Читать книгу Möwenspur - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеJulie saß vor ihrem Computer und sah sich die Bilder auf Facebook an. Sie hatte in den letzten Minuten nach einem ganz bestimmten Namen gesucht. Robert Le Floch hieß der junge Mann, den sie jetzt gefunden hatte. Er war mit beinahe vierhundert Menschen befreundet. In der Hauptsache waren es junge Frauen zwischen 18 und 25 Jahren, wie sie beim Scrollen bemerkte. Robert sah sehr gut aus und es war kein Wunder, dass sich die Frauen für ihn interessierten. Julie wollte unbedingt mit ihm chatten, sie musste ihn näher kennenlernen. Aber möglichst nicht über Facebook. Sie wollte anonym bleiben und das war vielleicht in einem der zahlreichen Foren einfacher als hier. Nachdem sie sich die Email-Adresse von Robert notiert hatte, ging sie zu ihrem kleinen Mini und fuhr in die Stadt. Sie betrat das Cyber-Café ‚Chez Marinette‘, am Quai Carnot in Concarneau, in dem sie schon so manche Stunde verbracht hatte, bestellte sich einen Kaffee und ein Glas Wasser und suchte sich einen freien Platz. Nach wenigen Minuten war sie im Netz und schrieb eine Email an Robert Le Floch.
Hallo Robert, du kennst mich nicht, aber ich habe schon einiges über dich auf Facebook gelesen. Du siehst richtig süß aus. Ich würde ganz gerne mit dir ein wenig chatten. Vielleicht findest du ja etwas Zeit. Ich bin immer auf ‚chat.fr‘. Mein Name ist Lolita 23. Ich würde mich über eine Antwort freuen.
Die Mail war jetzt versandt und Julie nahm einen großen Schluck aus dem Wasserglas. Danach nippte sie an ihrem Kaffee und hoffte, dass sie bald eine Antwort bekommen würde. Es dauerte tatsächlich nur wenige Minuten und Robert hatte ihr geantwortet.
Hallo Lolita 23, wie kommst du denn auf mich? Ich bin ziemlich beschäftigt und habe nicht sehr viel Zeit zum chatten. Ab Mitternacht bin ich allerdings für eine Stunde frei. Dann können wir uns gerne auf ‚chat.fr‘ treffen. Bis dann Robert
Julie lehnte sich genüsslich zurück. Es hat wieder geklappt, dachte sie und nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse. Sie bezahlte und verließ das ‚chez-Marinette‘. Eine Melodie summend, ging sie zu ihrem Mini zurück.
Wenige Minuten später betrat sie ihre Wohnung und schaltete ihren Computer ein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es noch vier Stunden bis Mitternacht waren. Julie ging in ihre kleine Küche und öffnete den Kühlschrank. Der Kühlschrank war schon ziemlich leer. Sie hatte vergessen, einkaufen zu gehen und so musste sie sich mit Schinken und Eiern zufrieden geben. Sie überlegte nicht lange und bereitete sich ein Rührei mit Schinken zu. Eine frische Baguette hatte sie mitgebracht, als sie am späten Nachmittag ihre Arbeitsstelle verlassen hatte. Als Chefsekretärin hatte sie immer noch zu tun, wenn die anderen schon längst nach Hause gegangen waren. Der Chef hatte eben immer Extrawünsche.
Julie liebte ihre Arbeit. Ihr Chef war ein sehr netter Mann, unaufdringlich aber bestimmt in seinen Anforderungen. Heute hatte sie noch zwei Verträge fertigstellen müssen, bevor sie das Haus verlassen konnte. Ihr Chef wollte gegen 20 Uhr nochmals in die Firma kommen und die Verträge dann mitnehmen. Morgen früh würde er bereits gegen halb acht Uhr, mit dem Flugzeug von Quimper aus nach Lyon fliegen und er wollte die Verträge mitnehmen.
Julie sah in ihren Weinständer und nahm sich eine Flasche Rotwein heraus. Sie öffnete die Flasche und goss sich ein wenig in ihr Glas, setzte sich auf das Sofa und sah auf den Computer, der vor ihr auf dem kleinen Tisch stand. Sie freute sich schon auf den Chat mit Robert. Würde er anbeißen? Eigentlich war sie sich sicher, dass es klappen würde, ihr Angebot würde er nicht abschlagen. Erneut sah sie auf die Uhr, immer noch waren es zwei Stunden bis Mitternacht. Julie schaltete den Fernseher ein und wollte sich die Zeit mit einem Film vertreiben.
