Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 143

Zwölfter Brief.
Frau von Wolmar an Frau von Orbe.

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Inhaltsverzeichnis

Es ist geschrieben, theure Freundin, daß du zu allen Zeiten mein Schutz gegen mich selbst sein, und nachdem du mich mit so vieler Mühe aus den Schlingen meines Herzens befreit, mich auch vor denen meiner Vernunft bewahren sollst. Nach so vielen schmerzlichen Prüfungen fange ich an, mich vor Irrthümern in Acht zu nehmen, sowie vor den Leidenschaften, deren Werk sie so oft sind. Warum habe ich nicht immer dieselbe Vorsicht gebraucht! Wenn ich mich in früheren Zeiten weniger auf meinen richtigen Blick verlassen hätte, so würde ich weniger über meine Empfindungen zu erröthen gehabt haben.

Laß dich durch diesen Eingang nicht beunruhigen. Ich würde deiner Freundschaft unwürdig sein, wenn ich mir noch in den Hauptsachen Raths bei ihr erholen müßte. Meinem Herzen war stets das Verbrechen fremd, und ist, wie ich glaube, jetzt entfernter davon, als jemals. Höre mich also ruhig an, Cousine, und sei überzeugt, daß ich über Fragen, welche das sittliche Gefühl allein entscheiden kann, nie Rathes bedürfen werde. In den sechs Jahren, seit ich mit Herrn von Wolmar in der vollkommensten Einigkeit lebe, die nur zwischen zwei Gatten herrschen kann, hat er, wie du weißt, mit mir nie über seine Familie und seine Person gesprochen, und da er mir von einem Vater zugeführt war, der aus das Glück seiner Tochter ebenso eifersüchtig ist, als auf die Ehre seines Hauses, so habe ich nie viel Begierde gezeigt, mehr über ihn zu wissen, als er gelegen fand, mir zu sagen. Zufrieden, ihm nächst dem Leben Dessen, der mir das meine geschenkt hat, meine Ehre, meine Ruhe, meine Vernunft, meine Kinder und Alles, was mir in meinen eigenen Augen Werth geben kann, zu verdanken, zweifelte ich nicht, daß das, was ich von ihm nicht wüßte, das, was mir bekannt war, nicht Lügen strafen werde, und ich brauchte nicht mehr von ihm zu wissen, um ihn zu lieben, zu schätzen, zu ehren, so sehr man kann.

Heute Morgen beim Frühstück schlug er uns vor, einen Spaziergang zu machen, ehe es heiß würde; unter dem Vorwande, nicht im Schlafrock, wie er sagte, über Land zu laufen, führte er uns dann in die Boskets, und, Liebe, gerade in jenes Bosket, wo das ganze Unglück meines Lebens seinen Anfang genommen hat. Als wir uns diesem verhängnißvollen Orte näherten, fühlte ich mein Herz furchtbar klopfen, und ich würde mich geweigert haben, ihn zu betreten, wenn mich die Scham nicht abgehalten, und nicht die Erinnerung an ein Wort, welches früher im Elysium gefallen war, mir vor Auslegungen bange gemacht hätte. Ich weiß nicht, ob der Philosoph sich ruhiger fühlte, aber als ich einige Zeit nachher zufällig die Augen auf ihn richtete, fand ich ihn blaß, verändert, und ich kann dir nicht sagen, was für eine Pein mir das Alles machte.

Als wir in das Bosket eintraten, sah ich, daß mein Mann mir einen lächelnden Blick zuwarf. Er setzte sich zwischen uns nieder, und nach einem kurzen Schweigen sagte er, indem er uns beide bei der Hand ergriff: Meine Kinder, ich fange an zu sehen, daß meine Pläne nicht eitel sein werden, und daß wir alle drei in einer dauerhaften Liebe vereinigt sein können, von der ich mir ein gemeinsames Glück für uns, und für mich besonders einen Trost in der herannahenden traurigen Zeit des Alters verspreche; ich kenne euch aber beide besser, als ihr mich kennt; es ist billig, unsere Stellung gleich zu machen; und obwohl ich euch nichts besonders Anziehendes zu eröffnen habe, so will ich doch jedenfalls, da ihr kein Geheimniß mehr vor mir habet, auch keines mehr vor euch haben.

