Читать книгу Über weißblaue Wiesen - J.C. Caissen - Страница 7

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André wollte die verbleibende Zeit mit Inga nutzen. Einige Monate noch, dann würde sie in Dänemark wohnen und nur noch in den Ferien mit ihm zusammen sein können. Und wer weiß, ob sie sich dann nicht sogar lieber mit ihren Freundinnen treffen würde und überhaupt keine Zeit mehr für ihn hatte. André fand, daß sie eine richtig nette Schwester war. Håkan hatte keine Schwester, nur Brüder, und gleich zwei Stück. Sie waren älter als er und so manches mal hatten sie ihn herumgestoßen und geärgert. Martin, der Mittlere, ließ sich immer neue Dummheiten und Lügen einfallen.

André und Håkan kamen gerade mit ihren Fahrrädern um die Straßenecke gebogen, als ein Polizeiauto langsam hinter ihnen her fuhr. „André, tritt schneller in die Pedalen, die Polizei ist hinter uns her.“ André dreht sich um, und tatsächlich kroch das schwarze Polizeiauto fast hinter ihnen her. Was hatte Håkans Bruder, Martin noch gesagt? Die Polizei nimmt einsame Jungen, ohne Eltern, in Gewahrsam. „Mist, jetzt sind wir dran.“ André fuhr jetzt im Stehen und trampelte hinter Håkan her, der jetzt in einen kleineren Weg einschlug. Am Waldrand schmissen sie unachtsam ihre Räder in die Büsche und sprangen keuchend durch die dichten Baumgruppen. Klopfenden Herzens hockten sie sich unter eine Tanne und lugten durch die Zweige und warteten. Nichts geschah. Lange und ängstlich saßen sie da. Was hatten sie denn eigentlich angestellt? Eigentlich gar nichts. Als nach einer halben Stunde immer noch nichts passiert war, krochen sie langsam wieder aus dem Wald heraus, zu den Büschen hin, nahmen ihre Fahrräder und fuhren heim. André hatte sich am Himbeerbusch das nackte Bein aufgerissen. Eine lange Blutspur klebte vertrocknet an seinem Schienenbein.

Håkan öffnete unten im Haus die Wohnungstür. André sprang die Treppen nach oben und stürmte in die Wohnung. Inga saß auf dem Küchensofa und las in einem Buch. „Wo ist Mama?“ „Die ist eben mal zum Fleischer gegangen, kommt wohl gleich wieder.“ André fläzte sich neben seine Schwester und kuschelte sich an sie. „Mensch haben wir eben Glück gehabt. Die Polizei war hinter uns her.“ „Wieso, was habt ihr denn ausgefressen?“ „Ich weiß nicht, eigentlich gar nichts, aber Martin hat gesagt, daß die Polizei kleine Jungen jagt, die allein auf der Straße herumlaufen.“ Inga mußte laut lachen. „So ein Blödsinn. Und das habt ihr geglaubt?“ Inga lachte wieder und wuschelte André durchs Haar. „Ja, wenn der das doch sagt“. „Der spinnt. Der will sich immer nur wichtig tun. Kein Polizist tut kleinen Jungen was. - Mensch, du blutest ja.“ Inga fuhr mit dem Spuckefinger über die Kratzer an Andrés Bein. „Ach, das ist nichts Schlimmes. Ich bin nur durch die Himbeerbüsche gesprungen.“ André war plötzlich wieder so froh, eine große Schwester zu haben.

Sie holte einen nassen Waschlappen und wusch André das Bein sauber.

„Erzählst du mir was? Irgendwas von früher?“ „Ja, da muß ich erst einmal nachdenken.“ Inga lehnte sich in die Kissen und warf nachdenklich die Unterlippe auf. „Ach, ja, da fällt mir gerade etwas Lustiges ein. Na ja, so lustig war es vielleicht auch wieder nicht. Weiß nicht, ob Bernhard das so lustig findet.“ „Erzähl“. André zog die Beine an und stellte die Füße vor sich auf die Küchenbank. Seine Augen hingen an Ingas Lippen. Er liebte es, seiner großen Schwester zuzuhören.

