Читать книгу Tod in der Ville Close - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеEwen und Paul brauchten nicht lange für die Strecke von Quimper nach Concarneau. Nach der Abfahrt von der Voie Express zur Passage Lanriec passierten sie das centre ville von Concarneau, oder kreiz kêr, wie die Bretonen sagen und überquerten die Brücke über den Moros. Der Moros, der sich aus dem Zusammenfluss der beiden Bäche Le Moros und Le Val gebildet hatte, floss am Hafen von Concarneau in den Atlantik. Ein Teil des Flusses war gestaut und diente als Trinkwasserreservoir. Die Brücke überspannte den Moros in einer Höhe von ungefähr dreißig Metern. Erst vor einigen Wochen war ein LKW-Fahrer mit seinem Fahrzeug durch das Brückengeländer eingebrochen und hinabgestürzt. Der Fahrer war auf der Stelle tot gewesen. Den Schaden an der Brücke konnte Ewen immer noch sehen als sie jetzt daran vorbeifuhren. Über Tage war es ein Thema in dem Ouest France gewesen. Gleich an der zweiten Ampel nach der Brücke bogen sie zweimal nach rechts ab und erreichten schließlich den Place Duquesne.
Ewen stellte seinen Dienstwagen ab und überquerte mit Paul den Platz. Beim Aussteigen war ihm aufgefallen, dass man von hier aus einen schönen Blick auf die Altstadt von Concarneau hatte. Von dieser Seite sah die Ville Close ganz anders aus.
Paul, der sich den Schlüsselbund von de Rochefort eingesteckt hatte, probierte die einzelnen Schlüssel durch. De Rochefort hatte zahlreiche Schlüssel an dem goldenen Anhänger. Der vierte Schlüssel passte und Paul öffnete die Tür zu dem Haus. Schon im Hausflur erkannten sie, dass der Bewohner noch nicht sehr lange hier weilte. Zahlreiche Umzugskartons stapelten sich im Gang. Ewen und Paul stiegen die Treppe nach oben. Die eigentliche Wohnung lag auf den beiden Etagen darüber. Das Wohnzimmer lag gleich rechts neben der Treppe. Es war geräumig und die Fenster gaben den Blick frei auf den Hafen und die Ville Close. Bis auf die leeren Regalböden schien das Zimmer fertig eingerichtet zu sein. Zum Auspacken der Bücher war de Rochefort wohl noch nicht gekommen. Paul ging in die Küche und sah sich dort um, während Ewen das Wohnzimmer einer genaueren Inspizierung unterzog.
Das Notizheft neben dem Telefon erregte seine Aufmerksamkeit. Er schlug die erste Seite auf und sah, dass Alain de Rochefort seine ganzen Kontakte hier alphabetisch eingetragen hatte. Noch jemand, der lieber mit dem Bleistift umging als sich auf die Elektronik zu verlassen. Für Ewen war ein Smartphone eine Arbeitserschwernis und keine Erleichterung. Es dauerte ihm viel zu lange, wenn er in einem Handy anfangen musste, nach einer dort abgespeicherten Adresse zu suchen. Ihm war schon bewusst, dass es an ihm lag, an seinem Verhältnis zu den neuen Kommunikationsmitteln und an seiner Abneigung der Elektronik gegenüber. Wenn die Batterie sich ihrem Ende zuneigte, war man aufgeschmissen. Das gute alte Notizheft funktionierte immer und brauchte keinen Strom. Er stand mit dieser Auffassung ziemlich alleine im Kommissariat. Auch für Paul gab es nur noch diese multifunktionalen Apparate, die anscheinend alles konnten. Als er vor einigen Monaten mit Paul unterwegs gewesen war, hatte der zu seinem Telefon gegriffen, um die Rollläden in seiner Wohnung zu schließen, weil sich ein Sturm angebahnt hatte. Ewen wollte zuerst nicht glauben, dass das möglich sein sollte. Paul versicherte ihm aber, dass er keine Witze mache, er könnte mit dem Handy seine Rollläden schließen und wieder öffnen.
Als sie dann später in einem Restaurant saßen, einen Cidre tranken und sich ihre Crêpes schmecken ließen fragte Ewen Paul, ob es wohl möglich wäre, mit dem Handy auch die Flasche zu öffnen. Der Wirt hatte vergessen den Korken zu entfernen. Paul sah ihn verstört an, es dauerte einige Sekunden bis er merkte, dass Ewen ihn auf den Arm nahm.
