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Kapitel 1

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Das schäumende Wasser brach sich an den Felsen in der kleinen Bucht, unweit von Raguénez in der Bretagne. Die jetzt auflaufende Flut hatte schon eine Menge an neuem Abfall ans Ufer geschwemmt, der sich zwischen den zerklüfteten Felsen verfangen hatte und aus der Entfernung aussah, wie von einem Maler gesetzte Farbpunkte. Die Möwen kreischten gewaltig, während sie gezielt ihre Kreise über einen der Felsen zogen und immer wieder zu diesem Felsen hinabstießen, so als fänden sie dort in den seichten Pfützen kleine Fische, die sich auf den flacheren Stellen, während der letzten stürmischen Nacht gebildet hatten. Der Wind hatte in der vergangen Nacht Geschwindigkeiten von über achtzig Stundenkilometern erreicht, wenn er sich noch richtig an die Aussage der Nachrichtensprecherin erinnerte.

Gerard Martinou sah auf seine Armbanduhr und war erstaunt, dass er bereits seit über einer Stunde unterwegs war. Er hatte sein Feriendomizil, ein kleines altes Fischerhaus, das unmittelbar an der Strandpromenade in ‚Le Paradis‘ lag, einem Ortsteil von Trévignon, kurz vor sieben Uhr verlassen. Er war noch vor dem Frühstück zu einem ausgedehnten Strandspaziergang aufgebrochen, um die zu viel genossenen Kalorien des gestrigen Abends zu verbrauchen. Der Abend war sehr lang und sehr feucht gewesen. Sein bester Freund hatte seinen Besuch angekündigt und war am Abend gegen 19 Uhr eingetroffen. Die beiden Männer hatten Erlebnisse der vergangenen Jahre aufgefrischt und gemeinsame Späße erinnert. Dabei leerten sie eine Flasche Bordeaux nach der anderen.

Marc Louvin lag wohl noch immer im Bett, dachte Martinou. Bevor er gestern Nachmittag Paris in Richtung der Bretagne verlassen hatte, war er annähernd sieben Stunden lang mit einem Verhör seines letzten Mordfalles beschäftigt gewesen. Dann hatte er das Geständnis erreicht und damit den Fall abgeschlossen. So konnte er anschließend, den bereits lange abgesprochenen gemeinsamen Urlaub bei seinem Freund Martinou antreten und sich auf die etwa fünf Stunden lange Fahrt begeben.

Martinou sah auf seinem Weg den Möwen in ihrem Spiel zu. Zuerst ein kurzes Kreisen und dann die abrupte Landung auf dem Felsen, Stolzieren und das erneute Aufsteigen um nach wenigen Sekunden erneut mit dem Spiel zu beginnen. Martinou genoss die leichte Brise, die vom Meer her wehte und die Wellen mit absoluter Regelmäßigkeit an die Felsen trieb. Aber heute störte ihn irgendetwas an diesem Bild. Er konnte nicht sagen was es war, aber die Möwen verhielten sich anders als an den vergangen Tagen. Dann fiel es ihm auf, die Vögel verblieben immer an der gleichen Stelle. Sie flogen nicht beständig hin und her.

Er näherte sich langsam der Stelle hoch über den Felsen. An dieser Stelle fielen die Felsen beinahe zehn Meter tief zum Wasser ab. Es war einer seiner Lieblingsplätze auf diesem Küstenweg. Die großen Gesteinsbrocken bildeten ein regelrechtes Felsenmeer und damit eine natürliche Strandbefestigung, die selbst den häufigen Orkanen standhalten konnte, die hier regelmäßig auftrafen. Zwischen den Gesteinsbrocken lagen bereits vertrocknete Braunalgen und an den, dem Meer zugewandten Stellen hatten sich zahllose Muscheln eine neue Heimat gesucht. Martinou war es gewohnt, hier immer wieder die Reste von Schiffsabfällen zu finden. Auch heute konnte er leere Plastikkanister und Evian Flaschen ausmachen, die sich zwischen den Felsen verhakt hatten. Einen einstmals gelben Turnschuh erblickte er unterhalb seines Weges. Die vereinzelten Teerklumpen und die ausgewaschenen Reste dicker blauer und grüner Hanfseile lagen verstreut auf den kleinen Sandinseln zwischen den Steinen.

