Читать книгу Der argentinische Krösus - Jeanette Erazo Heufelder - Страница 12
Plötzlich Revolutionär!
ОглавлениеIn seiner Schlussphase drängte der Krieg ins Frankfurter Straßenbild. Im Sommer 1918 tauchten feindliche Flieger am Himmel auf. Es kam zu vereinzelten Bombenabwürfen. Die Straßen füllten sich mit verletzten Kriegsheimkehrern und Invaliden. Aber im Alltag herrschte scheinbar weiter wilhelminische Normalität. Felix Weil studierte Volkswirtschaft an der Frankfurter Stiftungsuniversität. Anschluss zu seinen Kommilitonen fand er in der Cimbria, einer Burschenschaft, die zum Allgemeinen Deutschen Burschenbund gehörte, der liberalen Gegengründung zur Deutschen Burschenschaft. Im Unterschied zur Deutschen Burschenschaft, die ein Bekenntnis ihrer Mitglieder zu Deutschtum und Christentum verlangte und Schwarz-Weiß-Rot, die Farben der preußischen Monarchie, angenommen hatte, behielten die ADB-Burschenschaften wie die Cimbria die Farben Schwarz-Rot-Gold und folgten den Idealen der Corpsstudenten der Frankfurter Nationalversammlung, zu denen geheimes und freies Wahlrecht sowie Demokratie gehörten. Der entscheidende Unterschied zur Deutschen Burschenschaft aber war, dass im Allgemeinen Deutschen Burschenbund – zumindest vor 1918 – antisemitische Strömungen fehlten. Der Cimbria konnten auch Juden beitreten.34 Dank der Verbindungen, die sein Vater durch die Beratertätigkeit zu den militärischen Stellen unterhielt, konnte Felix Weil trotz seines Ausländerstatus ab 1917 freiwillig Kriegsersatzdienst in der Schützengräben-Abteilung der Frankfurter Kriegsamtsstelle leisten. Als ehrenamtlicher Hilfsreferent hatte er dafür zu sorgen, dass ein bestimmter Frontabschnitt des XVIII. Armeekorps ausreichend Stützholzbalken für die Schützengräben erhielt.
Die nachmittägliche Praxis im Heeresamt machte die These von der Überlegenheit der freien Marktwirtschaft obsolet, die vormittags an der Universität im Fach Volkswirtschaft gelehrt wurde. Denn im Rüstungsbereich war die Planerfüllung an die Stelle des wirtschaftlichen Profits getreten. Die Lieferung von Stützholzbalken war von oben verordnete patriotische Pflicht. Doch als am 10. November 1918 die Proklamation der Hessischen Republik erfolgte, war noch am gleichen Tag die gesamte Kriegsamtsstelle wie leergefegt. Felix Weil allerdings musste sich erst von einem älteren Soldaten darüber aufklären lassen, dass die Stunde der Republik geschlagen hatte und die Macht vom Monarchen an die Arbeiter- und Soldatenräte übergegangen war. Um sich den Schwellencharakter des Moments zu vergegenwärtigen, griff er auf die Vorstellung zurück, die sich seine Burschenschaft davon machte, und stellte sich, in den Farben seiner Verbindung mit Band, Mütze und Bierzipfel bekleidet, dem revolutionären Arbeiter- und Soldatenrat zu Verfügung, der im Hotel Frankfurter Hof Quartier bezogen hatte. Kurze Zeit später half er schon mit, ein Munitionsdepot zu stürmen. Was ihm an Kampferfahrung fehlte, glich er durch Organisationstalent aus. Der von den Räten zum Frankfurter Polizeichef ernannte sozialdemokratische Rechtsanwalt Hugo Sinzheimer übertrug ihm am nächsten Tag die Leitung einer Arbeiterwehr, die für Ruhe und Ordnung auf der Straße sorgen sollte, solange nicht sicher war, dass die reguläre Polizei auf Seiten der Republik stand. Ohne zu zögern übernahm er das Kommando.
Felix Weil spürte eine Art von grundsätzlicher Übereinstimmung mit allem, was um ihn herum passierte. Als er nachts schlaflos auf seiner Pritsche in der Hotellobby lag, begann er, im Erfurter Programm der Sozialdemokratie zu lesen, das ihm der Arbeiterwehrmann auf der Nebenpritsche geliehen hatte. Er fand dort Ansichten formuliert, die er – wie er zu seinem eigenen Erstaunen feststellte – selbst schon lange mit sich trug. Nur hatte er sie bisher noch nie zu Worten und Sätzen geformt, wie er sie jetzt lesen konnte: Die Produktionsmittel mussten in gesellschaftliches Eigentum übergehen, damit die Anstrengungen dem Wohle der Menschen dienten, die unter den gegenwärtigen Zuständen litten. Versunken in die Lektüre des schmalen Bändchens dämmerte ihm erstmals die Tragweite der Bedeutung des Wortes Sozialismus, auch bezogen auf die eigene Person. Bisher war es ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er, Sohn eines Mannes, der mit Getreidehandel Millionen verdiente, der Corpsstudent, der sich im eigenen Wagen zur Universität chauffieren ließ, weltanschaulich Berührungspunkte mit der Arbeiterbewegung haben könnte. »Keine Frage: meine Gefühle waren auf Seiten des Sozialismus, und schon seit langem. Ich war mir nur dessen nicht bewusst gewesen!«35 Die Metamorphose geschah in einer einzigen Nacht. Einer kurzen, schlaflosen und aufgewühlten Nacht, der eine jahrelange, sich intensivierende Beschäftigung mit marxistischer Theorie folgen sollte.
