Raum befanden, gingen sofort dazwischen.

„Beruhige dich, Lennart, komm runter!“, rief eine Frau mit hektischen roten Flecken im Gesicht, vermutlich Janas Mutter. Die Männer bugsierten ihn aus dem Zimmer, die Frau zerrte die weinende Jana hinter sich her. „Schatz, alles wird gut, wir reden darüber. Habt ihr verhütet? Hat er dich gezwungen? Hat er was gemacht, was du nicht wolltest? Gott, solange du nur nicht schwanger bist ...“

Sobald ihre Stimmen auf dem Gang verhallt waren, herrschte eisiges Schweigen. Die Männer ließen mich los und ich presste meine Hand auf die blutende Nase. Laura trat an mich heran, Tränen der Wut und Scham glitzerten in ihren Augen. „Laura“, setzte ich an, meine Lippe war ebenfalls aufgeplatzt und blutig, „es tut mir leid, ehrlich. Ich hab nicht nachgedacht.“

Sie holte aus und scheuerte mir eine, mein Wangenknochen pulsierte noch vom ersten Schlag, dieser zweite machte es nicht besser.

„Du mieses, egoistisches Arschloch!“, schrie sie mich an, dann wirbelte sie herum und rannte schluchzend aus dem Zimmer.

„Laura, Liebling, warte!“ Lydia fuchtelte mit ihrem Wurstfinger vor meiner Nase herum und schrie: „Das wird Sie noch teuer zu stehen kommen!“ Dann sauste sie ihrer Tochter nach.

Marvin sah mich an, fassungslos, zutiefst enttäuscht. Ich hätte gerne was gesagt, wie leid es mir tat, dass ich seine Hochzeit ruiniert hatte. Dass ich ein Vollidiot wäre und alles tun würde, um das wiedergutzumachen. Doch in diesem Moment wurde mir klar, dass nichts, was ich sagte oder tat, irgendwas an dieser Sache besser machen konnte. Ich hatte es verbockt.

Schließlich wandte Marvin sich ab. Er sagte zu einem der Männer, die mich festgehalten hatten, offenbar ein Page: „Können Sie dafür sorgen, dass das Bett neu bezogen wird? Und die Rosenblätter verschwinden, bitte? Ja?“

„Natürlich.“ Der Page nickte betreten. „Ich kümmere mich darum, Herr Lieblich.“

„Danke“, sagte der kraftlos, und ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er aus dem Zimmer.

Ich wollte ihm nach, machte einen wackligen Schritt nach vorn. „Marvin ...“ Meine Stimme klang seltsam hohl und fremd.

In der Tür stieß er mit Edda zusammen, die mittlerweile wohl auch schon von der Katastrophe gehört hatte und ihn bestürzt ansah. „Marvin ... ich ...“

„Ist okay, Ed“, murmelte er und schob sich an ihr vorbei. Und weg war er.

Ich ließ den Kopf hängen. Blut tropfte auf den Boden, auf meine blank polierten Schuhe, auf die teure schwarze Hose. Ich schmeckte es auch im Mund, diesen ekligen, metallenen Geschmack. Ich musste nicht mal mehr würgen. Den Geschmack von Blut war ich gewohnt.

„Komm mit, Chris.“ Edda war neben mich getreten und nahm sanft meine Hand. „Wir kümmern uns mal um deine Wunden, hm? Na komm.“ Sie führte mich aus dem Zimmer, wobei ich mich auf sie stützte, als wäre sie mein Krückstock, das Einzige, was mich auf den Beinen hielt. Und so war es auch.

Alles fühlte sich merkwürdig an. Irreal. War das gerade wirklich alles passiert? Und das, obwohl eigentlich gar nichts passiert war?

Ich hielt ganz still, während Edda auf der Toilette meine Wunden versorgte, so sanft und behutsam wie damals, als sie mich auf der Straße aufgelesen hatte. In ihren Augen konnte ich keinerlei Enttäuschung oder Vorwurf sehen, sondern einfach nur Besorgnis. Um mich und meinen Gesundheitszustand. Sanft wischte sie mir das Blut von der Nase und den Lippen, brachte mich dazu, mir den Mund auszuspülen, und kühlte meinen Wangenknochen, der stark schmerzte. In meiner Nase prickelte es.

