Читать книгу Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell - Страница 7
Prolog
ОглавлениеAbiturfeier, Sommer 2002
Edda: Irgendein Typ stieß mich an und um ein Haar kippte ich mir meinen Sekt über das teure orangegoldene Abendkleid, das ich unbedingt hatte haben wollen und auf das ich so lange gespart hatte.
„Hey, Idiot, pass doch auf!“, fauchte ich verärgert und drehte mich um, um zu sehen, welche Flachzange mich da so unsanft angerempelt hatte.
Ich kannte den Typen flüchtig vom Sehen, irgendein Idiot aus der Parallelklasse. Also, aus der Parallelklasse, die unsere Klasse auf den Tod nicht ausstehen konnte ‒ die verhasste 13c. Das waren alles Angeber, Rassisten oder arrogante Schnösel, die sich für was Besseres hielten und andere Leute gerne runtermachten. Mit denen hatte ich absolut nichts am Hut, zumal einige von ihnen zu meinem Leidwesen mit mir den Spanischunterricht besucht hatten.
Der hier war nicht in meinem Kurs gewesen, ich kannte ihn aber trotzdem. Sein Ruf eilte ihm voraus, er war nicht nur auf unserer Schule, sondern weit darüber hinaus an sämtlichen anderen Bildungsanstalten der Gegend berühmt-berüchtigt ‒ als Herzensbrecher, Frauenheld, arroganter Fiesling, eingebildeter Macho, Gangführer, Rebell. Wie der sein Abitur geschafft hatte, war mir schleierhaft. Vermutlich hatte er die Lehrer irgendwie bestochen, Geld genug hatte er ja. Oder besser gesagt, sein Vater hatte genug Geld. Ob er ihm das allerdings geben würde, wagte ich zu bezweifeln. Es war kein Geheimnis, dass Vater und Sohn nicht die beste Beziehung hatten. Kein Wunder, wenn man sich die Kreise ansah, in denen der Junior sich bewegte.
Christopher Waldoff, genannt Chris, nahm Drogen, trank und kiffte, schlief jede Woche mit einem anderen Mädchen, klaute, obwohl er genug Kohle hatte, um sich alles kaufen zu können, und behandelte alle außer seinen komischen Freunden von oben herab, als wären sie sein Personal. Er war ein total ätzender Kotzbrocken, zugegeben, ein ziemlich gut aussehender, aber nichtsdestotrotz ein Kotzbrocken.
„Sorry“, sagte er jetzt und musterte mich von oben bis unten. „Eh, bist du nicht so ’ne spießige Streberin aus der 13a? Einserabschluss oder was?“
„Eh ist schon mal gar nicht“, entgegnete ich angewidert und machte einen Schritt zurück, da er beim Sprechen kleine Spucketröpfchen auf mich abfeuerte. Keine Ahnung, ob das Absicht oder er schon so besoffen war, dass er das gar nicht mehr mitbekam.
Er legte den Kopf etwas schief, seine großen schokoladenbraunen Augen verharrten unverschämt lange auf meinem weit ausgeschnittenen Dekolleté und eine dunkle Stirnlocke fiel ihm in die Augen. „Ziemlich großes Mundwerk, Kleine“, merkte er an und grinste dreckig. „Wie heißt’n?“
„Das geht dich einen feuchten Dreck an“, zischte ich und machte einen weiteren Schritt nach hinten.
Er zuckte unbekümmert die Achseln. „Interessiert mich eigentlich auch nicht“, ließ er mich wissen, „ich wollte nur nett sein. Dachte, du freust dich vielleicht, wenn mal ’n Kerl mit dir redet.“
Pah! Vor Empörung schnappte ich nach Luft. Wie selbstgefällig und arrogant konnte man eigentlich sein? Als ob ich mein Leben lang darauf gewartet hätte, dass ein Arschloch wie er mich ansprach!
„Tja, weißt du, wenn der Kerl, der mich anquatscht, wenigstens einen höheren IQ als eine Banane hätte, würde ich mich vielleicht wirklich freuen“, verkündete ich mit schneidender Stimme. „Aber ich fürchte, da bin ich bei dir an der falschen Adresse.“
„Eh, du gehst mir ganz schön aufn Sack mit deiner vorlauten Klappe, Kleine“, sagte er und sah mit einem Mal echt angepisst aus. Wahrscheinlich war er total stoned.
