Читать книгу Der argentinische Krösus - Jeanette Erazo Heufelder - Страница 13
Doppelleben in Buenos Aires
ОглавлениеFelix Weils einstige indianische Amme betrieb mit ihrem Mann inzwischen eine Bäckerei in dem Häuschen, das sie sich, nachdem der Haushalt ihrer alten Arbeitgeber aufgelöst worden war, von ihren Ersparnissen gebaut hatten.43 Fernando und Antonio führten längst ein eigenständiges Leben. Antonio arbeitete in einer Werkstatt, Fernando in einer Landarbeitergewerkschaft. Er ritt von Estancia zu Estancia und klärte die Peones über ihre miserable Lage auf. Nach Buenos Aires kam er nur, um die Liste mit den Namen der neu angeworbenen Mitglieder bei seiner Gewerkschaft abzuliefern. Juana hatte Angst um ihn, denn die Polizei auf dem Land, die auf der Lohnliste der Großgrundbesitzer stand, machte in deren Auftrag Jagd auf Gewerkschaftsaktivisten. »Es steht nicht in der Bibel, dass der Mensch sich in Gewerkschaften vereinigen soll.« Felix Weil erinnerte sich noch 50 Jahre später, wie er Juana auf Spanisch entgegnete: »Aber es steht in der Bibel, dass der Mensch seinen Nächsten wie sich selbst lieben soll.«44 Er staunte selbst. Als hätte er nach 13 Jahren eine Schublade aufgezogen, in der sein Spanisch lag. Er brauchte es nur herauszunehmen. Alles war wieder da.
Mit Käte, seiner Frau, reiste er kreuz und quer durch Argentinien und zeigte ihr das Land seiner Kindheit. Seine Eindrücke verarbeitete er in einem Aufsatz über die Arbeiterbewegung in Argentinien, der 1923, ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Argentinien, im Leipziger Hirschfeld Verlag erschien: »Die Eisenbahnen laufen fast alle nur in der Ost-West-Richtung: von der Küste ins Innere; Querverbindungen gibt es noch kaum. Die Schnellzugstationen bestehen oft nur aus einem kleinen Häuschen mitten in der Steppe oder den Feldern. Von der Station bis zum nächsten Gut reitet man oft viele Stunden. Von einer Station zur andern sind es oft mehrere hundert Kilometer. Die Riesenentfernungen unterstützen noch die politische Willkürherrschaft der Großgrundbesitzer.«45 Was die deutschen Leser dieses Aufsatzes über die ländlichen Regionen Argentiniens geschildert bekamen, war die gleiche von Profitinteressen geprägte Landschaft, die Felix Weil schon von den Kindheitsausritten mit seinem Vater kannte. Allerdings hielt sich bei den golondrinas, den ›Schwalben‹ genannten Landarbeitern, nur noch im Namen die Mär aus der Vorkriegszeit, der zufolge sie zwischen den Erntezyklen zwischen Argentinien und ihrer Heimat Italien hin und her gependelt seien. Dem an Marx geschulten politischen Ökonomen Weil drängte sich nun im Wort golondrinas die Konnotation mit den Vogelfreien und den Vagabunden auf, die keinem und jedem gehörten. Die von Marx als »Blutgesetzgebung gegen Vagabondage« bezeichneten Maßnahmen, mit denen im 15. und 16. Jahrhundert die Tendenzen gesellschaftlicher Verwilderung im Verfallsprozess des Feudalismus brutal unterbunden wurden – hier in den archaisch-sozialen Strukturen der ländlichen Regionen Argentiniens sah sie Felix Weil als immer noch praktiziertes Recht. Wer sich weigerte, gegen Lohn zu arbeiten, durfte als Sklave gehalten werden. Von einer Arbeiterbewegung konnte zumindest auf dem Land noch keine Rede sein. »Ab und zu kommen Streiks vor, die mit Gewalt niedergeschlagen werden. Wo das wegen allzu großer Nähe der Stadt nicht ohne weiteres geht, pflegt man durch agents provocateurs einen Grund zum Eingreifen zu schaffen oder die Streiker durch neu angekommene Einwanderer zu ersetzen.