Читать книгу Blutspur in Locronan - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 5

Kapitel 2

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Ewen Kerber und Paul Chevrier saßen in ihren Büros und arbeiteten diverse Papiere durch. Es war ruhig geworden in Quimper, wenigstens für die Mordkommission. Nicht, dass Ewen den Mangel an Toten bedauerte, er freute sich sogar, wenn alles ruhig blieb und die Menschen sich nicht gegenseitig umbrachten, aber der liegengebliebene Papierkram, den er dann erledigen musste, gehörte nicht zu seinen liebsten Aufgaben. Auch wenn ein Großteil der schriftlichen Arbeiten von seiner Sekretärin, Anne Kerflor, übernommen wurde, blieb trotzdem noch genügend für die Kommissare übrig. Manches konnten nur die wissen, die mit der Lösung des Falles betraut waren, und das waren nun einmal in einem Mordfall die Herren Kerber und Chevrier.

Der Sommer zeigte sich schon seit Wochen von seiner schönsten Seite. Die Temperaturen schwankten beständig zwischen 23 und 25°C. Häufig wehte ein leichter Wind, so dass das Wetter auch ideal für die Freizeitkapitäne war, die jetzt das Meer entlang der bretonischen Küste bevölkerten. Kerber gehörte nicht dazu. Die Kosten für eine Segelyacht, für den Liegeplatz und die weiteren Gebühren, waren für einen Kommissar der police judiciaire einfach zu hoch. Aber Ewen wäre auch bestimmt kein Freizeitkapitän geworden, wenn er das nötige Kleingeld dafür gehabt hätte. Er neigte dazu recht schnell seekrank zu werden. Schon die Überfahrten zu den Inseln mit den recht ansehnlichen Fähren machte ihm bei einem stärkeren Seegang zu schaffen. Carla, seine Frau, lag ihm seit einigen Tagen in den Ohren, die Insel Groix zu besuchen. Auf France 3 hatte sie eine Dokumentation über die Insel gesehen und war sofort Feuer und Flamme für einen Besuch gewesen. Ewen war nicht abgeneigt die Insel anzusehen, zumal er vor geraumer Zeit in einem Buch, das Carla im geschenkt hatte, über den Mineralienreichtum der Insel gelesen hatte, von dem konvexen Strand und vielen anderen interessanten Dingen. Wenn da nicht die Überfahrt wäre. Es war nur eine kurze Fahrt, höchstens vierzig Minuten, dennoch war es eine Barriere, die Ewen erst einmal überwinden musste.

Vor einigen Wochen war er mit Carla zu seinem Freund Georges Ehinger gefahren, der in der Normandie das Château Bois Avenel erworben hatte. Bei dem Aufenthalt war er in die Vorbereitungen eines Attentats auf den Präsidenten geraten und hatte an der Lösung des Falles mitwirken können. Die Schreibarbeit zu diesem Fall war ihm erspart geblieben, die durfte jetzt sein Kollege, Eric Mortain, in Saint-Lô erledigen. Das war eine ganze Menge.

Seit seiner Rückkehr saß er nun Tag für Tag in seinem Büro und versuchte die liegengebliebenen Berichte zu ergänzen, abzuarbeiten und für die Archivierung vorzubereiten.

„Ewen, wir haben einen neuen Fall“, eröffnete ihm Paul, der in der Tür zu seinem Büro stand.

„Ein neuer Fall!“ Ewen rief es, als sei dies eine freudige Botschaft.

„Gerade habe ich von der Zentrale die Nachricht bekommen, dass es in Locronan einen Toten gibt. Ein älterer Spaziergänger hat einen Mann gefunden. So wie es aussieht, ist er wohl erstochen worden.“

Ewen ließ sofort den Kugelschreiber fallen, den er noch in der Hand hielt, stand auf, nahm sein Jackett vom Besucherstuhl und verließ mit Paul das Büro. Trotz der Temperaturen ließ Ewen es sich nicht ausreden, auf das Sakko zu verzichten.

„Ein Kommissar ohne Sakko sieht aus wie ein zufällig vorbeigekommener Spaziergänger“, pflegte er immer zu sagen.

