Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 151
Zweiter Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.
ОглавлениеJa, Milord, mit freudiger Bewegung gebe ich Ihnen die Versicherung, daß der Auftritt in Meillerie die Krise meiner Thorheiten und meiner Leiden gewesen ist. Nach den Aufschlüssen, die mir Herr von Wolmar über den wahren Zustand meines Herzens gab, bin ich völlig ruhig geworden. Dieses allzu schwache Herz ist geheilt, so weit es geschehen konnte, und ich ziehe die Wehmuth eines eingebildeten Schmerzes der schrecklichen Lage vor, unablässig von verbrecherischen Gedanken bestürmt zu sein. Seit der Rückkunft dieses würdigen Freundes nehme ich keinen Anstand mehr, ihm einen Namen beizulegen, der mir so lieb ist, und dessen Werth Sie mich so ganz haben fühlen lassen. Es ist der geringste Titel, den ich Jedem schuldig bin, der dazu beiträgt, mich der Tugend wiederzugeben. Friede herrscht im Grunde meiner Seele, wie an dem Orte, welchen ich bewohne. Ich fange an, mich hier frei von Unruhe und zu Hause zu fühlen, und kann ich hier auch nicht den Herren machen, so finde ich es nur noch erfreulicher, mich wie ein Kind des Hauses zu betrachten. Die Einfachheit, die Gleichmäßigkeit, welche ich hier in Allem herrschen sehe, haben einen rührenden und bewältigenden Reiz für mich. Zwischen der Vernunft in Person und der fleischgewordenen Tugend verlebe ich heitere Tage. Je mehr ich mit diesen glücklichen Gatten umgehe, desto mehr fühle ich ihre Macht, die mich allmählich ganz einnimmt, und mein Herz stimmt sich unvermerkt nach dem ihrigen; etwa wie die Stimme unwillkürlich den Ton annimmt, welcher bei denen herrscht, unter denen man lebt.
Welche köstliche Zurückgezogenheit! welch reizender Wohnsitz! Wie erhöht die süße Gewohnheit, da zu leben, seinen Werth! Und wie schwer ist es, wenn er auch auf den ersten Blick wenig glänzend erscheint, ihn nicht zu lieben, sobald man ihn näher kennt! Die Lust, mit welcher Frau von Wolmar ihre edle Pflicht erfüllt, Alle, die ihr nahen, glücklich und gut zu machen, theilt sich Allem mit, was davon berührt wird, ihrem Mann, ihren Kindern, ihren Gästen, ihren Leuten. Lärm, laute Lustigkeit, schallendes Gelächter vernimmt man nicht an dieser Friedensstätte, aber man findet lauter fröhliche Herzen und heitere Gesichter. Wenn bisweilen Thränen vergossen werden, so sind es Thränen der Rührung und der Freude. Schwarze Sorge, Unlust, Mißmuth nahen dieser Freistätte ebenso wenig als das Laster und die Gewissensbisse, deren Frucht sie sind.
Was sie betrifft, so ist gewiß, daß mit Ausnahme des geheimen Kummers, welcher sie nagt, und dessen Ursache ich Ihnen in meinem vorigen Briefe angegeben habe [Dieser vorige Brief ist nicht vorhanden. man wird weiterhin die Ursache erfahren.], Alles dazu beiträgt, sie glücklich zu machen. Indessen würden sich bei so vieler Ursache, glücklich zu sein, tausend Andre an ihrer Stelle unglücklich fühlen; dieses einförmige und zurückgezogene Leben würde ihnen unerträglich sein; das Gelärme der Kinder würde sie ungeduldig machen, und die häuslichen Geschäfte würden ihnen Ueberdruß erregen; das Landleben würde ihnen unausstehlich sein; der reife Verstand und die Hochachtung eines nicht sehr entgegenkommenden Gatten würden ihnen keine Entschädigung für seine Kälte und sein vorgerücktes Alter dünken, ja, gerade seine Gegenwart und seine Anhänglichkeit würde ihnen zur Last sein. Entweder sie würden Mittel finden, ihn von sich fern zu halten, um mehr nach ihrem Gefallen zu leben, oder sie würden sich selbst von ihm entfernen, und die Freuden, die ihr Stand mit sich bringt, verachten; sie würden auswärts gefährlichere Freuden suchen und sich in ihrem eigenen Haute nicht eher behaglich füllen, als bis sie ihm fremd geworden wären. Es ist eine gesunde Seele nöthig, um die Reize eines zurückgezogenen Lebens zu schmecken: nur bei guten Naturen findet man, daß sie sich im Schooße ihrer Familie gefallen und sich auf den Kreis derselben gern beschränken. Wenn es ein glückliches Leben in der Welt giebt, so ist es ohne Zweifel dasjenige, welches sie so zubringen. Die Werkzeuge des Glückes sind aber nichts für Den, der sie nicht zu gebrauchen versteht, und man fühlt nur dann, worin das wahre Glück besteht, wenn man fähig ist, es zu genießen.
Wenn ich so recht eigentlich sagen sollte, wie man es in diesem Hause anfängt, um glücklich zu sein, so würde ich, wie ich glaube, gut geantwortet haben, wenn ich sagte: man versteht zu leben; nicht in dem Sinne, welchen man in Frankreich diesem Worte giebt, nämlich, daß man im Umgange mit Andern gewisse von der Mode festgestellte Manieren einhalte, sondern ich meine ein menschliches Leben, das Leben, für welches der Mensch geschaffen ist, das Leben, von welchem Sie zu sprechen pflegen, von welchem Sie mir ein Beispiel geben, welches über sich selbst hinaus Stich hält, und welches man am Todestage nicht für verloren achtet.
Julie hat einen Vater, der sich um das Wohlergehen seiner Familie kümmert; sie hat Kinder, für deren Erhaltung anständig gesorgt werden muß. Dies ist von Natur die vornehmste Sorge des geselligen Menschen, und es ist auch die erste, der sie und ihr Gemahl sich mit vereinten Kräften gewidmet haben. Beim Beginne ihrer Haushaltung haben sie den Zustand ihres Vermögens untersucht; sie haben nicht sowohl darauf gesehen, ob dasselbe ihrem Stande, als vielmehr, ob es ihren Bedürfnissen angemessen sei, und in der Ueberzeugung, daß jede achtbare Familie sich mit dem ihrigen begnügen müsse, haben sie auch von ihren Kindern nicht im voraus so schlecht gedacht, zu fürchten, daß dieselben das Erbgut, welches sie ihnen zu hinterlassen haben, einst unzureichend finden würden. Sie haben also ihren Fleiß mehr darauf gerichtet, ihre Güter zu verbessern, als sie zu vermehren; sie haben ihr Geld mehr sicher als vortheilhaft anzulegen gesucht; anstatt neue Ländereien anzukaufen, haben sie den Werth derer, welche sie besaßen, erhöht und haben nicht daran gedacht, ihrem Erbe einen anderen Schatz hinzuzufügen, als das gute Beispiel ihres Verhaltens.
Es ist wahr, daß ein Besitz, der nicht vermehrt wird, der Gefahr unterworfen ist, durch tausend Zufälle vermindert zu werden. Ist aber dies einmal ein Grund, ihn zu vermehren, so würde es eben so gut ein ewiger Vorwand sein, dies in's Unendliche fort zu thun. Man wird endlich den Besitz unter mehreren Kindern theilen müssen. Sollen nun diese müßig bleiben? Ist nicht die Arbeit eines jeden ein Zuwachs zu seinem Antheil, und muß nicht sein Fleiß mit zu dem geschlagen werden, was es empfängt? Die unersättliche Habgier schleicht sich unter der Maske der Klugheit ein, und führt zum Laster, während man sich vorspiegelt, nur auf Sicherheit bedacht zu sein. Es ist eine eitle Einbildung, sagt Herr v. Wolmar, menschlichen Dingen eine Dauerbarkeit geben zu wollen, welche nicht in ihrer Natur liegt; die Vernunft gerade fordert, daß wir Vieles dem Zufall überlassen, und wenn von ihm wider unsern Willen unser Leben und Vermögen abhängen, welche Thorheit, sich unaufhörlich wirkliche Qual zu bereiten, um noch ungewissen Uebeln und Gefahren, die dennoch unvermeidlich sind, zuvorzukommen! Er hat nur die einzige Vorsicht in dieser Hinsicht gebraucht, ein Jahr von seinem Kapital zu leben, um mit den unmittelbaren Einkünften dieses Jahres einen Vorsprung zu gewinnen, dergestalt, daß seine Einnahme der Ausgabe immer um ein Jahr voraus ist. Er hat lieber seine Fonds um einiges verringern, als immer hinter seinen Renten zurückbleiben wollen. Der Vortheil, daß er auf diese Weise nicht gezwungen ist, bei dem geringsten unvorhergesehenen Unfall zu verderblichen Auskunftsmitteln zu greifen, hat ihm jene Vorwegnahme vom Kapitale schon reichlich wieder eingebracht. Ordnung und Regelmäßigkeit dienen ihm so statt barer Ersparniß, und er bereichert sich durch das, was er ausgegeben hat.
Die Herrschaft dieses Hauses erfreut sich, nach den gewöhnlichen Vorstellungen von Reichthum, nur eines mittelmäßigen Vermögens; im Grunde aber kenne ich Niemanden, der wohlhabender wäre, als sie. Unbedingten Reichthum giebt es nicht. Dieses Wort drückt nur das Verhältniß aus, in welchem das, was der Reiche bestreiten kann, das Maß seiner Bedürfnisse übersteigt. Mancher ist reich bei einem Morgen Landes; Mancher bettelarm mitten unter Haufen Goldes. Unordnung und Launen haben keine Gränzen, und machen mehr Leute arm, als die wirklichen Bedürfnisse. Hier ist das Verhältniß auf eine Grundlage gestellt, welche es unwandelbar macht, nämlich auf die Uebereinstimmung der beiden Gatten. Der Mann hat das Geschäft übernommen, den Eingang der Renten zu bewirken, die Frau leitet die Verwendung derselben, und in der Harmonie, welche zwischen ihnen herrscht, liegt die Quelle ihres Reichthums.
Was mich anfangs in diesem Hause am meisten überrascht hat, war der Umstand, daß ich darin Behaglichkeit, Freiheit, Frohsinn bei aller Ordnung und Pünktlichkeit herrschen sah. Sonst ist der große Fehler in wohlgeordneten Häusern, daß sie ein trübseliges und gezwängtes Ansehen haben. Die ungemeine Sorgsamkeit der Leute schmeckt immer ein wenig nach Geiz; Alles, was sie umgiebt, verräth eine lästige Aengstlichkeit; die Strenge der Ordnung führt etwas Knechtisches mit sich, das man nur mit Widerwillen erträgt. Die Bedienten thun ihre Schuldigkeit, aber mit unzufriedenen und furchtsamen Mienen. Die Gäste sind wohl aufgenommen, aber sie bedienen sich der Freiheit, die man ihnen gestattet, nur mit Mißtrauen, und da man sich als Gast immer außer der Regel sieht, so thut man nichts ohne Furcht, sich lästig zu machen. Man fühlt, daß diese Sklaven von Vätern nicht für sich leben, sondern für ihre Kinder, ohne daran zu denken, daß sie nicht blos Väter sind, sondern Menschen, und daß sie ihren Kindern ein Beispiel geben sollen von einem wahrhaft menschlichen Leben und von einem Glücke, welches eine Frucht der Weisheit ist. Hier werden vernünftigere Grundsätze befolgt: man ist der Meinung, daß eine der hauptsächlichsten Pflichten eines guten Familienvaters nicht nur die ist, seinen Wohnsitz mit Annehmlichkeiten auszustatten, damit es den Kindern im Hause wohl sei, sondern selber ein behagliches und heiteres Leben zu führen, damit sie fühlen, daß man glücklich ist, wenn man lebt wie er, und niemals in Versuchung gerathen, ein Verhalten, das dem seinigen entgegengesetzt wäre, für das Wesentliche zu nehmen. Eine der Maximen, welche Herr v. Wolmar am häufigsten in Bezug auf die Erheiterungen der beiden Cousinen wiederholt, ist diese, daß ein kleinliches und trauriges Leben der Eltern fast immer die erste Quelle der Unordnungen ist, in welche die Kinder verfallen.