Ewen blätterte langsam die einzelnen Seiten durch. Er las die Namen und betrachtete die Telefonnummern. Alles schien völlig normal zu sein. Kein Eintrag erregte seine Aufmerksamkeit, wenn man davon absah, wessen Adressen hier zu finden waren. Für Ewen stand fest, dass so mancher bereit gewesen wäre, für dieses Notizbuch Geld zu bezahlen. Es enthielt die privaten Anschlüsse des Präsidenten, die Telefonnummern von allen Ministern und Staatssekretären und von zahlreichen gut situierten Personen aus der Wirtschaft. Darüber hinaus befanden sich die Verbindungsdaten der wichtigsten Abgeordneten aus den Reihen der PS in dem Heft.
Ewen nahm das Heft an sich, es könnte vielleicht noch an Bedeutung gewinnen. Dann suchte er nach weiteren brauchbaren Spuren.
Auf dem kleinen Sekretär neben dem Fenster lag ein weißes Blatt Papier, das wohl als Unterlage gedient hatte, denn es waren darauf durchgedrückte Buchstaben zu erkennen. Ewen sah sich nach einem Bleistift um. Im Sekretär fand er einen kleinen Zinnbecher, der verschiedene Schreibutensilien enthielt. Neben Kugelschreibern, einem Füllfederhalter und einem Drehbleistift entdeckte er auch einen einfachen Bleistift. Er nahm den Bleistift und strich mit der flachen Seite der Spitze über die eingedrückten Stellen. Langsam wurde das Geschriebene sichtbar.
MD, jf
12 MJ M
14 PG
14 SB
12 CR
Es war die Liste, die sie auf dem kleinen Notizzettel gefunden hatten.
Damit stand fest, dass Alain de Rochefort an diesem Schreibtisch gesessen hatte, als er die Buchstaben und Ziffern notiert hatte. Es konnte nicht so lange her sein, dass er den Zettel geschrieben hatte. Die Eindrücke waren noch nicht überschrieben worden. Seine erste Annahme, dass die Notiz auch schon älter sein konnte, war jetzt widerlegt.
Ewen suchte weiter in den Unterlagen des kleinen Sekretärs. Es handelte es sich beinahe ausschließlich um Unterlagen für die nächste Wahl. Er fand Kopien von diversen Anschreiben an die Sozialistische Partei in Paris, an einen Rechtsanwalt, Jacques Lamball und an einige regionale Parteivorsitzende der PS. In dem Schreiben an den Rechtsanwalt stand lediglich, dass er ihm einige Unterlagen in Kopie zusenden werde. Leider fehlte der Hinweis auf die beigefügten Anlagen.
Der Anwalt hatte seine Kanzlei in Quimper. Ewen beschloss, ihn baldmöglichst aufzusuchen. Vielleicht konnte er von dem Mann erfahren, warum de Rochefort hier ins Finistère gekommen war. Ein Mann, der früher wohl kaum die Hauptstadt freiwillig verlassen hätte. Wenn man etwas erreichen wollte in der Politik, dann blieb man in der Nähe der Macht, außer man hatte einen entsprechenden Posten in einer der anderen großen Städte des Landes inne. Bürgermeister von Bordeaux, Lyon oder Nantes zum Beispiel.
Ewen sah sich weiter um. Er zog die linke Schublade des Sekretärs auf und sah sich den Inhalt dort an. Allerlei Visitenkarten und diverse Ansichtskarten lagen verstreut darin. Er öffnete die rechte Schublade. Sein Blick wurde sofort von einem schmalen, schwarzen Terminkalender angezogen. Ein Terminkalender in der Schublade? Den trägt man doch normalerweise bei sich. Ewen nahm den in Leder gebundenen Terminkalender heraus und schlug ihn auf.
„Interessant, sehr interessant“, sagte er laut zu sich selbst.
„Was ist so interessant?“, fragte Paul, der gerade ins Wohnzimmer getreten war.
„Ich habe seinen Terminkalender gefunden. Nur, warum hat er ihn nicht bei sich getragen? Ich habe meinen immer zur Hand und trage ihn in der Innentasche meines Jacketts.“
„Vielleicht hat er ihn schlichtweg vergessen. Du vergisst doch deinen Kalender auch schon mal.“
„Hmmm, stimmt. Auf jeden Fall sind hier drei Termine für den vergangenen Samstag eingetragen. Bei dem zweiten steht das Wort essen vor dem Namen. Das müsste dann der Mann sein, der auf dem Foto zu sehen gewesen ist, dass wir von den beiden Amerikanern erhalten haben. Hier steht der Name Yves Taridec. Davor hat er sich noch mit einem Emile Hervy getroffen. Um 17 Uhr wollte er dann mit einem gewissen Ronan Creac´h sprechen. Wir müssen versuchen herauszufinden, wer diese Leute sind. Vielleicht finde ich ihre Telefonnummern in seinem Notizbuch. Auch das habe ich vorhin gefunden. Hast du etwas Besonderes entdeckt?“
„Ja, ich denke schon. In seinem Schlafzimmer habe ich sein Notebook gefunden. Das Notebook hat einen Passwortschutz und so habe ich mir den Inhalt nicht ansehen können. Wir müssen es von Robert Gallic untersuchen lassen. Dann habe ich vier Fotos gefunden, die alle auf einem Spielplatz aufgenommen worden sind. Sieh sie dir an.“
Paul reichte Ewen die Aufnahmen. Der sah sie sich genau an.
