Читать книгу Blutspur in Locronan - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеAls Ewen am Montag wieder ins Kommissariat kam, fand er einen gut gelaunten Paul vor.
„Ich nehme an, Paul, Brest hat am Freitag gewonnen?“
„Brest? Ach ja, natürlich konnten sie Niort 3:0 schlagen.“
Ewen irritierte, dass Paul nicht sofort geschaltet hatte. Normalerweise erwartete er eine ganz andere Antwort. Üblicherweise kamen Sätze wie: Du hast eben keine Ahnung von Fußball, oder auch, das Ergebnis stand doch schon am Samstag im Ouest France. Aber eine Frage nach Nachfrage Brest hatte es bisher nie gegeben. Die gute Laune von Paul musste also eine andere Ursache haben. So schnell wollte Ewen nicht aufgeben und hakte nach:
„Deine gute Laune scheint nicht mit dem Spiel zusammenzuhängen, sehe ich das richtig?“
„Meine gute Laune? Ach, es war ein schönes Wochenende, gutes Wetter und…“
„Paul, du kannst mir nichts vormachen. Vergiss nicht mein Bauchgefühl, das sagt mir, dass es da noch etwas anderes gibt.“
Paul druckste noch herum, bevor er dann mit der Sprache herausrückte.
„Ich habe am Freitag eine Frau kennengelernt beim Fußballspiel. Rein zufällig! Sie ist die Tochter meines langjährigen Sitznachbarn im Stadion, Jean-Luc Branilec. Ich kenne ihn schon seit Jahren. Der Mann verpasst kein Spiel. Am Freitag aber saß plötzlich diese Frau neben mir. Es hat sich herausgestellt, dass sie seine Tochter ist, der Mann hat sich einer Operation im Morvan unterziehen müssen, und seine Tochter hat seine Dauerkarte genutzt. Alice heißt die Frau, sie ist bei der police judiciaire in Brest tätig. Hast du gewusst, wie wichtig die Bekämpfung der Cybercriminalité inzwischen geworden ist? Wir haben uns nach dem Spiel sehr ausführlich darüber ausgetauscht.“
„Und jetzt tauscht ihr euch in den nächsten Wochen weiter darüber aus?“, fragte Ewen spitzbübisch.
„Nun, vielleicht nicht unbedingt nur über die Kriminalität im Netz“, antwortete Paul und lächelte wieder vergnügt.
„Ich habe auch gute Nachrichten, Marie und Pierre haben sich verlobt und werden im nächsten Sommer heiraten.“
„Dann gratuliere ich Carlas Tochter! Das sind wirklich gute Nachrichten. Aber Ewen, ich glaube, wir müssen uns wieder dem Mordfall Kerduc zuwenden. Ich habe inzwischen die Liste aller Mitglieder der Wallfahrt-Organisation erhalten. Wir können sofort mit den Leuten sprechen.“
„Das ist gut, Paul, wir können gleich aufbrechen, ich muss nur noch einige Unterlagen aus meinem Büro holen.“
Ewen freute sich für Paul. Er hoffte schon lange, dass sein Freund eine Freundin finden würde. Er schnappte sich einige Unterlagen von seinem Schreibtisch, warf noch einen Blick auf die Pinnwand und die gestrigen Notizen, dann machten sie sich auf den Weg nach Locronan.
Paul hatte die Liste der Vorstandsmitglieder vom zweiten Vorsitzenden, Yann Morgat, erhalten. Auf der Liste stand der Name des Schriftführers, einem gewissen Marc Legall, sowie die der beiden Beisitzer, Erwan Hirgars und Corentin Kerelle. Paul hatte sich am Morgen bei Yann Morgan telefonisch versichert, dass alle in Locronan anzutreffen waren. Marc Legall, ein Skulpteur, war in seinem Atelier in der Venelle du Prieuré zu erreichen, Hirgars in seiner Galerie in der Rue du Prieuré, Kerelle in seinem Souvenirladen auf dem Place de l’Église und Yann Morgan saß im Tourismusbüro, dessen Leiter er war, am Place de la Mairie. Das war der Vorteil von kleinen Ortschaften, alle ihre Gesprächspartner waren nahe beieinander.