Er entdeckte uns hierauf das Geheimniß seiner Geburt, welches bis dahin nur meinem Vater bekannt gewesen war. Wenn du es erfährst, wirst du sehen, wie groß die Kalthlütigkeit und Mäßigung eines Mannes sein muß, der im Stande ist, sechs Jahre ein solches Geheimniß seiner Frau zu verschweigen; aber dieses Geheimniß ist in seinen Augen nichts, und er denkt zu wenig daran, als daß es eine große Anstrengung sein könnte, nicht davon zu sprechen.

Ich will euch mit den Ereignissen meines Lebens nicht aufhalten, sagte er zu uns, es kann euch ja nicht so viel daran gelegen sein, meine Abenteuer als meinen Charakter zu kennen. Jene sind einfach wie dieser, und wenn ihr gründlich wisset, wie ich bin, so werdet ihr euch leicht denken können, was ich gethan haben mag. Ich habe von Natur eine ruhige Seele und ein kaltes Herz. Ich gehöre zu jenen Menschen, von denen man etwas recht Nachteiliges zu sagen glaubt, wenn man sagt, daß sie nichts fühlen, d. h. daß sie keine Leidenschaft haben, welche sie abhält, dem wahren Leitstern des Menschen zu folgen. Da ich für Freude und Schmerz wenig empfindlich bin, so empfinde ich auch nur sehr schwach jene Regungen von Theilnahme und Menschlichkeit, durch welche wir die Affectionen Anderer uns zu eigen machen. Wenn es mich schmerzt, brave Leute leiden zu sehen, so hat das Mitleid keinen Antheil daran; denn ich habe keines, wenn ich schlechte Menschen leiden sehe. Die einzige mich beseelende Kraft ist meine natürliche Liebe zur Ordnungsmäßigkeit, und ein wohlberechnetes Ineinandergreifen der Wechselfälle des Glückes und der Handlungen der Menschen giebt mir ganz dieselbe Befriedigung, wie eine schöne Symmetrie in einem Gemälde, oder wie ein gut disponirtes Theaterstück. Wenn ich eine vorwiegende Leidenschaft habe, so ist es die der Beobachtung. Ich liebe es, in den Herzen der Menschen zu lesen; da das meinige mir wenig Täuschungen bereitet, da ich kaltblütig und ohne Eigennutz beobachte, und eine lange Erfahrung mir Scharfblick gegeben hat, so Pflege ich mich in meinen Urtheilen nicht zu irren. Dies ist in der That auch der ganze Lohn, den meine Eigenliebe in meinen unausgesetzten Studien findet; denn ich liebe es nicht, eine Rolle zu spielen, sondern nur die Andern spielen zu sehen. Die Gesellschaft ist mir angenehm, um sie zu betrachten, nicht um selbst einen Theil von ihr auszumachen. Wenn ich die Natur meines Wesens ändern und ein lebendiges Reis werden könnte, würde ich diesen Tausch gern eingehen. Meine Gleichgültigkeit für die Menschen macht mich also nicht unabhängig von ihnen; ohne daß mir daran läge, von ihnen gesehen zu werden. habe ich das Bedürfniß, sie zu sehen, und ohne mir werth zu sein, sind sie mir nothwendig.