Sicherheitshalber wich ich einen weiteren Schritt zurück, obwohl ich keine Angst vor ihm hatte. Was sollte er mir schon groß antun, schließlich waren wir von zahlreichen Menschen umringt. Alle waren bester Stimmung, in Feierlaune, und das war ja auch vollkommen logisch. Mann, wir hatten das Abi in der Tasche, alle Türen standen uns offen, eine goldene Zukunft lag vor uns, wir konnten alle Wege gehen, die wir gehen wollten. Jetzt begann das wahre Leben und ich war mehr als bereit dazu. Nicht umsonst hatte ich die vergangenen Jahre gelernt wie eine Irre, besonders in diesem Jahr hatte ich mich richtig reingehängt, um eine Eins vorm Komma zu haben. Und ich hatte es geschafft, mit einem Abischnitt von 1,4 konnte mir eigentlich nicht viel passieren.
Ich sollte glücklich sein, tanzen und Luftsprünge machen, mit meinen Freunden zusammen sein und mich endlich mal wieder betrinken, das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht. Stattdessen stritt ich mich hier mit diesem hohlen Schönling herum, es war nicht zu fassen. Was hatte der mir schon zu sagen außer vielleicht „Eh“?
Chris registrierte wohl, dass ich auf Abstand zu ihm ging, und sein Grinsen wurde breiter. „Hast wohl doch Angst gekriegt, hä? Musste aber nicht, Baby, ich schlag keine Frauen ... Obwohl man bei dir echt zweimal hinschauen muss, hm?“ Er lachte gemein, während ich zornig die Fäuste ballte.
Dieser Dreckskerl! Damit spielte er bestimmt auf meine etwas zu klein geratenen Brüste an. Mein Hintern war leider auch eher ... zierlich. Überhaupt war ich eher knochig, nicht üppig und kurvig, wie das den meisten Männern gefiel. Mein langes, von Natur aus rotes Haar trug auch nicht gerade dazu bei, mich attraktiver wirken zu lassen, genauso wenig wie meine für Rothaarige typische schneeweiße Haut und die unzähligen Sommersprossen, die meinen Körper bedeckten. Höchstens meine strahlenden blauen Augen brachten mir Punkte bei den Männern ein, ach ja, und mein Charakter. Aber auf so was achteten Typen wie Chris wohl eher nicht. Deshalb hatten schöne Frauen es immer leichter bei Männern ‒ weil Letztere besser glotzen als denken konnten.
„Hey, Chris, Baby!“
Oh nein! Verdammt, warum hatte ich mich nicht längst aus dem Staub gemacht? Jetzt hatte ich die auch noch an der Backe!
Olivia Muster, schön, sexy und blond, mit Brüsten so groß wie Wassermelonen und einem ausladenden Hintern tauchte plötzlich an Christophers Seite auf, schlang ihm einen Arm um die Taille und küsste ihn auf die Wange. „Baby, wo steckst du denn? Wir warten alle auf dich. Wir wollten doch auf diese total coole Party, weißt du nicht mehr? Von deinem Kumpel ... Simon? Du hast versprochen, mich mitzunehmen.“ Sie zog einen Schmollmund, was, zugegebenermaßen, recht niedlich aussah. Doch das täuschte, Olivia war kein Stück niedlich.
Jetzt hatte sie mich entdeckt und sofort stahl sich dieser abfällige Ausdruck auf ihr Gesicht, sie wetzte schon die Messer und bleckte die Zähne wie eine Hyäne, um auf mich loszugehen.
Leider war sie mit mir im Spanischunterricht gewesen und es hatte sie immer angekotzt, dass ich in diesem Fach so gut gewesen war, die Sprache quasi fließend sprechen konnte und in jeder Arbeit fünfzehn Punkte geschrieben hatte. „Streber“ und „Nerd“ waren noch die freundlichsten Ausdrücke gewesen, mit denen sie mich betitelt hatte. Ich nahm an, im Grunde ihres Herzens war sie einfach nur eifersüchtig, weil sie außer sehr wackeligen vier Punkten, also einer knappen Vier, nichts zustande brachte. Aber sie würde mich lynchen, wenn ich ihr das ins Gesicht sagte. Nichts hasste Olivia mehr als Leute, die in etwas besser waren als sie. Da war ich wohl ein gefundenes Fressen ...