„Ich sehe nur die Kinder, die hier im Sand und auf der Schaukel spielen. Auf den Bänken sitzen die Mütter und sehen ihren Kindern zu.“
„Genau, das habe ich zuerst auch gesehen. Aber sieh mal, hier in dem Auto hinter dem Zaun sitzt doch ein Mann. Sein Blick geht eindeutig in Richtung des Spielplatzes.“
„Vielleicht bekommen wir mehr zu sehen, wenn wir das Bild vergrößern lassen. Das Kennzeichen kann man so jedenfalls nicht erkennen.“
„Denkst du das, was ich denke?“ Paul sah Ewen an.
„Du meinst, dass es sich hier um Pädophilie handeln könnte? Wir sollten nicht so vorschnell mit unseren Schlüssen sein, aber es wäre möglich.“
„Wer wäre dann der Pädophile? Der Tote de Rochefort oder jemand, den er als solchen beschuldigt hat oder dabeigewesen ist zu beschuldigen?“
„Das herauszufinden ist Teil unserer Ermittlungen, Paul, lass uns sofort an die Arbeit gehen. Wir geben die Bilder Dustin, der soll sie uns vergrößern. Er muss sich auch noch hier im Haus umsehen.“
Ewen und Paul verließen die Wohnung von Alain de Rochefort. Sie verschlossen und versiegelten sie.
Gerade als sie zu ihrem Wagen gehen wollten, sahen sie eine Frau auf die Haustür zugehen. Ihre Hand war bereits auf dem Klingelknopf, als sie das Polizeisiegel erkannte. Sie zögerte und überlegte was sie jetzt tun sollte. Ewen sah, wie sie ihre Hand zurückzog und sich langsam umdrehte. Sie schien zu zögern, dann griff sie in ihre Handtasche, entnahm ihr einen großen Umschlag und steckte ihn in den Briefkasten. Sie drehte sich um und wollte den Platz überqueren.
Ewen, der die Frau die ganze Zeit über beobachtet hatte, ging auf sie zu, als sie jetzt auf den Parkplatz kam.
„Entschuldigen Sie, Madame, mein Name ist Ewen Kerber, von der police judiciaire aus Quimper. Darf ich Sie fragen, warum sie Monsieur de Rochefort aufsuchen wollten? Sie wollten ihn doch gerade aufsuchen?“
Die Frau blieb stehen und sah Ewen und den Ausweis den er ihr vorhielt genau an.
„Ja, ich habe mit Monsieur de Rochefort sprechen wollen. Es ist aber etwas Privates. Warum stehen Sie hier vor seiner Wohnung, und warum ist die Tür mit einem Siegel versehen?“
„Darf ich Sie zuerst einmal nach Ihrem Namen fragen?“
„Ich bin Monique Grosselle aus Concarneau.“
„Madame Grosselle, Monsieur de Rochefort wurde am Samstag in der Ville Close ermordet.“
Monique Grosselle erstarrte, sie sah Ewen mit großen Augen an und sagte nichts.
„Madame, ist Ihnen nicht gut?“, fragte Ewen.
Monique Grosselle schwankte etwas hin und her, dann schien sie sich wieder gefasst zu haben.
„Sie sagen, er wurde ermordet?“ Sie sah zu Ewen und Paul und wartete wohl auf eine Antwort. Ewen ließ noch einige Sekunden verstreichen, bevor er ihr antwortete.
„Ja, er wurde am Samstag erschossen. Können Sie uns sagen, was Sie mit ihm besprechen wollten?“
Die Frau schien unschlüssig zu sein, was sie den beiden Kommissaren antworten sollte. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sich ihre Gedanken um die Antwort drehten. Schließlich hatte sie sich entschied, ihnen den Grund ihres Besuches mitzuteilen.