Wie angewurzelt blieb Martinou stehen, als er die zwei schwarzen Schuhe sah, deren Ledersohlen steil nach oben zeigten und die nicht aussahen, als ob sie schon seit Tagen hier lägen. Als er näher kam, konnte er auch erkennen, warum sich die Möwen immer wieder kreischend an dieser Stelle niederließen. In den Schuhen steckten zwei Füße. Die Beine waren von einer vollkommen durchnässten Anzughose bedeckt. Der restliche Körper war mit Fischabfällen übersät. Der Körper war so verdreht, dass das Gesicht nach unten zeigte und Martinou es nicht erkennen konnte.

Er griff in die Tasche seiner Barbour-Jacke und holte sein Handy heraus. Er wählte die Mobilnummer seines Freundes Louvin. Um diese Zeit müsste er bereits erwacht sein, dachte er sich, während das Telefon klingelte. Als sein Freund abnahm, sagte Martinou nur: „Ruf deine hiesigen Kollegen in Quimper an, die Nummer steht sicher im Telefonbuch und schicke sie an den Küstenstreifen von Kerliou und dann komm du bitte auch her. Ich habe eine Leiche gefunden!“

„Warte Gerard, du solltest mir den Weg schon genauer beschreiben, ich habe keine Ahnung wo Kerliou liegt.“

„Entschuldige Marc, aber für mich ist das alles so vertraut. Also, du fährst nach Raguénez und dann weiter zu dem ‚Lieu dit Kerliou‘. An der einzigen Kreuzung nimmst du den rechten Weg und folgst ihm bis zu seinem Ende. Dort gibt es einen kleinen Waldparkplatz. Stell den Wagen dort ab und folge dem Fußweg hinunter zum Meer. Danach biegst du links ab und gehst etwa dreihundert Meter auf dem kleinen Weg, über den Klippen entlang. Du siehst mich dann irgendwo auf dem Weg. Du kannst auch der Polizei den Weg so beschreiben.“

Er klappte das Mobiltelefon wieder zu, steckte es in die Tasche zurück und sah dem Treiben der Vögel weiter zu. Seine Blicke gingen jetzt über die Felsen hinweg, als wollte er nach einem Täter Ausschau halten. Dabei war es doch gar nicht sicher, ob es sich um ein Verbrechen handelte oder ob der Mann abgestürzt und eines natürlichen Todes gestorben war. Der Mann trug einen Anzug. Ohne Jacke oder Mantel würde man am frühen Morgen nicht an den Strand gehen, dachte er sich. Ein Spaziergänger hätte sicherlich keinen Anzug angezogen um an der Küste entlang zu spazieren. Die Lederschuhe, die er von hier oben deutlich erkennen konnte sprachen auch nicht dafür. Martinou griff in seine andere Jackentasche und holte zwei Latexhandschuhe heraus. Aus Gewohnheit trug er immer welche bei sich. Als Arzt musste er jederzeit auf einen Notfall vorbereitet sein. Er streifte die Handschuhe über und machte sich auf den Weg nach unten. Er wollte sich davon überzeugen, dass der Mann wirklich tot war. Vorsichtig stieg er von einem Felsbrocken auf den nächsten, tiefer gelegenen und näherte sich so dem Körper. Als er näher kam, flogen die Möwen auf und kreischten noch lauter als zuvor. Dann hatte er den Mann erreicht. Er brauchte nur wenige Sekunden um festzustellen, dass der Mann wirklich tot war. Er erkannte eine größere Wunde an der linken Schläfe. Die konnte von einem Sturz herrühren. Bevor die Polizei eintraf wollte er den Körper nicht bewegen. Er sah sich die Kleidung des Mannes an. Der Anzug war sehr elegant und die Schuhe stammten von Bally, wie man dem `B` an der Schnalle entnehmen konnte. Die Lage des Körpers ließ die Vermutung zu, dass er von dem Weg, oberhalb der Felsen abgestürzt und auf dieser Stelle aufgeschlagen war. Die genaue Todesursache würde der Pathologe feststellen müssen.

