Читать книгу Der argentinische Krösus - Jeanette Erazo Heufelder - Страница 14
Der Institutsstifter
ОглавлениеIn seiner Zeit als Geburtshelfer der Kommunistischen Partei Argentiniens erlebte Felix Weil hautnah mit, dass die neue kommunistische Partei schon im Moment der Geburt an der im Kern zutiefst doktrinären Mentalität der aus Moskau zurückgekehrten Partei-Instrukteure krankte. Hier begriff er zum ersten Mal nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen, was ihm sein politischer Mentor Karl Korsch, mit dem er seit 1919 in Verbindung stand, in langen Diskussionen auseinanderzusetzen versucht hatte: als Lehrgebäude festgefügter Wahrheiten konnte sich marxistische Theorie niemals zum Besten der Praxis weiterentwickeln. Die Theorie musste empirisch aus der Gegenwart heraus bestimmt werden. In Argentinien sah es Felix Weil selbst: Wie eine Betonglocke wurde sie der argentinischen Arbeiterschaft aufgepfropft, ohne Rücksicht darauf, dass sie mit der Wirklichkeit in Argentinien in keinerlei Verbindung stand. Vorrangig ging es um die Durchsetzung eines Dogmas, nicht um die Auseinandersetzung mit einer sozialen Realität. Im Fall Argentiniens, wo es ein Proletariat als historisches Subjekt nicht gab, war der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Arbeiterschaft noch gar nicht genauer betrachtet worden.59 Dies bliebe einer zukünftigen Arbeit vorbehalten, so Felix Weil in dem Schlusssatz seines Beitrags zur argentinischen Arbeiterbewegung.60 In diesem kleinen Satz hatte der Komintern-Delegierte ziemlich spitz den Kern seiner Kritik an der nun auch von ihm in Argentinien beobachteten politischen Praxis verpackt, marxistische theoretische Erkenntnisse da zu ignorieren, wo es um die Partei ging. Aus seinem Argentinien-Jahr, in dem er Dauergast auf Partei- und Gewerkschaftsversammlungen gewesen war, zog Weil für sich die Erkenntnis, dass die Weiterbildung der marxistischen Theorie eine wissenschaftliche, keine parteipolitische Aufgabe sein müsste. Nur innerhalb eines geschützten Raumes unter den Bedingungen der Freiheit von Lehre und Forschung ließe sich diese Aufgabe ohne Bevormundung durch die kommunistische Parteizentrale bewältigen.
Wann mag der Gedanke in ihm aufgekeimt sein, dass er vermutlich der einzige Mensch im Umfeld der sozialistischen Aktivisten war, der die finanziellen Mittel besaß, ein solches marxistisches Forschungsinstitut auch tatsächlich zu realisieren? Seine Mutter hatte ihm ein großes Erbe hinterlassen, als er gerade 14 Jahre alt war, ein Erbe, dank dem er sich schon jetzt in dieser privilegierten Situation befand. Argentinien entfiel als Standort für ein Institut, dessen Forschungsmethode von der Durchdringung der Theorie mit den wirklichen sozialen und ökonomischen Gegebenheiten geprägt sein sollte. Denn ein klassisches Proletariat, auf das die Fragestellung einer solchen Forschungsmethode abzielen würde, gab es hier nicht, und folglich ergab die Gründung eines marxistischen Instituts, das die Arbeiterschaft als revolutionäres Subjekt untersuchte, in Argentinien keinen Sinn. Anders sah die Lage in Deutschland aus. Ökonomisch steckte das Land tief in der Krise. Im Jahr 1922 hatte die Wirtschaft erst 66 Prozent ihres Vorkriegsniveaus erreicht und die Reichsmark wies im Oktober des Jahres nur noch ein Tausendstel ihres Wertes vom August 1914 auf. Das politische und gesellschaftliche Klima deutete darauf hin, dass eine sozialistische Revolution noch immer möglich wäre – die richtige Bündnispolitik vorausgesetzt. Die KPD hatte sich durch den Zusammenschluss mit der Mehrheit der USPD zu einer Massenpartei mit vierhundert- bis fünfhunderttausend neuen Mitgliedern entwickelt. Der Zustrom war mit der Enttäuschung der Industriearbeiter über die nicht eingelösten gesellschaftlichen Partizipationsversprechen