Locronan lag knappe achtzehn Kilometer nordwestlich von Quimper. Für die Strecke würden sie weniger als zwanzig Minuten benötigen. Sie stiegen in ihren Dienstwagen, einen Citroën C5, ein bretonischer Wagen, weil er in Rennes gebaut worden war, und fuhren in den weithin bekannten kleinen mittelalterlichen Ort. In Locronan hatte es in all den Jahren, in denen Ewen Kerber die Leitung der Mordkommission bei der police judiciaire von Quimper innehatte, noch nie einen Mord gegeben.

Die Ortschaft war weit über die Grenzen der Bretagne hinaus bekannt. Die alten Häuser dienten so manchem Regisseur als Filmkulisse. Namhafte Filmproduzenten, unter anderem auch Roman Polanski, hatten bereits in dieser Stadt gedreht. Dabei hatten die Filme nicht einmal in der Bretagne spielen müssen. Der Austausch von einigen Schildern hatte bereits genügt, um aus dem bretonischen Ort eine Ortschaft in England entstehen zu lassen.

Ewen war schon mehrfach mit Carla in den kleinen Ort gefahren, um die Glasbläserei zu besuchen, oder weil Carla bei den Troménies dabei sein wollte.

„Wo liegt der Tatort?“, fragte Ewen seinen Kollegen während der Fahrt.

„In der Verlängerung der Rue de la Montagne, genauer gesagt, in der Rue de la Troménie, ich habe die Kollegen von der Spurensicherung schon informiert, und auch Yannick Detru müsste bereits unterwegs sein“, antwortete Paul und sah in sein Notizbüchlein.

„Wusstest du, Paul, dass die Route der Wallfahrt, vor allem die der großen, beinahe in einem Viereck um den Berg von Locronan führt? Ich habe das gelesen. Der Tatort liegt also nicht auf der Wallfahrtsstrecke.“

„Das macht doch keinen Unterschied?“

„Natürlich nicht, Paul, ein Mörder nimmt in der Tat keine Rücksicht auf einen heiligen Ort. Selbst die heiligsten Orte werden heute zum Schauplatz von Gewaltverbrechen.“

Sie erreichten Locronan und fuhren mit gemäßigtem Tempo durch die Fußgängerzone. Der Ort war in den Sommermonaten für den Verkehr gesperrt, mit dem Blaulicht durften die Kommissare aber das Zentrum durchfahren. Vorbei an der Glasbläserei, die Ewen bereits besucht hatte, fuhren sie in die Rue de la Montagne. Nach wenigen hundert Metern sahen sie bereits die Einsatzfahrzeuge der Gendarmerie und die Bänder der Fundortabsperrung. Ewen parkte den Wagen, die beiden Kommissare stiegen aus und näherten sich der Absperrung. Sie zeigten dem Gendarmen, der den Zugang kontrollierte, ihren Ausweis und gingen auf die Leiche zu.

Yannick Detru, der Pathologe des Kommissariats, stand bereits bei der Leiche und Dustin Goarant, der Leiter der Spurensicherung, sammelte mit seinen Leuten alles auf, was sich im Umfeld des Toten finden ließ.

„Bonjour Yannick, was kannst du uns schon sagen?“

„Noch relativ wenig. Der Mann ist mit einem Messer erstochen worden. Die Einstichstellen sind hier auf dem Rücken zu sehen. Der Angreifer ist wohl auf Nummer sicher gegangen. Der Tote hat insgesamt vier Einstichstellen. Um was für ein Messer es sich genau gehandelt hat kann ich erst nach der Autopsie sagen.“

„Hat der Angreifer ihm alle Stiche verpasst, solange der Mann noch aufrecht gestanden hat?“

„Das kann ich mir schwerlich vorstellen. Das Opfer dürfte bereits nach dem ersten Stich zusammengesackt sein. Wenn der Täter nicht über enorme Kräfte verfügt hat, um ihn mit einer Hand festzuhalten, muss er ihm die anderen Verletzungen zugefügt haben als der Mann schon auf dem Boden lag. Aber Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich die Einstichwinkel untersucht habe.“

Ewen sah sich die Einstichstellen auf dem Leichnam an. Der Tote lag auf dem Bauch, und die Wunden auf seinem Rücken waren deutlich zu erkennen. Der Mann trug einen dünnen, hellblauen Baumwollpullover, ein kariertes Hemd, eine ältere Jeans und Wanderschuhe. An den Einstichstellen hatten sich vielfältige Blutflecken gebildet, die auf dem Pullover entsprechende Spuren hinterlassen hatten. Paul hatte zwischenzeitlich einen der Gendarmen gefragt, wer den Toten gefunden hatte.