Es war noch nicht lange her, dass er mit seinem Freund telefoniert hatte. Dennoch hörte er bereits die Sirenen der Polizeifahrzeuge, die sich schnell näherten. Er beschloss, nach oben zu gehen und den Polizisten die Stelle zu zeigen.

Der Weiler, der der Straße den Namen gab, hatte die Form einer Tasse mit Henkel und am Ende des Henkels lag der kleine Waldparkplatz, den er seinem Freund beschrieben hatte. Es gab nur diese kleine Stichstraße, die direkt ans Wasser führte. Fünfzig Meter vor dem Ufer war der Parkplatz, der im Sommer ganz schnell von den Badegästen, die aus den umliegenden Häusern zum Baden herfuhren überfüllt war. Bog man an dem Küstenweg nach links anstatt nach rechts ab, dann war man sofort an dem herrlichen Sandstrand von Raguénez, dem ‚plage de Tahiti‘. Martinou hatte den Weg, der zu dem Parkplatz führte gerade zum Teil erklommen, als er den ersten Polizeiwagen näherkommen sah. Er ging auf das Fahrzeug zu und winkte den Fahrer herbei. Dahinter erkannte er einen Krankenwagen und meinte auch, das Fahrzeug seines Freundes zu erkennen.

Die zwei Polizisten stiegen aus und kamen auf ihn zu.

„Marc Marson und das ist Claude Ylian. Sie haben einen Toten gefunden?“

„Ja, er liegt zwischen den Felsen, genau unterhalb des Küstenweges. Mein Name ist Gerard Martinou, ich habe ein kleines Haus an der Küste und bin bei meinem Spaziergang hier vorbeigekommen. Ich bin Arzt und konnte mich vom Tod des Mannes bereits überzeugen. Ich habe nichts verändert und…“ Martinou machte eine kleine Pause und hob seine beiden Hände, die noch immer in den Latexhandschuhen steckten „ich habe auch keine Spuren verwischt oder neue hinzugefügt.“ Die Polizisten betrachteten seine Hände und nickten. Inzwischen waren zwei weitere Männer zu der kleinen Gruppe gestoßen. Der eine trug einen Aluminiumkoffer, der andere eine Rolle Absperrband. Ungeduldig sahen sie zu Martinou, so als wollten sie sagen, dass sie keine Zeit zu verlieren haben. Martinou drehte sich um und gab der Gruppe ein Zeichen, ihm zu folgen. Es waren nur wenige Minuten bis zu dem Steilabfall, an dessen Fuß der Tote lag.

Marc Marson, der erste Polizist drehte sich zu Martinou um und sagte ihm, dass der Leiter der Mordkommission, Ewen Kerber, von Quimper kommend, bereits unterwegs sei und dass er hier bei der Fundstelle bleiben soll, bis Kerber mit ihm gesprochen hat. Martinou nickte und trat zur Seite um den Polizisten zu ermöglichen, den schmalen Spalt zwischen den Felsen zur Leiche hinunter zu steigen.

Erst jetzt sah er, seinen Freund Marc näher kommen. Marc Louvin hatte seinen Wagen weiter hinten parken müssen, da der kleine Parkplatz, durch die zuerst eingetroffenen Wagen der Polizei und der Ambulanz schon besetzt war.

„Gerard, ich musste mich noch anziehen.“ entschuldigte er sich, weil er erst nach den hiesigen Polizeibeamten eingetroffen war.