Ewen Kerber hatte sich, nachdem Marie sich wieder gefangen und ihrer Mutter erklärte hat, dass sie ruhig wieder nach Hause gehen könne, mit Carla auf den Heimweg gemacht. Carla war auf der Fahrt still und beinahe schon in sich gekehrt. Als Ewen sie ansprach, musste er das zweimal tun, weil Carla beim ersten Mal nicht reagierte.
„Was ist los Carla?“ Ewen wiederholte seine Frage.
„Ach, es ist nur…,“ Carla stockte, „es ist, weil ich mir jetzt wieder Sorgen um Marie mache. Sie hatte schon so viel verarbeitet.“
„Das wird auch weiterhin der Fall sein, Carla.“ Ewen wusste nur zu gut, dass ihre Sorge durchaus berechtigt war. Aber er wollte sie ein wenig trösten.
„Hoffentlich glaubst du jetzt nicht, dass Marie oder ich etwas mit den Morden zu tun haben?“
Dieser Satz war aus Carla herausgesprudelt. War das der echte Hintergrund ihres eher sonderbaren Verhaltens? Carla wusste selber nicht, warum sie in diesem Augenblick darauf gekommen war. Es schien ihr jetzt erst bewusst zu werden, dass sie beiden ein Motiv für die Morde hatten. Eine Vergewaltigung war aus ihrer Sicht ein starkes Motiv und es würde auch ein starkes Motiv aus der Sicht der Polizei darstellen.
„Auf keinen Fall Carla, aber ich muss dir ehrlich sagen, dass meine Kollegen dich bestimmt befragen werden und auch nach einem Alibi fragen. Leider gilt das ebenso für Marie.“ Ewen sah Carla an und hoffte, dass er sie damit nicht schockiert hatte.
Carla schüttelte nur den Kopf.
„Nein, bitte nicht Marie. Mich könnt ihr natürlich befragen, ich habe nichts dagegen und kann das auch verkraften. Aber versuche, Marie damit nicht zu belasten.“
Sie sah Ewen fast flehend an.
„Wann sind denn diese Morde genau passiert?“
„Der letzte Mord geschah gestern, so gegen 21 Uhr und der erste am 7. Mai, kurz nach halb 10 Uhr abends.“ antwortete Ewen.
„Also gestern…“, meinte Carla, „gestern…, wo war ich da am Abend?“
Ihre Miene hellte sich auf und sie sah, dass auch Ewen plötzlich wieder gelöste Gesichtszüge bekam.
„Da waren wir doch alle…“
„Zusammen in der kleinen Crêperie, in der Ville Close!“ ergänzte Ewen, den von Carla begonnenen Satz. Sie lachten vor Freude über das Alibi, dass sie sich gegenseitig geben konnten. Sie hatten erst gegen Mitternacht das Restaurant verlassen und Ewen hatte Marie nach Hause gefahren. Wie konnte er das nur vergessen haben? Damit waren Carla und Marie aus der Sache heraus und er konnte problemlos weiter an dem Fall arbeiten. Warum nur war ihm dies nicht eingefallen als er mit Paul gesprochen hatte. Er musste diese Neuigkeit seinem Kollegen sofort mitteilen.
Julie sah, wie sich der Zeiger der Zwölf näherte und so beschloss sie, ihren Computer auf den Schoß zu nehmen und sich auf ‚chat.fr‘ einzuloggen. Jetzt war Lolita 23 online. Es dauerte nur wenige Minuten und sie sah, dass ein gewisser ‚Tiger‘ mit ihr in Kontakt treten wollte.