Julie, die nie etwas Anderes zur Richtschnur nahm, als ihr Herz, und auch keine zuverlässigere finden könnte, folgt dem Antrieb desselben unbedenklich, und thut, um Gutes zu thun, Alles, was es von ihr fordert. Es verfehlt nicht, viel von ihr zu fordern, und Niemand versteht besser als sie, Dem Werth beizulegen, was das Leben süß macht. Wie sollte diese empfindsame Seele für Freuden unempfindlich sein? Im Gegentheil, sie liebt sie, sie sucht sie, sie entzieht sich keiner, die ihr wohlthut. Man sieht, daß sie sie zu genießen versteht, aber ihre Freuden sind die Freuden einer Julie. Sie vernachlässigt weder was zu ihrer eigenen Gemächlichkeit noch was zur Gemächlichkeit der Andern, die ihr lieb sind, das heißt, ihrer ganzen Umgebung, dienen kann. Sie achtet nichts für überflüssig, was zu dem Wohlsein eines vernünftigen Wesens beitragen kann, aber überflüssig nennt sie Alles, was nur dazu dient, in den Augen Anderer zu glänzen, so daß man in ihrem Hause den Luxus des Vergnügens und der Genüsse ohne Verfeinerung und Weichlichkeit findet. Was den Luxus der Pracht und der Eitelkeit anlangt, so sieht man davon nur so viel, als sie dem Geschmacke ihres Vaters nicht hat versagen können, und auch darin selbst erkennt man noch immer den ihrigen, dessen Wesen es ist, den Dingen weniger Glanz und Schimmer als Zierlichkeit und Anmuth zu geben. Wenn ich ihr erzähle, was für Erfindungen in Paris und London täglich gemacht werden, um die Kutschen sanfter in Federn zu hängen, so billigt sie das einigermaßen; wenn ich ihr aber sage, bis zu welchen Preisen man den Firniß nimmt, so versteht sie mich nicht, und fragt nur, ob denn dieser schöne Firniß etwa zur Bequemlichkeit der Wagen beiträgt. Sie hält es für ausgemacht, daß ich sehr übertreibe, wenn ich ihr von den skandalösen Bildern sage, die man mit großen Kosten anstatt der Wappen, die ehemals in Gebrauch waren, auf die Wagen malen läßt; als ob es schöner wäre, sich den Vorübergehenden als einen Mann von schlechten Sitten, denn als einen Mann von Stande anzukündigen. Am meisten war sie empört, als sie hörte, daß die Frauen diesen Gebrauch eingeführt, oder doch begünstigt hätten, und daß deren Karossen sich von denen der Männer nur durch etwas unanständigere Gemälde unterschieden. Ich war genöthigt, ihr hierüber ein Wort Ihres ausgezeichneten Freundes anzuführen, welches sie viel Mühe hatte zu verdauen. Ich war eines Tages bei ihr, als man ihr ein vis-à-vis dieser Art zeigte. Kaum hatte sie die Augen auf den Schlag fallen lassen, als sie hinwegging, und zu dem Besitzer sagte: Zeigen Sie diese Kutsche Frauen vom Hofe; ein anständiger Mensch wird nicht wagen, sich ihrer zu bedienen.
Wie es der erste Schritt zum Guten ist, nichts Böses zu thun, so ist es der erste Schritt zum Glücke, keine Leiden zu haben. Diese beiden Sätze, die wohl verstanden, viele Moralvorschriften überflüssig machen würden, hält Frau von Wolmar werth. Sie besitzt eine außerordentliche Empfindlichkeit für eigenes wie für fremdes Unwohlsein, und es würde ihr nicht leichter fallen, sich glücklich zu fühlen, wenn sie sich von Unglücklichen umgeben sähe, als dem rechtschaffenen Manne, seine Tugend stets rein zu bewahren, wenn er beständig unter schlechten Menschen lebt. Ihr Mitleid ist nicht jenes barbarische, welches sich damit begnügt, von Leiden, die man lindern könnte, die Augen abzuwenden, sie sucht die Leidenden auf, um ihnen zu helfen: daß es Unglückliche giebt, nicht der Anblick solcher ist ihr eine Marter; und es ist ihr nicht genug, nicht zu wissen, daß es welche giebt, sie muß, um ruhig zu sein, wissen, daß es keine giebt, wenigstens in ihrer Umgebung, denn das hieße die Grenzen der Vernunft überschreiten, wenn man sein Glück von dem Glücke aller Menschen abhängig machen wollte. Sie erkundigt sich nach den Bedürfnissen ihrer Nachbarschaft, mit der Wärme, die man sonst an seine eigenen Angelegenheiten wendet; sie kennt alle Bewohner der Gegend; sie dehnt, so zu sagen, den Umkreis ihrer Familie über sie alle aus, und spart keine Mühe, um von ihnen alle Leiden und Schmerzen fern zu halten, denen das menschliche Leben unterworfen ist.
Milord, ich will mir Ihre Lehren gern zu Nutze machen; aber verzeihen Sie mir einen Enthusiasmus, den ich mir nicht mehr zum Vorwurf mache, und den Sie ja doch theilen. Es wird keine zweite Julie in der Welt geben. Die Vorsehung hat über sie gewacht, und nichts, was sie betrifft, ist eine Wirkung des Zufalls. Der Himmel scheint sie der Erde geschenkt zu haben, um ein Beispiel zu geben von der Trefflichkeit, deren eine menschliche Seele fähig ist, und von dem Glücke, das eine solche in der Dunkelheit des Privatlebens genießen kann, ohne Hülfe jener glänzenden Tugenden, welche sie über sich selbst erheben, oder des Ruhmes, den diese nach sich ziehen können. Ihr Fehltritt, wenn es einer war, hat nur dazu gedient, ihre Kraft und ihren Muth zu entwickeln. Ihre Verwandte, ihre Freunde, ihre Leute, lauter gute Menschen, waren dazu geschaffen, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden. Ihr Vaterland war das einzige, welches dazu geeignet war, ein Wesen wie sie der Welt zu schenken; die Natürlichkeit, in welcher sie sich so erhaben darstellt, mußte in ihrer Umgebung herrschen; sie mußte, um glücklich zu werden, unter glücklichen Menschen aufwachsen. Wenn sie zu ihrem Unglücke inmitten eines unglücklichen Volkes zur Welt gekommen wäre, welches unter dem Joche der Unterdrückung seufzt, und hoffnungslos und erfolglos gegen das Elend kämpft, von welchem es hingerafft wird, so würde jede Klage der Unterdrückten ihr Leben vergiftet, der allgemeine Jammer würde sie erdrückt, und ihr mitleidiges Herz würde, erschöpft von Schmerz und Pein, die Leiden, die sie nicht hätte lindern können. zu ihren Leiden gemacht haben.
Statt dessen hat nun aber Alles dazu gedient, ihre natürliche Gutmüthigkeit zu beleben und zu fördern. Sie hat kein öffentliches Unglück zu bejammern, sie hat kein grauses Bild von Elend und Verzweiflung vor Augen. Der Bauer in behaglicher Lage [Es liegt bei Clarens ein Dorf Namens Moutru, dessen Gemeinde allein reich genug ist, um alle Gemeindeglieder zu erhalten, hätten sie auch keinen Zollbreit Landes eigen; auch ist das Bürgerrecht dieses Orts fast eben so schwer zu erlangen, als das von Bern. Wie schade doch, daß es nicht da irgend einen braven Gesellen von Subdelegirten giebt, um die Herren von Moutru ein bißchen geselliger und ihr Bürgerrecht ein bißchen weniger theuer zu machen!] bedarf mehr ihres guten Rathes als ihrer Unterstützung. Wenn sich irgend eine Waise findet, die zu jung ist, um sich selbst zu ernähren, irgend eine vergessene Witwe, die im Verborgenen leidet, irgend ein kinderloser Greis, den seine vom Alter geschwächten Arme nicht mehr ernähren können, so hat sie nicht zu fürchten, daß ihre Wohlthaten ihnen nur Schaden thun werden, und ihnen die Last öffentlicher Abgaben aufbürden, damit statt ihrer anerkannte Schurken von denselben befreit bleiben. Sie hat Genuß von dem Guten, welches sie thut, indem sie es gut anschlagen sieht; das Glück, welches sie genießt, vervielfältigt sich und breitet sich ringsum aus. Jedes Haus, das sie betritt, stellt bald ein Bild von dem ihrigen dar, Gemächlichkeit und Wohlsein sind noch das Mindeste, was ihr Einfluß bewirkt; Eintracht und guter Wandel folgen ihren Tritten von Wirthschaft zu Wirthschaft. Wenn sie aus dem Hause geht, begegnen ihren Augen nur angenehme Gegenstände; wenn sie heimkommt, findet sie drinnen noch süßere; überall sieht sie, was ihrem Herzen gefällt, und diese der Eigenliebe so wenig zugängliche Seele lernt sich in ihren Wohlthaten lieben. Nein, Milord, ich wiederhole es, nichts, was Julie berührt, ist ohne Bedeutung für die Tugend. Ihre Reize, ihre Talente, ihre Neigungen, ihre Kämpfe, ihre Fehltritte, ihre Reue, ihr Wohnsitz, ihre Freunde, ihre Familie, ihre Leiden, ihre Freuden und ihr ganzes Loos, Alles macht ihr Leben zu einem einzigen Musterbilde, das wenige Frauen werden nachahmen wollen, von dem sie aber alle wider Willen entzückt sein werden.
Bei dem, was man hier für das Glück Anderer thut, gefällt mir am meisten, daß man stets die Klugheit dabei walten läßt, und daß nie ein Mißbrauch daraus entspringt. Wohlthätig ist nicht Jeder, der sich's einfallen läßt, und Mancher glaubt oft große Dienste zu leisten, der mit einem Bißchen Guten, das in's Auge fällt, großes Uebel, welches er nicht bemerkt, anrichtet. Eine Eigenschaft, die sich bei Frauen vom besten Charakter selten findet, bei Frau von Wolmar aber ausgezeichnet glänzend hervortritt, ist eine vorzügliche Unterscheidungsgabe bei der Vertheilung ihrer Wohlthaten, sowohl was die Wahl der Mittel, um dieselben nutzreich zu machen, als was die Wahl der Personen betrifft, denen sie sie spendet. Sie hat sich gewisse Regeln festgestellt, von denen sie nicht abgeht; sie versteht es, das, um was man sie bittet, zu gewähren oder zu verweigern, ohne daß sich in ihrer Güte Schwäche oder in ihrer Weigerung Laune verräth. Wer sich in seinem Leben eine schlechte Handlung zu Schulden kommen ließ, hat von ihr nichts zu hoffen als Gerechtigkeit, und wenn er sie selbst beleidigt hat, Verzeihung, nie Gunst oder Protection, die besser angewendet werden könnten. Ich habe sie mit ziemlicher Trockenheit einem Menschen dieser Art eine Gnade abschlagen sehen, welche ganz nur von ihr abhing. „Ich wünsche Euch Glück, sagte sie zu ihm, aber ich will nichts dazu beitragen, denn ich müßte fürchten, Andern zu schaden, wenn ich Euch in den Stand setzte, es zu thun. Die Welt ist nicht so arm an braven Leuten, die in Noth sind, daß einem nichts bliebe, als an Euch zu denken." Allerdings wird ihr solche Härte außerordentlich sauer, und nur selten bringt sie sie in Anwendung. Ihr Grundsatz ist, alle diejenigen für gut zu halten, von deren Schlechtigkeit sie keinen Beweis hat; es giebt nun freilich nur wenig schlechte Leute, die es nicht so geschickt anzufangen wüßten, daß ihnen nichts bewiesen werden kann. Sie weiß nichts von jener faulen Mildthätigkeit der Reichen, die dem Unglücklichen mit baarem Gelde das Recht abkaufen, ihm seine Bitten abzuschlagen, und statt einer Wohlthat, um die sie angefleht werden, nie etwas Anderes zu geben wissen, als ein Almosen. Ihre Börse ist nicht unerschöpflich, und seit sie Familienmutter ist, weiß sie sich mit der Anwendung ihres Geldes besser einzurichten. Von allen Hülfeleistungen, mit denen man Unglücklichen beispringen kann, sind Geldgaben in der That diejenigen, mit denen man am wenigsten Mühe hat, zugleich aber auch die vorübergehendsten und ungründlichsten, und Juliens Bestreben ist nicht, die Leute loszuwerden, sondern ihnen zu nützen.