der Republik zu erklären, was in der KPD die Illusion nährte, dass sich die explosive Situation in Deutschland ausnützen ließe, um durch Agitation an der Basis die Unzufriedenheit der Arbeiter zu schüren, bis hin zu einem landesweiten Aufstand. ›Offensivstrategie‹ nannte das die Komintern. Doch die gescheiterte März-Aktion 1921, mit von der Partei geschürten Arbeiteraufständen in Mitteldeutschland, war ein Beispiel dafür, dass politische Entscheidungen wider besseren theoretischen Wissens getroffen wurden, sofern es der Parteizentrale opportun erschien. Mit Sicherheit ließ sich Felix Weil im fernen Buenos Aires, wo er sich zum Zeitpunkt der März-Aktion aufhielt, über die Vorgänge in Deutschland informieren. Die Offensivstrategie war Ergebnis einer Entscheidung von oben, die in keinem Moment die Massen erreichte und mit einer Niederlage endete. Von einer Arbeiterrevolte konnte nur in Teilen Mitteldeutschlands die Rede sein, in der Industrieregion um Halle, Leuna, Merseburg und dem für sein Kohlenrevier bekannten Mansfelder Land. Der Rest des Landes blieb stumm, so Rosa Meyer-Leviné, die Frau des damaligen KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer, mit der Felix Weil schon früh befreundet war. Ihren Worten nach gehörte, was noch folgte, als die Niederlage schon entschieden war, zu den schlimmsten Kapiteln der kommunistischen Geschichte.61 Die Partei griff auf Sabotage und gezielte Provokation zurück. Arbeitslose wurden zu Sturmbrigaden formiert, Handgranaten verteilt, gezielt die Polizei provoziert, damit sie auf Arbeiter schoss. Wessen Blut floss, schien für die Partei keine Rolle gespielt zu haben, so die Frau des KP-Vorsitzenden, die alles andere als mit der Parteilinie konform war.62 Angesichts dieser politischen Ereignisse und Entwicklungen erschien der Aufbau einer von der Parteipolitik unabhängigen marxistischen Forschungseinrichtung wie ein Gebot der Stunde. »Die KPD mag die Lüge anwenden im Kampfe gegen Klassenfeinde, aber sie sollte das Prinzip haben, dass Arbeiter, selbst wenn sie nicht Kommunisten sind, nicht belogen werden dürfen. Leider ist von einem solchen Prinzip noch nichts zu merken.«63 So der Kommentar Felix Weils auf der EMA. Als er spät im Leben noch einmal darüber nachdachte, wann genau die Institutsidee entstand, war er sich sicher, dass es nach seiner Rückkehr aus Argentinien im thüringischen Ilmenau während der EMA gewesen sein musste.64 Das Kürzel stand für Erste Marxistische Arbeitswoche, dem von Karl Korsch in einem thüringischen Bahnhofshotel organisierten Theorieseminar, bei dem Felix Weil für alle Kosten aufgekommen war und wo er auch seine erwähnte deutliche Kritik an der Täuschung der Arbeiter durch die angeblich allein ihre Interessen wahrende Partei vorgetragen hatte. Es war kein Zufall, dass Korsch für die inhaltliche Ausrichtung der EMA verantwortlich war. Korschs undogmatische Auslegung der marxistischen Theorie sprach damals junge, revolutionär gesinnte, aber geistig unabhängige Menschen wie Felix Weil an. Und die Sympathie war gegenseitig. Korsch – als marxistischer Lehrer Bertolt Brechts bekannt geworden – nahm auch den zwölf Jahre jüngeren Felix Weil, dem er eine »Leidenschaft für die Enterbten und die Revolution« attestierte, unter seine Fittiche.65 So war schon 1921 Weils Sozialisierungs-Dissertation in der von ihm herausgegebenen Reihe Praktischer Sozialismus erschienen. Allerdings fand die EMA nicht schon 1922 statt, wie sich Felix Weil zu erinnern glaubte, sondern erst ein Jahr später: Pfingsten 1923.66 Damit war auch die Idee der Institutsgründung kein Resultat dieses Theorieseminars, sondern – umgekehrt – die EMA ein erstes Produkt jener Institutsgründung, die Felix Weil gleich nach seiner Rückkehr aus Argentinien im Jahr 1922 in Angriff genommen hatte.