„Ich hab nicht mit ihr geschlafen, Ed“, murmelte ich schwach, während mein Kopf gegen die kühlen Fliesen in meinem Rücken sank. „Ich schwöre dir bei allem, was mir lieb ist, wir hatten keinen Sex.“

„Schsch, schon gut. Ich glaube dir“, sagte sie tröstend, ging vor mir in die Hocke und legte ihre Hände auf meine Knie. „Aber, Chris, was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Nichts“, ächzte ich, „ich hab gar nichts gedacht. Ich war nur stinksauer auf Laura, weil sie Sophia und mich bei Luke rangehängt hat.“

„Und da dachtest du, du würgst ihr schön eins rein, indem du ihre Cousine flachlegst?“ Nun klang sie doch vorwurfsvoll, sah mich kopfschüttelnd an. „Der arme Marvin ist völlig am Ende. Er konnte es nicht fassen, als Lennart, Janas Vater, beim Portier nach dem Verbleib seiner Tochter fragte und der sagte, dass sie vor einer knappen halben Stunde mit dir in der Hochzeitssuite verschwunden sei ‒ angeblich wegen einer Überraschung.“ Sie rollte mit den Augen. „Ich hab mir schon gedacht, dass das nur ’ne Ausrede war. Laura war sofort auf 180, Lydia hatte einen halben Herzinfarkt, nur Marvin hat fest dran geglaubt, dass ihr wirklich eine Überraschung vorbereitet, und wollte die Masse sogar daran hindern, das Zimmer zu stürmen. Er meinte, so was würdest du niemals tun.“

Das schlechte Gewissen war kaum auszuhalten.

Niedergeschlagen und wie ein geprügelter Hund hockte ich zusammengesackt auf dem Toilettendeckel, meine Augen brannten mit einem Mal. „Ich hab richtig Mist gebaut, oder?“

„Nun ... ja“, meinte Edda schonungslos wie immer und klopfte mir aufmunternd auf die Knie. „Marvin ist total verletzt und schockiert, Laura ist am Ende mit den Nerven, aber wenn du dich jetzt gleich bei den beiden entschuldigst, wenn du mit Marvin redest, vielleicht ... hm, vielleicht versöhnt ihr euch dann wieder.“

„Meinst du?“ Hoffnungsvoll blickte ich auf. Edda zuckte verzagt mit den Schultern. Ich griff nach ihrer Hand. „Würdest du mir denn verzeihen? Wenn ich an deinem Hochzeitstag mit irgendeiner Fremden, der Cousine deines Mannes, in deinem Hochzeitsbett fast Sex hätte?“

Sie legte den Kopf etwas schief, sah mich nachdenklich an. Plötzlich streckte sie die Hand aus, glitt damit sanft durch mein Haar, pflückte ein Rosenblatt heraus und drehte es zwischen den Fingern. „Ich wäre so was von sauer auf dich“, meinte sie langsam.

„Zu Recht“, murmelte ich.

„Und ... keine Ahnung, vielleicht würde ich dich sogar hassen. Im ersten Moment. Für die erste Zeit. Ich könnte mir vorstellen, dass ich nie wieder mit dir reden wollen würde. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwann erkennen würde, dass du einfach nur ein Hitzkopf bist, der eingeschnappt war und übers Ziel hinausgeschossen ist.“ Sie schluckte und ich sah Tränen in ihren Augen.

Ich drückte ihre Hand fester, biss mir auf die Unterlippe, weil auch mir nun zum Heulen zumute war, was wirklich extrem peinlich war.

„Ich würde dich so sehr vermissen, dass ich es gar nicht aushalten könnte, für immer ohne dich zu sein. Du bist zwar manchmal nervig und ein Schwein, Waldoff, aber wenn’s drauf ankommt, bist du immer da. Dann kann man auf dich zählen.“

„Ach, Ed.“ Ich zog sie in meine Arme, vergrub meine Nase in ihrem Haar. „Du bist diejenige, die immer da ist, wenn ich sie brauche. Du warst schon damals für mich da, als du mich auf der Straße aufgelesen und bei dir aufgenommen hast. Ab diesem Zeitpunkt warst du eigentlich die beste Freundin, die ich je hatte.“ Ich streichelte ihr übers Haar. „Du bist was ganz Besonderes, Edda, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

„Ja, Waldoff, das höre ich ständig ...“

Sie schluchzte trocken auf und ich gratulierte mir im Stillen: „Toll, Waldoff, jetzt hast du auch noch deine beste Freundin zum Weinen gebracht. Glückwunsch, du Pfeife!“

