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2 Stunden später saß Angie in einem Strandcafé in Las Americas. Nach ihrem Abgang hatte sie als Erstes einen Bankautomaten gesucht und gefunden.

Sie tippte die Geheimnummer der Kreditkarte ein, dann den gewünschten Betrag und wartete. Freundlich teilte ihr der Monitor der Maschine nach einem kurzen Rattern mit: Ihre Anforderung wird bearbeitet.

Es dauerte ungefähr zehn Sekunden, bis zuerst die Kreditkarte – ausgestellt auf Angela Engel – und schließlich die gewünschten 200 Euro aus einem anderen Schlitz blitzten.

Dermaßen ausgerüstet machte sich Angie auf die Suche nach einem Café, das um diese frühe Morgenstunde bereits geöffnet hatte. Später, nachdem sie im Laptop nach entsprechenden Hinweisen geforscht hatte, würde sie sich ein Quartier suchen. Es musste schließlich alles seine Richtigkeit haben! Angela Engel hatte ein »normales« und wenigstens einigermaßen bürgerliches Leben während ihrer Recherchen zu führen. Schlafen am Strand war da nicht drin, obwohl Angie das gefallen hätte.

Das Sugar-Café war winzig und gehörte einem älteren englischen Pärchen, das beschlossen hatte, seine magere Pension besser in der Sonne auszugeben. Ein bisschen dazuverdienen konnte nicht schaden, also hatten die beiden die Idee mit dem Sonnenaufgang-Kaffeeausschank in die Tat umgesetzt. Schließlich gab es auch unter Touristen Frühaufsteher. Die einheimischen Barbesitzer warteten mindestens bis zehn Uhr mit dem Aufsperren, bis dahin aber hatten Maggie und Bob ihr Tagesgeschäft bereits gemacht und konnten schließen.

Angie ergatterte das letzte freie der fünf Bistrotischchen, um das sich zwei Korbstühle malerisch drapierten.

Unter den anderen Feriengästen fiel sie hauptsächlich auf, weil sie alleine unterwegs war. Die restlichen Gäste bestanden aus vier mehr oder weniger mittelalten Pärchen, die mehr oder weniger schlecht gelaunt und einander anschweigend den ersten Milchkaffee dieses zauberhaften neuen Inseltages schlürften.

Angie setzte rasch die modische Sonnenbrille auf, die sie nach einigem Kramen im Hermes-Reisetäschchen gefunden hatte. Die Gläser waren dunkel genug, niemand würde sich von ihr angestarrt fühlen. Ein Weilchen beobachtete sie die Paare. Wobei ihr seltsam mitleidig ums Herz wurde.

Herrje! Die sahen nicht gerade so aus, als hätten sie eben eine heiße, leidenschaftliche Urlaubs-Inselnacht hinter sich gebracht. Allesamt nicht. Eher das Gegenteil!

Angie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als wären diese bedauernswerten Leutchen allesamt am liebsten alleine. Mit sich und der restlichen Welt. Aber bloß –um Himmels willen – nicht mit dem eigenen Partner.

Lediglich Maggie und Bob schienen ziemlich glücklich zu sein. Sie lachten und scherzten miteinander hinten in der winzigen Küche, wo Bob den Kaffee braute, den Maggie anschließend zu den Gästen rausbrachte.

»Nicht traurig sein«, sagte sie jetzt zu Angie und stellte ihr eine dampfende Tasse vor die Nase. »Es kommt bald schon wieder ein Neuer. Sie werden sehen. Bei so einem hübschen Ding wie Ihnen. Also bitte. Ich bin auch zweimal geschieden, war jedes Mal eine schlimme Zeit hinterher. Da bin ich dann mutterseelenalleine in Urlaub gefahren. Aber irgendwann habe ich Bob abgekriegt, und jetzt bin ich glücklich.«

Und schon watschelte Maggie eifrig wieder davon, weil Bob nach ihr gerufen hatte.

