Читать книгу Blutspur in Locronan - Jean-Pierre Kermanchec - Страница 9
Kapitel 6
ОглавлениеDas Wetter war wie aus dem Bilderbuch. Azilis Gwenn spazierte an der Chapelle ar Sonj vorbei und betrachtete das große, steinerne Kreuz mit dem Kreisbogen und die dahinter liegende Kapelle. Azilis liebte diesen Weg, auf dem sie immer wieder etwas Neues fand, dass sie genau betrachten konnte, um es für immer in ihrem Gedächtnis zu bewahren. Am meisten liebte sie aber den herrlichen Blick, den sie von der Kapelle aus auf das nahegelegene Meer werfen konnte. Die Aussicht ließ bei Azilis ein Gefühl von Weite, von Offenheit, von unerfüllter Sehnsucht nach Ferne aufkommen. Eine Ferne, die sie gerne erkundet hätte, für die sie aber weder die Mittel noch den Mut hatte.
Azilis war eine einfache aber nicht ganz unkomplizierte Frau. Sie war einfach, was ihr Leben, ihre Kleidung, ihre Ausdrucksweise betraf. Aber im Umgang mit ihren Nachbarn, den Neuerungen im Ort oder Veränderungen im Ablauf des täglichen Lebens war sie alles andere, nur nicht einfach zu nennen. Vehement wehrte sie sich gegen alles und jeden, wenn es darum ging, Veränderungen herbeizuführen.
Die da oben, wie sie zu sagen pflegte wenn sie vom Stadtrat sprach, wollen alles zerstören, was wir uns aufgebaut haben.
Sie hatte heute ihr kleines Refugium, wie sie ihr Haus und den umfriedeten Garten nannte, verlassen, um sich abzulenken von den, in ihren Augen unsäglichen, ja ungeheuerlichen Ansinnen, die der Verein, der die Pardons organisierte, vorgebracht, und die die da oben abgesegnet hatten. Sie war keine Anhängerin der Pardons. Ganz im Gegenteil, sie ärgerte sich über die Maßen, dass sie den ganzen Trubel vor der Haustüre hatte wenn die Wallfahrt begann. Ihr kleines Refugium lag am Weg, den die Prozession nahm. Sie konnte sich mit der Eintägigen noch arrangieren, aber wenn alle sechs Jahre die große Troménie vorbeikam, hatte sie eine Woche lang den Lärm und die Menschen vor der Haustür. Alles nur wegen eines angeblich Heiligen, an den sie nicht recht glaubte. Alles Humbug, pflegte sie zu sagen, wenn man ihr versuchte, die Hintergründe zu erklären und sie um Verständnis bat. Jetzt hatte der Stadtrat auch noch den Änderungen des Organisationskomitees zugestimmt, und genau vor ihrem Eingang wollte man eine Bude für Getränke aufbauen. Damit hätte sie noch mehr Lärm und Unruhe.
Ihr war der Gedanke gekommen, eine Bürgerinitiative gegen die große Troménie zu gründen. Spontan erhielt sie 20 Unterstützer, die sich auch gegen dieses Spektakel wenden wollten. Leider stammten die meisten nicht aus Locronan, sondern waren Besitzer von Zweitwohnungen, die ihren Urlaub genau in der Zeit der Wallfahrt in Locronan verbrachten. Auch sie fühlten sich von dem Trubel, der eine ganze Woche lang anhielt, gestört. Azilis Gwenn wurde beauftragt, die Vorwände vorzutragen, was sie auch vehement bei jeder Gelegenheit machte.
Es war nicht das erste Mal, dass Azilis sich über eine Entscheidung der Gemeindeverwaltung ärgern musste. In der Stadt wurde sie als notorische Nörglerin bezeichnet, die sich mit jedem anlegte. Nicht umsonst galt sie als eine Kébén, eine böse Frau. Wie die ursprüngliche Kébén, so sprach auch sie in ihren Äußerungen eher gegen den Heiligen Ronan als für ihn. Sie kannte den Schimpfnamen, den man ihr gegeben hatte, was ihr herzlich wenig ausmachte.