„He, Karottenfresse, was machst du denn hier? Musst du nicht mit deinen Spießereltern auf dein supertolles Streberzeugnis anstoßen? Sie sind sicher soooo stolz auf dich!“ Olivia verstellte dabei ihre Stimme, sodass sie schrill in meinem Kopf widerhallte. Karottenfresse war übrigens ihr bevorzugter Spitzname für mich, den Namen verdankte ich meiner roten Haarpracht, die sich im Übrigen ganz fürchterlich mit der Farbe meines Abschlussballkleids biss, nur um das mal anzumerken.
„Das ist übrigens das Einzige, was du in deinem jämmerlichen Leben je erreichen wirst. Du denkst hoffentlich nicht ernsthaft, dass du was Besseres bist wegen des guten Abis? In ein paar Jahren sind das nur noch ein paar Zahlen auf einem Blatt Papier. Dann öffnen andere Dinge die Türen zu den ganz großen Posten ...“ Vielsagend reckte sie die Brust nach vorne, eine eindeutige Anspielung auf meine kaum vorhandene Oberweite. „Du wurdest als Versagerin geboren, Mädchen. Denkst du ehrlich, irgendjemand würde eine Vogelscheuche wie dich einstellen, in einer gehobenen Position? Gott, du würdest ja alle Kunden vergraulen.“
Also, das reichte jetzt wirklich! Ich schluckte die überflüssige Spucke in meinem Mund hinunter, während mein Blick zu Chris hinüberhuschte. Der starrte mich nur an, als wäre ich der Prototyp einer neuen Spezies, die Hand hatte er locker auf Olivias Hintern geparkt und in seinen Augen konnte ich lesen, dass er ihre Meinung teilte ‒ mein lächerliches Zeugnis war nichts wert, an die wirklich großen Stellen würde ich sowieso nie kommen. Olivia würde sich hochschlafen, während ich mein Einserabitur vielleicht als Putzlumpen benutzen konnte, in meinem mies bezahlten Job als Putzfrau ...
Moment mal, wo kam auf einmal dieser Gedanke her? Ich war stolz auf mein Abi und ich wusste, dass man heutzutage einen guten Abschluss brauchte, um es zu was zu bringen. Warum brachte diese Kuh mich nur immer so aus der Fassung?
Zum Glück tauchte wie immer im richtigen Moment meine beste Freundin Kim an meiner Seite auf und hakte sich bei mir unter. „Ja, Olivia, du hast recht, die Leute werden sicher von dir begeistert sein ... von deinem Liebreiz, deiner Warmherzigkeit, deiner Charakterstärke ... mein Gott, du wirst sie umhauen, Mädchen! Wen schert’s später noch, dass du sowohl in Mathe als auch in Spanisch eine absolute Niete bist, dass du der deutschen Sprache nicht mächtig bist und schlechter Englisch sprichst als meine Großmutter? Wenn du mit deinem Brauereigaularsch wackelst, wird der Chef sicher großzügig darüber hinwegsehen.“
Jawohl! Treffer, versenkt! Dankbar drückte ich Kims Arm.
Olivias Augen sprühten Funken, blanker Hass lag darin. Sie konnte Kim auf den Tod nicht ausstehen und das beruhte auf absoluter Gegenseitigkeit. Die beiden kannten sich noch aus der Grundschule und waren früher mal Freundinnen gewesen. Dann kamen sie aufs Gymnasium, in unterschiedliche Klassen und Kim und ich lernten uns kennen. Zwischen uns war es Freundschaft auf den ersten Blick. Vom ersten Moment an wusste ich, dass ich ihr bedingungslos vertrauen, ihr alles erzählen konnte, ohne dass sie sich über mich lustig machte oder sich von mir abwandte. Kim und ich waren wie zwei Puzzlestücke, die zueinandergefunden hatten. Es passte einfach. Olivia hingegen sah unsere Freundschaft als Verrat an und erklärte Kim den Krieg.
Unsere Klassen waren ebenfalls verfeindet gewesen, wir ‒ die 13a ‒ hatten uns mit der Klasse 13b gegen die 13c verbündet. Wir verabscheuten einander abgrundtief.
„Halt deine Fresse, du blöde Schlampe“, fuhr Olivia auf und presste sich so fest an Chris, dass kein Blatt mehr zwischen sie gepasst hätte.
„Oh, jetzt kommst du also mit Beleidigungen.“ Kim klang durch und durch spöttisch. „Toll! Wirklich sehr reif und sehr erwachsen.“
„Ach, und du kommst dir wohl sehr erwachsen vor, du miese kleine ...“, setzte Olivia an, doch Chris schnitt ihr mit einem lauten Räuspern das Wort ab.