„Der ältere Herr dort drüben. Wir haben ihn gebeten auf Sie zu warten.“

Paul bedankte sich bei dem Kollegen und ging auf den Mann zu. Er schätzte den Mann auf Mitte sechzig, etwa einen Meter achtzig groß. Sein ovales Gesicht war für sein Alter erstaunlich glatt. Er trug einen Schnurrbart, ähnlich dem von Ewen. Die grauen Haare, die unter der Hutkrempe herausragten, verliehen ihm ein weises Aussehen. Paul trat näher an den Mann heran und konnte seine braunen Augen erkennen, die sehr wach die Umgebung zu betrachten schienen. Die buschigen Augenbrauen erinnerten Paul an Jemanden, ohne dass er sagen konnte an wen. Auf dem Rücken trug der Mann einen Rucksack.

„Bonjour Monsieur, mein Name ist Paul Chevrier, ich bin Kommissar der police judiciaire aus Quimper. Sie haben den Toten gefunden?“

„Bonjour Monsieur le Commissaire, mein Name ist Elouan Pennoù. Ja, ich habe Didier gefunden.“

„Sie kennen den Toten?“

„Aber sicher, Monsieur le Commissaire, wir kennen, ich meine wir kannten uns seit mehr als zwanzig Jahren. Er ist mein Nachfolger als Präsident des Organisationskomitees der Pardons.“

„Dann können Sie mir bestimmt sagen, wie der Tote mit Nachnamen heißt?“

„Natürlich kann ich das. Sein vollständiger Name ist Didier Kerduc.“

„Haben Sie etwas beobachtet als Sie hierhergekommen sind? Eine Person die sich entfernt hat oder sonst etwas Auffälliges?

„Nein, überhaupt nichts, ich bin von meinem Spaziergang zurückgekommen, und da habe ich ihn dort liegen gesehen. Ich habe sofort die Gendarmerie informiert, und die sind auch schon nach wenigen Minuten hier gewesen.“

„Haben Sie etwas verändert an der Leiche? Zum Beispiel die Lage?“

„Nein, wo denken Sie hin. Ich habe sofort die Gendarmerie informiert und hier gewartet.“

„Geben Sie mir doch bitte Ihre Adresse und Ihre Telefonnummer, damit wir Sie erreichen können, falls noch Fragen auftauchen.“

„Ich wohne in der Rue de la Montagne.“ Er nannte Paul seine Telefonnummer, und Paul ging zurück zu Ewen.

Ewen Kerber war im Gespräch mit Dustin Goarant von der Spurensicherung, als Paul wieder zu ihnen trat.

„Ich habe den Namen des Toten erfahren, Ewen“, sagte er zu seinem Freund.

„Das ist gut, Paul. Dustin sagt mir gerade, dass der Tote keinerlei Papiere oder ein Portemonnaie bei sich getragen hat. Nur ein Hausschlüssel ist in der Hosentasche gewesen. Entweder sind ihm die Sachen gestohlen worden, dann können wir von einem Raubmord ausgehen, oder sie befinden sich alle in seiner Wohnung. Wie heißt der Mann?“

„Didier Kerduc, er wohnt in der Rue de la Montagne. Wir sind auf dem Weg hierher durch die Straße gefahren.“

„Dann sehen wir uns sein Haus anschließend gleich an. Seinen Hausschlüssel haben wir ja in der Hosentasche gefunden.“

„Kennt unser Zeuge den Toten gut?“

„Er sagt, dass sie über zwanzig Jahre lang im Organisationskomitee der Pardons von Locronan gewesen sind. Der Tote ist der Nachfolger unseres Zeugen.“

„Wie heißt der Mann?“

„Elouan Pennoù, ein seltener Name.“

„Der Name klingt so, als sei der Mann ein Nachkomme einer uralten, bretonischen Familie. Ich würde mich auch noch gerne mit dem Mann unterhalten.“ Ewen ging auf den älteren Herrn zu.