„Es ist ja nicht dein Fall, Marc, du bist nur zu Besuch hier. Wir könnten auch sofort wieder gehen, wenn ich nicht auf den Kriminalbeamten aus Quimper warten müsste.“

„Glaubst du, dass ich einfach so fortgehe? Natürlich werde ich mir die Leiche ansehen. Wie kam es, dass du die Leiche entdeckt hast?“

„Die Möwen verhielten sich anders als sonst und hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Daher bin ich langsamer an dieser Stelle vorbeigegangen. Sonst wäre mir der Tote wohl nicht aufgefallen. Schließlich konnte man auf den ersten Blick nur die Schuhe sehen und die alleine wären nichts Besonderes gewesen. Hier liegen oft Schuhe im Sand oder zwischen den Felsen herum.“

Marc Louvin drehte sich um und ging zum Fundort. Ob es auch ein Tatort war konnte jetzt noch nicht entschieden werden. Bedächtig stieg Louvin die Felsen hinunter und zeigte dem Polizisten unten, der gerade ein Absperrband an den Felsen entlang anbringen wollte seinen Dienstausweis. Ein Kommissar aus Paris, das machte auf den jungen Polizeibeamten schon großen Eindruck und wie selbstverständlich trat er zur Seite und ließ Louvin näher an den Fundort heran. Der Mann von der Spurensicherung hatte sich zwischenzeitlich einen weißen Overall und Handschuhe angezogen und begonnen, die Leiche zu untersuchen und Fotos aufzunehmen. Ein weiterer Kollege war dabei, die Felsen abzusuchen, um eventuelle Spuren eines Verbrechens zu finden. Louvin trat näher und wartete in einem gewissen Abstand, um der Spurensicherung nicht im Weg zu stehen. Als er den Eindruck hatte, dass der Mann mit der Leiche weitgehend fertig war, fragte er, ob er sich den Toten jetzt näher ansehen könne.

„Wer sind Sie?“ fragte dieser, als er zu Louvin aufsah. Louvin zeigte auch ihm seinen Dienstausweis und ergänzte: „Ich bin zu Besuch bei meinem Freund Martinou, der den Toten gefunden hat.“

„Sie können sich den Toten ruhig ansehen, Monsieur le Commissaire, aber der Fall wird von Commissaire Kerber bearbeitet. Er muss in wenigen Minuten eintreffen. Hier in der Bretagne haben wir leider nicht in jedem kleinen Ort eine Mordkommission und von Quimper bis hierher dauert es schon dreißig Minuten, wenn nicht etwas länger.“

„Ich möchte mich nicht in die Arbeit ihres Kollegen Kerber einmischen, aber meine berufliche Neugierde treibt mich um.“

Marc Louvin bückte sich zu dem Leichnam hinunter. Der Mann trug einen Anzug von feinster Qualität, konnte er sofort feststellen, trotz des Schmutzes und der übelriechenden Fischreste, die über ihn verstreut waren. Er betrachtete die Abfälle genauer. Es waren keine vom Meer angeschwemmten Abfälle, dies war ihm sofort klar, als er sie betrachtete. Diese Abfälle waren sehr bewusst über den Körper ausgeschüttet worden, wohl um die Möwen anzulocken. Nur, warum machte jemand so etwas? Louvin konnte sich keinen Reim darauf machen. Ohne diese Abfälle wäre der Leichnam sicherlich nicht sofort entdeckt worden. Die Möwen hatten die Aufmerksamkeit seines Freundes erregt. Warum hat ein Mörder ein Interesse daran, dass man sein Opfer schnell findet? Er grübelte noch darüber nach, als er einen Mann über die Felsen nach unten kommen hörte. Louvin drehte sich um und sah in das etwas mürrisch dreinblickende Gesicht eines etwa fünfzig Jahre alten Mannes, mit dunklen Haaren und einem kleinen Schnurrbart. Er trug einen offenstehenden Trenchcoat, einen dunkelgrauen Anzug und schwarze Schuhe. Der Knoten seiner rot blau gestreiften Krawatte war nicht ganz nach oben gezogen und der oberste Knopf des weißen Hemdes stand offen. Man konnte ihm ansehen, dass er wusste, dass er nicht gerade ideal für diesen Fundort gekleidet war. Die schwarzen Lackschuhe waren für die Straßen von Quimper geeignet aber nicht für die Felsen an diesem Küstenstreifen. Er hatte sich bereits auf dem Weg oberhalb der Fundstelle mit Martinou unterhalten und wusste daher schon über den Kollegen aus Paris Bescheid.