Noch bevor er im Oktober 1920 zu seiner Hochzeitsreise nach Argentinien aufgebrochen war, hatte Felix Weil in Frankfurt Freundschaft mit Max Horkheimer und Friedrich Pollock geschlossen, die später zum Inbegriff des von ihm gegründeten Instituts werden sollten. Der 1895 geborene Max Horkheimer und der ein Jahr ältere Fritz Pollock waren beide Fabrikantensöhne. Wie Hermann Weil stellten sich auch die Väter der beiden vor, dass ihre Söhne eines Tages die Firmen übernehmen würden. Deshalb mussten sie früh in den Direktionen der väterlichen Betriebe mitarbeiten. Horkheimers Vater besaß eine Textilfirma, Vater Pollock eine Lederfabrik. Der Bruch, zu dem es 1916 zwischen Horkheimer und seinem Vater kam, weil dieser nicht die Liaison seines Sohnes mit der acht Jahre älteren Rose Riekher akzeptierte, die als Privatsekretärin für ihn arbeitete, war der Grund, dass Horkheimer die väterliche Fabrik verließ und mit seinem Jugendfreund Pollock, der sich ebenfalls mit seinem Vater überworfen hatte, nach dem Krieg zunächst das Abitur nachholte. Dann schrieben sie sich in München an der Universität ein. Horkheimer wählte die Fächer Psychologie, Philosophie und Nationalökonomie. Pollock entschied sich für Nationalökonomie. Dass sie nach nur einem Studiensemester im Herbst 1919 an die Universität Frankfurt wechselten, erklärte Horkheimer 1972 damit, dass München nach der Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919 ein zu gefährliches Pflaster geworden war. Gleich zweimal hintereinander sei er infolge einer Verwechslung mit dem Schriftsteller und Revolutionär Ernst Toller verhaftet worden.67 Da auch Fritz Pollock Probleme bekam, nachdem er seine Sympathie für die Räterepublik stets offen gezeigt hatte,68 fassten beide den Entschluss, zum Studium nach Frankfurt zu ziehen. Felix Weil war von seinem Freund Kostja, dem älteren Sohn Clara Zetkins, auf die damals noch in einer Pension wohnenden Studenten aufmerksam gemacht worden.69 Fritz Pollock glaubte zu spüren, dass er und Horkheimer einen starken Eindruck auf den etwas jüngeren Felix Weil gemacht hätten. Denn schon bald sei er bei ihnen ein häufiger Gast gewesen, der sie oft um Rat gebeten hätte. In dem Gespräch, in dem Pollock 1965 über die Anfänge der Freundschaft mit Felix Weil sprach, gab er auch zu Protokoll, dass auf diese Weise im Schlossgarten zu Kronberg von Horkheimer und ihm zusammen mit Felix Weil das ›Institut für Sozialforschung‹ gegründet worden sei.70 In Kronberg hatten Horkheimer und Pollock in dem Jahr, in dem Felix Weil aus Argentinien zurückkehrte, ein Haus erworben.71 Max Horkheimer erklärte 1972, der Akt der Institutsgründung hätte zunächst dazu gedient, dem schwerkranken Hermann Weil zu einem Ehrendoktor zu verhelfen.72 Tatsächlich setzte sich Felix Weil bei den Institutsverhandlungen mit der Universität dafür ein, dass seinem Vater, einem ihrer Gönner, der insbesondere der medizinischen Fakultät immer wieder große Summen gespendet hatte, endlich die Anerkennung zuteil würde, die er längst verdient hatte. Zieht man jedoch Felix Weils Neigung zu Doppelstrategien in Betracht, die sich schon in Tübingen wie auch in Argentinien gezeigt hatte, war der Ehrendoktor nicht Sinn und Zweck der Institutsidee, sondern die erste einer ganzen Reihe von Doppelstrategien, die letztlich zur erfolgreichen Umsetzung des Institutsprojekts führten. Zum einen lieferte der honoris causa das Alibi, mit dem sich auch für die Behörden nachvollziehbar erklären ließ, warum er sich den Bau eines universitären Instituts in den Kopf gesetzt hatte. Zum anderen ließ sich sein Vater, der eine Schwäche für derlei Prestige-Bekundungen hatte, mit dem Ehrendoktor als Mitstreiter für das Institutsprojekt gewinnen. Horkheimer präzisierte, dass sie sich vom Bau des Instituts einen doppelten Effekt erhofft hatten. Sie wollten dort, wenn es erst einmal stand, eine Gruppe junger Menschen zusammenbringen, die durch ihre Forschungen und ihr Denken die Gesellschaft zu verändern versuchten. Letzteres sei allerdings erst mit ein paar Jahren Verzögerung geglückt, als er 1931 die Leitung des Instituts übernommen habe.73