„Bonjour Monsieur Pennoù, mein Name ist Ewen Kerber von der police judiciaire aus Quimper. Ich leite hier die Ermittlungen. Sie haben einen seltenen Namen.“

„Da haben Sie Recht, Monsieur le Commissaire. Der Name geht zurück bis in das 10. oder 11. Jahrtausend. Ich gehöre somit zu den Ureinwohnern, wenn man es so ausdrücken kann.“

„Monsieur Pennoù, Sie haben den Toten gefunden, und mein Kollege hat mir gesagt, dass Sie ihn sehr gut gekannt haben.“

„Das ist richtig, er ist mein Nachfolger im Vorstand der Association Ronan, wir organisieren die Pardons. Ich habe das Amt beinahe 30 Jahre lang inne gehabt.“

„Ja, das Alter, irgendwann muss man die Aufgabe in jüngere Hände geben.“

„Ach, das Alter spielt hier keine Rolle. Körperlich und geistig hätte ich die Leitung noch einige Jahre ausüben können. Aber unsere Statuten sagen, dass man mit 60 Jahren die Leitung an einen Nachfolger übergeben muss.“

„Hat Sie das traurig gemacht?“

„Was heißt schon traurig, ich bin zwar nicht erfreut, aber wenn die Statuten es so vorschreiben, dann beugt man sich denen eben.“

„Dafür haben Sie jetzt mehr Zeit, ihr Leben zu genießen und zu wandern. Sagen Sie, gehen Sie regelmäßig diesen Weg?“

„Ja, sehr oft. Ich gehe jeden Tag ungefähr sechs Kilometer. Sehr oft führt mich mein Weg hier vorbei.“

„Haben Sie den Toten gefunden, als Sie sich auf den Weg gemacht haben oder auf dem Rückweg?“

„Ich bin auf dem Rückweg gewesen, als ich ihn gefunden habe.“

„Wie lange gehen Sie üblicherweise?“

„Monsieur le Commissaire, für den ganzen Weg, also für die sechs Kilometer, benötige ich eine Stunde und dreißig Minuten.“

„Können Sie mir sagen, wie lange Sie von hier aus gegangen sind, bis Sie diesen Punkt wieder erreicht haben?“

„Das kann ich Ihnen genau sagen. Für die ganze Strecke benötige ich eine Stunde und dreißig Minuten. Bis zu diesem Punkt somit eine halbe Stunde. Ich war also nach einer weiteren halben Stunde wieder an diesem Punkt. Also genau um 10 Uhr 30.“

„Das ist eine sehr präzise Auskunft.“

„Monsieur le Commissaire, ich bin Lehrer gewesen, unter anderem für Mathematik. Da werde ich doch noch so eine einfache Rechnung hinbekommen.“

„Da haben Sie natürlich Recht, aber ich mache auch ganz andere Erfahrungen.“

„Kann ich mir sehr gut vorstellen, nicht alle meine Schüler haben das jeweilige Klassenziel erreicht.“

Ewen lachte bei dieser Bemerkung. Wie Recht der Mann hatte.

„Sie tragen einen Rucksack, das ist eher ungewöhnlich für einen Spaziergang?“

„Nicht wenn man älter ist, Monsieur le Commissaire. Ich muss immer etwas zu trinken mit mir führen. Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich ansonsten in der Sonne austrockne.“

Ewen nickte und bedankte sich bei Elouan Pennoù und ging wieder zu Paul zurück.

„Wenn die Aussage unseres Zeugen stimmt, ist Didier Kerduc zwischen 10 und 10 Uhr 15 ermordet worden. Um 10 Uhr 30 ist Pennoù bereits wieder an dieser Stelle gewesen, und um 10 Uhr hat Kerduc noch nicht hier gelegen.“

„Das gibt uns einen ziemlich genauen Todeszeitpunkt“, meinte Paul und notierte sich die Uhrzeit sofort in sein schwarzes Büchlein. Dann überließen sie die weitere Bearbeitung des Tatortes den Kollegen von der Spurensicherung und fuhren zum Wohnhaus des Toten.