Die beiden Stände der Gesellschaft, welche ich zuerst zu beobachten Gelegenheit hatte, waren die Höflinge und die Lakaien, zwei Menschenklassen, die mehr dem Scheine als der Wirklichkeit nach von einander verschieden, und so wenig eines Studiums werth, so leicht zu erkennen sind, daß ich sie beim ersten Blick satt hatte. Indem ich den Hof verließ, wo Alles so bald gesehen ist, entzog ich mich, ohne es zu wissen, der Gefahr, die mir daselbst drohte, und der ich nicht entgangen sein würde. Ich nahm einen andern Namen an. Um einmal den Militärstand kennen zu lernen, nahm ich Dienste bei einem fremden Fürsten. Hier hatte ich das Glück, Ihrem Vater nützlich zu sein, der seinen Freund getödtet hatte, und aus Verzweiflung hierüber tollkühn und ohne alle Schuldigkeit sein Leben aussetzte. Das tieffühlende und erkenntliche Herz dieses braven Offiziers fing nun an, mir eine bessere Meinung von der Menschheit beizubringen. Er schloß sich mir mit einer solchen Freundschaft an, daß ich ihm die meinige nicht versagen konnte, und wir unterhielten seitdem unausgesetzt eine Verbindung, die von Tage zu Tage enger wurde. Ich lernte in meiner neuen Stellung, daß das Interesse nicht, wie ich geglaubt hatte, die einzige Triebfeder der menschlichen Handlungen ist, und daß es unter der Masse von Vorurtheilen, welche gegen die Tugend streiten, auch einige giebt, die ihr günstig sind. Ich sah ein, daß das Charakteristische des Menschen im Allgemeinen eine Eigenliebe ist, die, an sich weder gut noch schlecht, das eine oder das andere nur durch die Umstände wird, welche sie bedingen, und welche selbst von den Gewohnheiten, von den Gesetzen, von Rang und Stand, Stellung und Vermögen und der gesammten Einrichtung unseres gesellschaftlichen Lebens abhängen. Ich überließ mich also meinem Hange, und die eitlen Standesvorurtheile verachtend, warf ich mich nach und nach in die verschiedenen Berufsweisen, welche mir behülflich sein konnten, alle Stände unter einander zu vergleichen und durcheinander kennen zu lernen. Ich fühlte, was auch Sie in einem Ihrer Briefe bemerkt haben, sagte er zu Saint-Preux, daß man nichts sieht, wenn man sich damit begnügt nur zu sehen, daß man selber handeln muß, wenn man die Menschen will handeln sehen, und ich wurde Schauspieler, um Zuschauer zu sein. Es ist immer leicht, herunter zu steigen; ich versuchte es mit einer Menge von Berufsarten, die zu ergreifen sich kein Mann meines Standes je einfallen läßt. Ich wurde sogar Bauer, und als mich Julie zum Gartenburschen machte, fand sie an mir keinen solchen Neuling, wie sie wohl vermuthet haben mag.

Mit der wahren Menschenkenntniß, von der uns die müßige Philosophie nur den Schein verschafft, erwarb ich noch einen andern, unerwarteten Vortheil, nämlich, daß ich durch ein thätiges Leben die Liebe zur Ordnung, welche mir von Natur beiwohnt, steigerte, und an dem Guten durch das Vergnügen, dazu beizutragen, neues Gefallen fand. Dies machte, daß ich etwas weniger beobachtend wurde, etwas mehr in mich selbst hineinging, und durch eine ziemlich natürliche Folge dieser Entwicklung nahm ich endlich wahr, daß ich allein stand. Die Einsamkeit, die mir immer langweilig gewesen war, machte mir ein Grauen, und doch konnte ich nicht mehr hoffen, mich noch lange vor ihr zu retten. Ohne daß sich meine Kälte verloren hätte, fühlte ich doch das Bedürfniß, mich an ein anderes Wesen anzuschließen; die trostlose Hinfälligkeit des Alters machte mich in der Voraussicht betrübt, und zum ersten Male in meinem Leben erfuhr ich, was innere Unruhe und Traurigkeit ist. Ich sagte dem Baron von Étange von meinem Kummer. Ihr müßt nicht als Junggesell grau werden, sagte er. Ich selbst, der ich bisher im Ehebunde fast unabhängig gelebt habe, fühle das Bedürfniß, wieder Vater und Gatte zu werden, und will mich in den Schoß meiner Familie zurückziehen. Es wird nur von Euch abhängen, ob Ihr diese auch zu der Eurigen machen und mir den Sohn ersetzen wollt, den ich verloren habe. Ich habe eine einzige Tochter zu verheiraten, sie ist nicht ohne Verdienst; sie hat ein gefühlvolles Herz, und die Liebe zu ihrer Pflicht macht ihr Alles lieb, was dazu gehört. Sie ist weder eine Schönheit, noch ein Wunder von Geist; aber kommt und seht sie Euch an, und glaubt mir, wenn Ihr für Die nichts fühlt, so werdet Ihr nie für irgend eine Person etwas fühlen. Ich kam, ich sah Sie, Julie, und fand, daß Ihr Vater bescheiden von Ihnen gesprochen hatte, Ihre Freude, Ihre Thränen, als Sie ihn wieder umarmten, machten mir zum ersten oder vielmehr einzigen Male in meinem Leben das Herz weich. Wenn der Eindruck nicht stark war, so war er doch eben einzig, und die Gefühle bedürfen zu ihrer Wirksamkeit nur so viel Kraft, als zur Ueberwindung derjenigen, die sich ihnen widersetzen, nöthig ist. Drei Jahre Abwesenheit änderten die Verfassung meines Herzens nicht. Die Verfassung des Ihrigen entging mir nicht bei meiner Rückkehr, und hier nun muß ich Sie für ein Bekenntniß, das Ihnen so schwer geworden, mit gleicher Münze bezahlen.