Angie grinste sich eins und machte sich dann in Gedanken schon mal eine Notiz, die eher einer mathematischen Formel glich.

4 x unglücklich + 1 x glücklich

allerdings erst nach 2 x gescheitert

Vielleicht ließ sich diese Beobachtung im Laufe der Recherchen weiter verifizieren und in eine Art statistische Tabelle umwandeln. Diese wiederum könnte dann nach »oben« gemailt werden, anstelle eines dieser unangenehmen und sicherlich zeitraubenden Lageberichte. Mit Statistik ließen sich schließlich die wildesten Spekulationen beweisen, wenn man nur clever genug vorging.

Ein Viertelsekündchen lang blitzte die Erinnerung an das morgendliche Techtelmechtel mit Allister wieder auf:

Er war süß gewesen! Knackig, und vor allem ein guter Liebhaber. Wie es wohl wäre, mit so einem länger zusammen zu sein?

Kaum war der Gedanke gedacht, schon schüttelte Angie über sich selbst entsetzt den Kopf, dass die Locken nur so flogen.

Himmel, wo kam denn dieser Unsinn plötzlich her?

Länger zusammen sein! Das würde doch wohl zwangsläufig bedeuten, Gefühle zu entwickeln und zu investieren.

Alles, bloß das nicht!

Mal ganz abgesehen davon, dass sie sich nicht verlieben durfte; es würde den Recherche-Trip beenden, ganz automatisch.

Reiß dich zusammen, Angie. Schon der Anflug einer solchen Idee ist geradezu abartig.

Und dann, wie hatte Angela es damals in jener Karibiknacht so schön und treffend, wenn auch nur in Gedanken, formuliert: Ein echter Quickie hat voller Hochspannung und Spontaneität, der Partner möglichst geheimnisvoll und fremd zu sein, damit die Lust sich so richtig auswachsen kann.

Eben! Alle Bedingungen waren heute Morgen erfüllt gewesen, ganz klar.

Und weil alles so bilderbuchmäßig und traumhaft abgelaufen war, stellte sich selbstverständlich die Frage nach einer etwaigen Wiederholung. Das war nur – ähm –menschlich, nicht wahr?

Aber lag nicht gerade darin auch die Gefahr begründet?

Wiederholungen hatten tatsächlich etwas Gefährliches an sich: Die Gefahr bestand darin,

a) entweder enttäuscht

b) oder bei mehrmaligen Wiederholungen exponentiell ansteigend sogar gelangweilt zu werden.

Durch Gewöhnung an immer dasselbe Gute gelangweilt. Auch das gab es, oh ja!

Angie beschloss, diese wahrhaft bahnbrechende Erkenntnis augenblicklich schriftlich zu fixieren. Derlei Einsichten hatten immerhin die ärgerliche Tendenz, nicht allzu lange im menschlichen Gehirn gespeichert zu bleiben. Und über so einen unzuverlässigen Apparat verfügte sie nun mal im Moment. Außer – ach ja … Sie angelte den Laptop aus der Hermes-Tasche.

Klar war ihr eigentlich verboten worden, das Ding in der Öffentlichkeit zu benutzen. Aber dabei handelte es sich ja nur um eine bloße Schutzmaßnahme. Angie glaubte in diesem Urlauber-Umfeld locker darüber hinwegsehen zu können. Es war kaum zu vermuten, dass unter den biederen Gästen im Sugar-Café ein Computerfreak sein Unwesen trieb. Der dann auch noch clever genug wäre, hinter Angies tragbarer Computerkiste ein himmlisches Spezialmodem zu vermuten.

Der Laptop bootete leise surrend hoch, und sie gab das Passwort ein. Angie legte eine neue Datei mit dem Namen Glücksfaktor an und gab dann erst die kurze Formel ein, dazu ihre Idee vom Wiederholungsfaktor,

So, das war geschafft. Jetzt noch rasch die Datei speichern, dann auf SCHLIESSEN klicken.