„Eh, Babe“, sagte er mit schleppender Stimme, „ich hab voll keinen Bock jetzt auf ’nen Zickenkrieg, okay? So Weiberstreit ist doch scheiße. Außerdem ist’s mir echt zu blöd, hier noch länger rumzugammeln. Wir wollten doch zu Simon, oder?“
„Ja, richtig.“ Olivia nickte zögernd und funkelte uns ein letztes Mal böse an, ehe sie sich von Chris fortziehen ließ. „Keine Ahnung, warum ich mich überhaupt mit solchen Losern abgebe.“
Als die beiden in der Menge verschwunden waren, atmete ich erleichtert auf. Kim umarmte mich fest und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
„Alles klar?“, fragte sie und ich nickte zögernd.
„Ja, sicher, alles bestens. Danke für die Rettung, Kimmi.“
„Gern geschehen.“ Sie grinste breit. „Du weißt doch, wie gerne ich die blöde Kuh unangespitzt in den Boden ramme. Wo warst du eigentlich so lange, wir wollten doch anstoßen.“
„Ja“, ich hob mein volles Glas hoch, „richtig. Ich war noch eben auf der Toilette, bevor ich mir diesen Sekt hier besorgt habe, und dann bin ich leider mit diesem Chris zusammengestoßen, später kam noch die Kuh dazu ...“
„Ach, was soll’s.“ Kim winkte ab. „Die Hauptsache ist doch, dass ich dich gefunden hab. Timo dachte schon, du bist verschollen.“
Ich lächelte kurz beim Gedanken an Timo, meinen Freund. Ja, ich hatte wahrhaftig einen echten, richtigen Freund trotz roter Haare und wenig Oberweite. „Was sagst du jetzt, Olivia?“, triumphierte ich in Gedanken.
Wir hatten sogar schon miteinander geschlafen, vor etwa neun Monaten hatte ich meine Jungfräulichkeit an ihn verloren. Meine Ohren begannen zu glühen beim Gedanken daran. Besser, ich schob ihn weit von mir, ehe ich mich vor den Augen aller noch in eine überreife Tomate verwandelte.
„Deine Eltern sind entzückt, weil es in deinem Zeugnis von Einsern nur so wimmelt, und sie unterhalten sich gerade mit Herrn Feist über deine grandiose Zukunft.“
„Oh nein.“ Ich verdrehte die Augen und nahm erst mal einen großen Schluck Sekt.
Herr Feist war unser Klassenlehrer und er hörte sich gerne selbst reden. Stundenlang, ohne Unterbrechung. Wahrscheinlich flüsterte er meinen Eltern gerade ein, dass ich Medizin studieren sollte oder Jura ... Dass ich erst mal gar nicht studieren, sondern für ein Jahr herumreisen wollte, konnte er absolut nicht verstehen.
„Los, komm, Süße.“ Kim hakte sich bei mir unter. „Der Feist kaut deinen Eltern sicher gerade ein Ohr ab. Und Timo verzehrt sich vor Sehnsucht nach dir, also lass uns gehen.“
„Ja“, dachte ich, während ich mich in Bewegung setzte. „Auf geht’s zu meinen geliebten Eltern, meinem wunderbaren Freund, meinem liebenswerten Klassen- und Mathelehrer und meinem Einserabitur, das mir den Weg ins weitere Leben ebnen wird.“
***
Chris: „Na ja, es ist noch nicht völlig Hopfen und Malz verloren.“ Frau Rabenstein fuchtelte fahrig mit den Händen in der Luft herum, sie hatte wohl schon einen kleinen Schwips und war nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne. Was sie meinem Vater da
verzapfte, war jedenfalls totaler Bullshit.
Papa umklammerte sein Sektglas so fest, als würde sein Leben davon abhängen, und klebte förmlich mit den Augen an Frau Rabensteins Lippen. Olivia und ich tauschten einen entnervten Blick. Ich kippte mein nunmehr fünftes Glas Sekt und sehnte mich nach etwas Stärkerem. Wodka wäre super ... Eigentlich hatte ich diese stinklangweilige Sause längst verlassen und auf eine richtige Party gehen wollen. Bei Simon wartete nicht nur Wodka, sondern auch eine Wasserpfeife auf mich und bestimmt gab es auch einen Joint.
„Ich sehe bei Ihrem Sohn durchaus Potenzial“, ließ Frau Rabenstein gütig verlauten und betrachtete mich dabei voller Mitleid und Hoffnung, als wäre ich ein Versager, bei dem jedoch vielleicht, wirklich nur vielleicht, eine Wendung zum Besseren möglich war.