Nun denke dir, meine Liebe, meine Ueberraschung, als ich höre, daß er in alle meine Geheimnisse vor unserer Verheiratung eingeweiht worden war, und mich heiratete, ohne damit unbekannt zu sein, daß ich einem Andern angehörte.

Dieses Betragen war nicht zu entschuldigen, fuhr Herr von Wolmar fort. Ich beleidigte das Zartgefühl; ich sündigte gegen die Klugheil; ich setzte Ihre und meine Ehre auf's Spiel; ich mußte fürchten, uns beide in unheilbares Unglück zu stürzen; aber ich liebte Sie, und liebte nur Sie, alles Uebrige war mir gleichgültig. Wie soll man die Leidenschaft, und wäre sie noch so schwach, zurückdrängen, wenn sie gänzlich ohne Gegengewicht ist? Dies ist das Schlimme bei kalten, ruhigen Charakteren. Alles geht gut, solange ihre Kälte sie vor Versuchungen schützt; stellt sich aber einmal eine solche ein, so sind sie ebenso rasch besiegt, als angefallen, und die Vernunft, welche die Herrschaft führt, solange sie allein auf dem Platze ist, hat nicht Kraft genug, um dem geringsten Anlauf zu widerstehen. Ich bin nur einmal in Versuchung gewesen, und bin erlegen. Hätte mich der Rausch noch irgend einer andern Leidenschaft zum Wanken gebracht, so würde ich ebenso oft, als ich fehl trat, gefallen sein. Nur feurige Seelen wissen zu kämpfen und zu siegen; alle großen Anstrengungen, alle erhabenen Thaten sind ihr Werk, die kalte Vernunft hat nie etwas Glänzendes zu Stande gebracht, und man siegt über die Leidenschaften nur, wenn man eine der anderen entgegenstellt. Wenn die Leidenschaft für die Tugend sich erhoben hat, so herrscht sie allein und hält Alles im Gleichgewicht. So bildet sich der wahre Weise, der nicht mehr, als ein Anderer, vor den Leidenschaften sicher ist, aber allein sie durch sich selbst zu besiegen versteht, wie sich ein Steuermann auch die widrigen Winde zu Nutzen macht.

Sie sehen, daß ich nicht darauf ausgehe, meinen Fehler zu verkleinern; wenn es einer gewesen wäre, so hätte ich ihn unfehlbar begangen; aber Julie, ich kannte Sie, und ich beging keinen, indem ich Sie heiratete. Ich fühlte, daß von Ihnen allein alles Glück abhing, dessen ich genießen konnte, und daß ich, wenn irgend Einer fähig war, Sie glücklich zu machen. Ich wußte, daß Unschuld und Friede Ihrem Herzen nothwendig waren, daß die Liebe, welche es einnahm, ihm Beides nie gewähren würde, und daß nur der Abscheu vor dem Verbrechen die Liebe daraus verbannen könnte. Ich sah, daß sich Ihre Seele in einer Abspannung befand, aus welcher sie sich nur durch einen neuen Kampf befreien könnte, und daß Sie erst fühlen müßten, wie schätzenswerth Sie noch sein könnten, um es wieder werden zu lernen.

Für die Liebe war Ihr Herz verbraucht; deshalb brachte ich ein Mißverhältnis des Alters nicht in Anschlag, welches mir das Recht raubte, auf ein Gefühl Anspruch zu machen, von welchem Der, welcher sein Gegenstand war, keinen Genuß haben, und das kein Anderer mehr erwerben konnte. Indem ich dagegen sah, daß sich bei mir, in einem mehr als zur Hälfte verstrichenen Leben, nur eine einzige Neigung fühlbar gemacht hatte, urtheilte ich, daß sie dauerhaft sein würde, und gefiel mir darin, ihr den Rest meiner Tage zuzuwenden. Bei allen meinen Nachforschungen hatte ich nichts gefunden, das Ihnen gleichkäme; ich dachte, was Sie nicht thun würden, würde keine Andere auf der Welt thun; ich wagte es, an die Tugend zu glauben, und heiratete Sie.