Angie kam sich in diesem Augenblick im Sugar-Café ungeheuer professionell vor.

Ganz kurz tauchte eine Erinnerung auf: Eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und im Business-Kostüm zündet sich in einem Großstadtcafé eine Zigarette an. Ihr ebenfalls dunkelhaariger und ziemlich attraktiver Begleiter schüttelt lachend den Kopf und deutet auf den aufgeklappten Laptop vor ihnen auf dem Tisch. Die Frau lacht zurück und drückt dann rasch die Zigarette im Aschenbecher aus …

Schon war das Bild wieder verschwunden, sosehr Angie sich auch anstrengte, es festzuhalten und tiefer zu schürfen. Na, dann eben nicht.

Sie seufzte leise vor Enttäuschung, aber dann fiel ihr ein: Es waren ja zumindest Auszüge aus Angelas gesammelten Tagebüchern auf dem Laptop gespeichert.

Vielleicht hatte sie sich nur wieder in die Bewusstseinsebene ihrer »Doppelgängerin« eingeklinkt? Vielleicht war die Schwarzhaarige eine Freundin Angelas oder stand zumindest in irgendeiner engeren Verbindung zu ihr?

Angie rief die Datei Angela Engels Tagebuch 1 auf und surfte ein wenig darin herum. Bis ihr Blick von einem Satzfetzen festgehalten wurde: »karibisches Abenteuer«.

Ach nee, dachte Angie und begann interessiert zu lesen. Den größten Teil der Story kannte sie in der Tat bereits, bis zu der Stelle, wo Angela und der Fremde sich unter den leise raschelnden Palmwedeln am Strand noch einmal lieben.

Die Geschichte ging aber noch weiter. Angela schrieb:

Als ich viel später ins Hotelzimmer zurückschlüpfte, war Berthold wach.

»Wo warst du?«, erkundigte er sich gähnend.

»Schwimmen!«, sagte ich. Was schließlich nicht gelogen war. »Das Wasser ist herrlich.« Wieder die Wahrheit, nichts als die nackte Wahrheit. Ich war wahrhaftig stolz auf mich!

»Du entwickelst neue Neigungen, wie?« Berthold streckte die Hand nach mir aus.

Ich versuchte, seinem Griff zu entkommen. »Nicht, Berthold! Ich brauche jetzt eine heiße Dusche und dann …«

Er ließ mich nicht ausreden. »Gleich, mein Schatz, gleich. Die Dusche nehmen wir hinterher gemeinsam!«, schnaufte er, während er mit der rechten Hand in mein feuchtes Haar griff und versuchte, meinen Hals zu küssen.

Ich bog instinktiv den Kopf zur Seite, und er steckte seine Nase dafür in meine Haare.

»Übrigens habe ich morgen gegen Mittag einen Termin mit einem unserer amerikanischen Geschäftspartner«, nuschelte er.

Ich wunderte mich ein bisschen. »Was! Im Urlaub?«

»Ich hatte vergessen, es dir zu erzählen. Es war kurz vor unserer Abreise, als er in der Firma anrief. Er erwähnte nebenbei, dass er einige Tage auf Antigua verbringen werde. Da habe ich natürlich nachgefragt. Alles reiner Zufall, Schatz. Er war übrigens auch der Meinung, unter diesen Umständen sei ein Treffen, selbst im Urlaub, mehr als gerechtfertigt. Wir kennen uns ja bis jetzt nur vom Telefon. Du bist doch nicht böse, Engelchen? Es dauert auch nicht lange!«

»Nein, ich bin nicht böse«, versicherte ich rasch und versuchte erneut, mich Bertholds Klammergriff zu entziehen.

Leider vergeblich.

Er zog mich zu sich aufs Bett und bedeckte mein Gesicht und meinen Hals mit diesen ekligen Schlabberküssen.