Keine Ahnung, warum sie sich so aufführte, mein Zeugnis war okay. Gut, ein Schnitt von 3,7 war jetzt nicht besonders berauschend, aber meine Güte, ich war 19. Herrgott, ich wusste gar nicht, warum mein Alter sich so aufregte. Die Schule war beendet und damit war ich eh weg von ihm. Erst mal würde ich versuchen herauszufinden, wo meine Mutter inzwischen lebte, und dann würde ich ihr einen Besuch abstatten. Ansonsten hatte ich vor, mein Leben zu genießen, durch die Gegend zu ziehen und alles einfach passieren zu lassen. Ich stellte mir den Rest meines Lebens unglaublich locker und geil vor. Nie wieder pauken für irgendwelche Abschlussprüfungen, nie wieder Vorträge vor einer gelangweilt dreinblickenden Klasse halten, nie wieder Vokabeln lernen ... Ich hatte es tatsächlich geschafft, den höchsten Schulabschluss, den es in Deutschland zu erreichen gab, erfolgreich zu bestehen. Das war doch mal eine Leistung! Wen kümmerte es schon, dass ich nur eine einzige Eins im Zeugnis hatte, und zwar in Sport? Wie Olivia vorhin schon zu der komischen Rothaarigen mit den grandiosen blauen Augen gesagt hatte: Wer interessierte sich in ein paar Jahren noch fürs Abitur? Da zählten andere Qualitäten.
Ich sah mir Olivia genauer an und spürte, wie ich hart wurde. Sie war wirklich unglaublich sexy, am liebsten würde ich sie hier an Ort und Stelle flachlegen ...
Kurz überlegte ich, wie mein Vater und meine Klassenlehrerin wohl darauf reagieren würden, wenn wir hier in aller Öffentlichkeit einen Quickie hinlegten.
Frau Rabenstein würde wahrscheinlich einen Schreikrampf kriegen und in Ohnmacht fallen, mein Vater würde mich zusammenschlagen und mich die nächsten sechs Wochen, also die ganzen Sommerferien, nicht aus dem Haus lassen. Das jedenfalls hatte er letztes Jahr getan, als ich durchs Abi gerasselt war und wiederholen musste. Ich hatte es damals an seinen Augen abgelesen, am liebsten hätte er mich umgebracht. Auch jetzt wirkte er alles andere als glücklich und zufrieden damit, dass sein einziger Sohn das Abitur bestanden hatte, aber ich war es ja gewohnt, dass er enttäuscht von mir war. In seinen Augen war ich eben ein kompletter Versager, eine Null, eine Niete, zu nichts zu gebrauchen, einer, der ihm auf der Tasche saß, ihm sämtliche Nerven raubte und graue Haare bescherte. Dass er in meinen Augen ebenfalls ein Nichts war, weil er außer seinem Geld und seinem geliebten Job absolut nichts hatte ‒ keine Frau, keine Liebe, keine Freunde, gar nichts ‒, sagte ich ihm lieber nicht. Was hätte das auch gebracht?
„Es ist mir unbegreiflich, wie es so weit kommen konnte“, bellte mein Vater jetzt und umklammerte sein Glas so fest, dass es zu zerspringen drohte.
Die Lautstärke und Aggressivität in seiner Stimme ließen Frau Rabenstein erschrocken zusammenfahren. Sie machte einen Satz nach hinten, verschränkte schützend die Arme vor der Brust und musste sich sichtbar zwingen, nicht die Flucht zu ergreifen. Ich an ihrer Stelle hätte es getan. Ich an ihrer Stelle wäre längst auf und davon.
„Ich meine, er ist letztes Jahr schon durchs Abitur gerasselt und jetzt sehen Sie sich diesen Mist doch mal an!“ Er hielt meiner Klassenlehrerin auffordernd mein Zeugnis hin, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf.
„Nicht nötig, ich habe es schließlich unterschrieben, Herr Waldoff, ich kenne die Noten Ihres Sohnes.“ Sie bemühte sich weiterhin um einen ruhigen Tonfall und warf mir einen raschen Blick zu.
Ich schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln, sie sollte sich nichts daraus machen. Mein Vater brüllte mich immer an, dass mir fast die Ohren wegflogen, und seine Angestellten hatten panische Angst vor ihm, denn er war ein Choleriker, der mit Tischen und Stühlen schmiss, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Kein Wunder, dass meine Mutter vor Jahren das Weite gesucht hatte. Ich wünschte nur, sie hätte mich mitgenommen. Das hätte mein Leben leichter gemacht. Viel leichter.