Felix Weil schrieb sich für das Sommersemester 1919 an der Universität Tübingen ein, denn dort hielt der Wirtschaftswissenschaftler Robert Wilbrandt Vorlesungen über Marxismus. Wilbrandt hatte der Sozialisierungskommission angehört, einer Expertengruppe, die im November 1918 von der Regierung eingesetzt worden war, um die Möglichkeiten einer Sozialisierung von Teilen der deutschen Wirtschaft zu überprüfen und diese gegebenenfalls vorzubereiten. Die Arbeit der Kommission wurde allerdings von Teilen der Regierung behindert. Nachdem nicht einmal die von ihr erarbeiteten Vorschläge für ein Gesetz zur Sozialisierung des Kohlebergbaus umgesetzt wurden, legten die Mitglieder Anfang April 1919 geschlossen ihre Arbeit nieder. Im Sommersemester 1919 hielt Wilbrandt wieder Vorlesungen an der Universität Tübingen. Noch vor Semesterbeginn hatte Felix Weil die Gründungsversammlung der ersten sozialistischen Studentengruppe Tübingens bei sich im Zimmer abgehalten und war im Anschluss als Delegierter zum ersten deutschlandweiten Treffen aller sozialistischen Studentengruppen nach Jena gereist. Dort lernte er Karl Korsch kennen, der Robert Wilbrandt in der Sozialisierungskommission assistiert hatte und sich in Jena gerade mit einem rechtswissenschaftlichen Thema habilitierte. Neben der Sozialistin Clara Zetkin, die auf Einladung der Tübinger Studentengruppe im Juni 1919 einen Vortrag im Schillersaal des Tübinger Museums hielt, wurde der marxistische Theoretiker Karl Korsch Felix Weils wichtigster politischer Mentor. Offiziell vertrat Weil im Vorstand der Studentengruppe weiterhin die gemäßigten Sozialisten. Privat verkehrte er im Umfeld Clara Zetkins und Karl Korschs vor allem mit Spartakisten und Kommunisten.
Auf Wilbrandts Anregung hin begann er im Sommersemester 1919 eine Seminararbeit über den Sozialisierungs-Begriff, die im Arbeiter-Rat veröffentlicht worden war, zur Doktorarbeit auszuarbeiten. Er hatte sich bereits zur Promotion angemeldet, als er von der Universität einen Exmatrikulationsbescheid erhielt. Angeblich verhinderten strengere Wohnbestimmungen für ausländische Studenten in seinem Fall eine Fortsetzung des Studiums. Aufgrund der katastrophalen Versorgungs- und Wohnraumsituation in der unmittelbaren Nachkriegszeit durften ausländische Studenten nur mit einer Sondergenehmigung an deutschen Universitäten studieren. Erst nachdem er nachweisen konnte, dass er zum einen während des Krieges als Ausländer in Deutschland freiwillig Militärdienst geleistet hatte und zum anderen in Tübingen im Haushalt einer Cousine lebte, wodurch er keinem deutschen Studenten Wohnraum wegnahm, war ihm diese Studien-Sondergenehmigung für das Sommersemester 1919 in Tübingen erteilt worden. Warum sie für das Wintersemester plötzlich nicht mehr gültig sein sollte, obwohl sich an seiner Wohnsituation nichts geändert hatte, ließ sich formaljuristisch nicht begründen. Deshalb besuchte Felix Weil die Vorlesungen seines Doktorvaters zunächst einfach weiter. Doch es nahte der erste Jahrestag der Novemberrevolution, und die Polizei hatte bereits Pamphlete abgefangen, in denen der Württembergische KP-Bezirksvorsitzende und Jugendsekretär Willi Münzenberg die Jugend-Internationale zum Kampf aufrief.36 Das Landesministerium für Erziehung forderte von der Tübinger Universität im Oktober die Namen aller politisch aktiven Studenten an. Und der Rektor der Universität lieferte eine Liste ab, auf der sich auch die Namen zweier Ausländer befanden – nämlich der von Heinrich Süßkind sowie der Felix Weils. Er beließ es nicht bei der bloßen Nennung ihrer Namen, sondern forderte von der Polizei, diese gefährlichen Agitatoren, die in keinem Verhältnis zur Universität mehr stünden, so rasch wie möglich zu entfernen, um sie unschädlich zu machen.37 Beide wurden daraufhin tatsächlich verhaftet. Vom linken Rand der sozialistischen Studentenvereinigung hatte sich im Sommer eine neue Gruppierung abgespaltet, die mit dem Spartakusbund sympathisierte. Auf ihrer Mitgliederliste war Felix Weils Name zwar nicht zu finden. Er agitierte nicht parteipolitisch. Trotzdem hieß es fälschlicherweise im Bericht des Württembergischen Landespolizeiamtes, er sei eingeschriebenes Mitglied der KPD.38 Zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung, das ihm auch als Ausländer zustand, und der Mitgliedschaft in einer linksradikalen politischen Partei wurde nicht unterschieden. Denn man benötigte einen Vorwand für die Abschiebung aus Württemberg, die am 24. Oktober erfolgte.