Es lag nur etwas mehr als zwei Kilometer vom Tatort entfernt, und so hatten sie das Haus des Mannes schnell erreicht. Der Tote hatte seine Hausschlüssel bei sich getragen, so dass sie jetzt die Haustüre öffnen und das kleine, beinahe mittelalterliche Haus betreten konnten. Ein aus Granit gebautes Haus mit kleinen Fenstern und blauen Fensterläden. Die Eichentür, mit dem schwarzen Löwenkopf als Klopfer, öffnete sich erstaunlich leicht, ohne einen Quietschton von sich zu geben.

Sie betraten den Flur, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte. Ewen und Paul sahen sich zuerst die unteren Räumlichkeiten an. In der vielleicht fünf Quadratmeter großen Küche standen neben einer Spüle, einem Gasherd und einem Kühlschrank noch zwei Schränkchen, ein Tisch und zwei Stühle. Alles war ordentlich aufgeräumt. Hier lag kein Portemonnaie herum.

Das Wohnzimmer, das die Fenster nach hinten hatte, gab den Blick auf einen gepflegten Garten frei. Der bretonische Schrank an der Wand links neben der Tür fiel Ewen sofort auf. Seine Eltern hatten in ihrem Haus auch einen solchen Schrank stehen. Heute finden sich recht gut erhaltene Stücke noch bei den diversen Trocs et Puces und bei den Verkaufsstellen von Emmaüs. Ewen besaß so ein wuchtiges und mit zahlreichen Schnitzereien versehenes Möbelstück nicht. Er öffnete die einzelnen Türen des Schranks und zog die Schubladen auf.

„Sein Portemonnaie habe ich gefunden“, rief er Paul zu, der sich in dem kleinen Flur umsah.

„Ein Raubmord scheidet damit aus. Hast du etwas Brauchbares gefunden?“

„Nein, Ewen, bis jetzt nichts.“

Ewen sah sich weiter in dem Raum um, der aber nicht den Anschein machte, als ob er durchwühlt worden war. Auf einer Kommode lagen etliche Schriftstücke. Ewen sah sie sich näher an. Es handelte sich um Protokolle von den letzten Sitzungen der Association Ronan, und es ging um die Troménie. Ewen las das letzte Protokoll durch. Hauptthemen waren die geplanten Neuerungen und Erweiterungen der Pardons. Die Wallfahrt sollte den Touristen schmackhafter gemacht werden und die Anzahl der Besucher damit deutlich gesteigert werden. Er las von den Einwänden, die drei der Mitglieder vorgebracht hatten, wobei es im Wesentlichen darum ging, dass der kirchliche Aspekt durch die geplanten Änderungen verwässert würde, und der monetäre Aspekt einen zu großen Einfluss erhielte. Die Abstimmung ergab eine Zustimmungsquote von 80%, und so waren die angedachten Reformen angenommen worden.

Ewen nahm die Protokolle an sich und sah sich weiter in dem Raum um. Anderes, das mit dem Tod von Kerduc in einen Zusammenhang gebracht werden konnte, war nicht zu finden.

Auch in den Räumen auf der oberen Etage deutete nichts auf einen Einbruch hin. Ewen wusste nicht so recht, nach was er überhaupt suchen sollte. Er hatte gehofft, irgendetwas zu finden, das einen Hinweis für den Grund der Ermordung aufzeigen würde. Aber nichts dergleichen war zu finden, wenn er von dem Protokoll der Sitzungen absah.

„Was meinst du, Paul, sollen wir Dustin bitten, das Haus gründlich zu untersuchen?“

„Ich glaube nicht, dass er hier etwas finden wird, was uns weiterhilft“, meinte Paul.

„Das sehe ich genauso. Aber sicherheitshalber werde ich ihn bitten, sich umzusehen. Lass uns ins Kommissariat fahren.“

Ewen musste auf der ganzen Strecke über die Aussage des einzigen Zeugen nachdenken. Wobei der Ausdruck Zeuge schon etwas übertrieben war. Der Mann hatte die Leiche gefunden, aber gesehen hatte er dem Anschein nach nichts. Ewen beschäftigte die Aussage des Mannes trotzdem. Der Tote war zu seinem Nachfolger gewählt worden, wobei er nach eigenen Angaben die Nachfolge nur gezwungener Maßen an den Mann übergeben hatte. Mehrfach hatte er die Statuten des Vereins erwähnt. Konnte er etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben? Warum hatte er den Fund der Leiche gemeldet? Eine Handlung, die eher nicht auf eine Tatbeteiligung hinwies.