Ewen entschied, das erste Gespräch mit Erwan Hirgars zu führen. Seine Galerie lag direkt an der Straße die nach Locronan hineinführt. Danach würden sie die wenigen Schritte in die Venelle du Prieuré gehen und den Skulpteur Marc Legall aufsuchen, anschließend Corentin Kerelle und den zweiten Vorsitzenden, Yann Morgan. Er stellte den Dienstwagen vor der Galerie von Hirgars ab und sie stiegen aus.
Sie betraten die kleine Kunstgalerie, die über und über mit kleinen Kunstwerken in einer Größe von höchstens 30 x 40 cm und 20 x 20 cm behangen war. Nur wenige größere Bilder von 60 bis 80 cm hingen dazwischen. Ein Mann mit einem langen, krausen Bart saß auf einem Hocker vor einer Staffelei und verteilte gelbe Farbe auf einer kleinen Leinwand. Sein Alter konnte Ewen schlecht einschätzen, der Bart ließ ihn vielleicht älter erscheinen als er war.
„Bonjour Monsieur, mein Name ist Ewen Kerber von der police judiciaire Quimper, und das ist mein Kollege, Paul Chevrier. Ich nehme an, dass Sie Monsieur Hirgars sind?“
„Ganz Recht, mein Name ist Erwan Hirgars, was kann ich für Sie tun?“
„Es geht um den Mord an Monsieur Didier Kerduc. Sie werden bestimmt davon gehört haben?“
„Es ist das Hauptgespräch in der Stadt seit Freitag, man kann es nicht überhören. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir stehen ganz am Anfang unserer Ermittlungen, das heißt, für uns ist alles wichtig, was ein Hinweis auf seinen Mörder sein kann. Hat Kerduc Feinde gehabt?“
„Kerduc? Feinde? Nein, ich kenne keinen einzigen. Nicht einmal sein Vorgänger, Elouan Pennoù, ist ihm schlecht gesinnt gewesen, obwohl er den Vorsitz an ihn abgetreten hat.“
„Aber dieser Wechsel ist doch in den Statuten vorgesehen.“
„Ganz genau, alleine schon deshalb hat Elouan ihm nicht Gram sein können. Abgesehen davon, die beiden sind gute Freunde gewesen, und Kerduc war über etliche Jahre sein Stellvertreter. Nein, ich weiß wirklich nicht, mit wem er einen Streit gehabt haben könnte. Didier Kerduc ist ein Mensch gewesen, der den Ausgleich gesucht hat und nicht die Konfrontation. Er hat seine Energie zum Wohl der Gemeinde eingesetzt.
Er hat, wenn Sie wollen, zu den einfacheren Menschen in unserem Städtchen gehört. Er ist weder Künstler noch Geschäftsmann gewesen, Kerduc hat als Briefträger bei der Post gearbeitet. Wie ich schon gesagt habe, die Pardons sind seine ganze Leidenschaft gewesen. Kerduc ist aufrichtig gläubig gewesen.“
„Didier Kerduc hat doch einige Neuerungen bei den Troménies einführen wollen, wenigstens hat man uns davon erzählt?“
„Ja, das ist richtig, aber die sind alle zum Wohl der Gemeinde gewesen. Der Stadtrat hat darüber abgestimmt, und sein Vorschlag ist mit überwältigender Mehrheit angenommen worden. Da können Sie sicher kein Mordmotiv herauslesen.“
„Wie ist Ihre Beziehung zu dem Opfer gewesen?“
„Wir haben uns seit vielen Jahren gekannt. Er hat mir jeden Tag meine Post gebracht und wir haben regelmäßig ein Glas zusammen getrunken. Monsieur le Commissaire, mein Verhältnis zu Didier ist ausgezeichnet gewesen.“
„Können Sie uns sagen, wo Sie am Freitag zwischen 10 Uhr und 10 Uhr 30 gewesen sind?“
„Am Freitag? Hier in meinem Atelier.“
„Gibt es einen Zeugen, der das bestätigen kann?“
„Einen Zeugen? Nein, den habe ich nicht. Ich kann mich zwar an einen Kunden erinnern, aber das ist ein Tourist gewesen, ich bin mir nicht einmal sicher, um wieviel Uhr er genau hier gewesen ist, auch seinen Namen kenne ich nicht. Brauche ich denn einen Zeugen?“
„Ein Zeuge ist immer gut, aber wir müssen Ihr Alibi überprüfen. Wir bedanken uns für Ihre Auskunft. Au revoir, Monsieur Hirgars.“
Ewen und Paul verließen die Galerie und machten sich auf den Weg zur nahegelegenen Gasse, Venelle du Prieuré. Hier hatte der Skulpteur, Marc Legall, seinen kleinen Laden und seine Werkstatt. Von außen wirkte das Haus wie ein gewöhnliches Wohnhaus mit blauen Fensterläden. Erst bei näherem Hinsehen erkannte man die Skulpturen hinter den Fenstern. Die Eingangstür, noch aus der Zeit, in der die Menschen nicht größer als einen Meter siebzig waren, war so niedrig, dass Ewen sich bücken musste, um seinen Kopf nicht am Türrahmen anzustoßen.