„Monsieur le Commissaire, ich habe Monsieur de Rochefort vor einigen Wochen kennengelernt, bei einem Empfang in der Stadtverwaltung von Concarneau,. Wir waren uns spontan sehr sympathisch, wenn Sie wissen, was ich meine. Jedenfalls haben wir uns angefreundet, und ich habe mich einige Male mit Alain getroffen. Bevor Sie mich danach fragen, will ich Ihnen lieber gleich sagen, dass wir nicht intim miteinander waren. Ich bin zwar alleinstehend, mein Mann ist vor sechs Jahren bei einer Segelregatta ums Leben gekommen, aber ich habe nicht den Wunsch, einen neuen Mann zu finden. Da ich im Gemeinderat von Concarneau sitze, habe ich zwangsläufig mit den Kandidaten unserer Partei zu tun. Ich bin Mitglied der PS.“
„Verzeihen Sie, Madame Grosselle, ich wollte nicht indiskret sein. Sie haben gerade vor einigen Minuten einen größeren Umschlag in den Briefkasten von Monsieur Alain de Rochefort gesteckt. Darf ich wissen, was Sie ihm übermittelt haben?“
„Das ist kein Geheimnis. Alain war dabei, sich von unserer Partei, als zukünftiger Abgeordneter für das Parlament, aufstellen zu lassen. Da ich, bevor ich in den Gemeinderat von Concarneau gewählt worden bin, in der Werbebranche gearbeitet habe, hat er mich gebeten, ihm bei der Vorbereitung seiner Kampagne behilflich zu sein. Ich habe ihm einige Vorschläge ausgearbeitet, und die stecken in dem Umschlag.“
„Ist es nicht etwas seltsam, dass Sie de Rochefort unterstützen wollen, obwohl die Partei doch den jetzigen Abgeordneten wieder aufstellen will, wie ich gehört und gelesen habe. Da dürfte die Partei doch auf ihre Loyalität setzen?“
„Das ist sicherlich richtig. Aber dennoch gibt es, auch in unserer Partei, Diskussionen über die Personen im Parlament. Ich war eher für die Person de Rochefort, auch wenn der Mann nicht so gute Karten besaß.“
„Wie können wir Sie erreichen? Wir werden bestimmt noch Fragen an Sie haben, Madame Grosselle.“
„Bitte, meine Karte, da finden Sie alles, was Sie benötigen, um mit mir in Kontakt zu treten.“
Ewen nahm die Visitenkarte entgegen und steckte sie unbesehen in seine Jackentasche. Er bedankte sich bei Madame Grosselle für das Gespräch und sah ihr nach, als sie zu ihrem Wagen ging. Sie fuhr ein rotes Cabrio, einen Citroën DS3.
„Vielleicht sollten wir einfach hier stehenbleiben und der Fall löst sich von alleine“, meinte Paul und grinste. Er fand die Aussage von Madame Grosselle sehr aufschlussreich.
„Schön wäre es, Paul. Dann sollten wir uns aber lieber in das kleine Café dort drüben setzen und etwas trinken.“ Ewen lachte und Paul nickte zustimmend.
Ewen kramte in seiner Jackentasche und holte den Schlüsselbund von de Rochefort heraus. Dann überquerte er nochmals den Platz und ging zum Briefkasten des Toten. Er nahm den Briefkastenschlüssel vom Schlüsselbund, schloss den Briefkasten auf und entnahm den großen Umschlag von Madame Grosselle. Dann ging er zurück zu Paul Chevrier. Die Kommissare stiegen in ihren Wagen und fuhren wieder zurück nach Quimper.
Ewen ging sofort zur Pinnwand und brachte die neuesten Informationen an. Die Pinnwand war ihm inzwischen zur absoluten Stütze geworden. Früher hatte er solche Hilfsmittel abgelehnt, weil er der Meinung war, dass ein Kommissar sein Wissen im Kopf haben sollte und nicht an einer Pinnwand, weit weg von den Orten, an denen er Zugriff auf die Informationen brauchte. Aber mit den Jahren musste er feststellen, dass die Pinnwand weniger als Gedächtnisstütze fungierte, sondern eher als Marktplatz für Informationen. Neben den Namen de Rochefort, notierte er jetzt Madame Grosselle. Er setzte ein Fragezeichen hinter ihren Namen, da er noch nicht genau wusste, welche Rolle sie spielte.
Den Umschlag, den er dem Briefkasten von Alain de Rochefort entnommen und den er sehr vorsichtig, an nur einer Ecke, berührt hatte, ließ er zu Dustin Goarant bringen. Er sollte ihn auf vorhandene Fingerabdrücke untersuchen. Die Abdrücke der Frau waren auf dem Umschlag. Es war nicht ausgeschlossen, dass man sie auch an anderer Stelle schon gefunden hatte oder finden würde. Dann könnten sie die Abdrücke wenigstens gleich zuordnen. Sobald Dustin damit fertig wäre, würde er sich den Inhalt näher ansehen. Doch jetzt sah Ewen sich die Personen an, deren Namen in dem Terminkalender standen.