Ebenso ist sie nicht mit Empfehlungen und Dienstleistungen freigebig, wenn sie nicht die Ueberzeugung hat, daß man davon einen vernünftigen und guten Gebrauch machen werde, Ihre Protection wird niemals Solchen versagt, die ihrer wirklich benöthigt sind und sie verdienen: diejenigen aber, welche ihre Unruhe oder ihr Ehrgeiz verleitet, sich erheben und einen Stand, in welchem sie sich wohlbefinden, verlassen zu wollen, bringen sie selten dahin, daß sie etwas für sie thue. Der natürliche Beruf des Menschen ist, das Land zu bebauen und von dessen Ertrage zu leben. Der friedliche Ackersmann hat, um sein Glück zu fühlen, nichts weiter nöthig, als daß er es erkenne. Alle wahren Freuden des Menschen sind ihm erreichbar; er hat nur diejenigen Leiden zu erdulden, welche von dem Menschsein unzertrennlich sind, Leiden, die Der, welcher sich von ihnen zu befreien wähnt, nur gegen andere schmerzlichere vertauscht [Wenn der Mensch aus seiner ursprünglichen Einfachheit herausgeht, stumpft er sich so ab, daß er selbst den Sinn dafür verliert. Die Erfüllung seiner Wünsche könnte ihn zu Glück führen, nie aber zur Glückseligkeit.]. Dieser Stand allein ist ein nothwendiger und ist der nützlichste; er ist unglücklich nur dann, wenn die anderen ihn gewaltsam tyrannisiren oder ihn durch das Beispiel ihrer Laster verführen. Auf ihm beruht das wahre Wohl eines Landes, die Kraft und Größe, welche ein Volk aus sich selbst gewinnt, indem er es von andern Nationen unabhängig, Angriffe der eigenen Behauptung wegen unnöthig macht, und die sichersten Vertheidigungsmittel darbietet. Wenn es sich darum handelt, ein Urtheil über die Macht eines Staates abzugeben, so durchmustert der Schöngeist die Paläste des Fürsten, seine Häfen, seine Truppen, seine Arsenale, seine Städte; der wahre Politiker nimmt das angebaute Land in Augenschein und besucht die Hütte des Landmanns. Der erstere sieht, was gethan ist, der letztere, was geschehen kann.
Diesem Grundsatze gemäß läßt man es sich hier, und noch mehr in Étange, angelegen sein, so viel man kann, dazu beizutragen, daß die Bauern sich in ihrem Stande wohl fühlen, ist ihnen aber nie dazu behilflich, denselben zu verlassen. Die Aermsten wie die Wohlhabenden haben eine wahre Wuth, ihre Kinder in die Städte zu schicken; die Letzteren, damit sie studiren und eines Tages große Herren werden, die Ersteren, damit sie in Condition gehen und ihren Eltern die Last ahnehmen für sie zu sorgen. Die jungen Leute ihrerseits mögen oft gern umherstreichen; den Mädchen steht der Sinn nach städtischem Putz; die Bursche nehmen in der Fremde Kriegsdienste; sie bilden sich ein, mehr werth zu sein, wenn sie in ihr Dorf, anstatt der Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit, das zugleich hochfahrende und kriechende Wesen des Söldlings und die lächerliche Verachtung ihres alten Standes heimbringen. Hier aber wird ihnen vorgehalten, wie verkehrt diese Einbildungen sind, wie die Kinder verderbt werden, die Eltern verlassen bleiben, und welchen endlosen Gefahren für Leben, Habe und Sitten die Auswandernden sich preisgeben, indem für einen, dem es glückt, hundert zu Grunde gehen. Wenn sie hartnäckig beharren, so begünstigt man ihre unsinnige Einbildung auf keine Weise, man läßt sie sich in Laster und Elend stürzen, und wendet allen Fleiß darauf, diejenigen zu entschädigen, welche man bewogen hat, der Vernunft ein Opfer zu bringen. Man bringt ihnen Achtung für ihren natürlichen Beruf bei, indem man selber ihn in Ehren hält; man trägt vor dem Bauer keine städtischen Manieren zur Schau, sondern nimmt gegen ihn einen vertraulichen aber anständigen und ernsten Ton an, der den Unterschied der Stände nicht verwischt, den Landmann aber veranlaßt, auf den seinigen stolz zu sein. Es giebt keinen, der nicht dahin zu bringen wäre, sich selbst zu achten, wenn man ihm zeigt, daß man einen Unterschied macht zwischen ihm und jenen kleinen Emporkömmlingen, die einen Augenblick in ihrem Dorfe glänzen und ihre Verwandten mit ihrem Schimmer blenden.
Herr von Wolmar und der Baron, wenn er hier ist, verfehlen selten, den Waffenübungen, Preisvertheilungen und Besichtigungen im Dorfe und der Umgegend beizuwohnen. Das junge Volk hier, schon von Natur feurig und kriegerisch, gewinnt, wenn es sieht, daß alte Offiziere an seinen Versammlungen Gefallen finden, desto mehr Selbstachtung und Selbstvertrauen. Diese steigert man noch, indem man ihm zeigt, daß es Soldaten, die aus fremdem Dienst zurückgekehrt sind, in jeder Weise überlegen ist; denn, wie man es auch anstelle, fünf Sous Sold und die Furcht vor Stockschlägen werden nie einen solchen Wetteifer hervorbringen, wie unter freien Leuten, die sich in den Waffen üben, die Gegenwart ihrer Verwandten, ihrer Nachbarn, ihrer Freunde, der Geliebten und der Gedanke an den Ruhm des Vaterlandes.
Die Hauptmaxime der Frau von Wolmar ist also, Veränderungen des Standes nicht zu begünstigen, vielmehr dazu beizutragen, daß jeder sich in dem seinigen glücklich fühle, und insbesondere zu verhüten, daß der glücklichste von allen, der des Landbauers in einem freien Staate, nicht zu Gunsten der übrigen Stände geschwächt werde.
Ich machte ihr in Betreff dieses Punktes den Einwand, daß die Natur selbst ihre Gaben an die Menschen verschieden ausgetheilt und jedem seinen Beruf zugewiesen zu haben schiene, ohne Rücksicht auf den Stand, in welchem er geboren wird. Hierauf entgegnete sie mir, daß man zwei Dinge vor dem Talente berücksichtigen müsse, nämlich die guten Sitten und die Glückseligkeit. Der Mensch, sagte sie, ist ein zu edles Wesen, um nur Andern zum Werkzeug dienen zu müssen, und man muß ihn nicht zu dem gebrauchen, was diesen gebührt, ohne auch das zu bedenken, was ihm selbst gebührt, denn die Menschen sind nicht der Stellungen wegen da, sondern die Stellungen der Menschen wegen, und um Alles in die angemessene Ordnung zu bringen, muß man bei der Vertheilung der Aufgaben nicht sowohl suchen, wozu jeder Mensch am geeignetsten ist, als vielmehr, was für jeden am geeignetsten ist, um ihn so gut und so glücklich als möglich zu machen. Es ist nimmermehr erlaubt, eine menschliche Seele zum Vortheile Anderer schlechter zu machen, und Bösewichte zu schaffen, um den ehrlichen Leuten einen Dienst zu erzeigen.
Nun aber sind unter tausend Subjecten, die das Dorf verlassen, nicht zehn, die nicht in der Stadt zu Grunde gingen, und die nicht die Laster, welche sie sich dort aneignen, weiter umhertrügen, als jene, von denen sie sie gelernt haben. Diejenigen, denen es glückt, und die es zu etwas bringen, erreichen es fast immer nur auf den schändlichen Wegen, die dazu führen. Die Unglücklichen, denen es fehlschlägt, mögen nicht zu ihrem alten Stande zurückkehren, sondern werden lieber Bettler oder Diebe, als wieder Bauern, und wenn unter den Tausenden sich etwa einer finden sollte, der dem bösen Beispiele widersteht, und ehrlich bleibt, glauben Sie, daß dieser, Alles genommen, glücklicher lebt, als er außer dem Bereiche der wilden Leidenschaften in dem friedlichen Dunkel senes ersten Standes gelebt hätte?
Um seinen Anlagen zu folgen, muß man sie erst kennen. Ist es denn so leicht, jedesmal zu ermitteln, wozu ein Mensch Fähigkeiten besitzt? Und wenn es in dem Alter, in welches die Entscheidung fällt, so viel Schwierigkeiten macht, die Anlagen der Kinder, die man aufs Beste beobachtet hat, richtig zu erkennen, wie soll wohl ein Bauerknabe über die seinigen zur Gewißheit kommen? Nichts ist unsicherer als die Zeichen von Neigung, welche man in der Jugend blicken läßt, bei denen der Nachahmungstrieb oft mehr betheiligt ist, als das wirkliche Talent; sie werden weit öfter von allerlei Zufällen herbeigeführt sein, als von einem entschiedenen Hange, und der Hang selbst ist nicht immer ein Beweis von glücklicher Anlage. Das wahre Talent, das wahre Ge'nie hat eine gewisse Unschuld und Unbefangenheit, und ist weniger unruhig, weniger zappelnd, weniger beflissen sich zu zeigen, als ein scheinbares und falsches Talent, das man für ein wahres hält, während nichts da ist, als eine eitle Begierde zu glänzen, ohne daß dazu die Mittel vorhanden wären; Mancher hört eine Trommel und will General werden, ein Anderer sieht bauen und hält sich schon für einen Architekten. Justin, mein Gärtner, faßte Neigung zum Zeichnen, weil er mich hatte zeichnen sehen: ich schickte ihn nach Lausanne, um es zu lernen; er dünkte sieh schon Maler und ist in der That nichts weiter als ein Gärtner. Die Gelegenheit, der Wunsch vorwärts zu kommen, sind bei der Wahl des Standes entscheidend. Es ist nicht genug, daß man sein Genie fühle, man muß auch den Willen haben, sich ihm hinzugeben. Wird ein Prinz Kutscher werden wollen, weil er geschickt zu fahren versteht? Wird ein Herzog Koch werden, weil er erfinderisch in guten Ragouts ist? Man hat immer nur Talente, wenn sie höher führen; Niemand hat welche, um niederzusteigen; glauben Sie, daß dies so von der Natur geordnet ist? Wenn Jeder wirklich seine Anlage kennte und ihr folgen wollte, wie Viele würden es vermögen? Wie Viele würden die Hindernisse überwinden, die ihnen die Welt mit Unrecht in den Weg legt? Wie Viele würden unwürdige Mitbewerber besiegen? Der, welcher seine Schwäche fühlt, nimmt Schliche und Chikane zu Hülfe, die der Andere, welcher seiner selbst gewisser ist, verachtet. Haben Sie selbst mir nicht tausend Mal gesagt, daß so viele zum Besten der Künste gegründete Anstalten nur zu deren Schaden dienen? Indem man unbehutsam immer mehr Leute herbeizieht, vergrößert man die Gefahr, Fehlgriffe zu thun: das wahre Verdienst wird von der Masse erstickt, und die Belohnung, welche dem Geschicktesten gebührt, fällt dem Schlauesten zu. Wenn es eine Gesellschaft gäbe, in welcher die Beschäftigungen und die Stellungen genau nach den Talent und den persönlichen Verdiensten abgemessen wären, so könnte da Jeder nach dem Platze streben, den er auszufüllen am geschicktesten wäre aber man muß sich nach einer sichereren Richtschnur umsehen und auf die Würdigung des Talentes verzichten wenn das niedrigste von allen das einzige ist, mit welchem man sein Glück machen kann.