„Bonjour Monsieur! Sind Sie Marc Legall?“, fragte er den Mann, der im hinteren Teil des Raumes mit Aufräumarbeiten beschäftigt war. Der Angesprochene drehte sich um und sah die beiden Kommissare mit gewisser Verwunderung an.
„Ja, ich bin Marc Legall. Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Ewen Kerber von der police judiciaire Quimper, und das ist mein Kollege, Paul Chevrier. Es geht um die Ermordung von Didier Kerduc.“
„Schreckliche Sache, Didier war ein guter Freund. Wir sahen uns täglich.“
„Wir haben schon davon gehört. Ich nehme an, dass Sie sich auf seine Tätigkeit als Briefträger beziehen?“
„Ganz genau, er brachte mir meine Post und wir unterhielten kurz. Natürlich wurde auch über die Pardons gesprochen. Didier wollte für uns Künstler und auch für die Stadt wertvolle Neuerungen einführen, die unsere Einnahmen bestimmt positiv beeinflusst hätten.“
„Wann haben Sie Kerduc zum letzten Mal gesehen?“
„Das war vorgestern. Er kam in der Regel gegen Mittag bei mir vorbei. Als er gestern nicht kam, habe ich mir sofort gedacht, dass entweder etwas mit ihm geschehen war oder aber, dass er ernsthaft erkrankt sein musste. Didier hat in all den Jahren kein einziges Mal gefehlt.“
„Ist Ihnen in den letzten Tagen irgendetwas aufgefallen? Hat er von Anfeindungen oder Streitereien erzählt?“
„Nein, Didier ist bei allen im Ort beliebt gewesen. Er hätte bestimmt etwas davon erzählt, wenn er angefeindet worden wäre.“
„Was haben Sie gestern Morgen zwischen 10 und 10 Uhr 30 gemacht, Monsieur Legall?“
„Was ich gemacht habe? Ist Didier in der Zeit umgebracht worden? Meinen Sie, dass ich etwas damit zu tun habe?“
„Bitte beantworten Sie nur unsere Frage. Wir müssen diese Frage stellen.“
„Nun, lassen Sie mich nachdenken! Gestern?“
Marc Legall schien sich nicht sogleich zu erinnern, wo er sich gestern Morgen aufgehalten hatte. Es dauerte eine Weile bis er sich ein wenig erinnerte.
„Also, ich glaube, dass ich um diese Zeit hier in meinem Atelier gewesen bin, kann es aber nicht mit Sicherheit sagen. Es kann auch sein, dass ich genau in der Zeit bei meinem Kollegen Yannick Berdu gewesen bin. Yannick und ich möchten zusammen eine neue Serie von Skulpturen des Heiligen Ronan kreieren und arbeiten an einem gemeinsamen Entwurf.“
„Wenn Sie in der Zeit bei Monsieur Berdu gewesen sind haben Sie ein gutes Alibi.“
„Ich bin mir aber nicht sicher.“
„Haben Sie vorerst vielen Dank, Monsieur Legall. Wir melden uns, falls wir weitere Fragen haben. Au revoir!“
Damit verabschiedeten sich Ewen und Paul von dem Mann und verließen sein Atelier.
„Etwas seltsam, findest du nicht auch?“, sagte Paul zu Ewen, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.
„Etwas seltsam seine Erinnerungslücken nach so kurzer Zeit. Wir werden mit Monsieur Berdu sprechen müssen. Wer steht jetzt auf unserer Liste?“
Paul schlug seinen kleinen schwarzen Notizblock auf und sah nach.