„Früher, als Bernhard und ich noch im selben Bus zur Schule in die Stadt fuhren, stieg eines Tages erst ich ein, und dann kam Bernhard hinter mir. Ich setzte mich in eine Zweierbank und rutschte auf den Fensterplatz. Dann kam Bernhard. Der setzte sich aber nicht auf den freien Platz neben mich, sondern ging einfach weiter. Ich war total verwundert und rief hinter ihm her 'Hej, hier sitze ich doch'. Und weißt du, was er macht? - Er geht einfach weiter, dreht sich nicht einmal um zu mir, läßt mich einfach dort sitzen und wirft sich in die letzte Bank im Bus. Ich dachte, ich spinne, konnte aber nichts mehr sagen, denn gerade da kam ein dicker Mann durch den Gang und quälte sich in den freien Sitz neben mich. Du liebe Güte, der ließ mir kaum Platz. Und komisch gerochen hat er auch.“ „Ja und? Wie ging es weiter?“

„Ja, nix. Ich habe ihn natürlich später gefragt 'Was sollte das denn?' aber er hat nur verschämt auf den Boden geguckt und gemeint, er wollte nicht, daß die anderen meinen, ich sei seine Freundin.“ „Was? Bernhard und verschämt? Der tut doch immer so selbstsicher. - Ich wäre jedenfalls froh, wenn ich so eine tolle Freundin wie dich hätte.“ André schob seinen Arm durch Ingas Armbeuge und kuschelte sich an sie.

„Inga, beeil dich. Wir müssen fahren.“ Maria stand im Hausflur und trieb ihre Tochter an. Heute sollte sie nach Dänemark fahren, um dort dann die Kindergärtnerinnenschule zu besuchen. „Gleich, ich packe nur noch meine Brote ein.“ Maria hatte einiges für Ingas Reise vorbereitet. Die Fahrt würde lange dauern. Von Vaasa ging es zunächst mit dem Bus nach Turku. Das dauerte schon mal gute fünf Stunden. Dann mußte sie von dort aus das Schiff nach Stockholm nehmen. Die Überfahrt dauerte zehn Stunden, in denen sie aber schlafen konnte. Der Vater hatte ihr eine eigene Einzelkabine gebucht. Mit ihren siebzehn Jahren fand er es zu gefährlich, daß sie eine billigere Kabine mit vier Betten, mit anderen Reisenden teilen sollte. Man konnte ja nie wissen.

In Stockholm angekommen, mußte sie sich zum Bahnhof begeben und dort den Zug nach Kopenhagen nehmen.

Maria fand, daß diese Reise ein ganz großes und nicht ungefährliches Abenteuer für so ein junges Mädchen war. Inga aber liebte Abenteuer und fand nichts dabei. Sie freute sich auf die Reise und die neue Schule. Außerdem fuhr sie nicht allein. Birgit, ihre Schulfreundin, hatte auch um einen Platz angesucht und bekommen. Sie beiden würden es sich richtig schön machen und eine tolle Zeit miteinander verbringen. Über die Schule hatten sie bereits ein Doppelzimmer in einem Einfamilienhaus nahe der Schule angemietet. So herrlich, endlich auf eigenen Füßen zu stehen und etwas von der Welt zu sehen.

Ingvar hatte nun Ingas Koffer im Auto verstaut. Er lehnte am Türrahmen und wartete auf seine Tochter. Maria hatte sich schon ins Auto gesetzt. Zwischen den Händen zerknüllte sie nervös ihr Taschentuch. André saß hinter ihr auf der Rückbank. Ihm war ganz flau im Magen. Jetzt kam auch Inga aus dem Haus mit einer Tasche, ging zum Auto und setzte sich neben André auf die Rückbank. Sie nahm sofort Andrés Hand in ihre und streichelte sie. „Ich will nicht, daß du traurig bist. Freue dich doch einfach für mich. Bald kommt ihr mich besuchen und in den nächsten Sommerferien komme ich auch nach Hause.“ André biss sich auf die Unterlippe, er mußte kräftig schlucken, denn eigentlich wollte er lieber heulen. Er vermisste seine Schwester jetzt schon, und sie war noch nicht einmal abgefahren. Sie hatten sich doch immer so gut verstanden. Und wenn die Eltern wieder mal keine Zeit hatten, dann war Inga doch immer für ihn da gewesen. So manches Mal war er zu ihr gekommen mit einem Buch. Und sie legte ihre Schulsachen an die Seite und las für ihn. Sie konnten lachen zusammen und oft war es sie, die ihn tröstete, wenn er wieder mal mit dem Fahrrad unvorsichtig gefahren war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Nicht alles sollten Mama und Papa wissen, und da war Inga seine Verbündete, der er alles erzählen konnte. Sie hätte nie etwas ausgeplaudert, da war er sich völlig sicher.

