Читать книгу Weiße Rosen aus Névez - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеAnaïk Bruel stand vor ihrer großen Pinnwand und betrachtete die Eintragungen zu ihrem neuen Fall. Einen Toten in Névez hatte es bei der police judiciaire seit den Serienmorden vor einigen Jahren nicht mehr gegeben. Damals waren innerhalb kürzester Zeit drei Männer, an dem zur Gemeinde Névez gehörenden Küstenabschnitt zwischen dem Plage de Tahiti und dem kleineren Strand bei Rospico, ermordet worden. Der Fall ist in die Geschichte des Kommissariats als Die Möwenspur eingegangen. Er war von ihrem Vorgänger, Ewen Kerber, bearbeitet worden. Die endgültige Lösung des Falles hatte damals über drei Jahre lang gedauert. Paul Chevrier, der Mitarbeiter von Kerber, der heute in Brest tätig ist, hatte ihr bei ihrer ersten Zusammenarbeit mit der police judiciaire von Quimper davon erzählt. Die Besonderheit der Mordserie war damals, dass die Ermordeten alle mit Fischabfällen bedeckt gewesen sind.
Jetzt gab es also wieder einen Mordfall in der touristischen Kleinstadt unweit von Pont-Aven. Der Tote war zwar nicht mit Fischabfällen bedeckt, dafür lag eine weiße Rose neben der Leiche. Ein beträchtlicher Unterschied, zumindest für die Nase.
Anaïk sah sich die Bilder von der Leiche und der Mordwaffe an. Ein Gesteinsbrocken von mindestens 20 Kilogramm. Der Transport des Steins und die Befestigung hatten Zeit in Anspruch genommen. Da das Opfer zwischen 23 Uhr und Mitternacht zu Tode gekommen war, und die Dunkelheit erst gegen 22 Uhr 30 eingesetzt hat, müssen die Vorbereitungen in nur einer halben Stunde geschehen sein. Sie könnten einen Aufruf in der Zeitung veröffentlichen, mit der Bitte um Zeugen, die um diese Zeit etwas Auffälliges vor dem Anwesen von Monsieur Malencourt beobachtet haben. Vielleicht hatte jemand ein Fahrzeug gesehen oder beobachtet, dass eine Person einen Stein transportiert hat. Einen Versuch wäre es wert.
Monique Dupont betrat das Büro ihrer Chefin und sah sie vor der Pinnwand stehen.
„Hast du schon etwas entdeckt?“, fragte sie.
„Nein, ich überlege gerade, ob wir einen Zeugenaufruf veröffentlichen sollten. Vielleicht hat jemand gesehen, wie der Gesteinsbrocken auf das Terrain gebracht worden ist.“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe mir auch überlegt, ob es uns weiterbrächte, wenn wir wüssten, woher der Stein stammt. Die Felsen an der Küste haben ja durchaus unterschiedliche Zusammensetzungen. Ich habe den Gedanken aber schnell wieder verworfen.“
„Wieso eigentlich? Die Idee ist gut. Wir könnten damit eventuell auf den Wohnsitz unseres Mörders schließen“, meinte Anaïk und betrachtete erneut die wenigen Eintragungen. Dann sprach sie weiter.
„Wir suchen ein Motiv. Das Motiv für den Mord könnte mit der Havarie von Malencourt zu tun haben und mit dem Tod des Retters. Darüber haben wir an der Fundstelle der Leiche schon spekuliert. Ich habe versucht, die Angehörigen des Verunglückten ausfindig zu machen. Ich bin auf seine Frau, Isabelle Audic, und auf seine Eltern gestoßen. Der Vater, Jean Audic, ist bereits über 70 Jahre alt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein 70-jähriger Mann die Tat begangen hat“, meinte Anaïk.
„Warum nicht?“, fragte Monique.
„Heute sind viele Menschen mit 70 noch kräftig und agil. Möglich wäre es theoretisch. Aber wir können uns den Mann ja mal ansehen, bevor wir ein Urteil über seine körperliche Verfassung fällen. Gibt es weitere Angehörige?“
„Außer den Erwähnten habe ich niemanden gefunden. Zum Kreis der Verdächtigen könnten auch sehr gute Freunde gehören, auch die sollten wir nicht außer Acht lassen.“
„Hast du die Adressen der Angehörigen? Wir sollten die zuerst aufsuchen“, meinte Monique und sah ihre Chefin an.