„Du hast vorgeschlagen, nach Legall, den zweiten Beisitzer, Corentin Kerelle, zu besuchen. Wir können unseren Wagen hier stehen lassen und die wenigen Meter zur Place de l’Église zu Fuß zurücklegen.“
„Eine gute Idee, wir sitzen sowieso zu viel im Büro oder im Auto.“
Ewen und Paul folgten der Rue du Prieuré, die mit ihrem Kopfsteinpflaster den mittelalterlichen Charakter des Dorfes noch verstärkte. Der Weg führte vorbei an den Mauern, die die einzelnen Granithäuser zur Straße hin vor neugierigen Blicken schützten und über die Kronen prächtiger Rhododendren und Hortensien hervorsahen. Der Place de l’Église war schnell erreicht. Sie fanden das Geschäftslokal von Monsieur Kerelle an der linken Seite des Platzes sofort. Ewen kannte den Laden von früheren Besuchen. Hier hatte er mehr als hundert verschiedene Biersorten aus der Bretagne gefunden, verschiedene Honigsorten, allerdings keinen der schwarzen Bienen von Ouessant, zahlreiche Konserven mit Sardinen, Thunfisch und Makrelen, sowie jede Menge typischer bretonische Mitbringsel. Abgesehen von Bier und Honig konnte er sich nicht erinnern, hier viel eingekauft zu haben. Der Laden war, trotz des Wochenanfangs und des Vormittags, bereits gut besucht. Ewen zählte an die zwölf Kunden, die, alles genau betrachtend, durch den Laden schlenderten.
Rechts neben der Tür stand die Kasse und hinter dem Tisch ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren. Ewen steuerte auf ihn zu.
„Monsieur Kerelle?“, fragte er ihn, als er vor dem Tisch stand und seinen Ausweis bereits in der Hand hielt.
„Ja, Corentin Kerelle ist mein Name, was kann ich für Sie tun, Monsieur le Commissaire? Ich habe doch richtig gelesen, Sie sind Commissaire?“
„Da liegen Sie richtig, Monsieur Kerelle. Ich bin Ewen Kerber, und das ist mein Kollege, Paul Chevrier. Sie können sich sicherlich vorstellen, weshalb wir Sie aufsuchen?“
„Der tragische Tod meines Freundes, Didier Kerduc, nehme ich an.“
„Genau deswegen sind wir hier, Monsieur Kerelle. Wir erhoffen uns von Ihnen Unterstützung bei der Aufklärung des Verbrechens. Können Sie uns irgendetwas zu Kerduc sagen, was uns weiterhelfen könnte?“
„Wenn Sie meinen, ob ich jemanden kenne, der Didiers Tod gewünscht hätte, dann sieht es schlecht aus. Didier ist überaus beliebt gewesen im Ort. Durch seinen Beruf hat er zu Jedermann Kontakt gehalten. Ich glaube nicht, dass es einen Mitbürger in unser Stadt gibt, der etwas gegen ihn gehabt hat.“
Paul, der stichwortartig die Aussagen des Befragten in sein schwarzes Notizheft notiert hatte, sah jetzt auf und sprach Kerelle an.