»Berthold!«, japste ich verzweifelt. »Du benimmst dich wie der Bernhardiner meiner Eltern, also ehrlich!«

Ich hatte ihn schon so oft gebeten, darauf Rücksicht zu nehmen, was ICH mochte: nämlich harte, trockene Küsse von heißen Männerlippen. Keine feucht-schlabberigen und vor allem kalte. Bäh!

Aber natürlich hörte Berthold gar nicht zu, er war jetzt nämlich richtig in Fahrt. Deutlich konnte ich seine ausnahmsweise mal brettharte Latte spüren, die gegen meinen Bauch klatschte.

Da begriff ich, dass er die Gunst der Stunde nutzen musste. Koste es, was es wolle. Immerhin passierte ihm das nicht so oft! Er war ja zu Hause immer sooo gestresst, der Arme.

Er warf mich – reichlich brutal für meinen Geschmack auf den Rücken und versuchte, meine Beine zu grätschen.

Natürlich stellte ich mich ziemlich an, immerhin tropfte mein Möschen noch vom Saft des Fremden. Das Allerletzte, was ich jetzt brauchte, war eine zusätzliche Ladung von Bertholds Sperma.

Du lieber Himmel! Sollte ich gar hinterher in anderen Umständen schweben, ich wüsste ja noch nicht mal, VON WEM!!!

Tja, und dann passierte – zum Glück!, zu meinem Glück, fairerweise! – wieder einmal das, was Berthold von Anfang an ziemlich häufig (zu häufig, wie ich auch sagen muss) passiert war: Es ging nämlich die Post ab bei ihm. Volles Kanonenrohr! Über meine Oberschenkel und den Unterbauch. Es klebte, natürlich. Aber das war mir dieses Mal vor lauter Erleichterung völlig egal. Wozu gab es schließlich Duschen.

»Auwauweia, Schätzle«, sagte Berthold. »’tschuldige, du! Das tut mir aber jetzt echt leid.«

»Mir nicht!«, rief ich fröhlich. »Mach dir nichts draus, Berthold, kann doch mal passieren.« Mit diesen Worten sprang ich rasch auf und aus dem Bett.

»Ich gehe du-huhu-schen!«, trällerte ich noch, ehe ich die Tür des Badezimmers sanft hinter mir ins Schloss gleiten ließ.

Bis ich den etwas dürftigen Wasserstrahl endlich richtig eingestellt hatte, hörte ich aus dem Zimmer deutlich Bertholds Schnarchen dringen.

Am nächsten Tag, gegen Mittag, trafen wir uns dann mit seinem amerikanischen Kollegen in einem Restaurant schräg gegenüber vom Hotel. Praktischerweise trug der Kollege, außer einem Paar leuchtend blauer Augen, auch ein Namensschildchen – Dr. Adams/New York – am offenen Hemdkragen spazieren.

Berthold stellte uns natürlich trotzdem höflich vor: »Angela, das ist Mark Adams. Mark – meine Freundin.«

Als Mark meine Hand nahm und dabei mit seinem Zeigefinger sanft deren Innenfläche streichelte, waren die Wonnen der vergangenen Nacht plötzlich wieder ganz gegenwärtig.

»Jetzt weiß ich wenigstens deinen Namen«, sprach ich leise zu mir selbst und amüsierte mich klammheimlich ein bisschen, ehe ich laut und vernehmlich sagte: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.«

Mark grinste frech. »Ich freue mich auch sehr. Wirklich. Wie war noch mal Ihr Name? Angela? Wirklich hübsch.«

»Das ist ja ein Ding!«, murmelte Angie leise im Sugar-Café vor sich hin. Angela Engel hatte es offenbar faustdick hinter den Ohren gehabt. Die »oben« wussten anscheinend wirklich ganz genau, warum sie Angie ausgerechnet auf diese heiße Spur angesetzt hatten.

»Mal sehen, wie alt du damals warst, Schätzchen.«

Angie sprang per Mausklick um zwei Seiten zurück, bis sie den Datumseintrag fand: 10. April ’97.