„Hallo Lolita 23, die Uhr zeigt jetzt Mitternacht und ich habe eine Stunde Zeit, wie ich es dir gesagt habe.“
„Hallo Tiger, kein sehr origineller Name, Robert wäre mir da lieber.“
„Du heißt doch bestimmt auch nicht Lolita 23, oder?“
„Stimmt, aber man möchte ja ein wenig Anonymität behalten“
„Ja, aber du kennst meinen richtigen Namen ja bereits. Wie wäre es, wenn du mir deinen verraten würdest?“
„Nicht so schnell, wir kennen uns ja noch nicht einmal richtig.“
„Das kann sich ganz schnell ändern. Wo wohnst du? In Paris, in New York oder vielleicht sogar in China?“
„Ha, ha, ha! Nein nicht in Paris und auch nicht in China. Seit wann sprechen die Chinesen französisch? Schon etwas weiter von Paris entfernt, aber dafür in einer schönen Gegend.“
„Was machst du denn so, wenn du einmal nicht gerade chattest?“
Robert Le Floch versuchte, von dieser Lolita wenigstens ein paar Informationen über ihren Beruf oder ihren Standort herauszubekommen. Am frühen Abend, als er die Email erhielt wollte er zuerst überhaupt nicht antworten, dann war seine Neugierde aber doch stärker gewesen. Was war das für eine Frau, die ihm einfach schrieb, ihm eine Mail sandte und mit ihm chatten wollte, nur weil ihr sein Bild auf Facebook aufgefallen war? Natürlich schmeichelte es ihm.
Er hatte längere Zeit in seinem Büro zugebracht und war von dort aus auf Facebook gegangen, um seine Mails anzusehen. Er hatte mit seinen dreißig Jahren beruflich eine gute Position. Als Abteilungsleiter einer renommierten Investmentgesellschaft verdiente er sehr gut. Er war ein überzeugter Single und genoss es, ständig neue Kontakte mit Frauen zu knüpfen. Nachdem er mit dieser Lolita 23 ausgemacht hatte, sich um Mitternacht in einem Chatroom zu treffen, hatte er das Büro verlassen, war mit seinem Porsche in sein Lieblingsrestaurant gefahren und hatte noch schnell etwas gegessen. Kochen war nicht gerade seine Leidenschaft und so besuchte er beinahe täglich ein Restaurant und genoss die verschiedenen angebotenen Spezialitäten. Heute Abend sollte es die indische Küche sein. Er liebte es, etwas schärfer zu essen und da war er bei seinem „Inder“ genau richtig. Anschließend fuhr er in seine Wohnung, öffnete eine Flasche Mouton Rothschild und genoss den Wein. Er hätte sich auch früher mit dieser Lolita verabreden können, aber wer sich rarmacht, macht sich interessant, war seine Devise. Vielleicht würde ihr Interesse an ihm dadurch noch gesteigert.
„Ich bin nur eine kleine Sekretärin, aber vom Chef! Was machst du so?“
„So, so, eine Chefsekretärin. In welcher Branche bist du denn tätig? Ich bin ein kleiner Abteilungsleiter.“
Julie überlegte, was sie ihm antworten sollte. Sie wollte nicht zu viel an Informationen preisgeben. Sie war sich nicht sicher, wer seine Mails später einmal lesen würde. Sie war kein intimer Kenner von EDV-Anwendungen und daher nicht sicher, ob man auch Chats verfolgen konnte. Daher wollte sie ihm nur vage Auskunft geben. Sie würde auf keinen Fall ihren richtigen Arbeitgeber nennen.
„Ich bin in der Gemüsebranche tätig, reicht dir das? Was machst du denn genau?“
„Ich bin bei einem Investmentunternehmen für Geldanlagen zuständig. Du bist also in der Gemüsebranche, das heißt in ein
„Stimmt, so etwas wie Bondella und du bist so etwas wie ein Banker? Hast du auch den Leuten das Geld abgenommen, um es sicher in amerikanische Immobilien zu investieren?“
„Hey Lolita , bist du vielleicht bei diesen Verrückten von ‚occupy wall street‘ aktiv?“
„Nein, bin ich nicht, aber ich lese schließlich die Zeitung und bin ein wenig informiert.“
„Okay, ich hin zwar kein Banker, aber wir haben natürlich auch in diesem Bereich investiert. Du hast doch hoffentlich deine Kröten nicht in amerikanische Immobilien gesteckt?“
„Ich bin froh, wenn ich über die Runden komme Robert, nein, Geld in Immobilien habe ich nicht investieren können. Könnten wir das Thema wechseln? Machst du manchmal auch Urlaub, zum Beispiel in der Bretagne?“
„In der Bretagne habe ich noch nicht Urlaub gemacht, außer einmal vor etlichen Jahren, da war ich bei einem Yachtausflug dabei. Ansonsten fahre ich lieber in den Süden.“
„Schade, sonst hätten wir uns einmal sehen können.“
Julie versuchte, vorsichtig zu sein und nicht zu schnell mit ihrem eigentlichen Wunsch herauszuplatzen. Sie wollte erst einmal sein Interesse wecken. Noch war sie sich nicht sicher, dass er anbeißen würde. Ihr wichtigstes Argument ihn zu überzeugen, hatte sie noch nicht vorgebracht und sie würde es auch erst am Schluss anbringen.