„Die habe ich hier, lass uns hinfahren. Der Vater von René Audic wohnt in Kerfany Les Pins, einem Ortsteil von Moëlan-sur-Mer.“
„Moëlan? Den Ort kenne ich nicht, genauso wenig wie Kerfany.“
„Es ist auch mein erster Besuch in dem Ort. Ich habe mir die Lage auf der Karte angesehen. Es sieht herrlich aus, direkt an der Mündung des Belon gegenüber von Port Manec´h, mit Blick auf den Aven und den Ozean.“
Die zwei Frauen verließen das Kommissariat und fuhren über die Voie Express bis zur Ausfahrt Kerandréo, folgten dann der D 104, bogen auf die D 783, der sie 500 Meter folgten, bevor sie auf die D 24 und schließlich auf die D 116 abbogen.
Anaïk parkte auf der Anhöhe und stellte den Motor ab. Sie genoss den Blick auf das malerisch gelegene Dorf, ein herrlicher kleiner Badeort, mit schönem Sandstrand, netten Häusern, beinahe schon Villen, umgeben von Pinien und wildem Ginster. Vom Strand blickte man auf die Mündung des Belon und auf die Landzunge, die den Belon vom Aven trennt. Auf der anderen Seite der Bucht lag der Hafen von Port Manec´h mit seinem weißen Leuchtturm mit dem markanten roten Hut und dem roten Schriftzug Port Manec´h. Die Hafenmole, hinter der die Schiffe Schutz fanden, sah von hier wie ein schwarzer Finger aus, der sich in die Bucht schob. Das Wasser der Bucht war heute tiefblau.
Ja, das war ihre Bretagne, eine Landschaft, die hinter jeder Biegung neue Panoramen, neue atemberaubende Ausblicke, wilde felsige Ufer, alte Fischerdörfer und wunderbare Strände hervorzauberte.
„Einfach toll!“, rief Monique aus.
Anaïk nickte und startete den Motor wieder, um die letzten Meter bis zum Haus von Jean Audic zurückzulegen. Das Haus lag in der Allée des Chèvrefeuilles. Eine niedrige Steinmauer und ein hölzerner Scherenzaun, der inzwischen fast vollständig von einer Hecke überwuchert war, schlossen das Grundstück zur Straße ab. Die Zufahrt wurde links und rechts von zwei Vierkanthölzern begrenzt. Am rechten Pfosten war ein langes Holztor befestigt, das weit offenstand. Am linken Pfosten hing der übliche Briefkasten. Der Weg führte geradewegs zur Garage des Hauses. Vor der Garage stand ein Renault Clio. Das kleine und einfache bretonische Haus, dessen Fenster nach Süden ausgerichtet waren, hatte einen Wintergartenanbau, der den Blick auf das offene Meer freigab.
Die Kommissarinnen stiegen aus und gingen durch das geöffnete Tor auf das Haus zu. An der Eingangstür klingelte Anaïk. Ein Gong schallte durchs Haus. Wenig später stand ein Mann um die 70 Jahre vor ihnen. Es musste sich um Monsieur Audic handeln.
„Bonjour Mesdames“, begrüßte er die beiden Damen.
„Sie wünschen?“, fragte er mit sonorer männlicher Stimme.
„Bonjour! Monsieur Audic, vermute ich?“ Anaïk lächelte den Herrn an.
„Ja, ich bin Jean Audic“, antwortete er.
„Monsieur Audic, wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Mein Name ist Anaïk Bruel, und das ist meine Kollegin, Monique Dupont. Wir hätten Sie gerne gesprochen. Dürfen wir eintreten?“
Monsieur Audic nickte und trat zur Seite. Er schloss die Tür hinter den Kommissarinnen und ging voraus in den kleinen Wintergarten.
„Bitte, treten Sie doch näher und nehmen Platz.“ Er zeigte auf eine Sitzecke mit einem Chesterfield-Sofa und zwei entsprechenden Sesseln. Ob es sich um Originale oder um Nachahmungen handelte, konnte Anaïk nicht sagen. Sie setzte sich auf das Sofa, und Monique nahm neben ihr Platz. Monsieur Audic machte es sich in einem der Sessel bequem.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht eine Tisane oder einen Kaffee?“, fragte er die Kommissarinnen.