Demnach musste Angela damals 26 oder 27 gewesen sein. Jung genug also, um gewisse Dummheiten zu begehen, aber gleichzeitig auch schon alt genug, um zu wissen, warum!

Angie beschloss, ein wenig weiter in der Zeit zurückzugehen. In einem Eintrag vom Oktober 96 wurde sie fündig.

14. Oktober 96 Habe heute im Café an der Uni zufällig Berthold Aschenbrenner getroffen. Er hat mittlerweile natürlich längst seinen Dr. rer. nat. in der Tasche und nach einigen Jahren als Unidozent auch endlich den ersehnten Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft ergattert. Irgendwas im Ölgeschäft, aber auch andere Bodenschätze. Habe nicht völlig verstanden, was er mir alles erzählt hat. Diese Dinge haben mich noch nie sehr interessiert, aber Berthold ist ganz hin und weg vor Begeisterung. Vor allem über sein Gehalt und seine Aufstiegschancen. Auslandsaufenthalte inbegriffen.

Ich habe natürlich so getan, als würde ich mich mit ihm freuen.

Er hat gefragt, was ich denn jetzt so mache und worüber meine Diplomarbeit in Chemie denn ginge. Oder ob ich gar schon längst fertig sei damit.

»Welche Diplomarbeit?«, fragte ich kess zurück.

Zuerst stutzte, aber dann lachte er. »Sag nicht, du hast das Studium abgebrochen, Angela?«

»Nicht offiziell. Mein Vater würde einen Herzinfarkt kriegen.«

»Was machst du dann jetzt so, wenn ich fragen darf?«

Ich sagte es ihm. Er lachte wieder herzlich.

»Aber Mädchen, von der Kunst kann doch keiner leben!« Und dann: »Und was macht die Liebe?«

»Ach«, sagte ich, »nichts Besonderes, im Moment wenigstens. Ich verdiene ein ganz nettes Geld nebenbei als Aktmodell an der Kunstakademie. Damit werde ich erneut eine Weile auf Reisen gehen. Ich war schon in Indien, Thailand und Argentinien. Immer mindestens für ein halbes Jahr. Auf die Weise bekommt man wenigstens von einem Land wirklich was mit. Mal sehen, was mich als nächstes reizt.«

»Aha«, sagte Berthold. »Interessant. Ich glaube, ich beneide dich ein bisschen. Ehrlich. Du bist so mutig.«

»Ach?«

»Ja, schon. Schau mich an, ich gehe brav den Weg, der mir von der Wiege an vorgezeichnet war«

»Wer hat ihn dir denn vorgezeichnet?« Es interessierte mich wirklich!

»Na, mein Elternhaus. Die Gesellschaft«, sagte Berthold stolz und voll ehrlicher Überzeugung. »Zuerst kam das Studium, dann der Doktortitel und die akademische Laufbahn. Jetzt ist die Karriere dran.«

»Und anschließend Heirat, Häusle bauen und Kinderchen machen«, führte ich die Aufzählung munter fort.

Ich glaube, ich klang ein bisschen spöttisch dabei. Aber er lachte bloß erneut.

Dann fragte er unvermittelt, ob ich nächsten Samstag schon was vorhätte. Und falls nein, ob ich dann mit ihm ausgehen möchte. In ein erstklassiges Restaurant.

»Klar«, sagte ich.

14. Oktober, spät in der Nacht Habe noch mal nachgedacht: Eigentlich ist es eine Schnapsidee, mit Berthold auszugehen. Er wird garantiert versuchen, mich endlich ins Bett zu kriegen. Das wollte er ja damals schon, vor zig Jahren, als ich noch verzweifelt versuchte, meine ersten Scheine in anorganischer Chemie zu machen. Er hat sich bloß nicht getraut, immerhin war er als Saal-Assistent für uns Erstsemester so etwas wie ein verlängerter Arm des Lehrkörpers.