„Ach, ist ja toll, dass Sie Bescheid wissen. Hätten Sie mich nicht früher informieren können, dass mein Herr Sohn sich schon wieder einen faulen Lenz macht und total versagt?
Dann wäre ich eingeschritten, hätte etwas unternommen. Ich hätte ihm schon beigebracht, wie man sich hinsetzt und lernt.“ Seine Augen sprühten Funken, er schrie mittlerweile fast und einige Leute starrten zu uns herüber. Olivia hatte den Blick abgewandt, war etwas von mir abgerückt, sah unbeteiligt umher und tat, als gehöre sie nicht zu mir, was sie leider prompt um einiges unattraktiver machte. Wenn ich ein Mädchen an meiner Seite hatte, musste es auch zu mir stehen, und zwar bedingungslos. Auch wenn mein Vater mich bloßstellte, indem er in die Welt hinausbrüllte, wie dumm ich doch sei, dass ich absolut nichts könne und vermutlich mal in der Gosse landen würde. Das Mädchen, das mit mir zusammen sein wollte, musste das aushalten. Leider hatte ich noch nie eines getroffen, das das konnte.
Lars Steiger aus meiner Klasse grinste mich provokant an. Er stand einige Meter von mir entfernt, hatte den Arm um seine Freundin Melanie gelegt, die hässlich war wie die Nacht und in scheinbar unbeobachteten Momenten in der Nase bohrte, und genoss die ganze Szene sichtlich ‒ mein Vater als Stier, dem schon fast Rauch aus den Ohren quoll, und meine hilflose Klassenlehrerin, die verzweifelt versuchte, irgendwie aus dieser Nummer rauszukommen. Er grinste hämisch und ich zeigte ihm den Mittelfinger. Gott, wie sehr ich diesen Typen hasste! Um genau zu sein, konnte ich, mal abgesehen von Olivia, keinen aus der Klasse leiden. Sie waren alle so was von abgehoben, hielten sich für was Besseres. Gut, das tat ich auch, aber ich WAR schließlich auch cool. Diese Witzfiguren hingegen waren eigentlich arme Würstchen, die ihre Dummheit und Nutzlosigkeit hinter arroganten Mienen und herablassenden Sprüchen zu verbergen suchten.
Während Lars mich blöd angrinste und ich dem Drang, hinzurennen und ihm kräftig eine zu ballern, nur mühsam widerstand, dachte ich daran, wie er mir zu Anfang des Schuljahrs in den Arsch gekrochen war und um meine Aufmerksamkeit gebuhlt hatte. Er hatte schließlich schon von mir gehört gehabt. Ich hatte den Ruf eines Mädchenschwarms und Herzensbrechers und natürlich den des coolsten Jungen der Stadt. Er wollte einen Teil meines Ruhmes abhaben und biederte sich auf absolut widerliche Weise an. Aber selbstverständlich hatte er keinen Erfolg damit. Niemand brauchte eine solche Witzfigur als Freund.
„Herr Waldoff, Ihr Sohn ist 19“, zischte Frau Rabenstein, die nun ebenfalls wütend wurde.
Oh Mann, der Abend lief echt aus dem Ruder, eigentlich wollte ich längst bei Simon sein, ein bisschen trinken, Joints rauchen und feiern, dass ich nie wieder dieses verhasste Schulgebäude betreten und meine ätzenden Mitschüler wiedersehen musste. Stattdessen stand ich immer noch hier auf dem Schulhof rum und alle gafften mich an, als hätte ich zwei Köpfe.
„Es ist nicht mehr unsere Pflicht, die Eltern zu informieren, schließlich geht es Sie eigentlich nichts mehr an. Sie sind nicht mehr erziehungsberechtigt, Herr Waldoff, Ihr Sohn ist volljährig und damit vor dem Gesetz erwachsen. Welche Noten er schreibt, hat Sie also nicht zu interessieren.“
Genau! Geben Sie’s ihm, Rabenstein!
Mein Vater sah aus, als würde er gleich explodieren. „Es interessiert mich aber, verdammt noch mal!“ Sein Gesicht lief knallrot an, er sah aus wie eine überreife Tomate. „Solange er die Beine unter meinem Tisch ausstreckt und auf meine Kosten lebt, bin ich verdammt noch mal darüber zu informieren, was dieser Nichtsnutz in der Schule leistet. Wo kommen wir denn dahin?“ Das Glas in seiner Hand zerbarst nun tatsächlich, Scherben bedeckten den Boden, Sekt spritzte umher, entsetztes Kreischen aus dem Publikum wurde laut.