Ulrike Migdal, die sich in den 1970er Jahren als Erste eingehend mit der Frühgeschichte des Instituts für Sozialforschung befasste, hat darauf aufmerksam gemacht, dass es 1922 für Horkheimer kein Motiv gab, die führende Rolle bei der Institutsgründung zu übernehmen, wie es nachträglich hineininterpretiert wurde.74 1922 promovierte Horkheimer mit einem philosophischen Thema – Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft – und wurde anschließend Assistent eines Philosophieprofessors, Hans Cornelius, der schon sein Doktorvater war. Doch das Institut war ökonomisch ausgerichtet. Als politischer Ökonom, der über Marx promovierte, war Pollock aus nachvollziehbaren Gründen interessierter an der Institutsidee. Er stand Felix Weil bei der Umsetzung des Projekts – anders als Horkheimer – tatsächlich von Anfang an zur Seite. Für die Zeitgenossen war unbestritten Felix Weil der Schöpfer des Instituts.75
Rolf Wiggershaus, Historiker der Frankfurter Schule, schrieb über Max Horkheimers Engagement für marxistische Theorie, dass es mehr oder weniger ›Privatsache‹ blieb.76 Ähnlich privat handhabte Max Horkheimer auch die Unterstützung des Institutsprojekts. Sie beschränkte sich darauf, im Oktober 1922 aus Solidarität der soeben gegründeten Gesellschaft für Sozialforschung beizutreten, die fortan Stiftungsträgerin des Instituts unter dem Vorsitz von Hermann und Felix Weil war. Damit die Gesellschaft möglichst schnell und unkompliziert die gemäß Statuten vorgesehene Mindestmitgliederzahl erhielt, traten ihr ein paar Freunde und Personen aus Weils familiärem Umfeld bei. Denn die Gründung der Gesellschaft für Sozialforschung erfolgte im Procedere der Institutsverhandlungen mit den Behörden. Das Kultusministerium hatte sich bei Weil nach den Namen der Mitglieder der Gesellschaft erkundigt, die das Institut finanzieren würde, und so nannte der neben den Namen Horkheimers und seiner eigenen Frau noch die Namen der Sekretärin seines Vaters und ihres Familienanwalts. In das Projekt involviert waren von den Mitgliedern der ersten Stunde allerdings nur Richard Sorge und Kurt Albert Gerlach.77 Dass der gerade aus Kiel an die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Frankfurt berufene Nationalökonom Kurt Albert Gerlach als Institutsleiter gewonnen werden konnte, gab dem Projekt Seriosität. Gerlach war an marxistischer Theorie interessiert und hatte in Kiel außeruniversitär einen marxistischen Studienkreis ins Leben gerufen, bei dem ihm Richard Sorge assistierte, der zu diesem Zeitpunkt bereits Parteikommunist war und ihn als wissenschaftlicher Assistent nun auch nach Frankfurt begleitete. Als Assistent des designierten Institutsdirektors gehörte auch Sorge zum Team des Institutsprojekts. Dass er seine akademische Laufbahn zwei Jahre später gegen eine russische Agentenkarriere eintauschen würde, war 1922 noch nicht abzusehen. Bevor Felix Weil im August 1922 die Verhandlungen aufnahm, erarbeiteten er und seine Mitstreiter eine Denkschrift; eine Art Exposé, in dem die wichtigsten Eckpfeiler der geplanten Einrichtung umrissen wurden. Der Fokus sollte im Bereich der Forschung liegen; das Institut war damit als Ergänzung zu den sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten gedacht, die sich auf Lehre und akademische Ausbildung konzentrierten. Das Sammeln zu wissenschaftlichen Zwecken sollte eine der zentralen Tätigkeiten bilden; Forschungsschwerpunkt sei entsprechend die Ausarbeitung dieses gesammelten Materials. Man sprach in dieser Denkschrift schon vom Institut für Sozialforschung und betonte die politische Unabhängigkeit und Ausgewogenheit des Projekts.78 Über die marxistische Ausrichtung fiel kein Wort. Ins Äsopische umwandeln – so nannte Felix Weil die begriffliche Verschleierung marxistischer Semantik. Frei nach dem Fabeldichter Äsop, der die