Hatte wohl Angst, sein Doktorvater könnte Wind von der Sache bekommen und ihn aufs akademische Abstellgleis schieben. Und das wollte er dann doch nicht riskieren, der gute Berthold. Nicht einmal wegen mir.

Immerhin aber hat er mir damals geholfen, also bin ich auch immer nett zu ihm gewesen.

Wenn ich noch an diesen verdammten Kristall denke, den wir damals züchten sollten als erste Laborübung!

Alle meine Studienkollegen erledigten das mit links: so und so viel Gramm eines bestimmten Salzes in so und so viel Milliliter Wasser kippen, die Brühe bei Raumtemperatur durchquirlen, anschließend einen seidenen Faden als Attraktor reinhängen, stehen lassen und abwarten.

Nach einigen Tagen sollte sich angeblich unvermeidlich ein ebenso wunderschöner wie hexagonaler oder was-auch-immer-für-eine-Form-habender Kristall am Ende des Fadens gebildet haben.

Tja, bei meinen Mit-Studenten klappte es auch, genau wie im »Labor-Kochbuch« beschrieben.

Bei mir dagegen – Pustekuchen!

Ich wiederholte die lästige Übung noch Dutzende Male, bis ich völlig mit den Nerven am Ende war.

Es bildete sich aber entweder so gut wie fast gar nichts an meinen Fadenenden. Oder etwas abgrundtief Hässliches, das aussah wie winzige abgetriebene Mäuseföten.

Eines Tages heulte ich dann beim Mittagessen in der Mensa in mein Suppentöpfchen.

Berthold kam zufällig mit seinem Tablett an meinem Tisch in einer zugigen Ecke vorbei, wo ich ganz alleine saß und mit meinem jungen Leben haderte. (Und innerlich auch mit meinem Vater, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, nur eine akademisch-naturwissenschaftlich ausgebildete Tochter als legitimes Kind anerkennen zu wollen.)

Berthold setzte sich also zu mir und kam gleich zur Sache:

»Es ist wegen dem Kristall, stimmt’s?«

Ich nickte und löffelte stumm meine dünne Mensa-Gemüsesuppe.

»Hm«, sagte Berthold. »Ich kann Ihnen auch nicht sagen, woran es liegt. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Normalerweise ist es das Einfachste von der Welt, diese Art von Kristall zu züchten. Jedes Kind kriegt das hin.«

»Oh sicher«, sagte ich bitter. »Das erzählt mir jeder. Vielleicht sollte man diese angebliche Tatsache aber auch dem Kristall verklickern. Der meine scheint nämlich nichts davon zu wissen.«

»Vielleicht liegt es an der Einstellung!«, sagte Berthold. Unter dem Tisch berührten sich unsere Knie. Ich nahm augenblicklich meine Beine zur Seite.

»Geniale Idee. Mein Kristall hat garantiert die falsche Einstellung!«

Jetzt lachte Berthold herzlich. Dann beugte er sich vor und legte tatsächlich seine Hand auf meine: »Nein, Angela. Ich meinte eigentlich deine Einstellung!«

Er duzte mich plötzlich und zum ersten Mal! Bei mir schrillten in diesem Moment natürlich sämtliche Alarmglocken. Außerdem sah ich definitiv meine Chance gekommen.

Ja, okay, ich gebe es zu – ich beschloss in dem Augenblick, die Eva zu geben und einen Apfel gegen einen Kristall zu tauschen.

Selbst auf die Gefahr hin, dafür nie wieder ins Paradies gelassen zu werden.

»Was soll ich jetzt bloß machen?«, seufzte ich abgrundtief und schenkte Berthold dabei einen tiefen Blick aus Kulleraugen. »Wenn ich den Erstsemester-Schein nicht kriege, kann ich das Studium gleich hinwerfen. Mein Daddy bringt mich um.«

Berthold erwiderte meinen tiefen Blick: »Das kenne ich! Ich komme schließlich auch aus einem stockkonservativen Elternhaus. Nur als fertiger Akademiker kannst du bei meinen Erzeugern punkten. Weißt du was? Ich züchte dir einen Kristall. Als kleines Geschenk anstelle eines Blumenstraußes.«

»Das kann ich eigentlich nicht annehmen«, sagte ich und fügte rasch hinzu: »Das vergesse ich Ihnen nie, ehrlich.«

Ich duzte ihn konsequent nicht zurück, schon aus Prinzip nicht. Außerdem hatte ich mich bereits weit genug aus dem Fenster gelehnt, wie ich fand.