Ich muß weiter gehen, fuhr sie fort; ich kann mir nicht recht denken, daß die vielen so verschiedenartigen Talente der Einzelnen durchaus alle entwickelt werden müssen; denn sollte das eine Nothwendigkeit sein, so müßte auch die Unzahl Derer, welche sie besitzen, genau den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen. Wenn man die Feldarbeit nur Denen überließe, welche ein hervorstechendes Talent für den Ackerbau haben, oder dieser Arbeit alle Diejenigen entzöge, welche mehr Geschick zu einer andern zeigen, so würden nicht Hände genug übrig bleiben, um das Land zu bestellen und uns mit Bord zu versorgen. Ich möchte glauben, daß es mit den Talenten der Menschen wie mit den Kräften der Arzneimittel beschaffen ist, welche uns die Natur zur Heilung unsrer Krankheiten gegeben hat, obgleich im Grunde ihre Absicht ist, daß wir ihrer nicht bedürfen. Es giebt Pflanzen, welche uns vergiften, Thiere, welche uns auffressen, Talente, welche uns verderblich sind. Wenn man Alles immer nach seinen wesentlichen Eigenschaften gebrauchen sollte, so würde man den Menschen vielleicht weniger Gutes als Böses zufügen. Gute und einfache Völker haben nicht so viele Talente nöthig; sie erhalten sich besser durch ihre bloße Einfachheit, als andere durch all ihren Kunstfleiß; aber je mehr sie ausarten, desto mehr entwickeln sich ihre Talente, gleich als ob dieselben zum Ersatze für die verlorenen Tugenden dienen und auch die Schlechten selbst zwingen sollten, wider Willen nützlich zu wirken.
Ein anderer Punkt, über welchen ich mich nicht recht mit ihr vereinigen konnte, war die Beschenkung der Bettler. Da hier eine Landstraße durchgeht, so finden sich viele ein, und keinem wird ein Almosen versagt. Ich stellte ihr vor, daß dies nicht nur ein weggeworfenes Geld wäre, dessen man den wahren Armen beraubte, sondern daß diese Gewohnheit auch dazu beitrüge, das Bettlerpack und die Landstreicher zu vermehren, welche an einem so elenden Handwerk Gefallen finden, und indem sie der Gesellschaft zur Last fallen, diese auch noch der Arbeit berauben, die sie ihr leisten könnten.
Ich sehe wohl, sagte sie zu mir, daß Sie sich in den großen Städten die Grundsätze angeeignet haben, mit denen gefällige Wortdreher hartherzigen Reichen zu schmeicheln pflegen; Sie bedienen sich sogar der stehenden Ausdrücke dafür. Glauben Sie denn die Armen ihrer Menschenwürde zu berauben, indem Sie ihnen den verächtlichen Namen Bettlerpack anhängen? Erlaubt Ihnen das Ihr mitleidiges Herz? Thun Sie es nicht, mein Freund, ein solches Wort gehört nicht in Ihren Mund; es ist entehrender für den Hartherzigen, der sich seiner bedient, als für den Unglücklichen, der damit belegt wird. Ich will nicht entscheiden, ob die Verächter des Almosengebens Recht oder Unrecht haben; ich weiß aber so viel, daß mein Mann, der an Einsicht euren Philosophen nichts nachgiebt und mir öfters erzählt hat, was sie in dieser Sache vorzubringen pflegen, um in dem Herzen das natürliche Mitgefühl zu ersticken und es zur Unempfindlichkeit zu gewöhnen, diese Phrasen, wie mir immer schien, verachtet und mein Verfahren nicht mißbilligt. Was er darüber sagt, ist einfach; nämlich, man duldet und unterhält mit großen Kosten eine Masse von unnützen Gewerben, von denen mehrere nur dazu dienen, die Sitten zu verschlechtern. Will man das Bettlerhandwerk nun auch als ein Gewerbe betrachten, so hat man von ihm nichts der Art zu fürchten, findet vielmehr durch dasselbe Gelegenheit, das Gefühl der Theilnahme und der Menschlichkeit, welches uns alle zu Brüdern machen sollte, zu nähren. Wenn man es unter dem Gesichtspunkte des Talents betrachten will, warum sollte ich die Beredsamkeit des Bettlers, der mich rührt, und mich bewegt ihm zu helfen, nicht belohnen, wie ich einen Schauspieler bezahle, der mir ein paar unfruchtbare Thränen ablockt? Wenn dieser mir Liebe zu den guten Handlungen Anderer einflößt, so bringt mich jener dazu, selbst welche zu verrichten; was man im Schauspiel empfindet, ist augenblicklich vergessen, sobald man hinaus ist; aber an den Unglücklichen, dem man beigestanden hat, denkt man mit immer neuem Vergnügen zurück. Wenn die große Anzahl der Bettler dem Staate lästig ist, von wie vielen andern Gewerben, die man aufmuntert und duldet, ließe sich nicht dasselbe sagen! Es ist die Sache der Verwaltung, dafür zu sorgen, daß es keine Bettler gebe; muß man aber, um ihnen ihr Handwerk zu verleiden [Bettler ernähren, sagen sie, heißt Diebsschulen gründen. Gerade umgekehrt, es heißt machen, daß sie nicht zu Dieben werden. Ich gebe zu, daß man die Armen nicht zur Bettelei aufmuntern muß, wenn sie aber einmal dazu gebracht sind, muß man sie ernähren, damit sie nicht gezwungen seien, zu stehlen. Nichts führt so sehr zur Veränderung des Gewerbes, als wenn man nicht von dem seinigen leben kann; nun aber gewinnen diejenigen, welche dieses müßige Handwerk einmal gekostet haben, einen solchen Abscheu vor der Arbeit, daß sie lieber stehlen und sich hlängen lassen, als wieder von ihren Kräften Gebrauch machen. Ein Pfennig ist bald gefordert und abgeschlagen; aber mit zwanzig Pfennigen könnte ein Armer sein Abendbrod bestreiten, den zwanzig abschlägliche Antworten ungeduldig machen können. Wer würde eine so kleine Gabe je versagen, wenn er bedächte, daß er damit zwei Menschen retten kann, den einen vom Verbrechen, den andern vom Tode? Ich habe irgendwo gelesen, daß die Bettler ein Ungeziefer sind, das sich an die Reichen hängt. Es ist ganz natürlich, daß sich die Kinder an die Väter hängen; aber diese vermögenden und harten Väter wollen sie nicht erkennen, und überlassen den Armen die Sorge sie zu ernähren.], die Bürger unmenschlich und unnatürlich machen? Was mich betrifft, fuhr Julie fort, so weiß ich nicht, was die Armen für den Staat sind, aber ich weiß, daß sie alle meine Brüder sind, und daß ich nicht ohne eine Härte, die nicht zu entschuldigen wäre, ihnen die kleine Hülfe versagen kann, um die sie mich ansprechen. Die meisten von ihnen sind Landstreicher, ich gebe es zu, aber ich kenne die Leiden des Lebens zu gut, um nicht zu wissen, durch wie viele Unglücksfälle ein ganz braver Mensch zu diesem Loose heruntergebracht werden kann; und wie kann ich wissen, ob nicht vielleicht gerade der Unbekannte, der eben im Namen Gottes meinen Beistand fordert und um ein armseliges Stückchen Brod bettelt, ein solcher braver Mensch ist, der im nächsten Augenblick vor Elend umkommen und durch meine Weigerung in Verzweiflung gerathen würde? Das Almosen, das ich an der Thür geben lasse, ist unbedeutend; einen halben Kreuzer und ein Stück Brod versagt man keinem; die, welche sichtlich Krüppel sind, erhalten das Doppelte. Wenn ihnen auf ihrem Umgange in jedem wohlhabenden Hause so viel zu Theil wird, so reicht das hin, um sie für den Marsch zu erhalten, und mehr ist man dem fremden Bettler, der des Weges kommt, nicht schuldig. Sei es für sie immerhin keine wahre Hülfe, es ist wenigstens ein Beweis, daß man an ihren Leiden Theil nimmt, eine Milderung der Härte, die im Nein liegen würde, eine Art Guten-Tag, den man ihnen bietet. Ein halber Kreuzer und ein Stück Brod kosten nicht viel mehr, und sind doch eine bessere Antwort als ein: Gotthelf! gleich als ob die Gaben Gottes nicht in der Hand der Menschen lägen, und als ob es auf Erden andere Kornböden gäbe, als die Speicher der Reichen! Kurz, wie man auch über diese Unglücklichen denke, wenn man dem Herumtreiber, der bettelt, Nichts schuldig ist, so ist man wenigstens sich selbst schuldig, der leidenden Menschheit, oder dem eigenen Bilde in ihr die Ehre zu geben und sich nicht das Herz beim Anblick menschlichen Elends zu verhärten.
So halte ich es in Betreff Derer, welche, so zu sagen, ohne Vorwand und im guten Glauben betteln; was die betrifft, welche sich Arbeiter nennen und über Mangel an Beschäftigung klagen, so findet sich hier immer für sie Handwerkszeug und Arbeit. Auf diese Weise hilft man ihnen, stellt ihren guten Willen auf die Probe, und die Lügner wissen das schon so gut, daß sich keiner mehr bei uns blicken läßt.
So, Milord, nimmt diese englische Seele aus ihren Tugenden stets die Mittel, alle eitele Spitzfindigkeit zu bekämpfen, mit welcher die Hartherzigen ihre Laster überkleiden. Alle diese kleinen Beschäftigungen und andere ähnliche rechnet sie unter ihre Freuden, und füllt damit einen Theil der Zeit aus, die ihr ihre liebsten Pflichten übrig lassen. Wenn sie Alles gethan hat, was sie Ändern schuldig ist, und endlich an sich selbst denkt, so kann auch das, was sie thut, um sich das Leben angenehm zu machen, wieder ihren Tugenden beigezählt werden. So löblich und ehrenwerth sind bei Allem ihre Beweggründe, und so viel Mäßigung und Vernunft herrscht in Allem, was sie ihren Neigungen bewilligt! Sie will ihrem Manne zu Gefallen leben, dem es lieb ist, sie zufrieden und heiter zu sehen: sie will ihren Kindern den Geschmack an unschuldigen Freuden beibringen, denen Mäßigung, Ordnung und Einfachheit Werth geben, und die das Herz von ungestümen Leidenschaften ablenken. Sie belustigt sich, um ihre Kinder zu belustigen, wie die Taube in ihrem Magen das Korn aufweicht, mit welchem sie ihre Kleinen ernähren will.
Julie ist an Seele und Leib von gleich zarter Empfänglichkeit. Gleiches Feingefühl ist ihrem Empfindungsvermögen und ihren Organen gegeben. Sie ist von Natur befähigt, jedes Angenehme zu schmecken und zu empfinden, und lange Zeit hat sie die Tugend selbst nur als den süßesten aller Genüsse so innig geliebt. Jetzt, da sie sich im ruhigen Genusse dieser höchsten Befriedigung befindet, versagt sie sich keine der Freuden, welche sich mit jener gatten können; aber in ihrer Art, sie zu genießen, findet sich etwas von der Strenge Derer, die sie sich versagen: die Kunst zu genießen besteht für sie in der des Entbehrens; es ist nicht die Rede von solchen peinlichen und schmerzlichen Entbehrungen, welche die Natur verwunden, und deren unsinniges Opfer der Schöpfer verschmäht, sondern von vorübergehenden mäßigen Entbehrungen, bei denen die Vernunft die Herrschaft behauptet, die, dem Vergnügen zur Münze dienend, sowohl dem Ekel als dem Mißbrauch wehren. Sie behauptet, daß Alles, was der Sinnlichkeit angehört, und nicht zum Leben nothwendig ist, seine Natur ändert, sobald es zur Gewohnheit wird, daß es aufhört ein Vergnügen zu sein, wenn es ein Bedürfniß wird, daß man sich zugleich eine Fessel auflegt und einen Genuß raubt und daß man, wenn man dem Wunsche stets zuvorkommt, nicht die Kunst übt, ihn zu befriedigen, sondern ihn zu nichte zu machen Sie weiß auch dem Unbedeutendsten Werth zu geben, und thut dazu nichts, als daß sie sich dasselbe zwanzigmal versagt, um einmal Genuß davon zu haben. Diese einfache Seele bewahrt sich so ihre ursprüngliche Federkraft; ihr Geschmack nutzt sich nicht ab; sie hat nie nöthig ihn durch starke Reizmittel zu beleben, und ich sehe sie oft mit Entzücken ein kindisches Vergnügen genießen, das für jede Andere unschmackhaft sein würde.