Er ging an seinen Computer und gab in die Suchmaske des Personenregisters den Namen Emile Hervy ein. Sofort erschien die Adresse des Mannes. Monsieur Hervy wohnte in Melgven, in der Rue Jean Jaurès. Den zweiten Namen, Yves Taridec fand er auch sehr schnell. Als Wohnort war hier La Forêt-Fouesnant angegeben. Die genaue Adresse fand Ewen ebenfalls, Rue de Pen Ar Ster. Ewen stutzte, als er den Namen vor sich sah. Der kam ihm irgendwie bekannt vor. Aber er konnte sich nicht erinner, woher er ihn kannte. Es fehlte ihm noch der dritte Mann. Nachdem Ewen den Namen Ronan Creac´h eingegeben hatte, blieb der Bildschirm dunkel. Es erschien nur die kleine Meldung, Name nicht gefunden. Seltsam, dachte er sich und versuchte es ein zweites Mal. Er achtete sehr sorgfältig auf seine Eingabe. Aber erneut erschien der Hinweis, dass der Name nicht im System vorhanden war. Ewen notierte sich die Adressen der beiden ersten Herren und ging zu seinem Kollegen, um mit ihm gemeinsam die Männer aufzusuchen.
„Paul, lass und doch die beiden Männer aufsuchen, die sich zuletzt noch mit de Rochefort getroffen haben. Ich habe versucht, auch den dritten Mann, aus dem Terminkalender zu ermitteln, aber der Name ist nicht in unserem System.“
„Das ist schon seltsam Ewen, in dem Melderegister sind doch normalerweise alle Einwohner erfasst. Kann es sein, dass der Name vielleicht falsch ist. Es wäre doch denkbar, dass der Mann einen fiktiven Namen angegeben hat.“
„Wir werden es herausfinden müssen. Lass uns jetzt erst einmal die beiden bekannten Herren besuchen.“
Ewen und Paul fuhren nach Melgven. Die Straße, Rue Jean Jaurès war schnell gefunden. Ewen parkte vor dem Haus. Sie gingen auf den Eingang zu. Ewen bemerkte, dass es keine Klingel gab. Ein alter, eiserner Türklopfer war an der Haustür befestigt. Der Rost, der sich bereits darauf angesetzt hatte, deutete daraufhin, dass er schon alt war, und die Spinnweben, die sich um ihn herumspannten, dass er nicht sehr häufig benutzt wurde. Die Fensterläden waren größtenteils geschlossen. Das Haus vermittelte einen unbewohnten Eindruck. Ewen betätigte den Klopfer und hörte, wie sich der Schall im Haus fortpflanzte. Nach einer Minute versuchte Ewen es noch einmal. Aber auch auf das zweite Klopfen hin ließ sich niemand blicken.
„Scheint entweder niemand zuhause zu sein, oder man will uns nicht öffnen, oder aber die Bewohner sind im Garten. Lass uns doch einmal ums Haus gehen, Paul.“
Sie gingen ums Haus herum. Auch der Garten machte einen ungepflegten Eindruck. Das Gras wartete sicher schon seit zwei Monaten auf einen Schnitt. Die überall herumliegenden, abgebrochenen Äste der letzten Winterstürme deuteten in die gleiche Richtung. Das Haus war scheinbar nur vorübergehend bewohnt. Vielleicht war es ein maison secondaire, ein Zweitwohnsitz, der jemandem als Feriendomizil diente.
„Wir scheinen kein Glück zu haben“, meinte Paul. Ewen war der gleichen Meinung, und so machten sie sich auf den Rückweg. Gerade als sie vor dem Haus angekommen waren, bog ein Fahrzeug in die Einfahrt ein, und ein Mann stieg aus.
„Das ist Privatbesitz meine Herren, was suchen Sie auf meinem Grundstück?“
Ewen und Paul zückten fast gleichzeitig ihre Ausweise.
