Читать книгу Über weißblaue Wiesen - J.C. Caissen - Страница 6

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Inga mit ihren mittlerweile siebzehn Jahren hatte ganz andere Interessen. Sie tuschelte ständig mit ihren Freundinnen und besuchte die Cafés in der Stadt, doch abends nahm sie sich auch oft Zeit für ihren kleinen Bruder André. Sie las ihm dann Geschichten vor, denen er immer gern mit verträumten Augen zuhörte. Bernhard war leider nur noch selten daheim. Er hatte bereits sein Abitur gemacht und wohnte während der Woche in der Kaserne in Vaasa und leistete dort seinen Wehrdienst ab. Die Grundausbildung in der Granatwerferkompanie absolvierte er nur widerwillig. Gottseidank konnte ihm sein Cousin sogleich eine Stabsstelle vermitteln. Und schön, daß sein Gesuch, in seiner Heimatstadt Vaasa dienen zu dürfen, Gehör gefunden hatte. So konnte er zumindest an den Wochenenden daheim sein.

André liebte die Stunden vor dem Radio, die wenigen, die der Vater mit ihm zusammen verbringen konnte. Gemeinsam begeisterten sie sich für Skilanglauf, Skispringen, Eishockey und Eisschnelllauf. Da ereiferten sie sich gemeinsam mit dem Radiosprecher und feuerten ihren Favoriten an. „Mensch, so schnell wie Juhani Järvinen möchte ich auch mal laufen können.“ André lachte seinen Vater begeistert und mit strahlenden Augen an. „Na, dann mußt du dir zu Weihnachten wohl erst einmal ein Paar Schnelllauf-Schlittschuhe wünschen“.

Vater Ingvar konnte der Familie nur wenig seiner Zeit opfern. Nach dem Krieg baute er seine erste eigene Firma auf. Das Leben als Bauer in Pörtom, zusammen mit der Mutter und seinen beiden Schwestern, hatte sich nicht so gestaltet, wie er sich das vorgestellt hatte. Kurzerhand verließ er mit Maria das soeben erbaute Haus in Pörtom wieder und benutzte dieses nur noch als Sommerstelle. Sie suchten sich in Vaasa eine Wohnung, und Ingvar baute auf seine Ausbildung zum Automechaniker. Er erwarb ein erstes Fahrzeug und eröffnete eine Buslinie zwischen Vaasa und Pörtom. Die eine Hälfte seines Busses war für Reisende reserviert. Die hintere, ebenfalls überdachte Hälfte war überwiegend Warentransporten vorbehalten. Ganz praktisch war, daß auch dieser Teil für Passagiere genutzt werden konnte, wenn noch genügend Platz vorhanden war. Seitlich am Bus gab es damals noch einen großen rauchenden Gasgenerator. Es wurde Holz verfeuert und das entstehende Gas als Treibstoff zum Motor geleitet. Ganz schön aufregend damals. Eine Ofenladung reichte gerade mal für eine Tour Vaasa - Pörtom, dann mußte Vater Ingvar wieder nachfeuern.

Später fuhr er Warenlieferungen mit einem Lastwagen. Eine wichtige Linie war Vaasa – Helsinki. Dabei transportierte er Drucksachen einer Druckerei in Vaasa nach Helsinki, auf dem Rückweg bestand die Last meistens aus Früchten und anderen Lebensmitteln.

Die Geschäfte liefen gut, und an Aufträgen mangelte es nicht. Mutter Maria unterstützte ihren Mann. Allein schaffte er es nicht, sich auch noch um die Buchführung und die Rechnungen zu kümmern. Maria war keine gelernte Buchhalterin, aber mit ein bisschen gutem Willen und Bernhards anfänglicher Unterstützung bekam sie das einigermaßen in den Griff. Wenn Ingvar dann abends von seiner langen Tour heimkam, lagen die Kinder oft schon in ihren Betten und schliefen.


Morgens freute sich André jedesmal, wenn der Vater abends wieder mal eine ganze Stiege Apfelsinen und Äpfel mitbringen konnte. Von Pörtom bekamen sie auch immer Äpfel, aber diese Äpfel hier waren etwas ganz besonderes. Dicke, rote, blanke Äpfel, wie es sie auf dem Land selten gab.

Für heute war Inga fertig mit ihren Hausaufgaben und klappte mit Schwung das Heft zu. „Ich bin das so leid mit diesen blöden Rechenaufgaben. Gottseidank dauert es ja nicht mehr lange, dann kann ich endlich meinen Traum erfüllen und die Ausbildung zur Kindergärtnerin machen.“ André wurde plötzlich traurig. „Ich finde das richtig gemein, daß du mich einfach im Stich läßt. Dann ist hier zu Hause ja gar nichts mehr los. An mich denkst du überhaupt nicht.“ Er wußte bereits, daß seine Schwester sich in einer Schule in Dänemark angemeldet hatte. Es war wesentlich einfacher, dort einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Dänemark, so weit weg. Inga hatte es ihm auf der Landkarte gezeigt. „Ach Nante“, so nannte sie André oft, wenn sie besonders liebevoll sein wollte, die große Schwester, „sei doch nicht so traurig. Spätestens in den Sommerferien bin ich ja schon wieder da und dann toben wir in Pörtom wieder über unsere Wiesen, melken zusammen die Kühe, sammeln die Eier von den Hühnern ein und liegen im Heu. So, wie wir das immer tun. Dann erzähle ich dir alles, was ich bis dahin erlebt habe. Du wirst sehen, die Zeit vergeht schnell, dann bin ich schon wieder hier bei euch.“