Sie löste sich von mir, wischte sich über die Augen. Sie schien gerührt zu sein. Ihr Blick war liebevoll. „Du solltest mit Marvin reden, Chris. Vielleicht ist noch was zu retten, je früher du ihn suchst, desto besser.“

„Du hast recht.“ Ich nickte, blinzelte die Tränen weg und stand wankend auf. Zögernd sah ich sie an. „Kommst du mit mir? Damit mich nicht wieder irgendjemand zusammenschlägt?“

Sie lächelte schief. „Sicher.“ Sie hakte sich bei mir unter und zusammen stellten wir uns der aufgebrachten Hochzeitsgesellschaft.

Es schien so, als hätte jeder mitbekommen, was auf dem Hotelzimmer passiert war. Ich spürte stechende Blicke im Rücken, ich prallte gegen Wände aus Abneigung, Argwohn und Zorn, die Leute tuschelten hinter vorgehaltener Hand oder äußerten sich lautstark ‒ und keineswegs positiv.

„Unglaublich, wie kann man nur so ein Arschloch sein?“

„Das arme Mädchen war völlig aufgelöst! Was meinst du, ob er sie im Zimmer überrumpelt hat?“

„Laura ist am Ende mit ihrer Kraft. Erst sprengt er fast die Trauung und kommt nicht und dann so was!“

„Keinen Funken Anstand im Leib! Wäre ich seine Mutter, ich würde mich in Grund und Boden schämen.“

Zum ersten Mal seit Langem war ich froh, dass Mama und ich keinen Kontakt hatten. Sie würde das nicht verstehen. Sie müsste sich wirklich für mich schämen.

Ich bekam pochende Kopfschmerzen, meine Augen brannten, meine Lippe schwoll merklich an und kribbelte unangenehm, mein Wangenknochen pulsierte. Ich bemühte mich nach Kräften, all diese Leute zu ignorieren, aber es fiel mir verdammt schwer. Mein Ansehen hatte einen kräftigen Dämpfer bekommen. Wenn Joachim das rausbekam, war ich geliefert. Aber erst mal zählte nur Marvin. Wo steckte er?

Kurz erhaschte ich einen Blick auf Pia, das Mädchen, das dank mir zur Vegetarierin geworden war. Ich lächelte ihr zu, doch sie funkelte mich nur böse an, Enttäuschung zeichnete ihr Gesicht. Dann drehte sie sich weg. Ich ließ den Kopf hängen und hoffte, dass sie trotz allem weiterhin Vegetarierin blieb.

„Schau, da drüben sind sie.“ Ich reckte den Hals und mein Herz setzte einen Schlag aus. Da standen sie alle. Marvin hielt Laura im Arm, deren Schultern bebten. Sie weinte immer noch. Lydia stand neben ihr, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und redete mit überschnappender Stimme auf Janas Vater und ihren Mann Holger ein. Auch Amanda, Layla, Sophia und Luke waren dabei und machten ernste Gesichter. Ich straffte die Schultern, als wir uns der Gruppe näherten. Lydia entdeckte uns zuerst und ihre Augen sprühten Funken. Sie schoss auf uns zu wie ein tollwütiger Hund. „Wage es ja nicht!“, schrie sie mich an. „Wage es ja nicht, meiner Tochter oder irgendjemandem aus meiner Familie jemals wieder zu nahe zu kommen! Ich kann es nicht fassen, diese Schmach ... Ist dir eigentlich klar, was du meiner Laura angetan hast? Und meiner Nichte Jana?“

„Erstens habe ich Jana gar nichts getan“, antwortete ich emotionslos, „alles, was zwischen uns passiert ist, war von ihr gewollt. Zweitens will ich mit Marvin reden, von Ihrer Sippe will ich nichts. Und drittens sollte Ihre Laura lieber mal darüber nachdenken, was sie anderen Leuten antut, wenn sie ihren Mund aufmacht und irgendeinen Scheiß verzapft.“

„Wie kannst du es wagen?“, kreischte Lydia und hob die Hand zum Schlag, doch Edda warf sich dazwischen und fing ihren Arm ab.