„Haben Sie vielen Dank, ich möchte nichts“, antwortete Anaïk und schlug die Beine übereinander. Auch Monique lehnte dankend ab. Bevor sie eine erste Frage stellen konnten, betrat eine Dame den Raum.
„Meine Frau“, stellte Jean Audic sie vor.
„Bonjour Mesdames“, grüßte sie und sah ihren Mann an.
„Hast du unseren Besuch nach einem Getränk gefragt?“
„Aber sicher, Enora, die beiden Damen von der police judiciaire haben abgelehnt.“
„Sie sind von der police judiciaire? Was führt Sie zu uns nach Kerfany? Sie haben hoffentlich keine weitere schlechte Nachricht, der Tod unseres Sohnes reicht uns.“
„Nein, Madame Audic, wir haben keine schlechte Nachricht, aber der Tod ihres Sohnes ist der Grund unseres Besuchs. Wir ermitteln in einer Mordangelegenheit. Ich wollte ihrem Mann gerade den Grund unseres Besuches erklären.“
Enora Audic setzte sich in den zweiten Sessel und sah gespannt auf die Kommissarin.
„Madame, Monsieur Audic, wir haben heute Morgen in Névez die Leiche des Mannes gefunden, den ihr Sohn vor einer Woche aus Seenot gerettet hat.“
„Sprechen Sie von Monsieur Malencourt? Diesem undankbaren, arroganten, aufgeplusterten und hochmütigen Menschen?“
„Nun, ob der Tote damit zutreffend beschrieben ist entzieht sich meiner Kenntnis. Ja, es handelt sich um Monsieur Malencourt.“
„Um ihn ist es nicht schade“, erwiderte Madame Audic und wischte sich einige Tränen aus den Augen.
„So darfst du nicht sprechen, Enora“, sagte ihr Mann und sah seine Frau verständnisvoll an. Dann fügte er erklärend hinzu:
„Er hat unseren Sohn auf dem Gewissen. Kein Dankeschön für seine Rettung ist ihm über die Lippen gekommen. Wie soll man einen solchen Menschen anders bezeichnen als hochmütig und arrogant.“
„Warum sind Sie jetzt hier?“, wandte Madame Audic sich wieder an Anaïk.
„Bitte verstehen Sie uns richtig, Madame, wir müssen mit jedem sprechen, der ein Motiv für die Tat haben könnte. Der Verlust ihres Sohnes könnte ein solches Motiv sein. Daher müssen wir fragen, wo Sie, Monsieur Audic, gestern Abend zwischen 22 Uhr und Mitternacht gewesen sind?“
„Sie denken, mein Mann hätte diesen Wichtigtuer umgebracht?“ Madame Audic war jetzt aufgebracht.
„Madame Audic, wir denken nicht, dass ihr Mann etwas mit der Sache zu tun hat. Wir müssen jedoch alle Alibis der Personen überprüfen, die ein Motiv haben könnten, und wir können ihren Mann nicht ausnehmen.“
„Mein Mann ist hier bei mir gewesen, das kann ich beschwören. Mein Mann hat nichts mit dem Tod von diesem Menschen zu tun.“
Anaïk sah Monsieur Audic an. Jean Audic nickte.
„Ja, es stimmt. Ich habe den ganzen Abend hier verbracht. Ich würde mir meine Hände nicht schmutzig machen für so einen Menschen. Ich wünsche niemandem den Tod, aber ich kann meine Frau sehr gut verstehen. Sein Tod hat uns hart getroffen. Wissen Sie, mein Sohn hat seine ehrenamtliche Tätigkeit beim SNSM mit Leib und Seele ausgeübt. Er ist immer bereit gewesen, sein Leben für andere aufs Spiel zu setzen. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer, und er kannte sich mit den Gefahren des Meeres aus. Dass er für einen Menschen sterben musste, der sich bewusst in diese Gefahr begeben und nach seiner Rettung nicht einmal das Wort Merci gefunden hat, das macht die Situation für uns unerträglich. Wir haben erfahren, dass ihn die Hafenmeisterei vor dem Auslaufen vor dem Sturm gewarnt hat. Der Mann hat gelacht und die Warnung hochmütig ignoriert. Können Sie sich das vorstellen? Da kommt einer aus Paris und will erfahrenen Bretonen zeigen, dass wir keine Ahnung vom Segeln haben? Das wir uns nicht mit dem Meer und seinen Gefahren auskennen? Wer hat denn einen Eric Tabarly oder einen Loïck Peyron hervorgebracht? Wer hält denn den Rekord bei der Weltumsegelung? Das sind doch wir Bretonen!“
Monsieur Audic hatte sich in Rage geredet. Seine Frau legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. Jean Audic blickte seine Frau an.