Und so kam es dann, dass ich meinen Kristall – einen wirklich wunderschönen, dicken und besonders großen und außerdem hexagonalen – doch noch kriegte. Und den Erstsemester-Schein in anorganischer Chemie in der Folge auch.

Natürlich hätte ich mir damals in der Mensa schon ausrechnen können, dass ich irgendwann im Leben mal den Preis für meine frivole Tat zu berappen haben würde.

Jetzt scheint es so weit zu sein, jetzt soll ich wohl Dr. Berthold Aschenbrenner abkriegen!

Und irgendwie fehlt mir auch hierzu die richtige Einstellung, fürchte ich.

Werde ihm morgen eine SMS schicken: »Kann leider nicht am Samstag. Übe mich mal wieder im Kristallzüchten. Danke für alles. Deine A.«

Oder eine wenigstens ähnlich glaubhaft klingende Ausrede. Mir wird schon was einfallen.

24. Oktober 96 Tja, mir ist leider nicht genug eingefallen.

Am vergangenen Samstag war der Akku meines Handys völlig hinüber. Es hatte sich schon ein Weilchen angekündigt, aber ich kaufe ungern neue Technik ein. Ich warte damit immer bis zum letzten Moment, bis das alte Teil definitiv hinüber ist. Es ist mir einfach zu lästig, dauernd neue Bedienungsanleitungen zu lesen und dann trotzdem noch stundenlang herumtüfteln zu müssen, bis die teure Neuanschaffung endlich einigermaßen funktioniert.

Am schlimmsten ist es ja mit Computern, aber ein neues Handy kann eine wie mich auch bereits zur Verzweiflung treiben. Ich sage nur – Kristallzüchten! Ich bin einfach für solche Sachen nicht geboren.

Außerdem ist es ja doch so: Wenn ich meine Wäsche waschen will, erwarte ich von der Waschmaschine, dass sie einfach zu bedienen ist und einwandfrei viele Jahre lang funktioniert, sprich die Wäsche wäscht. Ohne dass ich selbst etwas von der Funktionsweise oder gar dem inneren Aufbau meiner Miele zu wissen brauche.

Bloß bei diesen Scheißcomputern – und Scheißhandys natürlich auch – braucht man heutzutage einen Ingenieursgrad, zumindest bei der »Inbetriebnahme«. Aber auch zwischendurch. Und dann soll man sich noch PIN-Nummern, Passwörter und was weiß ich noch alles merken.

Also jedenfalls war mein altes Handy hinüber und ein neues noch nicht gekauft.

Deshalb rief ich Berthold von einer Telefonzelle aus an. (Ich wollte vermeiden, dass er hinterher meinen Privatanschluss in seinem Handy gespeichert hatte.)

Um es kurz zu machen: Er lachte sich halb kaputt über die Story von meinen angeblichen neuerlichen Kristallzuchtversuchen!

In der Folge gelang es ihm dann, mich doch noch zu überreden, mit ihm auszugehen.

Auch mein Einwand, ich müsste dringend in der Galerie vorbei, wo einige meiner eigenen Bilder ausgestellt seien, half nicht.

»Wunderbar, da begleite ich dich doch glatt!«, rief Berthold begeistert. »Ich bin ja sooo gespannt auf deine Arbeiten.«

Jetzt hatte ich den Salat.

Zum Glück besitzt meine alte Schulfreundin Karin tatsächlich eine winzige Galerie in Haidhausen, wo sie allerdings meistens nur irgendwelchen Silberschmuck aus Mexiko anbietet.