„Stopp!“, rief sie mit schneidender Stimme. „Gewalt ist keine Lösung. Nie! Außerdem hat Chris schon genug abbekommen. Ich finde, es reicht.“

„Es reicht, es reicht!“ Lydia war außer sich. „Dieser Kerl ist eine Schande, Mädchen, eine Schande! Herrgott, bist du denn so blind und naiv, dass du gar nicht siehst, was für ein schlechter Mensch er ist? Ein Schmalspurcasanova, immer nur darauf aus, seinen Spaß zu haben und den Mädchen den Kopf zu verdrehen. Dich hat er offenbar auch schon so weit, es ist nicht zu fassen.“

„Chris ist der beste Mensch, den ich kenne“, verteidigte Edda mich aufgebracht. „Okay, er hat einen Fehler gemacht, er ist manchmal ein bisschen hitzköpfig und macht dumme Sachen, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, ihn pausenlos schlechtzumachen und ihm nur böse Absichten zu unterstellen. Im Übrigen, wenn Sie alle Jana und Chris mal die Chance gegeben hätten, sich zu erklären, hätten Sie längst mitbekommen, dass zwischen den beiden nichts lief. Sie haben nicht miteinander geschlafen.“

„Lügen!“, kreischte Lydia schrill. „Alles Lügen!“

„Ach, und Sie wissen das besser als die beiden selbst?“, fuhr Edda sie an. Nun wurde auch sie lauter.

Ich hielt sie zurück, ich musste das hier stoppen, bevor es ein Blutbad gab. „Ed, ist okay“, sagte ich sanft, „ich komm allein klar.“

Lydia wollte gerade etwas darauf erwidern, da tauchte Marvin auf und zog sie entschlossen zurück. „Lydia, ich regle das. Kümmere du dich um Laura. Chris?“ Er ging ohne ein weiteres Wort an mir vorbei und meine Aufgabe war es jetzt wohl, ihm zu folgen.

Ich entzog Edda sanft meinen Arm, sie nickte mir aufmunternd zu und murmelte: „Viel Glück.“

„Glück?“, schrie Lydia erbost. „Ein wenig Anstand bräuchte er dringender.“

„Ach, halten Sie doch endlich Ihren Mund!“, rief Edda wütend.

Ich wäre ihr gerne beigestanden, doch Marvin ging im Stechschritt auf den Brunnen zu und ich trabte hinter ihm her. Ich hoffte so sehr, dass wir vernünftig darüber reden konnten und er mir verzeihen würde. Er bog in einen der vier Wege ein und setzte sich schließlich auf die Bank, auf der ich Jana vorhin getroffen hatte. Schnell drängte ich die aufsteigenden Erinnerungen zurück, holte tief Luft und ließ mich neben ihm nieder.

Eine Weile starrten wir schweigend geradeaus auf einen Busch, dessen Blätter sich sacht im aufkommenden Wind wiegten. Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zunge, versuchte, etwas zu sagen. Zwei Anläufe später war es mir immer noch nicht gelungen, ein Wort herauszubringen. Wenn ich so weitermachte, würde ich die Sache mit Marv nie mehr ins Lot bringen.

Als ich endlich die Zähne auseinanderbekam, ergriff mein Freund das Wort. „Ich weiß, was du sagen willst“, meinte er, ohne mich anzusehen. „Dass es dir leidtut. Dass du das nicht gewollt hast. Dass du nicht nachgedacht hast. Dass du nicht mit Jana geschlafen hast. Dass es eine Scheißidee war, die du sehr bereust.“

Ja. Ich schluckte. Genau das hatte ich sagen wollen.

Mit einem Mal hatte ich ein ganz ungutes Gefühl im Magen, mein Puls begann zu rasen und ich wurde panisch. Eine Katastrophe nahte heran, ich spürte es. Mein Körper zitterte und kribbelte.

„Fakt ist, Chris, dass du mit Jana ins Hotel gegangen bist, um mit ihr zu schlafen. Darauf hast du es angelegt. Es war kein Zimmer frei, also dachtest du dir: Hm, nehme ich eben die Hochzeitssuite. Brüder teilen schließlich alles. Oder?“ Er verzog das Gesicht. „So lautete doch der Kodex der Gang, in der wir damals waren ‒ beste Freunde sind wie Brüder. Und Brüder teilen alles.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Wir sind nicht mehr in einer Gang, Chris. Wir sind erwachsen und es ist an der Zeit, dass wir uns so benehmen. Das alles hier, das ist kein Spiel.“ Er sah mich an und ich erschrak, als ich die Wut in seinen Augen sah. Da war kein Verständnis, keine Freundschaft, nichts. Nur Kälte. „Laura ist mein Leben, Chris. Ich liebe sie, mehr als alles andere auf der Welt. Sie ist meine neue Familie.“

Aha. So war das also.