„Ewen Kerber, police judiciaire Quimper. Das ist mein Kollege, Paul Chevrier. Wir möchten mit Monsieur Emile Hervy sprechen, sind Sie das?“
„Ja, mein Name ist Emile Hervy, wie kann ich der police judiciaire helfen?“
„Monsieur Hervy, wir haben ihren Namen im Terminkalender von Monsieur de Rochefort gefunden und gesehen, dass Sie sich am letzten Samstag mit ihm getroffen haben. Zu diesem Treffen würden wir Sie gerne befragen.“
„Moment, meine Herren, was haben Sie in dem Terminkalender von Monsieur de Rochefort zu suchen? Noch dürften solche Dinge, wie ein Terminkalender, in den Bereich der Persönlichkeitsrechte gehören. Da kann doch nicht einfach jeder herumschnüffeln.“
„Entschuldigen Sie, Monsieur Hervy, aber wir sind von der Mordkommission. Monsieur de Rochefort ist am Samstag ermordet worden. Da gehören diese Dinge, wie Sie sie gerade nannten, durchaus zu unseren Angelegenheiten.“
„Was sagen Sie? Monsieur de Rochefort wurde ermordet? Irren Sie sich nicht mit dem Namen?“
„Nein Monsieur Hervy, leider irren wir uns nicht. Monsieur de Rochefort wurde am Samstag in der Ville Close ermordet. Eine der letzten Eintragungen betraf ihr Gespräch mit de Rochefort. Es hatte wohl am Vormittag stattgefunden.“
„Ja, das ist richtig, wir haben uns am Samstagvormittag in seiner Wohnung getroffen.“
„Können Sie uns sagen, um was es bei diesem Gespräch ging?“
„Nun, es ist eigentlich ein rein privates Gespräch gewesen. Es ging um seine Kandidatur für die nächsten Parlamentswahlen. Er hatte vor, im Wahlkreis Concarneau, als Vertreter der PS zu kandidieren.“
„Monsieur Hervy, was haben Sie für Monsieur de Rochefort in diesem Zusammenhang tun sollen? Wir haben bereits eine Dame kennengelernt, die ihm bei seinem Wahlkampf behilflich gewesen ist. Jetzt hören wir, dass auch Sie haben helfen sollen. Der Mann ist noch nicht einmal als Kandidat aufgestellt gewesen und hat schon ein Wahlkampfteam besessen?“
„Sie sprechen von Madame Grosselle? Madame Grosselle habe ich ihm vorgestellt, bei einer Veranstaltung im Rathaus der Stadt Concarneau. Nein, ich sollte nicht direkt seinen Wahlkampf unterstützen. Ich sollte ihm überhaupt erst ermöglichen, in den Wahlkampf einsteigen zu können.“
„Das müssen Sie uns jetzt aber etwas genauer erklären.“ Ewen verstand nicht, was Monsieur Hervy damit sagen wollte. De Rochefort war doch schon sehr lange Mitglied der PS und als ehemaliger Staatssekretär bestens vertraut mit dem gesamten Parteiapparat.
„Sehen Sie, Monsieur le Commissaire, es gibt da einige Ereignisse in seiner Vergangenheit, die ihm eine Kandidatur eher erschweren als erleichtern.“
„Sie meinen seinen Rücktritt als Staatssekretär, wegen der Korruptionsaffäre?“
„Ja, genau das meinte ich. Die Partei wollte ihn auf keinen Fall zur Wahl zulassen. Wenigstens nicht in Paris. Ein Großteil der Parteiführung ging davon aus, dass eine erneute Kandidatur in der Hauptstadt negativ beurteilt würde. Hier in der Provinz, so war sein Kalkül, würden sich die Wenigsten an diese Angelegenheit erinnern. Hier, so dachte er, konnte er einen neuen Anlauf starten. Das Problem war aber der aktuelle Abgeordnete der PS. De Rochefort musste einen Grund finden, der dessen erneute Aufstellung durch die Partei verhinderte. Meine Aufgabe war genau das. Als Privatdetektiv sollte ich Argumente herbeischaffen, die die Wiederwahl des aktuellen Kandidaten unmöglich erscheinen ließen.“
„Haben Sie etwas gefunden?“
„Bis jetzt noch nichts, was sich beweisen lässt. Nur Gerüchte und Verdächtigungen. Dazu möchte ich mich aber nicht äußern. Wie ich schon gesagt habe, nichts wirklich Brauchbares.“
„Was Sie herausgefunden haben, könnte für uns aber von Bedeutung sein.“
„Sobald ich etwas Vernünftiges, habe melde ich mich bei Ihnen.“
„Wollen Sie denn in der Suche fortfahren, obwohl ihr Auftraggeber tot ist?“ Ewen sah Monsieur Emile Hervy fragend an.
“Ich habe mein Geld für den Auftrag erhalten. Folglich werde ich ihn auch zu Ende führen.“
„Auch wenn es keinen Abnehmer für ihre Ergebnisse mehr gibt?“ Paul war der Meinung, dass Monsieur Hervy das nur so dahersagte.
„Sie sind also sehr interessiert, wenn ich das richtig verstehe?“, fragte Hervy.
„Wir sind auch schon an den Gerüchten und Verdächtigungen interessiert, Monsieur Hervy.“
„Sobald ich etwas Näheres habe, werde ich mich bei Ihnen melden. Über Gerüchte spreche ich nicht.“
Ewen und Paul verabschiedeten sich von Hervy und gingen weiter zu ihrem Wagen.