Er fühlte sich plötzlich schrecklich einsam. Ingvar bremste und André wurde aus seinen Tagträumen gerissen. Sie waren am Bus-Bahnhof angekommen. Alle stiegen aus dem Auto. Ingvar ergriff den Koffer und die Tasche und ging zum Bus. Keiner sagte ein Wort. Als das Gepäck verstaut war, nahm Ingvar seine Tochter in den Arm. „Pass gut auf dich auf, mein großes Mädchen“ . Er drückte sie hart und wollte sie am liebsten gar nicht loslassen. Aber Maria drängte sich nun dazwischen. Sie wollte ihre Inga auch nochmal richtig in den Arm nehmen. Ihre Augen waren feucht, ihr fiel der Abschied nicht leicht. Das zerknüllte Taschentuch war ganz nass. André stand traurig daneben und malte mit dem Schuh einen Kreis in den Schotter. Er wollte nicht, daß sie fährt, aber wer fragte ihn schon. Endlich wandte sich Inga hinunter zu ihm, nahm ihn in die Arme. „Ich hab dich doch so gern, Inga...“ mehr kriegte André nicht heraus, zu wehmütig war ihm zumute. „Nante, Kleiner, mach es mir nicht so schwer. Ich muß doch was lernen. Ich bleibe immer deine große Schwester. Sobald ich da bin, schreibe ich dir eine Postkarte, ich verspreche es.“ Auch Inga drückte jetzt ein Tränchen weg. Sie richtete sich wieder auf. „Jetzt muß ich aber einsteigen, sonst fährt der Bus noch ohne mich ab.“

Der Busfahrer schloss die Tür, schwang sich hinter das Lenkrad und startete den Motor. Ingvar, Maria und André standen auf dem Bürgersteig und winkten. Inga winkte zurück. „Und vergiß nicht unsere Sommerferien“ rief André noch, dann fuhr der Bus los.

Jetzt war er ganz allein zu Hause.

„André, du kannst mir helfen. Dann kommst du auch auf andere Gedanken. Die Teppichläufer sind wieder mal fällig.“ Maria hatte bemerkt, daß André es doch sehr schwer nahm, daß Inga plötzlich nicht mehr daheim war. André reagierte nicht sofort und schon gar nicht begeistert. „Mmmh“. Dazu hatte er ja nun gar keine Lust. Das Teppichwaschen war keine leichte Arbeit. Alle paar Monate fuhr seine Mutter mit dem Fahrrad hinunter zum kleinen Hafen am Wikingerstrand. Auf dem Gepäckträger hatte sie immer drei oder vier Läufer, die sie selbst gewebt hatte. Auch ihre Schwestern und ihre Mutter webten die Teppichläufer selbst. Alte Kleidungsstücke wurden dazu in lange Streifen geschnitten und auf dem Webstuhl, der in Pörtom stand, hergestellt. Die langen Sommerabende boten sich geradezu an für diese Tätigkeit. Widerwillig stieg André auf sein Fahrrad und begleitete seine Mutter.

Als sie die Waschstege am Wikingerstrand erreichten, waren bereits einige Frauen emsig bei ihrer Arbeit. Dazu gingen sie über den Steg und stiegen in eine der zahlreichen Holztonnen, die ins Wasser eingelassen und an den Stegen befestigt waren. Das hatte den Vorteil, daß die Frauen nun trockenen Fußes und in Arbeitshöhe, ohne den Rücken beugen zu müssen, mit der Bürste, Wasser und Schmierseife die Teppiche bearbeiten konnten.


Maria fand einen freien Waschplatz und begann mit den Vorbereitungen. „Schau mal, da drüben ist Onkel Mattias.“ Der wollte gerade in sein Boot steigen und winkte zu ihnen hinüber. „Ich lauf mal schnell zu ihm hinüber“. André flitzte zurück über den Steg und auf einen der Bootsanleger. „Na, André. Hilfst du der Mama beim Teppichwaschen?“ „Ja, schon, aber große Lust habe ich keine. Wohin willst du?“ „Ich muß hinüber zu unserem Sommerhaus. Die Tante braucht die Nähmaschine, die dort noch vom letzten Wochenende steht. Hast du Lust mitzufahren? Frag doch deine Mutter. Ich warte so lange hier auf dich hier.“ Na, das war doch ein Wort. Alles war besser als Teppiche zu waschen. Das Inselmeer vor Vaasa liebte er wirklich und das Sommerhaus von Onkel Mattias lag auf einer der vielen Inseln in den Schären. André sprang schnell zu Maria, die ihm natürlich erlaubte mitzufahren. Sie wußte ja, wie sehr ihr Sohn das Bootfahren liebte. Sie kam schon allein klar und André würde dabei sicher wieder gute Laune bekommen.


Nach zwei Stunden waren sie wieder zurück, André hatte frische rote Wangen bekommen und half nun Maria die frisch duftenden Läufer zusammenzurollen und wieder auf den Gepäckträger zu schnüren. So radelten sie heim und während André von seiner schönen Bootsfahrt erzählte, bei der er auch mal steuern durfte, legte Maria mit ihrer nassen Fracht eine eindeutige Wasserspur auf der Straße vom Wikingerstrand bis zu ihnen daheim, wo Maria mit Andrés Hilfe sogleich die tropfenden Läufer im Garten auf die Leine hängte.

Über weißblaue Wiesen

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