Ein noch edlerer Zweck, den sie sich dabei vorsetzt, ist die Uebung der Herrschaft über sich selbst; sie sucht ihre Leidenschaften zum Gehorsam zu gewöhnen und alle ihre Begierden unter ihren Willen zu beugen; wiederum ein Mittel, glücklich zu sein, denn ohne Unruhe genießt man nur dessen, was man ohne Leid verlieren kann, und wenn das wahre Glück dem Weisen gehört, so ist das nur deshalb der Fall, weil er von allen Menschen derjenige ist, dem das Glück das Wenigste zu rauben hat.
Was mir bei ihrer Mäßigkeit am sonderbarsten vorkommt, ist dies, daß sie sich ihr aus denselben Gründen unterwirft, welche den Lüstling zur Unmäßigkeit treiben. Das Leben ist freilich kurz, sagt sie; dies ist ein Grund, es bis zum Ende auszukaufen, und mit Geschick über die vergönnte Zeit so zu verfügen, wie man aus ihr den meisten Nutzen ziehen kann. Wenn uns ein Tag der Sättigung ein Jahr des Genusses raubt, so ist es sehr unphilosophisch, stets so weit zu gehen, als uns dir Begierde treibt, ohne zu bedenken, ob wir nicht mit unsern Kräften eher zu Ende sein werden, als mit unsrer Laufbahn, und ob nicht unser erschöpftes Herz eher sterben wird, als wir. Ich sehe, daß die gemeinen Epikuräer dadurch, daß sie nie eine einzige Gelegenheit einbüßen wollen, alle verlieren, und mitten unter Freuden, von allen angewidert, keine einzige Freude finden können. Sie vergeuden die Zeit, mit der sie hauszuhalten meinen, und richten sich zu Grunde, gleich den Geizigen, weil sie nicht zu rechter Zeit etwas aufzugeben verstehen. Ich befinde mich wohl bei der entgegengesetzten Methode, und ich glaube, daß ich es in diesem Punkte lieber mit zu vieler Strenge als mit zu vieler Nachgiebigkeit halten würde. Es begegnet mir manchmal, daß ich mir eine Vergnügung versage, aus keinem andern Grunde, als weil sie mir zu viel Vergnügen machte; indem ich sie dann wieder aufnehme, genieße ich sie doppelt. Inzwischen übe ich mich, mir die Herrschaft meines Willens über mich selbst zu bewahren, und will lieber für grillenhaft gehalten werden, als mich von meinen Launen beherrschen lassen.
Hören Sie, wie man es hier mit dem hält, was man Lebensannehmlichkeiten zu nennen pflegt: Julie neigt ein wenig zur Leckerheit, und bei dem Fleiße, den sie auf alle Theile der Wirthschaft verwendet, ist besonders die Küche nicht vernachlässigt. Der Tisch ist immer reichlich besetzt, jedoch ohne unerschwinglichen Aufwand; es ist für den Gaumen gesorgt, jedoch ohne Ueberfeinerung; die Speisen sind die alltäglichen, aber von ausgezeichneter Güte; die Zubereitung ist einfach, aber höchst schmackhaft. Alles, was nur Gegenstand des Luxus ist. Alles, was seinen Werth nur in der Einbildung hat, alle feinen und ausgesuchten Schüsseln, deren Vorzug nur in der Seltenheit besteht, deren Namen man wissen muß, um sie gut zu finden, sind hier gänzlich verbannt, und selbst in der Bereitung und Wahl derjenigen, die man sich verstattet, enthält man sich für alle Tage gewisser Dinge, die man sich aufspart, um manchen Mahlzeiten einen festlichen Anstrich zu geben, der sie angenehmer macht, ohne größere Kosten zu verursachen. Was für Speisen sind es wohl, Ihrer Meinung nach, die man sich so bedächtig aufspart? — Seltenes Wildpret? — Seefisch? — Ausländische Producte? — O, weit bessere Sachen: irgend ein vorzügliches einheimisches Gemüse, irgend ein besonders schmackhaftes Kraut, das in unsern Gärten wächst, irgend ein Fisch aus unserm See auf gewisse Art zubereitet, irgend eine Käseart von unserem Gebirge, irgendein Backwerk à l'Allemande, und vielleicht ein Stück von der eignen Jagd der Leute vom Hause: solcherlei und nichts Anderes ist das Außergewöhnliche, das hier vorkommt, das, womit man den Tisch belädt und ziert, was unsern Appetit an Freudentagen reizt und stillt. Das Tischgeräth ist bescheiden und ländlich, aber blank und sauber; Anmuth und Frohsinn herrschen bei dem Mahle, Heiterkeit und Hunger würzen es. Vergoldete Aufsätze, bei denen man Hungers stirbt, prächtige Krystallvasen mit Blumen vollgestopft, statt Deserts, füllen nie den für Speisen bestimmten Raum aus; man versteht die Kunst nicht, den Magen durch die Augen zu befriedigen, wohl aber die, einer guten Kost noch Reiz hinzuzufügen, tüchtig zu essen, ohne sich zu überladen, fröhlich zu trinken, ohne sich die Vernunft zu rauben, lange zu tafeln, ohne sich zu langweilen, und immer ohne Ekel vom Tische aufzustehen.
Außer dem gewöhnlichen Speisezimmer, welches im Erdgeschoß liegt, ist noch ein kleiner Speisesaal im ersten Stock vorhanden. Dieser Privatspeisesaal liegt an der Ecke des Hauses und erhält sein Licht von zwei Seiten; auf der einen hat man die Aussicht auf den Garten, und zwischen den Bäumen hindurch auf den See, auf der andern auf die Rebhügel, die schon anfangen, die Schätze zur Schau zu stellen, die man in zwei Monaten auf ihnen ernten wird. Der Saal ist klein, aber geschmückt mit Allem, was ihn angenehm und freundlich machen kann. In ihm giebt Julie ihre kleinen Feste, ihrem Vater, ihrem Manne, ihrer Cousine, mir, sich und manchmal ihren Kindern. Wenn iie dort zu decken befiehlt, so weiß man schon, was das sagen will, und Herr von Wolmar nennt ihn scherzhaft den Apollosaal. Aber von jenem des Lucullus unterscheidet ihn nicht weniger die Wahl der Tischgenossen, als die der Speisen. Bloße Gäste werden in ihm nicht bewirthet; es wird nie da gegessen, wenn man Fremde hat; es ist die heilige Freistatt des Vertrauens, der Freundschaft, der Freiheit; durch die Herzensgemeinschaft ist an diesem Orte die Tischgemeinschaft bedingt; die Zulassung zu ihm ist gewissermaßen eine Einweihung in die Geheimnisse der Traulichkeit, und nur Personen versammeln sich dort, die sich nie mehr von einander trennen möchten. Milord, die Festlichkeit erwartet Sie, und in diesem Saale werden Sie hier Ihre erste Mahlzeit halten.
Ich hatte nicht gleich anfangs diese Ehre; erst als ich von Frau von Orbe zurückkam, wurde ich im Apollosaal bewirthet. Ich hatte mir eingebildet, daß nach dem ersten Empfange, den ich gefunden hatte, nichts noch Verbindlicheres stattfinden konnte, aber dieses Abendessen hat mich eines Andern belehrt: ich fand dabei eine unbeschreiblich köstliche Mischung von Traulichkeit, Freude, Seelengemeinschaft, Wohlbehagen, wie ich es noch nie gefunden hatte. Ich fühlte mich zwangloser, ohne daß es dazu einer Aufforderung bedurft hätte: es war mir, als verständen wir uns besser, als zuvor. Die Abwesenheit der Bedienten lud ein, nichts mehr im Herzen verschlossen zu halten; auch fing ich auf Juliens Bitte wieder an, was ich seit so vielen Jahren nicht gethan hatte, mit meinen Wirthen nach der Mahlzeit unvermischten Wein zu trinken.
Dieses Abendessen war bezaubernd; ich hätte gewünscht, daß alle unsere Mahlzeiten in derselben Weise stattgefunden hätten. Von diesem allerliebsten Saal, sagte ich zu Frau von Wolmar, wußte ich noch nichts: warum essen Sie nicht immer darin? — Sehen Sie, gab sie zur Antwort, er ist so hübsch! Wäre es nicht schade, ihn zu verderben?
Diese Antwort schien mit zu wenig ihrem Charakter entsprechend, um mich nicht einen verborgenen Sinn vermuthen zu lassen. Warum haben Sie nicht wenigstens immer, fuhr ich fort, dieselben Bequemlichkeiten zusammen, wie hier, damit man der Bedienten entbehren und in Freiheit plaudern könnte? Weil dies zu angenehm wäre, versetzte sie, und die Langweiligkeit, es stets behaglich zu haben, am Ende die schlimmste von allen ist. Mehr brauchte ich nicht, um ihr System zu begreifen, und ich gestand mir, daß in der That die Kunst sich seine Freuden zu würzen nur darin besteht, haushälterisch mit ihnen umzugehen.
Ich finde, daß sie sich sorgfältiger anzieht, als früher. Die einzige Eitelkeit, die man ihr ehedem vorzuwerfen hatte, war die, daß sie ihren Anzug vernachlässigte; die Stolze hatte ihre Gründe: sie ließ mir keinen Vorwand, ihre Macht in etwas Unrechtem zu suchen. Zwar mochte sie thun, was sie wollte, der Zauber, den sie übte, war zu groß, um ihn in etwas Natürlichem zu suchen: ich bildete mir fest ein, daß ihre Nachlässigkeit ein Kunstmittel sei; sie hätte sich mit einem Sack putzen können und ich würde sie der Koketterie geziehen haben. Jetzt würde nun ihre Macht nicht geringer sein, aber sie verschmäht es, Gebrauch davon zu machen, und ich würde nun wieder sagen, sie wähle mit Absicht einen gesuchteren Putz, um sich blos als die hübsche Frau und nichts weiter darzustellen, wenn ich nicht die wahre Ursache entdeckt hätte, warum sie auf ihre Kleidung mehr Sorgfalt verwendet. Die ersten Tage täuschte ich mich: indem ich nicht bedachte, daß sie bei meiner Ankunft, wo man mich doch nicht erwartet hatte, nicht anders angezogen war, erdreistete ich mich, die Ehre ihrer Sorgfalt auf meine Rechnung zu schreiben. Während der Abwesenheit des Herrn von Wolmar wurde ich enttäuscht. Gleich am andern Tage war nicht mehr die vorige Eleganz zu sehen, die das Auge nicht satt wurde zu betrachten, aber auch nicht jene rührende, wollüstige Kunstlosigkeit, die mich ehedem berauschte, sondern eine gewisse Bescheidenheit, die durch das Auge zum Herzen spricht, die nur Achtung einflößt, und deren Wirkung durch die Schönheit erhöht wird. Die Würde, welche der Gattin und Mutter geziemt, herrschte über alle ihre Reize; der ihr eigene schüchterne und zärtliche Blick war gemessener geworden, und man hätte sagen sollen, daß ein großartigeres, edleres Wesen die Sanftheit ihrer Züge bedeckt hielt. Nicht daß sich die geringste Veränderung in ihrer Haltung und in ihrem Benehmen gezeigt hätte; ihr stets sich gleiches, unschuldiges Wesen hat nie das Mindeste von Zierereien gewußt; sie machte nur von dem den Frauen natürlichen Talente Gebrauch, uns durch eine Abwechselung im Anzuge. durch eine andere Form des Kopfputzes, durch eine neue Farbe des Kleides anders zu stimmen, und über unsre Herzen die Herrschaft des Geschmackes auszuüben, die aus Nichts Etwas macht. An dem Tage, da sie ihren Mann zurückerwartete, stellte die Kunst sich wieder ein, um ihre natürliche Grazie zu beleben, ohne sie zu verdecken; sie war blendend, als sie von ihrer Toilette kam; ich fand, daß sie es nicht weniger verstand, den glänzendsten Putz zu beschämen, als den einfachsten zu zieren, und mit Verdruß sagte ich zu mir selbst, als ich erkannte, wem ihre Bemühung galt: hat sie je für die Liebe so viel gethan?