«46 Die Informationen schien er für diesen Aufsatz aus erster Hand von dem als Gewerkschaftsaktivisten tätigen älteren Sohn seiner indianischen Amme erhalten zu haben. Dass Polizei und Justiz auf dem Land im Dienste der estancieros stünden, bedeute für die Arbeiter vollständige Rechtlosigkeit. »Wenn man sich diese Zustände vor Augen hält«, fasste Felix Weil seine Eindrücke zusammen, »so hat man eine Erklärung für die Verzweiflungstaktik der Landarbeiter. Man wird begreifen, weshalb sie bei Streiks die Ernten anzünden.«47
Auch wenn bei Hermanos Weil alle auf ihn als künftigen Generaldirektor der Firma setzten, wusste Felix Weil schon bald, nachdem er 1920 in Buenos Aires auf dem Sessel des Filialdirektors Platz genommen hatte, dass er nie eigenständig einen Sack Getreide kaufen oder verkaufen würde. Er spürte, dass ihm dafür das Wichtigste fehlte: der Sinn für Marktentwicklungen. Das alleine hätte aus ihm zwar einen schlechten Generaldirektor, aber zumindest immer noch einen Generaldirektor gemacht. Doch wogegen sich Felix Weil innerlich geradezu sträubte, waren die scheinbar ganz normalen geschäftlichen Gepflogenheiten, zum Beispiel Preisabsprachen.48 Auf einer Vorstandssitzung der Vereinigung argentinischer Getreideexporteure platzte ihm 1921 der Kragen. Als einem der kleineren Getreidehändler betrügerisches Geschäftsgebaren vorgeworfen wurde, weil er der Verfälschung von Mustern überführt worden war, hielt der 23-jährige Juniorchef von Hermanos Weil seinen zum Teil wesentlich älteren Kollegen aufgebracht vor, es gäbe gar keinen Grund, sich so puritanisch aufzuspielen. Die kleine Firma täte im Kleinen nur das, was sie selbst täglich im Großen praktizierten. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie aufgrund ihrer Größe, ihrer Macht und ihrer Beziehungen für die Tricksereien nicht zur Verantwortung gezogen würden. Niemand in der Runde verstand, worüber er sich eigentlich so aufregte.
Seit Felix Weil mit seiner Frau in Buenos Aires lebte, gab es für die Mitglieder des deutschen Klubs immer wieder Anlass, sich über seine ungezogene Art und den rauhen Ton, den er oft anschlug, zu empören. Mit beidem machte er sich nur wenige Freunde. Einer jedoch saß nur dabei und hörte gut zu, wenn man sich im deutschen Klub wieder einmal über den Juniorchef von Hermanos Weil ausließ, weil er ehrenwerte Geschäftsmänner der Gaunereien bezichtigt hatte. Bei dem aufmerksamen Beobachter der großen und kleinen Ränke und Kabale im deutschen Klub, der zum Klatsch selber wenig beitrug, sich aber alles merkte, was er hörte, handelte es sich um den deutschen Arzt Max René Hesse. Hesse lebte seit 1910 in Buenos Aires und praktizierte im deutschen Hospital. 1927 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde Schriftsteller. Partenau war sein erster Roman. Morath schlägt sich durch sein zweiter. Der Protagonist der Geschichte, die in der deutschen Kolonie von Buenos Aires spielt, welche Hesse als ehemaliger Arzt des deutschen Hospitals und ständiger Gast im deutschen Klub jahrelang genau kennengelernt hatte, war – wie der Autor – Arzt am deutschen Hospital. Unter dem Romanpersonal tauchte mit breiten Schultern, zurückgekämmten Haaren und zwinkernden Augen auch der Juniorchef