Daß Sie mir aus Ihrem früheren Verhältniß ein Geheimniß machten, nahm mich nicht Wunder; ich wußte den Grund davon, und sah in der Klugheit Ihres Betragens die Bürgschaft seiner Dauer. Aus Rücksicht für Sie, beobachtete ich eine gleiche Zurückhaltung und wollte Ihnen nicht die Ehre rauben, mir eines Tages aus freien Stücken ein Bekenntniß abzulegen, das ich jeden Augenblick auf dem Rande Ihrer Lippen sah. Ich habe mich in nichts getäuscht; Sie haben Alles gehalten, was ich mir von Ihnen versprochen hatte. Als ich mir eine Gattin wählen wollte, wünschte ich an ihr eine liebenswerthe, kluge, glückliche Gefährtin zu haben. Die beiden ersten Bedingungen sind erfüllt; mein Kind, ich hoffe, daß uns auch die dritte nicht fehlen wird. Bei diesen Worten konnte ich, trotz aller meiner Anstrengung, ihn durch nichts zu unterbrechen, als durch meine Thränen, mich nicht enthalten, ihm um den Hals zu fallen und auszurufen: Mein theurerMann! O bester und geliebtester der Menschen! Sagen Sie mir, was mir zu meinem Glücke fehlt, wenn nicht das Ihrige, und daß es besser verdient wäre .... — Sie sind so glücklich, als es möglich ist, sagte er, mich unterbrechend; Sie verdienen es zu sein, aber es ist Zeit, in Frieden ein Glück zu genießen, das Ihnen bisher so viel Sorge gekostet hat. Wenn mir Ihre Treue genügt hätte, so war Alles geschehen von dem Augenblicke an, da Sie sie mir versprochen. Ich habe aber gewollt, daß sie Ihnen leicht und angenehm würde, und daran haben wir beide in Gemeinschaft fort und fort gearbeitet, ohne gegen einander ein Wort darüber zu verlieren. Julie, es ist uns besser gelungen, als Sie vielleicht glauben. Das einzige Unrecht, das ich an Ihnen finde, ist, daß Sie das Vertrauen zu sich nicht wieder gewinnen konnten, das Sie sich schuldig sind, und daß Sie sich nicht nach Ihrem Werthe schätzen. Eine übertriebene Bescheidenheit hat so gut ihre Gefahren als der Eigendünkel. Wie eine Ueberschätzung unserer Kräfte uns zur Machtlosigkeit verdammt, so raubt uns das Mißtrauen in dieselben ihren Gebrauch. Die wahre Klugheit besteht darin, daß man seine Kräfte kenne und sich innerhalb ihrer Gränzen halte. Sie haben in Ihrem neuen Stande neue Kräfte gewonnen. Sie sind nicht mehr das unglückliche Mädchen, das seine Schwäche bejammerte, währendes sich ihr überließ; Sie sind die tugendhafteste der Frauen, die keine anderen Gesetze kennt, als die der Pflicht und Ehre, und der man keinen andern Fehler vorwerfen kann, als eine zu lebhafte Erinnerung an ihre Fehltritte. Stehen Sie also davon ab, gegen sich selbst Vorsichtsmaßregeln zu gebrauchen, die beleidigend für Sie sind, und lernen Sie auf sich selbst bauen, um immer sicherer auf sich bauen zu können. Verbannen Sie ein ungerechtes Mißtrauen, das nur dazu dienen kann, die Gefühle, denen es seinen Ursprung verdankt, bisweilen wieder zu erwecken. Wünschen Sie sich vielmehr Glück, daß Sie einen rechtschaffenen Mann zu wählen wußten, in einem Alter, wo es so leicht ist, sich in dieser Hinsicht zu täuschen, und daß Sie einen Liebhaber erkoren hatten, den Sie jetzt unter den Augen Ihres Gatten selbst zum Freunde haben können. Kaum war ich mit euerem Verhältnisse bekannt geworden, so gewann ich euch, Jeden um des Andern willen, lieb. Ich sah, welcher trügerische Enthusiasmus euch beide irre geführt hatte; er wirkt nur auf schöne Seelen; er führt sie manchmal allerdings in's Verderben, aber immer durch einen Zauber, der nur sie verführen kann. Ich schloß, daß derselbe Geschmack am Guten, welcher eure Verbindung gestiftet hatte, sie lockern würde, sobald sie strafbar geworden und daß das Laster sich in Herzen, wie die eurigen, hineinstehlen, nicht aber darin Wurzel schlagen könnte.