gesellschaftliche Sprengkraft seiner Geschichten tarnte, indem er sie mit Tieren ausgestaltete. Städtischer Magistrat, Universitätskuratorium, Rektorat, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät, preußisches Wissenschaftsministerium: Sehr viele Behörden mussten hinzugezogen werden. Jede hätte ein Veto einlegen können. Also mussten erst Tatsachen geschaffen werden, bevor man offenlegen konnte, dass Methode und Gegenstand ihres Forschungsinstituts im Marxismus wurzelten. Ein besonderer Umstand begünstigte das Vorhaben. Als Folge von Inflation und allgemeiner Nachkriegsmisere war die bis dahin unabhängige Frankfurter Stiftungsuniversität in ihrem Weiterbestehen inzwischen vom preußischen Wissenschaftsministerium abhängig. Denn politisch gehörte Frankfurt immer noch zu Preußen. Und diesen Umstand wusste Felix Weil zu nutzen. »Mit dem Originalexemplar der Gerlach-Denkschrift versehen, fuhr ich nach Wiesbaden zu meinem alten Freund, Regierungspräsident Konrad Haenisch.« – Hänisch war von November 1918 bis 1921 Kultusminister der ersten SPD-geführten preußischen Landesregierung. Seitdem bekleidete er in Wiesbaden den Posten des Regierungspräsidenten. – »Ich wusste, dass wir auf seine Hilfe rechnen konnten, wenn es darum ging, den ›Marxismus‹ an der Universität hoffähig zu machen. Bei ihm brauchte ich nicht in äsopischen Floskeln zu reden. Er war es, der auf die Idee kam, dass das Direktorat (des Instituts) mit einem Ordinariat in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät verbunden werden sollte; das sei geeignet, möglichen Widerstand seitens der Fakultät zu verhindern. Und er empfahl mir, künftige Verhandlungen nicht mit seinem Nachfolger, dem Kultusminister, selbst zu führen, der für Neuerungen nicht immer leicht zu haben sein werde, sondern stattdessen mit dem Leiter der Universitätsabteilung, Ministerialdirektor Geheimer Regierungsrat Wende, der ihm seine Stellung verdankte. Zu diesem Zweck gab er mir einen Zettel mit ein paar Zeilen an Herrn Wende mit. Er war es auch, der mir den Rat gab, mit Wende ganz offen über meine Absichten zu sprechen, aber im schriftlichen Verkehr die äsopische Sprache zu benutzen.«79
Äsop geleitete sie als guter Geist sicher durch die Institutsverhandlungen. Nur der Name ihres Instituts für Sozialforschung war nicht allein durch ihn inspiriert. Hier stand kurioserweise eine Institutsgründung im fernen Japan Pate, wo zu diesem Zeitpunkt bereits ein Institut gleichen Namens existierte, dessen erster Direktor in München Volkswirtschaft bei dem als Sozialreformer bekannten Lujo Brentano studiert hatte. Da sich die Öffnung, die Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchlief, am europäischen Wissensstand orientierte, waren japanische Wissenschaftler an deutschen Universitäten häufiger anzutreffen. Durch die Reisunruhen des Jahres 1918, aus denen die größten Massenerhebungen in der jüngeren japanischen Geschichte erwuchsen, war auch in Japan das Interesse an sozialistischen Theorien gestiegen. Denn die Aufstände, die als Folge anhaltend niedriger Produzentenpreise bei gleichzeitig immer höheren Konsumentenpreisen ausbrachen, führten zu einem Linksruck der Arbeiterbewegung und zu zahlreichen Arbeitskonflikten. 1919 gründete der Industrielle und Kunstmäzen Ohara Magosaburo in Osaka ein Marxismus-Institut, das zum Namensgeber für das Frankfurter Institut für Sozialforschung wurde. Allerdings leiteten Weil und Pollock den Namen aus dem Englischen ab, wo aus dem Osaka-Institut für die Erforschung sozialer Probleme ein Institute for social research geworden war.80 Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist es gar nicht so außergewöhnlich, dass auch auf der EMA ein japanischer Wissenschaftler anzutreffen war. Fukumoto Kazuo, einer der wichtigsten marxistischen Theoretiker Japans, befand sich 1923 in Europa auf einer Studienreise und machte gerade bei Karl Korsch in Jena Zwischenstation. Korsch lud ihn gleich zur Thüringer Arbeitswoche ein.