Ach ja, Pörtom. André wollte eigentlich am liebsten immer nur dort sein. Oma, Tante Hella und Tante Erna mochte er besonders gern. Sie hatten immer Zeit, wenn er in den Ferien oder an den Wochenenden bei ihnen wohnte.


Ingvar und Marias Haus mit den Scheunen


Eingang zu Ingvars und Marias Haus


„Mama, weißt du noch, als Oma so geschimpft hat? Da bin ich doch mit Tante Hella Waffeln essen gegangen, rüber zu Tante Aina. Oma ist dann später nachgekommen und hat mit Tante Hella geschimpft, weil es schon so spät am Abend war und ich eigentlich schon im Bett sein sollte. Tante Hella hat mir nur zugezwinkert und mich verschmitzt angelacht. Aber dann mußten wir doch schnell nach Hause gehen.“ Maria nickte und lächelte. „Ja, das hast du mir erzählt. Und dein extra Abendbrot lag dir ganz schön schwer im Magen“. André lachte.

In Pörtom war es einfach herrlich. Immer gab es etwas zu tun. Nie war es langweilig. Und dann waren da auch die Freunde Axel, Johan und Krister, Andrés Sommerfreunde, mit denen er so manches ausheckte. Gemeinsam bauten sie Buden aus Birken- und Weidenzweigen. Den Duft der frischen Blätter hatte André noch immer in der Nase. Er dachte mit verträumten Augen zurück an den letzten Sommer und vergaß darüber, daß er eigentlich traurig war, weil Inga bald nach Dänemark ziehen würde. „Inga, weißt du noch, wie warm es im letzten Sommer war? Axel und ich haben doch da einen Damm im Bach gebaut. Dann haben wir uns die Sachen ausgezogen und sind rein gesprungen“. Auf der großen Wiese hinter der Scheune schlängelte sich ein kleiner Bach, in dem sich schon mal einzelne kleine Fische tummelten. Und tatsächlich hatte André eines schönen Tages einen kleinen Hecht an der Angel. Der hatte einen langen Weg hinter sich, denn der Fluss, aus dem er sich wohl hierher verirrt hatte, war mehrere Kilometer weit entfernt. Tante Hella hatte ihn für ihn ausgenommen. André konnte das noch nicht, schaute aber genau zu. Später wollte er das ganz allein machen. Dann briet sie den Fisch in der Pfanne. Mehr als einen Happen für jeden war es wohl nicht, aber er schmeckte fantastisch, der selbst gefangene Fisch.

„Ja, natürlich weiß ich das noch sehr genau mit dem Bach, denn ihr habt so laut gelacht und geschrien, daß ich rüber gelaufen bin zu euch und dann habt ihr mich total nass gespritzt und mein Kleid war übersät mit Schlammflecken. Ja, wie kann ich das vergessen. Mama hat mit mir geschimpft, obwohl es nur eure Schuld war.“ Maria beobachtete ihre Kinder, die am Küchentisch saßen und fast durcheinander redeten.

„Ja, daran erinnere ich mich auch noch. Aber weißt du auch noch,André, wie unsere Rosa dir beinahe davongelaufen wäre?“ André brauchte nicht lange nachzudenken. Er sah sofort die Bilder vor sich. Anfänglich trieb er immer zusammen mit Tante Hella die Kühe von der Wiese in den Stall. Aber irgendwann konnte er das schon allein. Er war mächtig stolz. Er hatte einen Stecken in der Hand, den er aber nur ungern anwendete. Er liebte die Kühe, jede einzelne. Es war auch überhaupt nicht nötig, den Stecken zu benutzen, denn die Kühe mochten André und wußten genau, daß sie daheim gemolken wurden, und so stapften sie hintereinander her den matschigen Trampelpfad von der Weide zum Stall entlang. Die Hufen im Schlamm gaben dabei quatschende Laute von sich. Aber eines Tages verirrte sich Rosa, seine Lieblingskuh, auf die andere Seite des Weidezauns. André bekam sofort Angst, die Kuh könne vielleicht doch auf die stark befahrene Straße laufen und er rannte verzweifelt um die Kuh herum und fuchtelte mit den Armen und seinem Stecken. Rosa war ziemlich verwundert, trottete dann aber ganz gemütlich wieder zur anderen Seite und beeilte sich, hinter den anderen Kühen her zu kommen.


Ja, damals saß der Schreck André in den Gliedern. Tante Hella fand das aber gar nicht so aufregend. Was man so alles als kleiner Kerl erleben konnte. Ja, es war einfach wunderbar in Pörtom.

Über weißblaue Wiesen

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