Im Kommissariat begann das übliche Spiel auf Ewens Pinnwand. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass er alle einzelnen Befunde, Bilder, Hinweise oder Motive auf seiner Pinnwand festhielt. Der Tote stand dabei stets im Mittelpunkt und alle anderen Details gruppierten sich drumherum. Bei dem letzten Fall, den er mit seinem Kollegen, Eric Mortain aus Saint-Lô in der Normandie, lösen durfte, hatte ihm eine solche Pinnwand gefehlt. Es war ja nicht möglich gewesen, im Haus seines Freundes, Georges Ehinger, bei dem er während seiner Urlaubstage mit Carla gewohnt hatte, eine Pinnwand aufzustellen. Für ihn war ein solches Vorgehen aber stets hilfreich.

Noch waren an der Wand nicht viele Details eingetragen. Immerhin wussten sie wer der Tote war, welche Ämter er begleitet hatte, und sie kannten den ungefähren Todeszeitpunkt. Weitere Ergebnisse würden Dustin und der Pathologe, Yannick Detru, ihnen bestimmt in Kürze übermitteln.

Ewen betrachtete seine Eintragungen. Neben dem Namen des Toten hatte er den Hinweis Leitung der Troménie geschrieben. Sie mussten sich mit der Association beschäftigen. Vielleicht hatte es in den letzten Tagen Streitigkeiten gegeben, vielleicht waren Drohungen ausgesprochen worden, oder es hatte Unstimmigkeiten gegeben, die zu einer Kurzschlusshandlung geführt hatten. Paul, der mit Ewen im Büro an der Pinnwand stand, notierte ebenfalls Einzelheiten, die er seinem Notizbuch entnahm.

„Wir sollten uns eine Liste der Vorstandsmitglieder des Vereins besorgen, die sich mit der Durchführung der Troménie beschäftigen und sie nach den letzten Sitzungen befragen. Ich könnte mir vorstellen, dass der Mord etwas damit zu tun haben könnte. Dann brauchen wir auch den Verbindungsnachweis von Kerduc von seinem Handy und Festnetztelefon. Ich wüsste gerne, mit wem er zuletzt gesprochen hat.“

„Ich kümmere mich sofort darum. Wieso meinst du, dass der Mord mit der Organisation der Pardons zu tun haben könnte?“

„Es ist nur eine vage Idee. Sie ist mir in den Sinn gekommen, als ich mich mit Elouan Pennoù unterhalten habe. Er ist nicht sehr glücklich darüber gewesen, dass er den Posten des Vorsitzenden hat aufgeben müssen.“

„Auf mich hat er nicht den Eindruck eines eiskalten Killers gemacht.“

„Da bin ich bei dir, Paul, auf mich ebenfalls nicht. Aber es kann doch sein, dass die Association Ronan eine gewisse Rolle spielt. Der Mann ist wahrscheinlich völlig unschuldig. Wir sollten uns mit den anderen Mitgliedern im Vorstand des Vereins unterhalten. Ich habe im Haus von Kerduc einige der letzten Protokolle von den Vorbereitungsgesprächen für die Wallfahrt gefunden. Da sind durchaus skeptische Stimmen darunter gewesen.“

Ewens Mobiltelefon meldete sich. Ewen griff nach dem Apparat auf seinem Schreibtisch. Er sah sofort, dass seine Frau Carla versuchte ihn zu erreichen. Sehr ungewöhnlich, Carla rief ihn so gut wie nie im Dienst an.

„Hallo Carla“, meldete er sich.

„Schatz, ich will dich nicht lange stören. Ich habe nur eine Bitte, könntest du heute etwas pünktlicher nach Hause kommen, es gibt eine Kleinigkeit zu feiern, und ich werde versuchen, auch etwas früher zurück zu sein, um meine Vorbereitungen erledigen zu können.“

„Feiern? Was feiern wir?“

„Lass dich einfach überraschen, mein Schatz.“ Carla beendete das Gespräch und legte auf. Ewen versuchte sofort nachzudenken, ob er eventuell einen Hochzeitstag, einen Geburtstag oder sonst ein Gedenktag vergessen hatte. Er konnte sich aber an keinen speziellen Tag erinnern der sich heute jähren würde.

Blutspur in Locronan

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