„Verstehe“, murmelte ich und rammte meine Schuhspitze so heftig in die Erde, dass das Gras zur Seite wegstob. „Jetzt wo du Laura hast, brauchst du mich nicht mehr. Deinen besten Freund, der früher wie ein Bruder für dich war. Wir sind durch dick und dünn gegangen, Mann. Du hast mir damals den Arsch gerettet bei dieser Diebstahlssache und ich hab dir den Rücken freigehalten, als du aus Köln abgehauen bist. Wusstest du, dass deine früheren Kumpel mich mehr als einmal mit dem Messer bedroht haben, damit ich ihnen sage, wo du bist? Sie haben erst aufgehört zu fragen, als ich behauptete, wir hätten uns zerstritten und du wärst eh nur ein Arschloch, das uns alle verarscht und sitzen gelassen hat. Mann, Marv, Alter, wir haben so viel zusammen erlebt ‒ Partys, Mädels, Jungsabenteuer, bedeutet dir das denn gar nichts mehr?“

Er sagte eine Weile nichts, blickte auf einen Punkt in der Ferne. Schließlich holte er tief Luft und sprach sehr langsam, laut und deutlich: „Das ist Vergangenheit, Chris. Liegt weit zurück. Sehr weit. Laura ist meine Zukunft. Die Frau, mit der ich Kinder haben, mit der ich alt werden will. Sie ist diejenige, die mich aus dem Scheißleben befreit hat, das ich damals führte.“

Ich fühlte mich geohrfeigt. „Du fandest dein Leben scheiße?“, fragte ich nach, nur für den Fall, dass ich etwas falsch verstanden hatte.

„Natürlich, Chris, natürlich war mein Leben der letzte Dreck!“, rief Marvin aufbrausend. „Denkst du vielleicht, ich fand das geil, mit zwei Versager-Eltern in ’ner verschimmelten Mietswohnung zu hausen, wo es durch die Decke tropfte und uns andauernd der Strom und das Wasser abgeschaltet wurden, weil die Penner nie die Rechnungen bezahlt haben? Denkst du, ich fand das geil, mit den abgebrannten Typen rumzuhängen, die allesamt kriminell waren, Drogen vertickt und sich asozial benommen haben? Und glaubst du, ich hatte Spaß dran, mit all den Schlampen in die Kiste zu steigen? Kann sein, dass du das cool fandest, ich aber nicht! Ich hab mir immer eine Familie gewünscht, jemanden, der mir Halt gibt. Ich wollte nie so werden wie mein Vater, arbeitslos, deprimiert, alkoholabhängig, während meine Frau anschaffen geht. Nee. Als ich Laura getroffen hab, hat sich mein Leben geändert, ich hab mich geändert. Mein Leben ist gut geworden, weil ich sie kennengelernt hab. Ohne sie wäre ich abgestürzt und würde als abhängiger Junkie irgendwo unter der Brücke hausen, Mann. Laura hat mir das Leben gerettet.“

Allmählich wurde ich wütend. Mehr als wütend, kochender Zorn stieg in mir auf. „Laura, Laura, Laura!“, schrie ich, sprang auf und trat ins Gras, ich zitterte vor Erregung am ganzen Körper. „Was ist mit mir, hm? Ich war auch immer für dich da, Marv! Ich hab die ganze Scheiße auch erlebt. Denkst du vielleicht, mir ging’s besser mit meinem Alten, der mich wegen jeder Kleinigkeit zusammengeschlagen hat? Denkst du, mein Leben war toll ohne Mutter? Aber unsere Freundschaft hat mich aufrecht gehalten, ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, egal, was passiert, dass du mich nicht hängen lässt. Ich dachte, wir wären Freunde.“

„Dachte ich auch mal“, erwiderte Marvin kalt. „Bis heute, als du in meiner Hochzeitssuite ’ne Frau vögeln wolltest.“

„Sie wollte es, Marvin!“, schrie ich ihn an. „Das alles ging von ihr aus. Ich hab sie nicht dazu überredet und ich hab sie zu nichts gezwungen. Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, warum Lauras Cousine es mit mir in eurer Suite machen wollte. Richtig, weil sie ihre Cousine nicht leiden kann! Weil sie genau wie ich längst kapiert hat, was für ein falsches, gemeines Luder deine Laura ist.“

Marvin machte einen Satz auf mich zu und packte mich vorn am Hemd. „Pass bloß auf, was du sagst, Mann“, sagte er bedrohlich ruhig.