„Sie dürften der Kollege aus Paris sein! Ewen Kerber!“ stellte er sich vor, als er auf Louvin zuging und ihm seine Hand entgegenstreckte.

„Stimmt!“ antwortete Louvin und reichte ihm seine Hand. „Ich will mich nicht in Ihre Arbeit einmischen, ich bin eigentlich nur zufällig hier, aber meine berufliche Neugierde brachte mich an den Fundort.“

„Ich habe nichts dagegen, Hilfe aus der Hauptstadt zu bekommen.“ Kerber dreht sich nun zur Leiche um.

„Hat die Spurensicherung schon etwas gefunden?“ fragte er, den einige Schritte abseits stehenden Polizisten. Dieser zuckte mit den Achseln und drehte sich um, auf der Suche nach den Kollegen von der Spurensicherung. Die Männer hatten sich bereits die nähere Umgebung angesehen und waren daher etwas weiter entfernt von dem Toten. Als der Mann, der zuvor den Aluminiumkoffer getragen hatte, den Kommissar bemerkte, kam er näher und begrüßte ihn. „Ewen, wir haben noch wenig Brauchbares gefunden. Einige Zigarettenstummel, die könnten aber schon länger hier liegen, einen Knopf, der von einem Anzug stammen könnte und eine Linsenabdeckung von einem Canon Fotoapparat. Alles was sich in der Kleidung des Toten befindet, haben wir uns bewusst noch nicht angesehen. Dazu haben wir im Labor noch Zeit.“ „Danke Dustin“, sagte Kerber.

Dustin Goarant war schon seit langer Zeit bei der Spurensicherung. Er und Kerber hatten so manchen Fall gemeinsam bearbeitet.

„Was meint der Pathologe?“ fragte Kerber seinen Kollegen.

„Yannick hat sich die Leiche angesehen und macht sich gerade hinter den Felsen einige Notizen.“

In diesem Augenblick kam der Pathologe zum Vorschein und als er Kerber sah, trat er näher.

„Der Mann ist noch nicht sehr lange tot, ich schätze, ungefähr elf bis zwölf Stunden, näheres nach der Obduktion.“

„Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?“

„Nun Ewen, das ist nicht so einfach. Der Mann hat keinerlei Verletzungen, die auf eine Gewalteinwirkung schließen lassen. Die einzige Verletzung, die ich sehen konnte war eine Wunde an der linken Stirnseite. Die hat er sich beim Aufprall auf die Felsen zugezogen. Ansonsten ist nichts zu erkennen. Ich würde sagen, ein Unfall. Der Mann ist vermutlich in der letzten Nacht hier entlang spaziert, hat den Weg falsch eingeschätzt und ist an dieser Stelle abgestürzt. Ich glaube, ihr könnt den Fall schnell abschließen.“ Yannick Detru lächelte und winkte mit der rechten Hand zum Abschied, als er sich auf den Weg nach oben machte.

„Deinen Bericht bekomme ich morgen“, rief Kerber ihm noch nach. Ein weiteres Winken mit der rechten Hand signalisierte, dass er es gehörte hatte.

Louvin sah seinen Kollegen an und fragte ihn:

„Sind Sie auch der Meinung, dass es sich um einen Unfall handelt?“

Ewen Kerber sah Louvin mit ruhigem Blick ins Gesicht. Dann sagte er: „Ich würde dem Doktor sofort zustimmen wenn, wenn da nicht…“

„Die Fischabfälle wären“, meinte Louvin.