„Seltsamer Typ, findest du nicht auch?“, fragte Paul seinen Kollegen.
„Schon etwas seltsam. Aber vielleicht auch nur konsequent.“
„Mich würde schon interessieren, was er an Vermutungen und Gerüchten über den Abgeordneten der PS herausgefunden hat.“
„Nun, wir werden dem Herrn bestimmt noch näher auf die Pelle rücken müssen.“
Ewen startete den Motor und fuhr los. Sie machten sich auf den Weg nach La Forêt-Fouesnant.
Dort wollten sie mit dem zweiten Mann der Liste sprechen. Es müsste der Mann aus dem Restaurant sein. Ewen zog das Bild aus seiner Akte und versuchte, sich das Gesicht einzuprägen. Sobald Monsieur Taridec ihnen die Tür öffnete, wüsste er, ob er es war, der mit de Rochefort in dem Restaurant gesessen hatte und eventuell der Täter war. Immerhin hatten die Amerikaner ausgesagt, dass die beiden Männer in heftigem Streitgespräch waren, als sie das Restaurant verlassen hatten. Die Rue de Pen Ar Ster war dank des Navigationsgerätes schnell gefunden. Das Haus von Monsieur Yves Taridec gehörte zu den größeren Anwesen in der Straße.
„Vornehm, vornehm“, meinte Ewen, als sie ausgestiegen waren und zu dem Gartentor gingen. Das Haus war im typischen bretonischen Stil gebaut, mit jeweils einem Kamin auf jeder Seite. Die sechs Dachgauben zeigten, dass auch die Etage ausgebaut war. Ewen schätzte die Wohnfläche auf über 200 Quadratmeter, was schon sehr beachtlich war. Das Grundstück war an die 30 Ar groß. Das elektrische Tor, das den Weg zum Haus versperrte, war circa fünf Meter breit, und die Zufahrt zum dahinterliegenden Haus war bestimmt an die 50 Meter lang. Vor dem Haus lag ein schön angelegter Vorplatz, mit Kies bedeckt, der Platz für mindestens fünf Fahrzeuge bot. Rechts daneben stand eine Doppelgarage, die im Stil des Hauses gebaut war. Ewen drückte auf den Klingelknopf neben der Sprechanlage.
„Sie wünschen?“, ertönte es nach wenigen Augenblicken aus der Sprechanlage.
„Commissaire Kerber und Chevrier, von der police judiciaire in Quimper. Wir würden sehr gerne mit Monsieur Yves Taridec sprechen.“
Als der Summer ertönte, konnte Ewen das Gartentor öffnen. Die beiden Kommissare durchschritten die Auffahrt. Als sie an der Haustüre angekommen waren, öffnete ein Mann die Tür, dessen Alter Ewen auf Mitte 40 schätzte.
„Treten Sie ein, meine Herren“, sagte der Mann und trat zur Seite, um die beiden Kommissare ins Haus zu lassen.
„Ich darf vorgehen“, sagte er, nachdem er die Haustür verschlossen hatte. Er ging quer durch die große Eingangshalle auf eine zweiflüglige Tür zu, die geöffnet war. Paul Chevrier und Ewen Kerber betraten das großzügige Wohnzimmer des Herren Taridec.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Herren“, sagte er und zeigte auf ein dreisitziges, weißes Ledersofa. Er selbst setzte sich in den breiten Ledersessel gegenüber.
Ewen und Paul nahmen Platz und Ewen kam sofort zur Sache, nachdem er sicher war, dass er den Mann auf dem Foto vor sich hatte.
„Monsieur Taridec, Sie hatten am Samstag einen Termin mit Monsieur de Rochefort, in der Ville Close. Können Sie uns sagen, um was es dabei ging.“
„Verzeihen Sie, aber ich weiß nicht, was Sie das angeht. Meine Gespräche sind doch wohl meine Privatangelegenheit.“
„Unter normalen Umständen würde ich Ihnen ja gerne zustimmen, Monsieur Taridec. Aber bei Mord hört die Privatangelegenheit auf.“
Ewen sah Taridec dabei ins Gesicht. Er wollte jede Bewegung, jede Regung seines Gesichtes sehen. Die Mimik konnte sehr hilfreich sein.
Das Erstaunen, dass sich jetzt auf Taridecs Gesicht zeigte schien echt zu sein. Entweder der Mann war ein ausgezeichneter Schauspieler, oder aber er wusste wirklich nichts vom Ableben des Herrn de Rochefort.
„Sie machen wohl Witze, Monsieur le Commissaire?“
„Sehe ich so aus, als ob ich Witze mit dem Tod eines Menschen machen würde?“ Dann fuhr Ewen fort.