Die Freude am Schmuck hat sich von der Herrin des Hauses über Alle verbreitet, die demselben angehören. Der Herr, die Kinder, die Bedienten, die Pferde, die Gebäude, die Meubles, Alles ist mit einer Sorgfalt gehalten, welche zeigt, daß man nicht unvermögend ist, Pracht zu entwickeln, daß man es aber verschmäht; oder vielmehr es ist in der That Pracht da, wenn es anders wahr ist, daß diese weniger in dem Reichthum gewisser Gegenstände besteht, als in einer schönen Ordnung des Ganzen, welche die einzelnen Theile in Uebereinstimmung setzt und Einheit in den Gedanken des Ordners verräth [Dies scheint mir unbestreitbar. Es ist Pracht in der Symmetrie eines gr0ßen Palastes, keine in einer Masse durcheinander gewürfelter Häuser. Es ist Pracht in der Uniform eines in Parade aufmarschirten Regiments, keine in der Volksmasse, welche zuschaut, obgleich sich unter dieser vielleicht kein Einziger befindet, dessen Kleidung nicht mehr werth wäre, als die jedes Soldaten. Mit Einem Worte, die wahre Pracht liegt nur in der im Großen und Ganzen sichtbar gemachten Ordnung, und daher kommt es, daß von allen erdenklichen Schauspielen das der Natur das prachtvollste ist.]. Ich für mein Theil wenigstens finde, daß es ein größerer und edlerer Gedanke ist, in einem einfachen und bescheidenen Hause eine kleine Anzahl von Menschen zu sehen, die sich durch gemeinsames Glück beseligt fühlt, als in einem Palaste Zwietracht und Unordnung herrschen und jeden von Denen, die ihn bewohnen, sein Wohl und sein Glück in dem Schaden eines Andern und in der allgemeinen Verwirrung suchen zu sehen. Das wohlgeordnete Haus ist erst eines, und bildet ein erfreuliches Ganze; in dem Palaste findet man nur ein verworrenes Gemenge von verschiedenartigen Gegenständen, deren Verbindung unter einander nur scheinbar ist. Auf den ersten Blick glaubt man Alles zu Einem Ziele wirken zu sehen; wenn man besser zusieht, findet man sich bald enttäuscht.
Nur nach dem natürlichsten Eindruck zu urtheilen. sollte es scheinen, daß man, um Glanz und Luxus zu verachten, weniger einen mäßigen Sinn, als Geschmack nöthig habe. Symmetrie und Regelmäßigkeit gefallen jedem Auge; jedes Bild des Wohlseins und des Glückes rührt das menschliche Herz, welches danach lüstern ist: welche Vorstellung aber könnte ein eitler Prachtaufwand, der weder auf schöne Ordnung noch auf menschliches Glück zielt, und nichts Anderes zum Zwecke hat, als in die Augen zu fallen, dem Beschauer zu Gunsten Dessen machen, der ihn zur Schau stellt? Eine Vorstellung von Geschmack? Offenbart sich aber der Geschmack nicht tausendmal besser in einfachen Dingen, als in denen, welche mit Reichthum überladen sind? Oder eine Vorstellung von Bequemlichkeit? Giebt es aber etw^s Unbequemeres als überflüssige Pracht [Das Geräusch der vielen Leute im Hause stört unablässig die Ruhe des Herrn; er kann vor so vielen Argusaugen nicht das Geringste verbergen. Die Schaar seiner Gläubiger läßt ihn die seiner Bewunderer theuer bezahlen. Seine Zimmer sind so prächtig, daß er gezwungen ist in einem Verschlage zu schlafen, um sich's bequem zu machen, und sein Affe wohnt manchmal besser als er. Wenn er speisen will, so hängt er von seinem Koche ab, und niemals von seinem Hunger; wenn er aus will, ist er von seinen Pferden tyrannisirt; tausend Hindernisse halten ihn in jeder Straße auf; er brennt vor Ungeduld, sen Ziel zu erreichen, und denkt nicht daran, daß er Beine hat. Chloe erwartet ihn, der Straßenkoth ist ihm ein Hinderniß, die Last des Goldes auf seinem Kleide zieht ihn zu Boden, er kann nicht zehn Schritte zu Fuße machen; aber wenn er ein Stelldichein mit seiner Geliebten einbüßt, so entschädigen ihn doch die Vorübergehenden; jeder bemerkt seine Livrée, bewundert sie und sagt ganz laut:l das ist der Herr von So und So.]? Oder eine Vorstellung von Größe? Vielmehr gerade das Gegentheil! Wenn ich sehe, daß man einen großen Palast hat haben wollen, so frage ich sogleich: warum ist dieser Palast nicht größer? Warum hat Der, welcher fünfzig Bedienten hält, nicht hundert? Warum ist dieses schöne Silbergeschirr nicht von Gold? Warum, vergoldet der Mann, der seine Kutsche vergoldet, nicht seine Wände? Und wenn seine Wände vergoldet sind, warum ist es nicht auch sein Dach? Jene, die einen hohen Thurm zu bauen unternahmen, hatten ganz recht, daß sie ihn gleich bis an den Himmel bauen wollten; denn, was hätte es ihnen geholfen, ihn hoch zu bauen? Der Punkt, wo sie stehen geblieben wären, hätte nur aus desto größerer Ferne den Beweis ihrer Ohnmacht gegeben. O eitles Menschlein! Zeige mir deine Macht, ich will dir gleich deine Erbärmlichkeit zeigen.
Dagegen giebt eine Anordnung der Dinge, bei welcher der Meinung nichts nachgegeben ist, sondern Alles und Jedes seinen wahren Sinn und Nutzen hat, und sich darauf beschränkt, die wirklichen Anforderungen der Natur zu befriedigen, ein Schauspiel, welches nicht nur vor der Vernunft Billigung findet, sondern Augen und Herzen labt, indem sich der Mensch darin nur in den ihm angenehmen Beziehungen erblickt, gleichsam sich selbst genügend, indem sich das Bild seiner Schwäche dabei ihm nicht aufdrängt, indem dies lachende Gemälde keine traurigen Nebengedanken weckt. Zeigt mir den vernünftigen Mann, der eine Stunde lang den Palast eines Fürsten und die Pracht, welche darin glänzt, betrachten kann, ohne melancholisch zu werden, und das Loos der Menschheit zu beklagen. Aber der Anblick dieses Hauses und des gleichförmigen und einfachen Lebens seiner Bewohner flößt in die Seele des Beschauers einen geheimen Zauber, der sich fort und fort steigert. Eine kleine Anzahl von lieben, friedfertigen Menschen, durch das gegenseitige Bedürfniß und durch wechselseitiges Wohlwollen mit einander verbunden, arbeitet in mannichfaltiger Thätigkeit auf ein gemeinsames Ziel hin; indem jeder in seiner Lage Alles findet, dessen er bedarf, um zufrieden zu sein, und keine Veränderung derselben zu wünschen, gewinnt er Liebe zu ihr, wie zu einer solchen, in der man sein Lebenlang bleiben soll, und der einzige Ehrgeiz, den Jeder hat, ist der, die Pflichten seiner Stellung vollkommen zu erfüllen. Eine solche Mäßigung beherrscht Die, welche befehlen, und ein solcher Eifer Die, welche gehorchen, daß Gleichgestellte dieselben Geschäfte unter sich hätten vertheilt haben können, ohne daß irgend Einer sich über seinen Antheil beklagt haben würde. So beneidet denn Keiner den Antheil des Andern; Keiner glaubt, sein Wohl anders befördern zu können, als durch die Beförderung des Gemeinwohles; die Herrschaft selbst schätzt ihr Glück nur nach dem der Leute, mit denen sie sich umgeben hat. Man weiß in der That nicht, was man hier hinzuthun, was hinwegnehmen sollte, weil man nur das Nützliche findet, und weil nichts Nützliches fehlt, so daß man nichts wünscht, was man nicht sähe, und daß man nichts sieht, von dem man nicht sagen möchte: warum ist nicht mehr davon da? Denken Sie sich Treffen, Schildereien, Vergoldungen, Wandleuchter hinzu, und im Augenblick ist Alles armselig. Wenn man alles Nöthige so im Ueberflusse und nirgend eine Spur von Ueberflüssigem sieht, so muß man unwillkürlich denken, wenn das letztere nicht da ist, so ist es nicht da, weil man es nicht hat haben wollen, und wenn man es nur haben wollte, würde es in derselben Fülle da sein. Wenn man beständig das Gut mit Hülfe der Armen nach Außen fließen sieht, so muß man sich un willkürlich sagen: dieses Haus kann all seinen Reichthum nicht fassen. Dies, dünkt mich, ist die wahre Pracht.
Dieser Anschein von Verschwendung erschreckte mich, als ich erfuhr, mit wie geringen Mitteln man hauszuhalten habe, Sie richten sich zu Grunde, sagte ich zu Herrn und Frau v. Wolmar; es ist nicht möglich, daß ein so mäßiges Einkommen hinreiche, um so bedeutende Ausgaben zu decken. Sie lachten und bewiesen mir, daß sie, ohne in ihrem Hause eine Beschränkung vorzunehmen, noch viel, wenn sie wollten, ersparen und ihr Einkommen eher vermehren könnten, als sich zu Grunde richten. Das Kunststück, welches uns reich macht, sagten sie, besteht darin, daß wir wenig Geld halten, und uns bei der Benutzung unseres Gutes, so viel als möglich, vor vermitteltem Ein- und Austausch von Erzeugniß und Bedarf hüten. Solcher Tauschhandel kann niemals ohne Verlust stattfinden, und je mehr sich die Verluste dieser Art häufen, desto eher können sie ziemlich beträchtliche Mittel erschöpfen; wie denn z. B. eine schöne goldene Dose, wenn man sie vertrödeln muß, zu einem werthlosen Tande werden kann. Wir vermeiden den Uebertrag unserer Einkünfte, indem wir sie auf der Stelle anwenden, und vermeiden gleichzeitig den Austausch von Erzeugnissen, indem wir die unsrigen in Natur verbrauchen; und bei dem dennoch unvermeidlichen Umsatz dessen, was wir zu viel haben, in das, was uns fehlt, suchen wir statt des Verkaufs und Kaufs in Gelde, wobei sich immer die Einbuße verdoppelt, unmittelbaren Austausch, bei welchem die bequeme Gelegenheit beiden Betheiligtm statt Nutzens dient.
Ich sehe die Vortheile dieser Methode ein, bemerkte ich, aber sie scheint mir auch nicht ohne Nachtheil. Abgesehen von der Last, welche sie Ihnen auflegt, muß der Nutzen mehr scheinbar als wirklich sein, und was Sie im Einzelnen bei der Verwaltung Ihrer Güter verlieren, ist wahrscheinlich mehr als der Gewinn, den Ihre Pächter machen würden, wenn Sie sie verpachteten; denn ein Bauer wird sich die Arbeit immer wohlfeiler stellen können, als Sie, und wird beim Einernten genauer zu Werke gehen. Hierin irren Sie, entgegnete mir Wolmar; der Bauer sieht weniger darauf, seinen Ertrag zu vermehren, als die Kosten zu sparen, weil ihm die Auslagen mehr drückend sind, als ihm ein Mehrertrag nützlich wäre. Da sein Absehen nicht sowohl darauf gerichtet ist, ein Kapital zu verwerthen, als mit den mindesten Kosten auszukommen, so wird er einen wirklichen Gewinn, wenn er ihn erlangt, weniger dadurch erzielt haben, daß er das Land verbessert, als dadurch, daß er es erschöpft hat, und der beste Fall ist noch, wenn er es blos vernachlässigt. So bereitet, um der Bequemlichkeit willen, etwas baares Geld ohne Mühe einzunehmen, ein Eigenthümer, der nicht selbst wirthschaftet, sich oder seinen Kindern große Verluste, große Mühsal und manchmal den Verderb seines Erbgutes.