„Genau, so sehe ich das auch. Wenn er nur die Böschung hinunter gefallen wäre und seinen Kopf auf den Felsen aufgeschlagen hätte, dann wären keine Fischabfälle auf dem Leichnam verstreut. Die Flut kommt nicht ganz so hoch, aber das Wasser würde auch keine Fischabfälle mit sich führen. Nein, der Fall liegt nicht so einfach, wie Yannick das annimmt. Sind Sie noch länger am Ort? Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie bei den Untersuchungen dabei wären. Weil,…“, Kerber zögerte einen Augenblick bevor er fortfuhr, „…da gibt es noch einen weiteren Fall, den ich gerade untersuche.“ Ewen Kerber sah seinen Pariser Kollegen fragend an.

„Einen weiteren Fall?“ Louvin horchte auf, es schien ihn zu interessieren, was Kerber zu berichten hatte. Er hatte vierzehn Tage Urlaub genommen und er wollte sich eigentlich erholen und abschalten, sich mit seinem Freund unterhalten, gut essen und trinken und vielleicht den einen oder anderen Spaziergang am Meer machen. Andererseits waren Kriminalfälle nicht nur seine Arbeit sondern auch seine Leidenschaft. Daher sah er Kerber geduldig an und wartete, dass dieser von dem anderen Fall berichtete.

„Nun, vor wenigen Tagen hatten wir einen ähnlich gelagerten Fall in Kersolf, nur wenige Kilometer entfernt von hier. Die dortige Küstenlinie ähnelt dieser, auch da gibt es steilabfallende Böschungen mit vorgelagerten Felsen. Der Tote von Kersolf trug ebenfalls sehr elegante Kleidung und schien nicht aus der Gegend hier zu stammen. Wie bei diesem Toten, so fanden wir auch bei der anderen Leiche keinerlei Ausweispapiere und auch dort waren Fischabfälle über dem Leichnam verstreut. Auch er wurde am frühen Morgen von einem Spaziergänger entdeckt, auf Grund der Möwen. Wir stehen vor einem Rätsel. Wieso macht jemand auf seine Opfer aufmerksam? Ein Mörder würde sie doch eher verstecken, wenigstens ist das meine Erfahrung.“

Ewen Kerber sah seinen Kollegen an und wartete auf dessen Erwiderung.

Marc Louvin hatte aufmerksam zugehört und sah über das Meer, das langsam ruhiger wurde. Selbst die leichte Brise ebbte weiter ab und ließ den Sturm von der Nacht in Vergessenheit geraten. Es dauerte einige Minuten, bis er sich wieder zu Ewen Kerber umdrehte und ihm sagte, dass er sich während seines Aufenthaltes sehr gerne an der Lösung des Falles beteiligen würde.

„Ich habe etwas gezögert, Ihr Angebot einer Zusammenarbeit sofort zu akzeptieren, bin aber bereit dazu. Allerdings müssen Sie mir ab und zu eine Auszeit gönnen, schließlich verbringe ich meinen Urlaub als Gast bei meinem Freund. Ich werde sicherlich nicht zu jedem Verhör mitkommen oder jeder Spur nachgehen können.“

„Einverstanden“, sagte Ewen, „ich darf Sie aber zwischendurch anrufen und um ihren Rat bitten?“

Louvin war erstaunt, er hatte noch selten einen Kommissar getroffen, der froh über die Hilfe eines auswärtigen Kollegen war. Marc sah nach oben und erkannte dort seinen Freund Gerard, der eine gewisse Ungeduld zeigte, indem er immer wieder auf die Uhr verwies. Marc war sicher, dass Gerard endlich etwas frühstücken wollte. Er gab Ewen Kerber seine Handynummer, verabschiedete sich von ihm und stieg wieder nach oben.


Möwenspur

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