„Warum nicht, du kannst ja nach Paris kommen. Bei mir ist immer eine Möglichkeit zu übernachten vorhanden.“
„Nicht schlecht, aber ich traue mich nicht mit dem Auto nach Paris zu fahren, ich bin keine sehr gute Autofahrerin. Aber vielleicht kannst du mich ja hier einmal besuchen. Ich biete dir auch etwas an, etwas Außergewöhnliches.“
Robert war neugierig geworden. Was sollte sie ihm anbieten können, was so verlockend wäre, dass es sich lohnte in die Bretagne zu fahren? Er wollte es jetzt genauer wissen.
„Also bitte etwas genauer, was würdest du mir denn anbieten, was ich nicht auch in Paris haben kann?“
„Wie wäre es, mit heißem Sex am Strand, in einer lauen Nacht?“
„Nimmst du mich auf den Arm? Wir kennen uns ja gar nicht!“
„Nein, absolut nicht, ich finde dich einfach umwerfend und ich würde gerne mit dir schlafen, am Strand.“
„Auch bei Regen, Wind oder Hagel?
„Ich habe ein kleines Zelt im Auto, das hat noch immer geschützt.“
Robert dachte kurz nach. So ein direktes Angebot hatte er noch nie erhalten. Am Strand, im Sand hatte er es auch noch nie getrieben. Vielleicht eine wirklich interessante Erfahrung. Robert sah auf seinen Terminkalender, neben ihm auf dem Schreibtisch. Er sah, dass am nächsten Wochenende die Möglichkeit für einen Kurzurlaub bestehen würde. Das Wochenende war frei. Er konnte noch zwei Tage anhängen und in die Bretagne fahren.
„Du hast mich überzeugt Lolita 23, ich komme. Ich könnte mich am nächsten Wochenende für ein paar Tage frei machen. Wie sieht es bei dir aus?“
„Ich kann mir immer frei nehmen am Wochenende? Hi hi hi!“
„Klar, aber ich möchte schon noch ein oder zwei Tage dranhängen. Geht das bei dir auch?“
„Aber klar, für dich versuche ich alles. Ich freue mich riesig, du bist wirklich ein großartiger Typ! Ich habe aber eine Bedingung für das Treffen, ich möchte dich so sehen wie auf Facebook, du weißt schon, mit Anzug, Krawatte und so...“
„Wenn es nicht mehr ist, das lässt sich machen. Also dann bis zum 21., aber wie können wir uns erkennen und wo treffen wir uns?“
„Mach dir keine Sorgen, ich erkenne dich sofort. Wir treffen uns am besten in Pont Aven. Es gibt einen großen Parkplatz an der ‚Rue des Abbès Tanguy‘ Ich werde dort auf dich warten. Ich schlage vor, wir treffen uns gegen 17 Uhr. Du parkst am besten in der hintersten Reihe, erstens ist dort immer eine Lücke zu finden, vorne ist immer alles besetzt, und zweitens kann ich dich dort sofort sehen, ohne lange durch die einzelnen Reihen fahren zu müssen. Wäre das okay für dich?“
„Super, also dann bis nächsten Samstag, wir können uns aber auch schon früher treffen. Ich kann auch bereits so gegen 15 Uhr in Pont Aven sein.“
„Nein, es muss bei 17 Uhr bleiben, ich habe noch eine andere Verpflichtung am Nachmittag. Ich freue mich.“
Damit beendete Julie die Verbindung und lehnte sich entspannt zurück. Nächstes Wochenende! Es war schon bemerkenswert, wie einfach es war, einen Mann aus Paris in die Bretagne zu locken. Julie ging ins Bett und schlief gut in dieser Nacht.