Uebrigens, fuhr Herr von Wolmar fort, stelle ich nicht in Abrede, daß die Bewirthschaftung meiner Ländereien mir mehr kostet, als sie meinen Pächtern kosten würde, aber dafür nehme ich den Nutzen des Pächters selbst, und da die Bewirthschaftung weit besser ist, so ist der Nutzen weit größer, so daß ich, ungeachtet der größeren Ausgabe, doch noch gewinne. Und das ist noch nicht genug gesagt. Das Mehr der Ausgabe ist nur scheinbar und bringt in der That eine sehr bedeutende Oekonomie zuwege; denn wenn Andere unser Land bewirthschafteten, so würden wir müßig sein. Man müßte in der Stadt wohnen, das Leben dort würde mehr kosten, wir würden Vergnügungen mitmachen müssen, die uns theurer als diejenigen, welche wir hier haben, zu stehen kommen und weniger zusagen würden. Die Arbeiten, welche Sie für eine Last halten, betrachten wir zugleich als unsere Pflicht und als unser Vergnügen. Dank der Sorgsamkeit, mit welcher sie eingetheilt werden, sind sie niemals beschwerlich; sie bewahren uns vor einer Menge von ruinirenden Grillen, die das Landleben nicht aufkommen läßt oder verscheucht; und Alles, was zu unserem Wohlstande beiträgt, wird für uns zugleich zu einer Quelle des Vergnügens.
Blicken Sie umher, setzte dieser einsichtsvolle Familienvater hinzu, Sie werden überall nur nützliche Dinge sehen, die uns fast nichts kosten uns uns tausend unnütze Ausgaben ersparen. Nur was wir selbst gezogen haben, kommt auf unsern Tisch. unsere Geräthe, unsere Kleider sind fast insgesammt Erzeugnisse des Landes: nichts ist verachtet, weil es gemein ist, nichts geschätzt, weil es selten ist. Da Alles, was man von Weitem bezieht, dem Verderb und der Verfälschung ausgesetzt ist, so beschränken wir uns sowohl, um Alles gut und rein zu haben, als der Wohlfeilheit wegen, auf dasjenige, was bei uns vortrefflich und in unverdächtiger Qualität zu haben ist. Unsere Speisen sind einfach, aber auserlesen. Es fehlt unserem Tische, um luxuriös zu sein, nichts, als daß das, was aufgetragen wird, weit herkäme, denn Alles ist gut, Alles würde für Seltenheit gelten können, und mancher Feinschmecker würde die Forellen aus unserem See für etwas Vorzügliches halten, wenn er sie in Paris äße.
Dieselbe Regel beobachten wir bei der Anschaffung dessen, was zu unserem Putz gehört, der, wie Sie sehen, nicht vernachlässigt ist, aber es wird dabei nur auf Eleganz gehalten, auf Reichthum keine Rücksicht genommen und noch weniger auf die Mode. Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Werthe, welchen die Meinung den Dingen beilegt, und dem, welchen sie wirklich haben. Auf den letzteren allein sieht Julie, und wenn sie einen Stoff anschaffen will, so fragt sie nicht sowohl darnach, ob er veraltet oder neu ist, als vielmehr, ob er gut ist und ob er ihr gut stehe. Oft ist sogar die bloße Neuheit ein Grund für sie, ihn nicht zu nehmen, wenn nämlich diese Neuheit dem Gegenstande einen Werth giebt, den er nicht behalten kann.
Sie müssen auch noch erwägen, daß in dieser Hinsicht die Wirkung jedes einzelnen Dinges weniger aus ihm selbst entspringt, als aus seiner Anwendung und seiner Uebereinstimmung mit den übrigen; Julie weiß aus Stücken von geringem Werthe ein Ganzes von großer Schätzbarkeit zu machen. Der Geschmack wirkt gern schöpferisch und will den Dingen ganz allein ihren Werth geben. So unbeständig und aufreibend das Gesetz der Mode ist, so ersparend und vorhaltend ist die ihrige. Was der rechte Geschmack einmal billigt, ist immer gut; wenn es selten modisch ist, so ist es dafür niemals lächerlich; in ihrer bescheidenen Einfalt leitet sie aus den wesentlichen Verhältnissen der Dinge sichere und unwandelbare Regeln ab, welche bleiben, wenn die Moden nicht mehr sind.
Rechnen Sie endlich noch hinzu, daß Ueberfluß an blos Nothwendigem nicht in Mißbrauch ausarten kann, weil das Nothwendige sein natürliches Maß hat, und die wahren Bedürfnisse nie zu Ausschreitungen führen. Man kann das, was zwanzig Kleider kosten, in ein einziges stecken, und in einer einzigen Mahlzeit die Einkünfte eines ganzen Jahres aufessen; aber man kann nicht zwei Anzüge auf einmal tragen, und zweimal an einem Tage schmausen. So ist die herrschende Meinung schrankenlos, während die Natur uns von allen Seiten bindet, und wer in mittelmäßigen Verhältnissen sich auf das Wohlsein beschränkt, läuft nicht Gefahr, sich zu Grunde zu richten.
So. mein Lieber, fuhr der weise Wolmar fort, kann man sich mit Oekonomie und Fleiß über seinen Glückszustand erheben. Es hinge nur von uns ab, unser Vermögen zu vermehren, ohne unsere Lebensart zu verändern, denn es wird hier beinahe keine Auslage gemacht, die nicht einen Ertrag zum Zwecke hätte, und Alles, was wir ausgeben, liefert uns Mittel, noch weit mehr auszugeben.
Nun sehen Sie, Milord, nichts von dem Allen springt hier sogleich in die Augen. Ein Anstrich von Verschwendung verdeckt überall die gute Ordnung, durch welche dieselbe erst möglich geworden. Man muß sich Zeit lassen, um hinter die Luxusgesetze zu kommen, welche hier zu einem behaglichen und genußreichen Leben führen, und man hat anfangs Mühe, zu begreifen, wie es möglich ist, Genuß von dem zu haben, was man spart. Sieht man schärfer zu, so wächst die Befriedigung, weil man wahrnimmt, daß hier die Quelle derselben unversieglich ist, und daß die Kunst, sich ein glückliches Leben zu bereiten, wie sie hier geübt wird, zugleich zu dessen Verlängerung dient. Wie sollte man eines Zustandes müde werden, der so ganz der Natur gemäß ist? Wie könnte man sein Erbtheil erschöpfen, wenn man es alle Tage verbessert? Wie sein Vermögen zu Grunde richten, wenn man immer nur seine Einkünfte verzehrt? Wenn man jedes Jahr schon für das folgende sicher gestellt ist, welche Gefahr kann dann dem laufenden drohen? Hier liefert die Frucht der vorjährigen Arbeit den gegenwärtigen Ueberfluß, und die Frucht der diesjährigen Arbeit kündigt den künftigen an; man genießt zu gleicher Zeit dessen, was man ausgiebt, und dessen, was man einerntet, und die verschiedenen Zeiten greifen zur Sicherstellung der Gegenwart in einander.
Ich bin in alle Einzelheiten der Wirthschaft eingegangen und habe überall denselben Geist herrschend gefunden. Alle Stickerei und alles Klöppelwerk geht aus dem Frauengemach hervor, alles Linnen ist im Hofe gesponnen oder von armen Frauen, denen man Nahrung giebt. Die Wolle wird in Fabriken geschickt, aus denen man dafür fertiges Tuch eintauscht, um die Leute zu kleiden; der Wein, das Oel und das Brod werden im Hause gemacht: man hat im Holze Schläge, welche so viel liefern, als man nur verbrauchen kann. Der Holzbauer wird in Kleinvieh bezahlt; der Würzkrämer erhält Korn für das, was er liefert: das Lohn der Bedienten kommt aus dem Landertrage, den sie verwerthen; die Miethe, welche die Häuser in der Stadt tragen, reicht hin, um das Ameublement derjenigen, die hier bewohnt sind, zu bestreiten; die Zinsen von Staatspapieren geben so viel her, als die Herrschaft braucht, und als das wenige Silberzeug kostet, das man sich verstattet; aus dem Erlös für Wein und Getreide, das man nicht selbst consumirt, wird ein Reservefonds für außerordentliche Ausgaben gebildet, ein Fonds, den Juliens Klugheit nie versiegen und den ihre Mildthätigkeit noch viel weniger anwachsen läßt. Auf Sachen der bloßen Annehmlichkeit verwendet sie nur den Ertrag der Arbeit, welche im Hause geschieht, der Aecker, die sie selbst urbar gemacht, der Bäume, die sie angepflanzt haben u.s.w. Indem so der Ertrag und die Ausgaben sich immer auf die natürlichste Weise decken, kann das Gleichgewicht nie aufgehoben werden, und es ist unmöglich, in Unordnung zu gerathen.
Noch mehr: die Entbehrungen, welche sie sich aus jener zuvor erwähnten, sich selbst beschränkenden Genußliebe auferlegt, sind zu gleicher Zeit auch wieder Mittel, sich Freude zu bereiten, und auch wieder Mittel, zu sparen. Zum Beispiel, sie liebt den Kaffee sehr; in ihrem elterlichen Hause trank sie ihn alle Tage; sie hat diese Gewohnheit aufgegeben, um sich dadurch den Reiz des Genusses zu erhöhen; sie trinkt ihn jetzt nur, wenn sie Gäste hat, oder im Apollosaal, um auch hieran wieder etwas zu haben, was das Fest noch festlicher mache. Dies ist eine kleine Verfeinerung des Genusses, die mehr kitzelt, und weniger kostet, die das Gelüst zugleich befriedigt und zügelt. Mit unermüdlicher Aufmerksamkeit aber sucht Julie das, was ihr Vater und ihr Mann gern mögen, zu errathen und zu besorgen; sie thut dies mit ungeheuchelter, herzlicher Lust und mit solcher Anmuth, daß den Andern das, was sie ihnen auftischt, noch dadurch gewürzt wird, daß sie sehen, wieviel Vergnügen es ihr macht, ihren Wünschen zuvorzukommen. Beide sitzen gern nach Schweizerart noch nach dem Essen einige Zeit bei Tische; wenn sie dies thun, so unterläßt sie nie, eine Flasche besseren, älteren Weins, als gewöhnlich, heraufholen zu lassen. Ich ließ mich anfangs durch die pomphaften Namen zum Besten haben, welche man diesen Weinen gab, die ich übrigens in der That vortrefflich finde, und da ich sie für Weine aus den Orten, nach welchen sie genannt wurden, trank, so zog ich gegen Julien über einen so offenbaren Bruch ihrer Grundsätze los; aber sie erinnerte mich lachend an eine Stelle im Plutarch, wo Flaminius die asiatischen Truppen des Antiochus unter tausend barbarischen Namen mit verschiedenen Ragouts vergleicht, unter deren Maske ihm ein Freund immer wieder dasselbe Fleisch vorgesetzt hatte. Es verhält sich ganz ebenso, sagte sie, mit diesen ausländischen Weinen, wegen deren Sie mich schelten. Der Rancio, der Xeres, der Malaga, der Chassaigne, der Syrakuser, die Ihnen so trefflich munden, sind in der That nur Lavauxweine von verschiedener Zubereitung, und Sie können von hier den Weinberg sehen, welcher alle diese fremden Gewächse erzeugt. Wenn sie an Güte den berühmten Weinen nachstehen, deren Namen sie führen, so sind sie dafür auch von den Mißständen frei, die man bei jenen nicht vermeiden kann, und da man sicher weiß, was in ihnen steckt, so kann man sie wenigstens ohne Gefahr trinken. Ich habe Ursache, zu glauben, daß mein Vater und mein Mann sie ebenso gern mögen, als die seltensten Weine. Es ist etwas dabei, sagte Herr von Wolmar, das ihnen einen Wohlgeschmack giebt, der allen andern abgeht, nämlich das Vergnügen, welches sie darin gefunden hat, sie zu bereiten. — O, erwiderte sie, sie werden auch ohnedem immer ausgezeichnet sein.