Olivia wünschte sich sichtlich, sich in Luft aufzulösen, und starrte so gebannt in die Ferne, als gäbe es dort was Spektakuläreres zu sehen als das, was sich hier direkt vor ihrer Nase abspielte. Mein Vater wischte seine Hand an der schwarzen Samthose ab und bedachte erst meine Lehrerin, dann mich mit einem abfälligen Blick. „Das ist doch ein abgekartetes Spiel hier“, knurrte er, ehe er auf mich losging. „Denkst du vielleicht, ich zahl ewig für dich? Dass ich nur arbeite, um dir ein Leben im Luxus zu finanzieren, damit du dir Drogen, Alkohol und irgendwelche Nutten leisten kannst?“
Empörtes Luftschnappen war beim Publikum zu vernehmen, Eltern und Abiturienten wirkten gleichermaßen bestürzt und hielten den jüngeren Geschwistern beziehungsweise Kindern schnell die Ohren zu oder drängten sie weiter. Olivia war leichenblass geworden, drehte sich um und lief davon. Super! Ganz toll. Ich hätte zu gerne mit ihr geschlafen, ganz ehrlich, sie war heiß. Auch wenn sie offensichtlich treulos war und nicht wirklich an mir interessiert. Aber das kannte ich ja schon. Die meisten Mädchen wollten nur meinen Körper. Mein Vater stand jetzt direkt vor mir und rammte mir schmerzhaft seinen Finger gegen die Brust. „Vergiss es, Freundchen! Du gehst arbeiten, das schwöre ich dir, und wenn du in einer Frittenbude stehst. Dann siehst du vielleicht endlich mal, dass das Geld nicht auf Bäumen wächst und man was dafür tun muss, wenn man im Leben Erfolg haben will.“
„Ihr Sohn wird seinen Weg gehen“, meldete Frau Rabenstein sich ein letztes Mal zu Wort, „da bin ich mir sicher. Christopher, ich wünsche dir für deine Zukunft alles erdenklich Gute.“
„Danke, Frau Rabenstein“, sagte ich tonlos.
Sie lächelte mir aufmunternd zu, ehe sie mit fester Stimme zu meinem Vater sagte: „Ich muss jetzt weiter, andere Eltern wollen mich auch noch beschimpfen. Schönen Abend noch.“ Damit stöckelte sie davon, so schnell ihre High Heels sie trugen. Ich sah ihr nach, bis sie im Gedränge verschwunden war. Nette Frau ...
„Das gibt’s doch nicht.“ Mein Vater schüttelte fassungslos den Kopf. „So was von inkompetent und unprofessionell. Oder hast du mit der auch gevögelt, hä? Weil sie dich jetzt so in Schutz nimmt?“ Mein Vater rammte mir wieder den Finger gegen das Brustbein und ich hatte die Schnauze voll. Ich hatte es nicht nötig, mich hier zum Gespött machen zu lassen, und ich hatte es längst nicht mehr nötig, mich von ihm anschreien zu lassen.
„Nein, ich hab nicht mit ihr geschlafen“, sagte ich ruhig und trat zurück. „Frau Rabenstein ist einfach nur ’ne gute Lehrerin, der ihre Schüler am Herzen liegen. Und ich geh jetzt, ich hab keinen Bock mehr, mich hier mit dir zu streiten.“
„Ach!“ Er lachte freudlos. „Das ist wieder typisch, wenn’s schwierig wird, haust du ab. Das hast du von deiner Mutter. Kein bisschen Kampfgeist, kein Biss. Oh, Junge, was soll nur aus dir werden?“ Er raufte sich das Haar.
„Mir egal, was aus mir wird“, sagte ich laut, „solange ich nur nie so werde wie du.“
Wir sahen uns in die Augen, minutenlang. Es fühlte sich an wie Stunden.
Dann zuckte mein Vater die Achseln und ließ mein Abiturzeugnis zu Boden fallen. „Also schön“, sagte er gefährlich leise, „jetzt reicht’s. Ich hab genug von dir und deinem frechen Maul. Dann schlag dich doch allein durch und schau, wie du zurechtkommst, mir ist es von jetzt an egal. Ich will dich in meinem Haus nicht mehr sehen, ist das klar?“
„Glasklar“, sagte ich ungerührt. „Ich hatte auch nicht vor, noch mal nach Hause zu kommen.“
„Dann ist’s ja gut.“ Hämisch guckte er auf das Zeugnis zu unseren Füßen. „Mit diesem Wisch wirst du es nirgendwohin schaffen, Junge, das garantiere ich dir.“ Damit drehte er sich um und ging.