„Könnte es sein, dass Kerduc durch seinen Beruf etwas erfahren hat, was eher verborgen bleiben sollte?“
„Was meinen Sie mit verborgen bleiben?“
„Nun, ich stelle mir beispielsweise vor, dass ein verheirateter Mann einen Liebesbrief von einer Frau erhält. Der Briefträger ist der Erste, der das mitbekommt.“
„Ach, Sie meinen, das wäre bereits Grund genug, einen Mann zu ermorden? Das halte ich für absurd.“
„Monsieur Kerelle“, schaltete Ewen sich wieder ein. „Das wäre nicht der erste Mensch, der wegen seines Wissens und einer damit verbundenen, versuchten Erpressung ermordet worden wäre. Können Sie sich so etwas vorstellen? Oder hat Monsieur Kerduc Ihnen gegenüber einmal eine solche Äußerung gemacht?“
„Nein, beim besten Willen, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.“
„Wie eng war Ihre Freundschaft zu Monsieur Kerduc?“
„Wir haben eine ziemlich enge Freundschaft gepflegt. Er hat in der Rue de la Montagne gewohnt, nur wenige Schritte von hier entfernt. Übrigens wohnt auch Elouan Pennoù unweit der Straße. Kerduc und ich, wir haben uns häufiger nach Ladenschluss getroffen und einen Cidre zusammen getrunken, in der Crêperie, ein paar Häuser weiter. Da wir zusammen im Vorstand des Troménie-Vereins gewesen sind, haben wir uns bei der Gelegenheit oft auch über die zukünftige Gestaltung der Pardons unterhalten. Unsere Ansichten über die Erneuerungen und Ausgestaltung der Wallfahrt sind fast deckungsgleich gewesen.“
„Unter Freunden erzählt man sich doch häufiger auch Privates. Hat Kerduc einmal von Auseinandersetzungen oder Streitereien berichtet?“
„Hmmm, in den letzten Jahren bestimmt nicht. Vor sieben oder acht Jahren hat es einmal einen heftigen Streit zwischen ihm und einer Frau gegeben, die inzwischen die Ortschaft verlassen hat.“
„Wissen Sie auch, um was es bei dem Streit gegangen ist?“
„Oh ja, das weiß ich noch. Die Frau hat einen Rottweiler, Sie wissen, so einen großen, gefährlichen Hund. Der ist frei in ihrem Garten herumgelaufen. Immer wenn Didier ihr die Post bringen wollte, musste er lange warten, bis die Frau endlich kam, um den Hund zurückzuhalten. Didier hat sie gebeten, dass sie das Tier doch an eine Leine legen könnte. Sie hätten erleben müssen, wie sie da reagiert hat. Sie hat Didier als Tierquäler beschimpft und sich aufgeführt wie eine Furie.“
„Wie lange, sagen Sie, ist das schon her?“
„Bestimmt sieben Jahre. Wie ich schon gesagt habe, die Frau wohnt nicht mehr in Locronan. Sie ist wohl zu ihrer Schwester nach Bannalec gezogen. Wir haben nichts mehr von ihr gehört.“
„In den letzten ein oder zwei Jahren hat es keinerlei Probleme gegeben?“
„Nein, nicht das ich wüsste. Ich kann mich nur wiederholen, Didier Kerduc ist sehr beliebt gewesen in der Gemeinde.“
„Können Sie uns noch sagen, welches Verhältnis er zu Monsieur Pennoù, seinem Vorgänger, gehabt hat?“
„Das Verhältnis war ausgezeichnet, Didier ist lange Zeit sein Stellvertreter im Verein gewesen. Didier hat bei der Wahl zum Vorsitzenden auch die Stimme von Elouan erhalten. Zwischen den beiden hat es keinerlei Reibereien gegeben.“
„Wir müssen Sie jetzt noch fragen, wo Sie am Freitag zwischen 10 und 10 Uhr 30 gewesen sind?“
„Verdächtigen Sie mich?“
„Wir verdächtigen niemanden, Monsieur Kerelle, aber die Frage nach einem Alibi stellen wir allen Menschen, die mit Kerduc in Verbindung gestanden haben.“
„Ich war selbstverständlich in meinem Laden.“
„Kann das jemand bezeugen?“
„Nein, damit kann ich nicht dienen. Ich betreibe das Geschäft alleine. Wenn ich krank bin oder einfach einmal einen freien Tag brauche, dann ist der Laden eben geschlossen. Wissen Sie, Monsieur le Commissaire, ich lebe sehr bescheiden, da kann ich schon einmal auf den Umsatz von einigen Tagen verzichten.“
„Dann bedanken wir uns bei Ihnen, Monsieur Kerelle. Sollten noch Fragen auftreten, melden wir uns bei Ihnen. Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfallen sollte, können Sie mich jederzeit anrufen.“
Ewen reichte Monsieur Kerelle seine Visitenkarte und verabschiedete sich von ihm. Auch Paul reichte dem Mann die Hand und verließ mit Ewen das Geschäft.
„Didier Kerduc muss ein Heiliger, ein Engel gewesen sein“, meinte Paul und sah Ewen an.