„Am Samstagnachmittag ist de Rochefort in der Ville Close erschossen worden. Kurz zuvor haben Sie sich mit ihm getroffen. Zum einen geht diese Tatsache aus seinem Terminkalender hervor, zum anderen gibt es ein Foto, auf dem Sie mit dem Toten zu sehen sind kurz vor seinem Ableben.“
Yves Taridec blickte Ewen die ganze Zeit über an. Ewen nahm jetzt eine entspannte Sitzhaltung auf der Couch ein, und Taridec begann zu sprechen.
„Meine Herren, Sie sehen mich sprachlos. Ich hatte mich am Samstag mit Monsieur de Rochefort getroffen. Es ging um die anstehenden Wahlen. Er wollte, dass ich meine Unterstützung für den aktuellen Kandidaten zurückziehe und diese lieber ihm zukommen lasse. Ich unterstützte seit Jahren den Abgeordneten, Maëlik Decroaz. Als ich de Rochefort sagte, dass meine Unterstützung auch weiterhin Decroaz gehören würde, wurde er beinahe ausfallend. Er drohte mir, dass ich das noch bereuen würde. Es würden demnächst Erkenntnisse publik werden, die seine Wiederwahl zu Nichte machten. Ich fand diese Bemerkung, schon gar aus seinem Mund, beinahe makaber. Er selber war ja eigentlich nicht wählbar. Ein Staatssekretär, der sich bestechen ließ, war ja nicht gerade ein Aushängeschild.“
„Monsieur Taridec, dazu möchte ich mich nicht äußern. Uns geht es nur um die Aufklärung des Mordes. Hat Monsieur de Rochefort sich präziser ausgedrückt, warum Herr Maëlik Decroaz nicht mehr wählbar sei?“
„Nein, es blieb bei diesen Andeutungen. Ich hatte den Eindruck, dass er bemüht war, einige Leichen von Decroaz auszugraben. Dabei weiß ich gar nicht, ob es welche gab. Aber Sie wissen ja, bei genauem Nachsehen findet sich bei jedem Menschen ein schwarzer Fleck auf der weißen Weste.“
„Monsieur Taridec, darf ich Sie noch fragen, warum er ausgerechnet bei Ihnen Unterstützung erbeten hat? Sind ihre Zuwendungen für die PS so hoch?“
Taridec lachte schallend.
„Nein, es geht nicht um eine finanzielle Unterstützung. Ich bin der Vorsitzende eines Freundeskreises der PS. Meine Empfehlungen werden von unseren Mitgliedern weitergetragen, und so habe ich durchaus bedeutenden Einfluss. Auch die Presse ist regelmäßiger Gast bei unseren Treffen, und der Kontakt zu dem Ouest France und zum Télégramme ist ausgezeichnet. Sie verstehen, was ich meine?“
„Ich verstehe sehr wohl, Monsieur Taridec. Haben Sie am letzten Samstag mit de Rochefort noch andere Themen bewegt?“
„Nein, das war das einzige Thema. Ich habe Monsieur de Rochefort anschließend sofort verlassen.“
„Wohin sind Sie danach gegangen?“ Ewen fiel die Bemerkung von der jungen Amerikanerin ein, dass sie den Mann auf der Fähre wiedergesehen hatten.
„Als ich mich verabschiedete, bin ich zuerst in Richtung des Ausgangs der Ville Close gegangen. Später habe ich mich aber entschlossen, mit der Fähre noch zur Passage Lanriec zu fahren, und ein wenig spazieren zu gehen. Ich bin sehr erzürnt gewesen über das Verhalten von de Rochefort und habe ein wenig Entspannung gebraucht.“
„Haben Sie vielen Dank für Ihre Unterstützung. Vielleicht müssen wir noch einmal auf Sie zukommen.“
Ewen und Paul erhoben sich und gingen zum Ausgang. Ewen erhaschte noch einen Blick in das Zimmer, das direkt neben das Wohnzimmer anschloss. Ihm war, als ob er einen Schatten gesehen hätte. Hatte sich dort jemand aufgehalten, der ihr Gespräch verfolgt hatte?
Monsieur Taridec begleitete die beiden Kommissare bis zur Tür. Dort verabschiedete er sich nochmals und schloss die Tür hinter ihnen wieder ab.
„Hast du etwas bemerkt, als wir aus dem Wohnzimmer in den Hausflur traten?“ Ewen sah Paul an.
„Nein, ist dir etwas Spezielles aufgefallen?“
„Nicht wirklich, aber ich hatte den Eindruck, als ob sich jemand in dem Zimmer neben dem Salon aufgehalten hatte. Ich meinte einen Schatten gesehen zu haben, der hinter der Tür verschwunden war, als wir vorbeigingen.