„Wieso?“ Provozierend schlug ich ihm gegen die Brust. „Hast du Angst, du könntest am Ende erkennen, dass es die Wahrheit ist, hm? Was ist denn mit der Aktion, die sie vorhin mit Luke und Sophia abgezogen hat? War das fair? Hat sie sich da wie die liebenswürdige, engelsgleiche Frau verhalten, die du so sehr liebst und mit der du für immer zusammen sein willst? Und was ist damit, dass sie mich, deinen besten Freund, die ganze Zeit wie Dreck behandelt hat?“

„Hör auf, so über sie zu reden“, stieß er mühsam beherrscht hervor.

In mir tickte etwas aus. Es war mir in diesem Moment egal, ob unsere Freundschaft zerbrach, es kümmerte mich nicht, ob mich alle hören konnten, und es war mir egal, ob Marvin mir je verzeihen würde oder nicht. Ich schlug ihm auf den Arm, riss mich los und brüllte ihn an: „Weißt du was, Marvin? Du hast eine Hexe geheiratet, die von Anfang an einen Keil zwischen uns getrieben hat, weil sie der Ansicht ist, ich wäre nicht gut genug, um ihre Gesellschaft genießen zu dürfen. Du hast dich total verändert, seit du mit ihr zusammen bist, und zwar zum Negativen. Früher hättest du nie zugelassen, dass sie sich zwischen uns drängt, du hättest mich verteidigt und um diese Freundschaft gekämpft. Und du hättest das Leben, das wir hatten, niemals so in den Dreck gezogen. Okay, es war kein gutes Leben, aber es war, Scheiße noch mal, UNSER Leben, okay? Wir hatten einander, ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen, und du wusstest, du kannst dich auf mich verlassen. Weißt du noch, wie wir mal einem Zuhälter deiner Mutter die Reifen aufgeschlitzt haben? Wie wir Sara, diese kleine Brünette, vor Sams Gang beschützt haben und danach zusammen Pommes essen gegangen sind? Gut, es war ’ne harte Zeit. Wir mussten kämpfen, um nicht unterzugehen. Aber das hat uns stark gemacht. Das hat uns zusammengeschweißt. Dachte ich zumindest. Bis heute. Denn heute musste ich erkennen, dass Marv, mein Bruder, mein bester Freund, zu einem spießigen, oberkorrekten Arschkriecher geworden ist, der seine Herkunft und seine Vergangenheit verleugnet, nur um vor ein paar arroganten, alten Saftsäcken gut dazustehen. Weißt du was, Mann? Du bist einfach nur erbärmlich. Du bist so rückgratlos wie ein Haufen Scheiße!“

Marvin musste sich sichtlich beherrschen, um nicht auf mich loszugehen. „Mir reicht’s jetzt mit dir“, fuhr er mich an. „Ich hab dich in meiner Wohnung aufgenommen. Ich hab dich monatelang mietfrei bei mir wohnen lassen. Ich hab dafür gesorgt, dass du den Arsch hochkriegst und dir diesen Verkäuferjob besorgst. Ich hab alles getan, um dich auf den rechten Pfad zu lenken. Aber angeblich findest du’s ja zu geil, auf die Kacke zu hauen und dein Leben zu versauen, als endlich mal was auf die Reihe zu kriegen. Wenn hier einer erbärmlich ist, dann du!“

„Den rechten Pfad? Verdammte Scheiße, Marvin, bist du jetzt katholisch oder was?“

„Fick dich, Chris!“, schrie er mich an und ich grinste provokant.

„Sehr gut, Mann. Das ist der Marvin, den ich kenne. Der, der sich nichts gefallen lässt. Der jedem Gegner die Stirn bietet. Der zeigt, wo der Hammer hängt.“

Er ballte die Fäuste, machte einen Schritt auf mich zu, bremste sich dann aber und öffnete die Hände wieder. „Ich reg mich nicht über dich auf“, verkündete er laut. „Das hab ich nicht nötig. Echt nicht! Es ist sowieso egal. Es spielt alles keine Rolle mehr.“ Er holte tief Luft, ließ sie zischend entweichen. „Du und ich“, er zeigte mit dem Finger zwischen uns hin und her, „wir sind geschiedene Leute. Wir sind keine Freunde mehr. Ich erwarte von dir, dass du, wenn ich in vier Wochen aus den Flitterwochen zurückkomme, aus der Wohnung raus bist. Wohin du gehst, ist mir scheißegal, Hauptsache, du bist weg. Und ich will ab jetzt nichts mehr mit dir zu tun haben. Kapiert? Nichts!“