Hermann Weil war bisher nur von seiner Tochter Überraschungen gewohnt. Anita hatte nach dem Tod ihrer Mutter in Wien das Privatlyzeum der österreichischen Schulpädagogin Eugenie Schwarzwald besucht. Sie war dort zu einer impulsiven jungen Frau herangereift, die sich nun selbst darin überbot, ihrem Vater Kostproben der freien Erziehung zu liefern, für die das Schwarzwald-Lyzeum bekannt war.39 So hatte sie eine Liaison mit einem der Leutnants aus dem Offizierslazarett angefangen. Ihre Eroberung trug den prosaischen Namen Dr. Adolf Krümmer und war im zivilen Leben Bergwerksassessor. Nach seiner verletzungsbedingten Rückkehr von der Front hatte Krümmer in der Kriegsamtsstelle in der gleichen Abteilung wie Felix gearbeitet, der den Kollegen eines Tages zum Offizierstee mit nach Hause brachte. Bei dieser Gelegenheit lernte er Anita kennen, wies sich selbst ins Offizierslazarett ein und eroberte Anitas modisch linkes Herz, indem er vor ihr damit angab, Kommunist zu sein. Anita, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, diesen zwanzig Jahre älteren Kommunisten zu heiraten, brannte mit ihm durch und wurde, um ihren Willen durchzusetzen, mit 18 Jahren schwanger.40 Der Skandal, den sie 1919 inszenierte, blieb dank ihrer Tochter, die 1999 einen kleinen Lebensbericht schrieb, der Nachwelt erhalten: »Der Großvater war bestürzt. ›Meine Tochter ist mit einem Kommunisten durchgebrannt, was soll ich tun?‹ fragte er einen Vertrauten. ›Schenk ihm 100.000 Mark, dann ist er kein Kommunist mehr‹, antwortete der kluge Mann.«41 Es war die Mischung aus Rebellion und Irrationalität, die Hermann Weil an seiner Tochter beunruhigte. Dass ihm nun auch sein Sohn Grund zur Beunruhigung gab, ließ sich nach dessen Abschiebung aus Württemberg nicht mehr leugnen. Zwar brachte Felix im Frühjahr 1920 seine Promotion bei dem Nationalökonomen Alfred Weber in Frankfurt zu einem ordentlichen Abschluss. Dass er sich aber politisch weiterhin in den gleichen Kreisen wie in Tübingen bewegte, war schon dadurch nicht zu übersehen, dass er mit Katharina Bachert im Oktober 1920 die Tochter von Freunden Clara Zetkins heiratete. Gleich nach dem Abitur wäre Hermann Weils Sohn noch bereit gewesen, in die Firma einzusteigen. Damals war der Vater es gewesen, der dem Sohn zu einem Studium geraten hatte. Dem mittlerweile Volljährigen konnte er allerdings nicht mehr vorschreiben, was er zu tun hätte, denn aufgrund des frühen mütterlichen Erbes war er finanziell längst unabhängig von ihm. Für vernünftige Argumente freilich blieb er empfänglich, und so nutzte Hermann Weil die Hochzeitsreise, die nach Argentinien führte, um seinem Sohn das Versprechen abzunehmen, dass dieser im Anschluss ein Jahr den Stammsitz ihrer Firma in Buenos Aires leiten würde, bevor er über seine weitere Zukunft entschied. Felix war der Einzige, der ihn als Generaldirektor beerben könnte. Felix Weil leuchtete das Argument seines Vaters ein: »Mit meiner Schwester zusammen würde ich ja nach meines Vaters Tod das größte Aktienpaket in der Firma zu vertreten haben.«42 Solange die Revolution nicht siegte, war die freie Wirtschaft die gegebene Realität.