Von Augenblick an erkannte ich, daß es ein Band zwischen euch gäbe, welches man nicht zerreißen müßte, daß euere gegenseitige Anhänglichkeit so viel Löbliches zu ihrem Grunde hätte, daß man sie eher regeln, als zu nichte machen müßte, und daß keiner von beiden den Andern vergessen könnte, ohne viel von seinem Werthe zu verlieren. Ich wußte, daß harter Kampf die heftigen Leidenschaften nur noch mehr stachelt, und daß gewaltsame Anstrengungen, wenn sie auch die Seele üben mögen, ihr doch Qualen kosten, deren anhaltende Dauer fähig ist, ihr Niederlagen zuzuziehen. Ich benutzte Juliens Milde, um ihre Strenge zu mäßigen. Ich nährte ihre Freundschaft für Sie, sagte er zu Saint-Preux; ich benahm derselben, was an ihr wieder zu viel werden konnte, und ich glaube, Ihnen von ihrem Herzen vielleicht mehr bewahrt zu haben, als Ihnen geblieben wäre, wenn ich sie sich selbst überlassen hätte.

Mein Erfolg machte mir Muth, und ich wollte es versuchen, Sie zu heilen, wie es mir bei Julie gelungen war; denn ich schätzte Sie, und allen Vorurtheilen lasterhafter Seelen zum Trotz, habe ich stets erkannt, daß es nichts Gutes gebe, was man nicht von schönen Seelen durch Offenheit und Vertrauen erlangen könnte. Ich sah Sie, und Sie haben mich nicht betrogen, werden es auch ferner nicht, und obwohl Sie noch nicht das sind, was Sie werden müssen, finde ich Sie doch fortgeschrittener, als Sie glauben, und bin zufriedener mit Ihnen, als Sie mit sich selbst. Ich weiß wohl, daß mein Benehmen wunderlich aussieht und alle gemeinen Regeln über den Haufen wirft; aber die Regeln verlieren an Gemeingültigkeit, je mehr man in den Herzen liest, und Juliens Gatte muß nicht wie ein anderer Mann verfahren. Meine Kinder, sagte er zu uns, mit einem Tone, der um so ergreifender war, als er von einem ruhigen Manne kam, seid nur ihr selbst, und wir werden alle zufrieden sein. Die Gefahr liegt nur in der Meinung; habt keine Furcht vor euch, und ihr werdet nichts zu fürchten haben; denket nur an die Gegenwart und ich stehe euch für die Zukunft. Ich kann euch heute nicht mehr sagen, aber wenn meine Pläne zu Stande kommen und meine Hoffnung mich nicht trügt, so wird sich unser aller Schieksal besser erfüllen, und ihr werdet beide glücklicher sein, als wenn ihr einander angehört hättet.

Er stand auf, und umarmte uns, er verlangte, daß auch wir uns umarmen sollten, an diesem Orte .... an diesem nämlichen Orte, wo einst .... Clara, o gute Clara, wie du mich immer geliebt hast! …. Ich machte keine Schwierigkeit; ach! wie unrecht hätte ich gehabt, es zu thun! Dieser Kuß hatte nichts von jenem, der mir das Bosket so furchtbar gemacht hatte; ich wünschte mir mit Betrübniß Glück dazu, und erkannte, daß mein Herz mehr verwandelt war, als ich bis dahin mir zu glauben getraut hatte.

Als wir den Weg nach dem Hause wieder einschlugen, hielt mich mein Mann bei der Hand fest, und sagte, auf das Bosket deutend, aus dem wir eben getreten waren, mit Lächeln: Julie, fürchten Sie dieses Asyl nicht mehr, es ist nun profanirt. Du willst es mir nicht glauben, Cousine, aber ich schwöre dir, daß er eine übernatürliche Gabe besitzt, in der Tiefe der Herzen zu lesen; möge der Himmel sie ihm immer erhalten! Bei so viel Ursache mich zu verachten, ist es ohne Zweifel nur diese Kunst, der ich seine Nachsicht verdanke.

Du siehst bis hierher noch keinen Rath zu geben; Geduld, mein Engel, wir sind schon zur Stelle; aber das Gespräch, das ich dir eben mitgetheilt habe, war nöthig um das Uebrige zu verstehen.