„Genau der Gedanke ist auch mir durch den Kopf gegangen. Alle sagen, dass er die Liebenswürdigkeit in Person gewesen ist. Wäre ja denkbar, aber wieso ist er dann ermordet worden? Ein Raubmord scheidet aus, er hat nichts bei sich getragen. Einen Einbruch in sein Haus hat es auch nicht gegeben. Was bleibt also übrig?“
„Es kann sich nur um eine Auseinandersetzung oder einen Streit handeln.“
„Vielleicht hatte Kerduc ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau?“
„Mord aus Eifersucht oder Rache? Könnte ich mir auch noch vorstellen, Paul. Aber sein guter Freund, Kerelle, hat davon nichts erwähnt.“
„Ewen, wir wissen auch nicht, wie gut diese Freundschaft wirklich gewesen ist. Er kann viel behaupten. Nachprüfen lässt sich das nicht mehr.“
„Aber vielleicht können wir eine Bestätigung eines anderen Mitgliedes aus dem Vereinsvorstand bekommen. Auf unserem Besuchsplan steht jetzt noch der zweite Vorsitzende, Yann Morgat, der Mann ist im Office de Tourisme zu finden hast du gesagt?“
„Ja, ich habe mit ihm am Telefon gesprochen und mir die Namen der anderen Mitglieder aus dem Vorstand nennen lassen. Das Büro ist beim Rathaus.“
Ewen und Paul überquerten den Platz und folgten der Straße, Rue du Four, die links an der Kirche vorbeiführte. Schon nach wenigen Schritten war das Tourismusbüro am Place de la Mairie erreicht. Sie betraten den Raum und konnten sofort feststellen, dass Locronan ein viel besuchter Ort war. Zahlreiche Touristen standen um die Prospektständer oder baten um Auskunft an den kleinen Tresen. Ewen ging auf eine Frau zu, die an einem Computer hantierte und gerade in kein Gespräch verwickelt war. Er stellte sich vor und bat, mit Monsieur Morgat sprechen zu können.
„Monsieur Morgat? Ich werde ihm Bescheid sagen“, antwortete die Frau und ging in ein Büro, das sich hinten an den Vorraum anschloss. Nach wenigen Augenblicken kam sie wieder zurück und bat Ewen und Paul ihr zu folgen.
„Bonjour Messieurs les Commissaires“, begrüßte Morgat seine Besucher.
Ewen und Paul traten durch die Tür in den Raum und reichten Morgat die Hand.
„Bonjour Monsieur Morgat, mein Name ist Ewen Kerber. Mit meinem Kollegen, Paul Chevrier, haben Sie bereits am Telefon gesprochen.“
Yann Morgat zeigte auf zwei Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen und bat die Herren Platz zu nehmen.
„Was kann ich für Sie tun? Sie sind ja bestimmt wegen meines Freundes, Didier Kerduc, hier?“
„Genauso ist es, wir versuchen uns ein Bild von Monsieur Kerduc zu machen, um einen Hinweis zu erhalten, weshalb man diesen Mann umgebracht hat. Alles was wir bis jetzt erfahren haben, hat uns noch nicht weitergebracht. Didier Kerduc ist wohl ein allseits beliebter Mitbürger gewesen, ohne Fehl und Tadel. Jedermann scheint sein Freund gewesen zu sein.“
„Was anderes kann ich Ihnen auch nicht sagen. Auch wenn ich nicht soweit gehe zu behaupten, er sei ohne Fehl und Tadel gewesen. Wer kann das schon von sich sagen? Aber ich kenne wirklich niemanden in Locronan, der Kerduc nicht mochte.“ Morgat schien zu zögern und nachzudenken. Sein Gesichtsausdruck, der gerade noch entspannt gewesen war, bekam einen nachdenklichen Anstrich.
„Außer vielleicht….?“
Morgat zögerte erneut, so als müsste er überlegen, ob er seine Gedanken aussprechen oder sie lieber für sich behalten sollte. Ewen und Paul warteten geduldig, obgleich sie gespannt waren, was der Mann sagen wollte. Die Gleichförmigkeit der vergangenen Aussagen, über den hohen Grad an Zuneigung, die man Kerduc entgegengebracht hatte, könnte jetzt einen ersten Knacks bekommen.