Ich war frei. Ich war wirklich und wahrhaftig frei. Er dachte, er hätte mich rausgeschmissen, aber so war es nicht. Ich war freiwillig gegangen. Ich hatte mich endlich, endlich von ihm gelöst und war von den Ketten befreit ‒ nach neunzehn langen Jahren!
Mit einem Mal fühlte ich mich richtig gut. Mein neues Leben begann genau jetzt in diesem Augenblick und es fühlte sich absolut genial an. Ich bückte mich, hob mein Zeugnis auf, stellte mein Sektglas auf einen der kleinen Beistelltische, ignorierte die Gaffer und die spitzen Bemerkungen einiger Klassenkameraden, wandte all dem den Rücken zu und lief los, hinein in mein perfektes neues Leben in Freiheit. Das Gefühl war absolut prickelnd und berauschend. Ich fühlte mich großartig und freute mich auf einen Abend mit meinen Jungs. Vielleicht würde ich ja dort ein hübsches Mädchen finden. Simon hatte viele Kontakte zu bezaubernden Damen, er arbeitete nicht umsonst in einem Stripclub ... vielleicht konnte ich auch dort anfangen. Das wäre ja wohl der geilste Job aller Zeiten! „Hey, Chris.“ Nur widerwillig löste ich mich von meinen schmutzigen Fantasien und lenkte den Blick auf das Mädchen, das da auf der Mauer saß und mit den Beinen baumelte. Ihr kurzes pinkfarbenes Kleidchen war hochgerutscht und legte glatte, seidig weiche, makellose Haut frei. Sie leckte sich verführerisch über die Lippen, in ihren braunen Augen lag ein feuriges Leuchten und mir wurde ganz heiß.
„Olivia“, sagte ich mit rauer Stimme, während ich zu ihr hinüberschlenderte, bemüht, locker zu wirken und nicht so, als würde mir vor Erregung gleich der Reißverschluss explodieren. Sie lächelte mich an, entblößte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. „Ich dachte schon, du wärst weg“, sagte ich und klang dabei erstaunlich gleichgültig.
Sie streckte die Arme nach mir aus und ich legte meine nur zu gern um sie. „Du Dummer“, flüsterte sie, während sie ihre Hände in meinem Haar vergrub. „Ich habe hier auf dich gewartet. Ich würde nie einfach so verschwinden, Chris. Du weißt doch, wie sehr ich dich mag, nicht wahr?“
„Ich bin mir nicht sicher ...“ Langsam strich ich mit den Fingerspitzen über ihren nackten Oberschenkel und spürte, wie sie erschauerte. „Zeig’s mir“, flüsterte ich und ließ meine Hand höhergleiten.
Bereitwillig spreizte sie die Beine, warf die Arme um meinen Hals und küsste mich gierig, nass und leidenschaftlich. Ich erwiderte ihren Kuss, während ich meine Hand zwischen ihre Beine gleiten ließ. Ich schob ihr Höschen beiseite, legte die Hand auf sie. Olivia stöhnte und keuchte. Ich spürte, wie feucht sie war, und merkte, wie sich in meiner Hose etwas bewegte. Oh ja, sie wollte mich, sie war verrückt nach mir!
Ich zog die Hand zurück, da ich sonst die Kontrolle verlieren würde, fasste sie stattdessen fest an den Oberschenkeln und zog sie von der Mauer. Sie schlang die Beine um meine Taille, ich legte die Hände auf ihren Hintern, knetete und massierte ihn und verlor mich ganz in diesem heißen Kuss.
Nach einer halben Ewigkeit ließen wir atemlos und berauscht voneinander ab. „Wow!“, flüsterte sie.
„Ja, wow“, dachte ich, während ich erst jetzt registrierte, dass sie wirklich ziemlich nass küsste ‒ meine Lippen waren völlig versabbert. So unauffällig wie möglich wischte ich mir über den Mund und griff nach ihrer Hand. „Nachdem wir geklärt haben, wie sehr wir uns mögen“, ich grinste ihr zu, „können wir ja jetzt auf Simons Party gehen. Was hältst du davon?“
Sie war begeistert. Gutes Mädchen!