Auf dem Rückwege sagte mir mein Mann, der in Étange schon lange erwartet wird, daß er dorthin zu gehen gedächte, dich im Vorbeigehen besuchen und fünf oder sechs Tage wegbleiben würde. Ohne Alles zu sagen, was mir eine so unzeitige Abreise zu denken gab, stellte ich ihm nur vor, daß sie nicht so unerläßlich wäre, um ihn zu nöthigen, einen Gast, den er selbst in's Haus gerufen, zu verlassen. Wollen Sie denn, antwortete er, daß ich ihm Honneurs mache, um ihn zu erinnern, daß er nicht bei sich, zu Hause ist? Ich bin für die Gastlichkeit der Walliser. Ich hoffe, er wird deren Treuherzigkeit auch hier finden, und uns ihre Freiheit gönnen. Da ich sah, daß er mir kein Gehör geben wollte, nahm ich eine andere Wendung und suchte unsern Gast zu veranlassen, daß er die Reise mit ihm machte. Sie werden einen Ort finden, sagte ich zu ihm, der seine Schönheiten hat, und sogar solche, wie Sie sie lieben. Sie werden meiner Väter und mein Erbgut besuchen; der Antheil, den Sie an mir nehmen, läßt mich nicht glauben, daß es Ihnen gleichgültig sein könnte, es zu sehen. Ich hatte schon den Mund offen, um hinzuzusetzen, daß dieses Schloß dem von Milord Eduard gleiche, welches .... aber glücklicher Weise hatte ich Zeit, mir auf die Zunge zu beißen. Er antwortete mir ganz einfach, ich hätte Recht, und er würde thun, was mir gefiele. Aber Herr von Wolmar, der mich aufs Aeußerste treiben zu wollen schien, versetzte, er sollte doch thun, was ihm selber gefiele. Was ziehen Sie vor, mitzukommen oder zu bleiben? Zu bleiben, antwortete er, ohne sich zu besinnen. Nun gut, so bleiben Sie, entgegnete mein Mann, indem er ihm die Hand drückte. Redlicher und wahrer Mensch, ich bin sehr zufrieden mit diesem Worte. Es ließ sich darüber vor dem Dritten, der uns hörte, nicht viel mit ihm wortwechseln. Ich schwieg. konnte aber meinen Verdruß nicht so verbergen, daß ihn mein Mann nicht bemerkt hätte. Wie! rief er mit unzufriedener Miene in einem Augenblicke, da Saint-Preux von uns entfernt war, hätte ich denn vergeblich Ihre Sache gegen Sie selbst geführt? Und will sich Frau von Wolmar mit einer Tugend begnügen, die es nöthig hat, sich ihre Gelegenheiten auszusuchen? Ich für meinen Theil bin schwieriger; ich will die Treue meiner Frau ihrem Herzen und nicht dem Zufalle verdanken, und es genügt mir nicht, daß sie mir treu bleibt, es kränkt mich, daß sie an sich zweifelt.

Hierauf führte er uns in sein Cabinet, wo ich aus den Wolken zu fallen glaubte, als ich ihn aus einer Schublade nebst den Abschriften von einigen Berichten unseres Freundes, die ich ihm gegeben hatte, die Originale aller der Briefe hervorziehen sah, die ich, wie ich mir einbildete, Babi ehemals in dem Zimmer meiner Mutter hatte verbrennen sehen. Hierauf, sagte er, indem er sie uns wies, gründet sich meine Sicherheit; tröge mich diese, so wäre es eine Narrheit, auf irgend Etwas zu bauen, was von Menschen geachtet wird. Ich gebe meine Frau und meine Ehre Der in Verwahrung, die, als Mädchen und verführt, eine Handlung der Wohlthätigkeit einem sicheren und vielleicht nicht zu ersetzenden Stelldichein vorzog; ich vertraue Julie, die Gattin und Mutter, Dem, der, da es ihm freistand, seine Wünsche zu befriedigen, es über sich vermochte, Julien, der Geliebten und Jungfrau ihre Ehre zu lassen. Wer von euch Beiden sich genug verachtet, um zu denken, daß ich Unrecht habe, der sage es, und ich nehme augenblicklich mein Wort zurück. Cousine, sage, konnte man sich leicht erkühnen, auf solche Sprache Etwas zu entgegnen?

Ich suchte jedoch am Nachmittage einen Augenblick, um meinen Mann allein zu nehmen, und ohne mich in Erörterungen einzulassen, in denen ich doch nicht sehr weit hätte gehen können, beschränkte ich mich darauf, ihn um zwei Tage Aufschub zu bitten; sie wurden mir auf der Stelle bewilligt. Ich benutze sie, um dir diesen Expressen zu schicken und deine Antwort zu erwarten, damit ich von dir höre, was ich thun soll.