Mitten in den Gründungsverhandlungen erkrankte Kurt Albert Gerlach an Diabetes, einer Krankheit, für die es noch kein Heilmittel gab, und starb im Oktober 1922. Der Tod des designierten Institutsdirektors warf das Institutsprojekt konzeptionell zurück. Felix Weil hatte mit Gerlach kein bloßes Interessenbündnis, sondern Freundschaft verbunden. Doch die Verhandlungen mit den Behörden liefen weiter. Im Januar 1923 genehmigte das Ministerium die Errichtung des Instituts als selbstständige wissenschaftliche Forschungseinrichtung. Die Anbindung an die Fakultät wurde durch die von Hänisch ins Spiel gebrachte Personalunion von Institutsdirektor und Lehrstuhlinhaber gesichert, wodurch dem Institutsdirektor eine Art Scharnierfunktion zwischen Institut und Universität zukam. Das wichtigste Ziel war erreicht: Das künftige Institut besäße größtmögliche Unabhängigkeit bei gleichzeitig universitärer Anerkennung. Das Kuratorium der Frankfurter Stiftungsuniversität hatte sich mit der Zustimmung schwergetan. Zu anderen Zeiten wäre ein Institut, das nicht in eine der universitären Fakultäten integriert werden wollte, abgelehnt worden. Doch in diesen Zeiten leerer Kassen war das Angebot, das Felix Weil im Namen seines Vaters der Universität unterbreitet hatte, zu verlockend, um es nicht schließlich doch anzunehmen. Hermann Weil bot der Universität ein Stiftungsordinariat in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät an. Allerdings hatte die Gesellschaft für Sozialforschung daran die Bedingung geknüpft, dass die Besetzung des Lehrstuhls gemeinsam mit ihr zu erfolgen hatte. Im Januar 1923 legte das Ministerium per Erlass fest, dass die Neubesetzung des mit der Institutsleitung gekoppelten Lehrstuhls an der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät durch die Universität ›im Benehmen‹ mit der Gesellschaft für Sozialforschung zu erfolgen hätte. Dass ›im Benehmen‹ nicht ›im Einvernehmen‹ hieß, fiel Felix Weil zu diesem Zeitpunkt nicht auf, da schon im Februar 1923 der österreichische Wirtschaftshistoriker Carl Grünberg zusagte und das Universitätskuratorium mit der Wahl des in Kollegenkreisen geschätzten Professors einverstanden war.81 Grünberg galt als Kathedersozialist, womit zunächst einmal ganz allgemein jene bürgerlichen Wissenschaftler des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnet wurden, deren Schwerpunkt in der Lehre auf gesellschaftlichen Fragen lag. Sie vertraten in der Regel Reformansätze, in denen die ökonomisch-politischen Verhältnisse unangetastet blieben. Allerdings ließen sich österreichische Kathedersozialisten anders als ihre deutschen Kollegen schon vor der Novemberrevolution 1918 auf Kooperationen mit der Sozialdemokratie ein. Carl Grünberg zum Beispiel beteiligte sich an der Gründung der Volkshochschulen und des Sozialistischen Bildungsvereins in Wien;82 beides Einrichtungen, die den universitären Raum für untere Schichten öffneten. Zu Grünbergs Schülern zählten die späteren Austromarxisten Max Adler, Otto Bauer und Rudolf Hilferding, die sich zwar grundsätzlich eine Diktatur des Proletariats vorstellen konnten, aber nur auf dem Weg demokratischer Wahlen und eingebunden in ein Parlament. Carl Grünberg hatte schon in Wien die Gründung eines Studien- und Forschungsinstituts vorgeschwebt. Wie im 1894 in Paris gegründeten Musée Social sollten auch hier sozialwissenschaftliche Programme ausgearbeitet werden, auf deren Grundlage