„Außer vielleicht…“, wiederholte Morgat sich, „es gab vor zwei Wochen eine kleinere Auseinandersetzung zwischen Kerduc und Kerelle. Nichts Schlimmes aber der Disput war schon etwas heftiger.“
Ewen war erstaunt. Hatte Monsieur Kerelle nicht vor wenigen Minuten behauptet, dass es keinerlei Streitereien gegeben hatte und schon gar nicht mit ihm?
„Wissen Sie, um was es bei dieser kleinen Auseinandersetzung gegangen ist?"
„Nun, eigentlich ging es um die Planung der Wallfahrt. Kerduc hatte sich, vom Stadtrat und vom Vorstand des Organisationskomitees, die Genehmigung geben lassen, einige Neuerungen bei der nächsten Troménie durchführen zu dürfen. Kerduc war ja zum neuen Vorsitzendes des Vereins gewählt worden, und er wollte versuchen, die Wallfahrt etwas zu aktualisieren und anzupassen. Bis jetzt liefen die Pardons nach einem jahrhundertalten Ritual ab. Kerduc war überzeugt, dass er mehr Touristen nach Locronan bringen könnte, wenn die Wallfahrt auch für die Touristen etwas zu bieten hätte. Er dachte dabei an diverse Stände und Buden entlang des Wallfahrtsweges. Seine Überlegung war, dass Familien mit Kindern sich an den verschiedenen Punkten aufhalten und dem Pardon zusehen könnten, ohne auf Erfrischungen oder Speisen zu verzichten. Er wollte auch versuchen, kleine Andenkenbuden zuzulassen. Dadurch sollte der Umsatz für die Gewerbetreibenden erhöht und die Einkünfte für die Gemeinde verbessert werden. Bei dieser Diskussion war Kerelle etwas laut geworden. Er meinte, dass mit diesen Neuerungen die Umsätze der Geschäfte im Ort verwässert würden. Er selbst könnte keinen weiteren Verkaufspunkt einrichten. Da er seinen Laden alleine betrieb, hätte er für die Zeit der Troménie eine Verkäuferin einstellen müssen. Das konnte er sich nicht erlauben, so war seine Aussage.“
„Das heißt, es ging bei dem Disput ums Geschäft?“
„Ja, genau darum ging es.“
Für Ewen war die Aussage von Morgat eine Wendung in dem Fall. Damit hatte Kerelle ein Motiv. Langsam kam Bewegung hinein. Waren am Anfang noch die Überlegungen in Richtung Amtsverlust gegangen, was für Ewen nur ein sehr schwaches Motiv gewesen war, so kamen jetzt Umsatzverlust und damit verbundene Existenzängste in den Fokus seiner Überlegungen. Diese Möglichkeit erschien ihm plausibler als die vorherige.
„Wie haben Sie zu den Neuerungen gestanden, die Kerduc einführen wollte, Monsieur Morgat?“
„Wenn Sie meine Meinung hören wollen, kann ich nur sagen, dass ich eher gespalten bin. Einerseits habe ich die Überlegungen von Kerduc sehr gut verstehen können. Als Leiter des Tourismusbüros habe ich natürlich ein großes Interesse an einer Verbesserung des touristischen Angebotes. Andererseits stelle ich mir die Frage, ob die Touristen nicht genau wegen des jahrhundertealten Brauchtums hierher kommen und das Original sehen wollen und weniger Interesse an einer Wallfahrt haben, die auf Umsatz ausgerichtet ist. Mir ist es so vorgekommen, als ob aus unseren Pardons eine Art Disneyland gemacht werden sollte. Aber, Monsieur le Commissaire, ich bin da ganz offen.“
Ewen hörte aus der letzten Bemerkung durchaus eine Ablehnung. Dieses „ich bin da ganz offen“ klang nicht unbedingt freudig. Monsieur Morgat gehörte damit für ihn auch zu den eher verdächtigen Personen.
„Eine letzte Frage hätte ich gerne noch beantwortet. Wo sind Sie am Freitag zwischen 10 und 10 Uhr 30 gewesen, Monsieur Morgat?“
„Habe ich mich jetzt verdächtig gemacht? Ich bin selbstverständlich hier gewesen. Mein Personal wird Ihnen das gerne bestätigen.“
„Das wäre dann auch schon alles, Monsieur Morgat. Wir bedanken uns für das Gespräch. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, was uns weiterhelfen könnte, dann lassen Sie es mich wissen. Ich gebe Ihnen meine Karte.“ Ewen verabschiedete sich von Monsieur Morgat und verließ das kleine Büro.