des Getreideunternehmens Weil auf, der im Roman Dr. Weinberg heißt. »Die Multimillionen ließen die Gesellschaft über seinen Radikalismus lächeln«, hieß es bei Hesse, und jeder, der das las, dachte automatisch an Felix Weil. Obwohl sein Roman prall gefüllt war mit Detailwissen über die Verhältnisse in der deutschen Kolonie von Buenos Aires, war es Hesses Beobachtungsschärfe entgangen, dass Felix Weil in Buenos Aires unter dem Decknamen ›Lucio‹49 oder auch ›Beatus Lucio‹50 ein Doppelleben führte. Was im deutschen Klub keiner wusste oder vielmehr wissen durfte: Der Juniorchef von Hermanos Weil war Grigorij Sinowjews Mann in Argentinien. Seine Akte ist unter der Nummer 495-190-97 im russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte (RGASPI) zu finden.51 Zwischen dem 12. und 17. Oktober 1920 hatte der damalige Komintern-Chef Sinowjew – von der Parteilinken als Redner eingeladen – den Parteitag der USPD in Halle besucht, auf dem der Zerfall der 1917 von der SPD abgespaltenen Partei begann. Viele Mitglieder gingen zurück in die SPD, während andere sich der 1918 gegründeten kommunistischen KPD anschlossen. Vor seiner Abreise nach Argentinien schien sich Felix Weil dort in Halle mit Sinowjew getroffen zu haben. Zumindest war er für seine Argentinien-Reise, zu der er laut Melderegister-Auszug nach seiner Abmeldung vom Wohnort Frankfurt am 18. Oktober 1920 aufbrach, von Sinowjew mit allen Vollmachten eines Komintern-Delegierten ausgestattet worden.52 Sinowjew brauchte einen zuverlässigen Analysten der Positionen in jenen argentinischen Parteien und Gewerkschaften, die sich um Aufnahme in die III. Internationale beworben hatten. Aus Felix Weils teilnehmender Beobachtung ging der bereits erwähnte Aufsatz über die Arbeiterbewegung in Argentinien hervor, eine auch unter wissenschaftlichen und historischen Gesichtspunkten interessante Übersicht über Geschichte, Ideologie und Programmatik der sich bewerbenden Parteien und Gewerkschaftsorganisationen. In einem internen Bericht an Sinowjew bescheinigte Felix Weil der Kommunistischen Partei Argentiniens (PCA) schon Anfang 1921 eine »zweifellos kommunistische« Orientierung.53 Dass die Aufnahme der argentinischen Kommunisten trotzdem noch bis August 1921 hinausgezögert wurde, lag daran, dass auch einige von russischen Emigranten dominierte Gewerkschaften um die Gunst Moskaus buhlten. Anders als die politische Linke Argentiniens wurzelten diese syndikalistischen Bewegungen Argentiniens historisch weder in der europäischen Sozialdemokratie noch in der Arbeiterbewegung. Wie von Felix Weil in seinem Aufsatz über die argentinische Arbeiterbewegung erwähnt, scheiterten in einem jungen Einwanderungsland wie Argentinien Gewerkschaftsstreiks nämlich schon daran, dass sich unter den frisch im Land eintreffenden Arbeitern stets genug Streikbrecher fanden. Anstelle von Streiks entschieden sich die gewerkschaftlich organisierten argentinischen Arbeiter deshalb für Sabotage- und Zerstörungsakte, die ihrer Ansicht nach effektiver waren. Nur entstand auf diese Weise keine politisch bewusste Gewerkschaftsbewegung. Erst infolge der revolutionären Umwälzungen in Russland bildeten sich innerhalb der argentinischen Gewerkschaften kommunistische Strömungen heraus. Hierbei waren vor allem russischstämmige Arbeiter die treibenden Kräfte. Die von ihnen ins Leben gerufenen revolutionär gesinnten