gesellschaftlicher Wissenstransfer möglich wäre.83 In Frankfurt erhielt der Gelehrte im Alter von 64 Jahren die Chance, ein weltanschaulich linkes Institut nach seinen Vorstellungen zu leiten. Das Gebäude blieb Eigentum der Gesellschaft für Sozialforschung. Die einzige Einschränkung: sie musste der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät einige Räume zur dauerhaften Nutzung überlassen. Das Kuratorium hatte allerdings darauf gedrängt, dass in dem Vertrag, den die Stadt im Februar 1923 mit der Gesellschaft für Sozialforschung schloss, eine Klausel eingebaut wurde, durch die gesichert wäre, dass das auf städtischem Grund errichtete Institutsgebäude nur zu sozialwissenschaftlichen Forschungszwecken verwendet würde. Jede andere Verwendung bedurfte – so die Klausel – einer besonderen Genehmigung des Magistrats der Stadt Frankfurt.
Das mütterliche Erbe Felix Weils reichte zwar für den Bau des Gebäudes und die Ausstattung der Bibliothek. Aber für die Finanzierung des laufenden Institutsbetriebs war die Unterstützung Hermann Weils nötig. Frankfurt lebte vom Stiftergeist. Die wichtigsten kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen der Stadt, wie das Städel-Museum und die erst 1914 gegründete Universität, waren Stiftungen.84 Hermann Weil hatte in der Vergangenheit bereits mehrfach universitäre Einrichtungen wie das Senckenberg Naturmuseum, das biologische Institut und einzelne naturwissenschaftliche sowie medizinische Fakultäten gefördert. Mit dem Versuch, selbst ein Institut gründen, war der Getreidehändler 1920 allerdings gescheitert. Zeitgleich mit der Akademie der Arbeit, einer Initiative des Arbeitsrechtlers Hugo Sinzheimer, sollte ein Institut für Arbeitsrecht entstehen, das Ausbildungskurse für Unternehmer, Beamte, Angestellte, Arbeiter und Gewerkschaftler anbot.85 Am 5. Januar 1921 wurde die als Trägergesellschaft vorgesehene Hermann-Weil-Stiftung jedoch ohne Angabe von Gründen wieder aufgelöst und das Geld an den Stifter zurückbezahlt.86
In einem zweiten Anlauf versuchte nun sein Sohn das Institut in einer Variante zu realisieren, die den von Konservativen gefürchteten Systemwechsel beschleunigen helfen sollte. Dass das Projekt bei Hermann Weil trotzdem auf Unterstützung stieß, erklärte sich Fritz Pollock mit dessen Persönlichkeit: »Dieser Vater war ein sehr gescheiter Mensch. Obwohl er Multimillionär war, wurde es ihm völlig klar, dass man solche Phänomene wie den russischen Bolschewismus, den deutschen Marxismus, die deutsche Sozialdemokratie, den Antisemitismus, die Gewerkschaften: dass das Gegenstände wissenschaftlicher und nicht parteipolitischer Forschung sein sollten.«87 Dass sich sein Vater entschieden hatte, ihn bei dem, was er machte, zu unterstützen, obwohl er persönlich seine Überzeugungen nicht teilte, führte Felix Weil aber auch auf die Erfahrung zurück, die dieser während des Kriegs als Berichterstatter der Admiralität gemacht hatte, als er, im guten Glauben, man teile mit ihm die gleichen Überzeugungen, feststellen musste, für Propagandazwecke missbraucht worden zu sein.88 Die an jüdischen Politikern verübten Morde – der an Erzberger im August 1921 und der an Rathenau im Juni 1922 – waren sicherlich ebenfalls mit ein Beweggrund, dass Hermann Weil Verständnis für die Positionen seines Sohnes aufbringen konnte, den es nach einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung drängte.89