Die Anzahl der Besucher hatte inzwischen deutlich zugenommen, der kleine Raum war beinahe zu voll. Als Ewen an der jungen Frau vorbeikam, die ihn vor einigen Minuten zu Monsieur Morgat geführt hatte, blieb er stehen und wartete geduldig, bis sie das Gespräch mit einem Touristen beendet hatte.
„Madame, ich bräuchte nur kurz eine Bestätigung von Ihnen. Monsieur Morgat hat uns gesagt, dass er am Freitag zwischen 10 und 10 Uhr 30 in seinem Büro gewesen ist. Können Sie uns das bestätigen?“
Die Angesprochene schien nachzudenken.
„Am Freitag? Am Freitag ist Monsieur Morgat den ganzen Tag im Haus gewesen. Das ist richtig…“
Ewen wandte sich bereits zum Gehen, als die Frau dann noch hinzufügte:
„…aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wann er bei der Post gewesen ist. Monsieur Morgat hat für eine kurze Zeit sein Büro verlassen, um Geld von seinem Postkonto zu holen.“
Ewen blieb stehen und drehte sich erneut zu ihr um.
„Monsieur Morgat hat sein Büro für einige Minuten verlassen, sagen Sie?“
„Ja, ich bin mir aber nicht sicher, um wie viel Uhr es genau gewesen ist. Es ist jedenfalls am Vormittag gewesen, da bin ich mir sicher. Ich erinnere mich noch, dass er mir gesagt hat, dass es etwas länger gedauert hat, weil er warten musste, bis vier andere Kunden vor ihm bedient worden sind.“
„Haben Sie recht viel Dank, Madame“, sagte Ewen und verließ mit Paul das Gebäude.
„Das Alibi hat aber jetzt einen gewaltigen Riss bekommen!“ Paul notierte das Gehörte sofort wieder in seinem Notizheft.
„Da hast du Recht, Paul, als Alibi taugt sein angeblicher ganztägiger Aufenthalt im Büro nicht.“
Inzwischen war es bereits Mittag und Ewen bekam ein laues Gefühl im Bauch. Er musste jetzt eine Kleinigkeit zu sich nehmen.
„Was hältst du von einer Crêpes, Paul, mein Magen sagt mir, dass er schon lange nichts mehr bekommen hat.“
„Gute Idee, Ewen. Wir sind vorhin doch an der Crêperie auf dem Place de l´Église vorbeigekommen. Dort habe ich die Crêperie Ty Coz gesehen, das dürfte bestimmt die sein, von der uns Kerelle erzählt hat. Bei der Gelegenheit können wir uns ja bestätigen lassen, ob Kerelle und Kerduc wirklich so oft dort gewesen sind, um einen Cidre zu trinken.“
„Sehr gute Idee, Paul“, antwortete Ewen und ging auf den Place de l´Église zu. Sie überquerten den Platz und kamen an einem alten, steinernen Brunnen vorbei, neben dem eine Pferdekutsche stand. Der Kutscher wartete geduldig auf Gäste, die bereit waren, mit ihm eine Fahrt durch die Gassen von Locronan zu unternehmen. Selbstverständlich mit den entsprechenden Erklärungen zum Ort. Nur wenige Schritte vom Brunnen entfernt lag das schöne, alte Granithaus der Crêperie Ty Coz. Ewen und Paul setzten sich an einen Tisch auf der Terrasse vor dem Haus. Die zahlreichen Tische waren nur spärlich besetzt. Die Bedienung kam, ausgestattet mit zwei Menükarten, an ihren Tisch und reichte sie ihnen. Noch während sie ihnen die Karten reichte, fragte sie nach den Getränkewünschen, oder ob es auch ein Aperitif sein dürfe.
„Wir sind im Dienst, ich nehme daher nur ein Eau plate“, sagte Ewen zu der jungen Frau.
„Auch für mich ein Plancoët“, ergänzte Paul die Bestellung. Die Crêpes waren schnell ausgewählt, sodass die Dame die Bestellung sofort aufnehmen konnte, als sie das Stille Wasser für die beiden Kommissare brachte.