Okay. So also zerbrach eine jahrelange, starke Freundschaft. Durch einen einzigen dummen Fehler machte man alles kaputt, was man sich über Jahre mühsam aufgebaut hatte ‒ Vertrauen, hart erkämpft, ein Fehler und es verpuffte. Marvin war mir so fremd. Mit einem Mal wusste ich nicht mehr, was ich je an ihm gemocht hatte. Was unsere Freundschaft ausgemacht hatte. Es spielte keine Rolle, denn es war vorbei. Wir waren Geschichte. Vergangenheit. Er war nicht länger ein Teil meines Lebens. Es tat weh, ja. So weh, dass ich schier in die Knie ging. Doch ich würde vor ihm keine Schwäche zeigen. Er war derjenige, der letztendlich alles zerstört hatte. Weil er etwas tat, was man nicht tun sollte: Er stellte die Liebe über die Freundschaft.

„Schön“, meinte ich und zuckte gespielt gleichgültig die Achseln, setzte mein Pokerface auf. Undurchschaubar. Unnahbar. „Das war’s dann also.“

„Ja.“ Marvin klang eiskalt. „Das war’s.“

Ich nickte, wandte den Blick ab, drehte mich um und ging davon. Ich erreichte die wartende Gruppe recht schnell. Lydia war nicht mehr da, nur Laura, Sophia, Luke, Edda, Amanda, Layla und ein verwirrt dreinblickender Max verharrten an Ort und Stelle.

„Chris?“, fragte Layla vorsichtig. „Ist alles okay? Du bist ganz grau im Gesicht.“

„Komm, Edda“, sagte ich, ohne auf Laylas Frage einzugehen, und griff nach der Hand meiner besten Freundin, „lass uns verschwinden. Es ist vorbei.“

Sie riss erschrocken die Augen auf. „Was? Aber, Chris ...“

„Alter, Mann ...“, stammelte Luke entsetzt.

Ich schnitt ihm das Wort ab. „Ist okay“, sagte ich ruhig, obwohl in mir alles in Aufruhr war. „Einen Freund, dem die Tussi wichtiger ist als ich, brauch ich nicht. Niemand braucht einen Verräter.“ Ich sah Luke an. „Denk mal drüber nach“, sagte ich zu ihm. „Wenn’s drauf ankommt, wird Marvin dich hängen lassen. Er scheißt ab heute auf Kumpel. Er hat jetzt andere Prioritäten.“

Luke schwieg.

Laura schnaubte. „Weißt du, Chris, ich finde, wer scharf auf die Freundin seines Kumpels ist, sollte den Ball flachhalten“, verkündete sie, warf den Kopf in den Nacken und stolzierte davon.

„Und ich finde, jemand sollte ihr den Hals umdrehen“, murmelte Edda.

Luke hatte die Zähne zusammengebissen und starrte mich durchdringend an. Sophia starrte zu Boden. „Sophia hat’s mir gesagt“, verkündete er schließlich.

„Luke ...“, setzte Layla an, doch er winkte nur harsch ab.

„Lass mich!“

„Was hat sie dir gesagt?“, fragte ich müde, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kannte.

Luke fiel es sichtlich schwer, das auszusprechen. „Dass sie mal in dich verliebt war. Am Anfang. Das ist lange her.“ Seine Augen funkelten herausfordernd, als erwartete er, dass ich ihm widersprach.

Ich tat nichts dergleichen, sondern nickte. „Ich weiß, Luke.“

„Wirklich?“ Misstrauen lag in seiner Stimme.

Super. Noch ein Freund, der mir nicht mehr über den Weg traute. Es wurden immer mehr.

„Du schreckst ja, wie wir heute gesehen haben, vor nichts zurück. Ich will, dass du uns ab heute in Ruhe lässt.“ Er legte einen Arm um Sophia, die weiterhin zu Boden sah und eisern schwieg. „Du hältst dich von mir und vor allem von Sophia fern. Ich lass nicht zu, dass du unsere Beziehung kaputt machst.“

Seit ich dich kenne ...

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