Mit seiner vier Stockwerke zählenden, schmucklosen und verschlossenen Fassade glich der Institutsneubau an der Viktoria-Allee zwischen den Frankfurter Gründerzeitvillen einem festungsartigen Fremdkörper. Die Pläne für das funktionelle Gebäude hatte Franz Röckle geliefert, der schon die Westend-Synagoge entworfen hatte. Es gab Arbeitszimmer für Doktoranden und Stipendiaten. Außerdem Gästezimmer. Die Magazinräume verteilten sich auf drei Etagen. Die Bibliothek verfügte über einen Lesesaal mit 36 Plätzen. Die Zimmer des Institutsdirektors Carl Grünberg und des Stiftungsvorsitzenden Felix Weil verband ein gemeinsames Sekretariat. Ein Stockwerk tiefer lagen die Räume von Grünbergs wissenschaftlichen Assistenten Henryk Grossmann und Fritz Pollock; Letzterer vertrat Felix Weil im Stiftungsvorsitz. Ein Aktenlift ersparte ständiges Treppensteigen. Alles war zweckmäßig durchdacht. Die Räume im Erdgeschoss waren zwar der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät vorbehalten, doch hatte man durch ein Zwischengeschoss zusätzlich Platz geschaffen.90 Im Frühsommer 1924 konnte das Institut den Neubau beziehen.
Das provisorische Bücherdepot im Senckenberg Naturmuseum wurde geräumt, die neue Spezialbücherei eingerichtet. Vierzehntausend Bücher füllten schon jetzt die Regale, darunter allein achttausend Bände aus dem Nachlass Kurt Albert Gerlachs.91 Außerdem hatte Felix Weil auch die Bibliothek aus dem Nachlass von Rosa Luxemburg und die Bibliotheken der SPD-Politiker Wilhelm Blos und Adolf Braun aufgekauft.92 Am 22. Juni 1924 fand die offizielle Einweihungsfeier im Institut statt. In der programmatischen Rede, die Carl Grünberg hielt, vollzog er vor versammelter Hörerschaft den Schritt vom Gelehrten, der sich mit dem Sozialismus beschäftigt, zum Gelehrten, der sich selbst als Marxist versteht: »Auch ich gehöre zu den Gegnern der geschichtlich überkommenen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtsordnung und zu den Anhängern des Marxismus. (…) Es ist daher nur selbstverständlich, dass ich, sobald ich an wissenschaftliche Aufgaben meines Fachgebietes herantrete, dies tue, ausgerüstet mit der marxistischen Forschungsmethode. Sie soll auch im Institut für Sozialforschung, soweit dessen Arbeiten unmittelbar durch mich selbst oder unter meiner Leitung erfolgen werden, zur Anwendung gelangen.«93
Felix Weil hatte mit angehaltenem Atem Grünbergs Worten gelauscht, die zum ersten Mal den marxistischen Charakter des Instituts vor den Vertretern der Universitätsbehörde offenlegten. Ihren versteinerten Gesichtern war anzusehen, dass sie sich überrumpelt fühlten. Wie ein Kuckucksei hatte man ihnen ein marxistisches Institut untergejubelt. Auch wenn mit Grünberg ein renommierter Kollege diese Einrichtung nach außen vertrat, wäre nun nicht mehr die politische Neutralität ihrer Universität gegeben. Hermann Weil hatte einen Ehrendoktor für ein Geschenk erhalten, das sich nun als Trojanisches Pferd entpuppte. »Mit Geld kann man alles«, sprach einer laut aus, was die anderen dachten. Felix Weil sah schnell zu seinem Vater hinüber. Aber Hermann Weil hatte den Satz nicht gehört. Er war wie üblich von Leuten umgeben, die ihm eifrig versicherten, wie großartig die Schenkung für die Universität, die Stadt und die ganze Menschheit sei.94 Eine familiäre Nachricht geriet in diesem Jahr fast zur Nebensache. Im Oktober 1924 brachte Käte Weil einen Jungen zur Welt. Frank blieb Felix Weils einziges Kind.