„Kümmert euch um eure Angelegenheiten und nicht um die meinigen“, pflegte sie zu antworten. Freunde hatte sie nur wenige im Ort. Ein alter, eigenbrötlerischer Mann, als Druide bekannt, und den alten keltischen Rieten und Bräuchen absolut zugetan, gehörte zu ihren Freunden. Er führte ein beinahe so einsiedlerisches Leben wie der Heilige Ronan, ohne jedoch dem christlichen Glauben verbunden zu sein.
Azilis Gwenn war katholisch getauft, aber das letzte Mal, dass man sie in der Kirche gesehen hatte, lag bestimmt 30 Jahre zurück.
Für die Bewohner passte das alles zusammen. Ungläubig, bösartig, mürrisch, unverheiratet und bestimmt mit dem Teufel im Bunde, eben eine Kébén.
Azilis stand vor der Kapelle und betrachtete das kleine Gotteshaus. Sollten die Menschen über sie denken was sie wollten, sie erfreute sich an den Kapellen und den Calvaires der Region. Sie brauchte nicht jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, um allen zu zeigen, dass sie eine Christin war. Sie besuchte die Gotteshäuser lieber im Stillen und alleine. Sie betrat die kleine Kapelle und ging bis an den Altar vor, faltete ihre knöchrigen Hände und sprach ein stilles Gebet. Ihre langen, grauen, teilweise schon weißen Haare hingen ihr bis zur Schulter und rahmten das faltige, sonnengegerbte Gesicht ein. Ihre blauen Augen strahlten in diesen Momenten eine Zufriedenheit aus, die sicherlich nur wenige bis jetzt an ihr kennengelernt hatten.
Nach einigen Minuten der Andacht verließ sie die Kapelle und trat wieder in das gleißende Sonnenlicht. Sie wollte sich langsam auf den Rückweg machen. Von Weitem sah sie den Druiden kommen, wie sie ihren Freund, Gérard Tydou, liebevoll nannte. Sie blieb stehen und wartete, bis er die Kapelle erreicht hatte.
„Bonjour Gérard, brauchst du auch ein wenig Bewegung?“
„Bonjour Azilis, es geht weniger um Bewegung. Ich bin auf der Suche nach einigen Kräutern, die mir ausgegangen sind. Du weißt, für meinen Zaubertrank!“
Azilis musste lachen. Gérard mixte sich seit Jahrzehnten eine Kräutermischung für seine allabendliche Tisane. Eine Mischung, die er in seiner mehr als zwanzigjährigen Ausbildungszeit zum Druiden von seinem Lehrer mitgeteilt bekommen hatte. Genau wie Azilis, so pflegte auch er vor dem Schlaf eine Tasse Kräutertee zu trinken, was den Schlaf vertiefen und die Erholung verbessern sollte.
„Ich mache mich bereits wieder auf den Weg zurück. Ich wünsche dir noch gutes Gelingen, mein Freund“, sagte Azilis, verabschiedete sich von Gérard Tydou und folgte der Straße hinunter ins Ortszentrum, während Gérard Tydou im Wald hinter der Kapelle verschwand.
Azilis Gwenn war noch keine zehn Minuten von der Kapelle entfernt, als sie ein Geräusch hinter sich vernahm. Sie hatte niemanden gesehen, seitdem sie von der Kapelle weggegangen war. Azilis blieb stehen und wollte sich umdrehen, um einen Blick auf die Stelle zu werfen, von der das Geräusch gekommen sein musste. Sie kam nicht mehr dazu. Sie spürte nur noch, dass sich ein scharfer Gegenstand in ihren Rücken bohrte und ein stechender Schmerz in ihrer Lunge das Atmen verhinderte. Dann blitzte ein weißer, einzigartiger Lichtpunkt vor ihrem inneren Auge auf. Azilis ging in die Knie und sackte auf den Boden. Ihren Aufprall spürte sie nicht mehr. Blut rann aus der Öffnung in ihrem Rücken und verfärbte ihre weiße, leichte Leinenbluse rot.