Sie können sich denken, daß bei so mannigfaltiger Thätigkeit der Müßiggang und die Langeweile, die von Besuchen und Gesellschaften unzertrennlich sind, hier keinen Platz finden. Man besucht die Nachbarn nur so viel als nöthig ist, um mit ihnen in angenehmen Verhältnissen zu bleiben, aber nicht so viel, daß man sich zum Sklaven dieses Umganges macht. Gäste sind immer willkommen, werden aber nie herbeigewünscht. Man sieht nur gerade so viel Leute, als dienlich ist, um sich den Geschmack am zurückgezogenen Leben zu erhalten. Die ländlichen Beschäftigungen dienen statt der Lustbarkeiten, und Dem, der im Schoße seiner Familie eine süße Geselligkeit findet, wird jede andere bald unschmackhaft. Die Art, wie man hier seine Zeit zubringt, ist zu einfach und zu gleichförmig, um viele Leute zu reizen; aber den Personen, die sich hier ihrer bedienen, macht ihr ganzes Wesen und Gemüth sie lieb und angenehm. Kann man, bei gesunder Seele, es langweilig finden, die theuersten und entzückendsten menschlichen Pflichten zu erfüllen und sich gegenseitig glücklich zu machen? Jeden Abend mit dem verlebten Tage zufrieden, wünscht sich Julie den nächsten nicht anders, und jeden Morgen bittet sie den Himmel um einen, der dem vorigen gleiche; sie thut immer wieder dasselbe, weil es gut ist, und weil sie nichts kennt, was besser wäre. Ohne Zweifel genießt sie so aller Glückseligkeit, die dem Menschen vergönnt ist. Wenn man nichts wünscht, als die Fortdauer des Zustandes, in welchem man sich befindet, ist dies nicht ein sicheres Zeichen, daß man sich glücklich darin fühlt?
Wenn man hier selten jene Haufen von Müßiggängern sieht, die man gute Gesellschaft nennt, so hat dafür Alles, was sich einzufinden pflegt, durch irgend eine vortheilhafte Seite etwas Anziehendes für das Herz und macht etwelche Lächerlichkeiten durch tausend Tugenden gut. Friedliche Landbewohner, ohne Weltübung und Umgangston, aber gute, schlichte, brave und mit ihrem Loose zufriedene Leute; ehemalige Offiziere, die sich aus dem Dienst zurückgezogen haben; Kaufleute, die es müde geworden sind, sich zu bereichern; verständige Familienmütter, welche ihre Töchter hier in die Schule der Bescheidenheit und guten Sitte bringen, dies ist die Welt, welche Julie um sich zu versammeln liebt. Ihr Mann hat es nicht ungern, bisweilen einen von jenen Abenteurern hinzuzuziehen, welche Alter und Erfahrung gebessert haben, welche, auf ihre Kosten weise geworden, es sich nicht leid sein ließen, auf das Erbe ihrer Väter, das sie lieber nie verlassen haben möchten, zurückzukehren, um ihr Land zu bauen. Wenn Jemand bei Tische die Schicksale seines Lebens erzählt, so sind es nicht die sinnreichen Abenteuer des reichen Sindbad, der im Schoße orientalischer Weichlichkeit erzählt, wie er seine Schätze gewonnen hat, es sind die schlichteren Berichte verständiger Leute, denen die Launen des Schicksals und die Ungerechtigkeiten der Menschen die falschen Güter, denen sie vergebens nachrannten, verleidet haben, um ihnen die wahren wieder lieb zu machen.
Sollten Sie glauben, daß selbst die Unterhaltung der Bauern Reize hat für diese erhabenen Seelen, von denen der Weise mit Freuden lernen würde? Der einsichtige Wolmar findet in der Naivetät des Landvolkes ausgeprägtere Charaktere, mehr selbstdenkende Männer, als unter der einförmigen Maske der Städter, wo jeder sich mehr so zeigt, wie Alle sind, als wie er selbst ist. Die liebreiche Julie findet bei ihnen Herzen, die für den kleinsten Liebesbeweis dankbar sind, und sich glücklich schätzen, wenn man an ihrem Wohlergehen Theil nimmt. Herz und Geist ist bei ihnen nicht künstlich zugestutzt; sie haben sich nicht nach unseren Mustern bilden gelernt, und man braucht nicht zu fürchten, daß man an ihnen den vom Menschen gemachten Menschen statt des natürlichen finde.
Oft begegnet Herr von Wolmar auf seinen Gängen irgend einem guten Alten, dessen Verstand und gesundes Urtheil ihm auffällt, einem Manne, wie er ihn zum Plaudern liebt. Den nimmt er dann mit zu seiner Frau; sie empfängt ihn mit einer Liebenswürdigkeit, welche nichts von dem höflichen Tone und von den Manieren ihres Standes an sich hat, sondern nur das Wohlwollen und die Menschenfreundlichkeit ihres Charakters verräth. Man behält den braven Alten zu Tische; Julie setzt ihn an ihre Seite, legt ihm vor, spricht auf's zuthunlichste und voller Theilnahme mit ihm, erkundigt sich nach seiner Familie, nach seinen Verhältnissen, lächelt nicht über sein verlegenes Wesen, thut nicht, als gebe sie belästigend auf seine bäuerischen Manieren Acht, sondern macht durch die Ungezwungenheit der ihrigen, daß er sich wie zu Hause fühlt, und verleugnet keinen Augenblick jene liebevolle und rührende Achtung, die man dem gebrechlichen Alter schuldig ist, dem ein langer, vorwurfsfreier Lebenslauf Ehre macht. Der Greis, bezaubert, schließt sein ganzes Herz auf, er scheint sich einen Augenblick wieder jung zu fühlen. Der Wein, den er auf die Gesundheit einer jungen Dame trinkt, erwärmt sein halb erstarrtes Blut noch mehr. Er wird feurig, indem er von seiner alten Zeit erzählt, von seinen Liebschaften, von seinen Feldzügen, von den Schlachten, bei welchen er gewesen, von dem Muthe seiner Mitkämpfer, von seiner Heimkehr in's Vaterland, von seiner Frau. von seinen Kindern, von der Landarbeit, von den Mißständen, die er bemerkt und von den Mitteln zur Abhülfe, die er ausgesonnen hat. Oft lassen sich aus den langen Reden des geschwätzigen Alters treffliche Moralsätze oder Wirthschaftsregeln herausnehmen, und wenn auch an dem, was er sagt, nichts wäre, als das Vergnügen, das es ihm selbst macht, so würde es Julie Vergnügen machen, ihm zuzuhören.
Nach dem Essen geht sie in ihr Zimmer und holt irgend eine Kleinigkeit zum Geschenke für die Frau oder die Töchter des guten alten Mannes. Dieses läßt sie ihm durch die Kinder reichen, und er hat dafür etwas, das die Kinder gern haben, in Bereitschaft, irgend ein einfaches Geschenk, welches ihm Julie heimlich für sie gegeben hat. So bildet sich frühzeitig das milde und innige Wohlwollen, welches die verschiedenen Stände unter einander verknüpft. Die Kinder gewönnen sich, das Alter zu ehren, die Sitteneinfalt werthzuschätzen und das Verdienstliche in jedem Stande anzuerkennen. Die Bauern, welche ihre Alten in einem achtbaren Hause ehrenvoll aufgenommen und zu dem Tische der Herrschaft gezogen sehen, halten es für keine Kränkung, wenn sie selbst davon ausgeschlossen sind, sie stellen dies nicht auf Rechnung ihres Standes, sondern ihres Alters. Sie sagen nicht: wir sind zu arm, sondern wir sind noch zu jung, um so behandelt zu werden: die Ehre, welche ihren Alten erwiesen wird, und die Hoffnung, einst derselben theilhaft zu werden, trösten sie, daß sie derselben jetzt entbehren, und sind ihnen ein Antrieb, sich derselben würdig zu machen.
Indessen kommt der gute Alte noch ganz bewegt von der liebreichen Aufnahme, die ihm zu Theil geworden, in seine Hütte heim, und kramt geschwind seiner Frau und seinen Kindern die Geschenke aus, die er ihnen mitbringt. Diese Kleinigkeiten verbreiten Freude in einer ganzen Familie, welche daraus sieht, daß man es nicht verschmäht, sich mit ihr zu beschäftigen. Er erzählt ihnen mit Ausführlichkeit und Nachdruck wie herrlich er aufgenommen, was für schönes Essen, was für guter Wein ihm vorgesetzt, wie verbindlich mit ihm gesprochen, wie nach ihnen allen gefragt worden, wie zuthunlich die Herrschaft, wie aufmerksam die Dienerschaft gewesen, und überhaupt Alles, was nur den Beweisen von Achtung und Güte, die ihm zu Theil geworden, Werth geben kann. Im Erzählen genießt er Alles zum zweiten Male, und das ganze Haus glaubt der Ehre mitzugenießen. die seinem Oberhaupte widerfahren ist. Alle segnen aus einem Munde diese erlauchte und edle Familie, die ein Beispiel für die Großen und eine Zuflucht der Kleinen ist, die den Armen nicht verachtet, und das weiße Haar ehrt. Dies ist der Weihrauch, der mildthätigen Seelen wohlgefällt. Wenn es menschliche Segensgebete giebt, welche der Himmel gern erhört, so sind es nicht die, welche aus Schmeichelei und Kriecherei den Personen, denen das Lob gilt, in's Gesicht geworfen werden, sondern die, welche im Stillen am ländlichen Herde aus schlichten und dankbaren Herzen aufsteigen.
So vermag ein angenehmes und süßes Gefühl mit seinem Zauber ein Leben zu überziehen, das gleichgültigen Seelen unschmackhaft wäre; so kann Arbeit, Mühe und Einsamkeit zur Lust werden, wenn man die Kunst versteht, ihnen die rechte Richtung zu geben. Eine gesunde Seele kann Geschmack finden an gemeinen Beschäftigungen, wie Gesundheit des Leibes die einfachsten Nahrungsmittel zu den schmackhaftesten macht. Alle jene gelangweilten Menschen, denen es so schwer wird, etwas zu finden, das sie vergnügt, verdanken ihren Ekel nur ihren Lastern, und verlieren das Gefühl für das Vergnügen nur mit dem Gefühle für die Pflicht. Bei Julien ist es gerade umgekehrt gewesen; Mühwaltungen, die sie sonst aus einer gewissen Erschlaffung der Seele vernachlässigte, macht ihr der Beweggrund, welcher sie treibt, jetzt anziehend. Das wäre ein unempfindlicher Mensch, der sich durch nichts zur Regsamkeit bringen ließe. Die ihrige ist durch eben das entwickelt worden, was früher dieselbe zurückdrängte. Ihr Herz suchte die Einsamkeit und Stille, um sich in Frieren den Regungen hinzugeben, von welchen es durch und durch ergriffen war; jetzt ist sie zu neuer Rüstigkeit gelangt, seit sie ein neues Band geknüpft hat. Sie gehört nicht zu jenen thatlosen Müttern, welche es für genug halten, zu studiren, während es gilt zu handeln, welche damit, daß sie sich über die Pflichten Anderer unterrichten, die Zeit verlieren, welche sie nöthig hätten, um die eigenen zu erfüllen. Sie übt jetzt aus, was sie früher gelernt hat. Sie studirt nicht mehr, sie liest nicht mehr, sie wirkt. Da sie eine Stunde später aufsteht als ihr Mann, so legt sie sich auch eine Stunde später nieder. Diese Stunde ist die einzige Zeit, welche sie noch dem Studium widmet, und der Tag scheint ihr niemals lang genug für alle die Geschäfte, denen sie sich freudig unterzieht.
Das ist, Milord, was ich Ihnen zu sagen hatte, über die innere Einrichtung des Hauses und die Lebensweise der Herrschaft, die an seiner Spitze steht. Zufrieden mit ihrem Loose, genießen sie desselben in Stille; zufrieden mit ihrem Glücksstande, arbeiten sie nicht dahin, denselben für ihre Kinder zu vermehren, sondern ihnen mit dem Erbtheil, das ihnen zufällt, wohlgepflegte Ländereien, anhängliche Bediente, Lust zur Arbeit, Ordnung, Mäßigkeit zu hinterlassen, kurz Alles, was vernünftigen Menschen den Genuß eines mäßigen Vermögens, welches ebenso weislich erhalten als redlich erworben ist, lieb und reizend machen kann.