Gewerkschaften wie die russische FORSA agitierten bald auch in Chile, Brasilien und Paraguay.54 Dass die Moskauer Führung der Komintern lieber mit diesen russischstämmigen Gewerkschaftsdelegierten, die nach der russischen Oktoberrevolution in Argentinien auf den bolschewistischen Zug aufgesprungen waren, als mit Delegierten der politischen Linken kooperierte, die in der Tradition der europäischen Arbeiterbewegung standen, sorgte bei den argentinischen Kommunisten für Verstimmung.55 Keiner dieser russischstämmigen Delegierten, die Moskau zu Instrukteuren ausbildete, gehörte der Parteiführung der PCA an. Felix Weil warnte Sinowjew davor, die Bedeutung der russischen Emigranten für die kommunistische Bewegung Argentiniens zu überschätzen. Anders als die russische Winterweizensaat, mit der die Getreidefarmer in der argentinischen Pampa im 19. Jahrhundert gute Ergebnisse erzielt hatten, schaffe es die aus Moskau importierte kommunistische Propaganda nicht, die argentinische Wirklichkeit zu befruchten. Die russischen Instrukteure plusterten sich zu ›argentinischen Lenins‹ auf, die sich ständig bei der Führung in Moskau über den nachlässigen Umgang der Kommunistischen Partei Argentiniens mit der bolschewistischen Literatur beschwerten.56 Nicht ein Buch sei übersetzt und publiziert worden. Felix Weil nahm seine kommunistischen Landsleute in Schutz und machte Sinowjew auf ein paar Besonderheiten aufmerksam, die speziell argentinisch waren und propagandistischen Einfallsreichtum erforderten: die unpolitische Einstellung der argentinischen Arbeiter, ihr Desinteresse an Versammlungen und das weit verbreitete Analphabetentum. Die bolschewistische Literatur, die die ›argentinischen Lenins‹ unbedingt ins Spanische übersetzt haben wollten, könnten die Arbeiter gar nicht lesen. Felix Weil empfahl Sinowjew stattdessen ›das Picknick‹ als geeignetes Agitationsmittel. Bei Musik, Tanz und Vesper im Freien könnte ganz nebenbei politische Überzeugungsarbeit geleistet werden. Auf diese Weise ließe sich mehr erreichen als mit importierter und schwer verständlicher ideologischer Kost aus Russland.57
Am Ende seines Argentinien-Jahrs übergab Felix Weil den Chefsessel im Kontor der Firma an Jorge Valois, der schon seit vielen Jahren Direktor der Filiale von Hermanos Weil in Rosario und als solcher ein besonders erfahrener Kaufmann war. Denn Rosario war Industrie- und Handelszentrum, ganz im Nordosten der Pampaprovinz Santa Fe gelegen, mit einem für den Getreideexport außerordentlich wichtigen Binnenhafen am Río Paraná, aus dem Getreide in alle Welt verschifft wurde.
Hermann Weils Sohn hatte sein Versprechen eingelöst und sich ein Jahr lang bemüht, der ihm zugedachten Rolle des künftigen Firmenlenkers gerecht zu werden. Doch Ende 1921 kehrte er mit seiner Frau nach Frankfurt zurück und erklärte seinem Vater, es sei ein Fehler gewesen, ihn zum Studium zu überreden. Dadurch hätte er die Lust am Getreidehandel verloren. »Über meinen Abscheu vor den unmoralischen Geschäftsgewohnheiten sprach ich nicht«, gab Felix Weil in seinen Aufzeichnungen zu Protokoll. Denn er kannte seinen Vater zu gut, um nicht genau zu wissen, wo sich das Gespräch mit ihm lohnte und wo nicht. Soweit es die Geschäftspraktiken im Getreidehandel betrafen, war er sich sicher: »Er hätte gar nicht verstanden, wieso ›normale‹ Gepflogenheiten mich so negativ beeindruckten.«58