Ich weiß wohl, daß ich meinen Mann nur zu bitten brauchte, gar nicht abzureisen; er, der mir nie etwas abgeschlagen hat, wird mir eine so kleine Gunst nicht verweigern. Aber, meine Liebe, ich sehe, daß er Freude daran findet, mir sein Vertrauen zu beweisen, und ich fürchte einen Theil seiner Achtung zu verlieren, wenn er glaubt, daß ich mehr Behutsamkeit nöthig habe, als er mir erlauben will. Ich weiß ebenso gut, daß ich Saint-Preux nur ein Wort zu sagen brauche, der dann keinen Augenblick anstehen wird, ihn zu begleiten. Aber wird sich mein Mann hierdurch täuschen lassen? Und kann ich diesen Schritt thun, ohne mir noch immer den Anschein eines gewissen Einflusses auf Saint-Preux zu geben, der ihm seinerseits wieder eine Art Recht einräumen würde? Ich muß außerdem fürchten, daß er aus dieser Vorsicht die Folgerung ziehe, als fühle ich, daß sie nöthig sei, und so ist dieses Mittel, welches auf den ersten Blick das leichteste scheint, vielleicht das gefährlichste. Endlich weiß ich wohl, daß gegen eine wirkliche Gefahr keine anderweitige Rücksicht in Betracht kommen kann; aber ist denn diese Gefahr in der That vorhanden? Sieh, dies eben ist der Zweifel, den du auflösen sollst.

Je mehr ich die jetzige Verfassung meiner Seele untersuche, desto mehr Ursache finde ich, mich sicher zu fühlen. Mein Herz ist rein, mein Gewissen ruhig: ich weiß nichts von Verwirrung oder Angst, und bei Allem, was in mir vorgeht, kostet mich meine Aufrichtigkeit, meinem Manne gegenüber, keine Anstrengung. Nicht, daß nicht gewisse unwillkürliche Erinnerungen mich manchmal in eine wehmüthige Stimmung versetzten, die besser nicht aufkäme; aber, weit entfernt, daß die Erinnerungen durch den Anblick Dessen erzeugt würden, der ihre Ursache ist, scheinen sie mir vielmehr seit seiner Rückkunft seltener; und wie süß es mir ist, ihn zu sehen, weiß ich doch nicht, wie wunderlich es zugeht, daß es mir süßer ist, an ihn zu denken; mit einem Worte, ich finde, daß ich nicht einmal nöthig habe, die Tugend zu Hülfe zu rufen, um mich in seiner Gegenwart ruhig zu fühlen, und daß, wenn auch der Abscheu vor dem Verbrechen nicht vorhanden wäre, die Gefühle, welche derselbe zerstört hat, jetzt schwerlich wieder entstehen würden.

Aber, mein Engel, ist es genug, daß mich der Zustand meines Herzens ruhig lasse, wenn mich die Vernunft besorgt sein heißt? Ich habe das Recht verloren, mich auf mich zu verlassen. Wer wird mir dafür einstehen, daß nicht mein Selbstvertrauen wieder eine Vorspiegelung des Lasters ist? Wie darf ich Gefühlen trauen, die mich so oft getäuscht haben? Fängt das Verbrechen nicht immer mit dem Stolze an, welcher uns verleitet, die Versuchung gering zu achten? Und Gefahren trotzen, in denen man schon unterlegen ist, heißt das nicht abermals unterliegen wollen?

Wäge alle diese Bedenken, Cousine; du wirst sehen, daß sie, wenn auch vielleicht eitel an sich selbst, doch ihres Gegenstandes wegen wichtig genug sind, um Beachtung zu verdienen. Ziehe mich also aus der Ungewißheit, in welche sie mich versetzt haben. Deute mir an, wie ich mich in diesem zarten Falle benehmen soll; denn meine früheren Verirrungen haben mein Urtheil befangen gemacht, und ich wage mich in keiner Sache mehr recht dreist zu entschließen. Wie du auch über dich denken magst, ich bin gewiß, daß deine Seele still und ruhig ist; die Gegenstände spiegeln sich in ihr so, wie sie sind; die meinige aber, stets bewegt, wie eine zitternde Wolke, bringt sie in Unordnung und verzerrt ihre Gestalt. Ich wage mich auf nichts mehr zu verlassen, was ich sehe oder fühle, und ungeachtet meiner langen Reue, erkenne ich mit Schmerz, daß das Gewicht eines alten Fehltritts eine Last ist, welche man sein ganzes Leben tragen muß.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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