„Ist doch wahr“, meinte er und verstummte dann.
Anaïk und Monique erhoben sich.
„Ich habe noch eine Bitte. Darf ich einen Blick in den Kofferraum ihres Autos werfen?“
„Einen Blick in mein Auto werfen? Aber sicher, ich habe nichts zu verbergen. Wonach suchen Sie denn?“
„Nach nichts Bestimmtem“, meinte Anaïk. Sie verabschiedeten sich von Frau Audic.
Jean Audic ging voraus und nahm den Fahrzeugschlüssel aus einer grauen Schale auf der Kommode im Flur. Dann öffnete er die Haustür und ging zügig zu seinem Auto. Der Kofferraum machte einen sauberen und aufgeräumten Eindruck, drei Einkaufstüten, zwei paar Wanderschuhe und Gummistiefel.
„Haben Sie vielen Dank, Monsieur Audic“, das ist auch schon alles gewesen“, sagte sie und verabschiedete sich von ihm. Danach reichte ihm auch Monique die Hand. Die Kommissarinnen verließen das Grundstück.
„Was hast du in seinem Wagen gesucht?“, fragte Monique.
„Ich wollte nachsehen, ob mit dem Wagen vielleicht der Gesteinsbrocken transportiert worden ist.“
„Daran hätte ich nicht gedacht. Und?“
„Ich glaube nicht, ich habe weder Sand noch kleinere Kieselsteine gesehen.“
„Was für einen Eindruck hattest du von ihm?“, fragte Monique ihre Kollegin.
„Ich glaube ihm, ich glaube nicht, dass er unser Mörder ist.“
Sie bestiegen ihr Fahrzeug und machten sich auf den Weg ins Kommissariat. Die Frau des verunglückten Retters suchten sie nicht auf. Eine Frau konnte unmöglich einen solchen Stein tragen und aufhängen.
Yannicks Bericht lag bereits vor. Die Autopsie hatte seine Vermutung bestätigt. Die Todesursache war der Schlag mit dem Stein gegen seine Schläfe. Der Felsbrocken hatte zu einer Schläfenbeinfraktur geführt, an der der Mann nach wenigen Minuten gestorben war. Dass Monsieur Malencourt eine beginnende Leberzirrhose hatte, die vermutlich vom Genuss entsprechender Mengen Alkohol herrührte, war ein Nebenprodukt der Autopsie. Wenn er so weiter getrunken hätte, wäre er in wenigen Jahren an der Leberzirrhose gestorben.
Auch ein erster Bericht von Dustin lag bereits auf ihrem Schreibtisch. Dustin hatte nach der Entfernung der Leiche einen Zigarettenstummel der Marke Gauloises Bleu gefunden, die Klassische. Daran waren Reste von Speichel, die er Yannick zur weiteren Untersuchung gab. An der weißen Rose fanden sich keinerlei Spuren, die einen Rückschluss auf den Täter erlaubt hätten. Ansonsten hatte er etwas abseits der Leiche einen Champagnerkorken von einer Flasche Dom Pérignon gefunden.
Anaïk trat an ihre Pinnwand und notierte die wesentlichen Fakten.
Zigarettenstummel mit DNA (Handwerker? Fischer? Älterer Mann?), Champagnerflaschenkorken Dom Pérignon
Wenn es sich um eine ältere Person handelte, bliebe Monsieur Jean Audic in ihrem Fokus. Was für einen Beruf hatte er ausgeübt? War er Raucher? Während ihres Gesprächs hatte der Mann nicht geraucht. Auch war ihr nicht aufgefallen, dass ein Aschenbecher im Wintergarten gestanden, oder dass es in dem Raum nach kaltem Rauch gerochen hätte. Zur Sicherheit müssten sie der Frage nach den Zigaretten nachgehen. Warum hatte eine weiße Rose neben dem Leichnam gelegen?