Ich rief sie an, und sie sagte auch sofort ja.

Also karrte ich am Nachmittag noch rasch einige Bilder, die ich sonst unter meinem Bett lagere, nach Haidhausen. Karin und ich mussten zuerst den halben Laden umräumen, um genug Platz dafür zu finden.

Meine alte Schulfreundin war auch ganz begeistert, weil sie dadurch endlich die Gelegenheit bekam, den seit Jahren herumliegenden Silberkram wieder einmal – und mit meiner Hilfe – gründlichst durchzuputzen.

Als ich nach Hause zurückkehrte, war ich jedenfalls staubig und schmutzig von Kopf bis Fuß und außerdem auch noch hundemüde.

Ich legte mich ein Weilchen hin. Als ich aufwachte, war es fast schon an der Zeit, mich mit Berthold zu treffen.

Besonders zurechtmachen konnte ich mich also nicht mehr, aber das hatte ich ohnehin nicht vorgehabt. Berthold war von jeher nicht die Sorte Mann gewesen, die mich vom Sockel haute. Dafür war er aber ein erstklassiger Kristallzüchter. Ist ja auch was Schönes.

Berthold bestaunte also zunächst meine Bilder in Karins Laden – »Das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut, Angela! Alle Achtung!« , ehe er mich wie versprochen zum Essen ausführte.

Übrigens lud er netterweise auch Karin ein, aber die sagte, sie könne leider nicht, weil ihr neuer Lover dieses Wochenende Zeit für sie habe, seine Frau sei nämlich mit den Kindern zu ihren Eltern gefahren.

»Ach so«, sagte Berthold und räusperte sich jovial. »Das verstehe ich natürlich. Ich hoffe, es wird ein schönes Wochenende.«

Ich konnte an Karins Gesichtsausdruck ablesen, dass auch sie sich nicht völlig sicher war, was Berthold damit eigentlich ausdrücken wollte.

Das Essen war übrigens vorzüglich, wir tranken auch eine Menge Rotwein dazu.

Und so kam es, dass ich schließlich doch anschließend in Dr. Berthold Aschenbrenners Kiste landete.

Das war auch gar nicht so schlimm, weil er nämlich bereits abfeuerte, ehe er richtig einlochen konnte!

»Auwauweia, Schätzle!«, seufzte Berthold. »’tschuldige, du! Das tut mir jetzt aber echt leid, Engelchen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und begann leise zu schnarchen.

Wir haben es mittlerweile seit letztem Samstag noch zweimal versucht.

Das Ergebnis ist fifty-fifty.

Einmal ging es, aber nicht allzu lange. Er wurde jedenfalls Erster im Ziel. Na ja … Und das andere Mal war’s wie beim allerersten Mal. Vorzeitiger Samenerguss. Man gönnt sich ja sonst nichts, Schätzle.

Ich muss sagen, ich mag Berthold mittlerweile ganz gerne. Lieber, als ich das anfangs vermutet hätte.

Es ist so angenehm, mit einem Mann auszugehen, der es sich leisten kann, die Restaurantrechnung zu bezahlen, ohne einen einzigen prüfenden Blick darauf geworfen zu haben.

Außerdem hat er mich eines schönen Tages gefragt, ob meine Malutensilien teuer seien. Als ich daraufhin ehrlich »Ja« geseufzt habe, hat er mich ins nächste Geschäft für Künstlerbedarf geschleppt und so lange darauf beharrt, bis ich nachgab, mir alles Nötige zusammensuchte und ihm an der Kasse den Vortritt ließ.

Ich glaube, in dem Moment habe ich mich ein bisschen in ihn verliebt!

Obwohl mir unser kleines Problem mit dem Sex schon im Magen liegt, das muss ich auch sagen.

Ich habe versucht, mich mit meiner Mutter darüber auszusprechen. Sie hat mir auch aufmerksam zugehört, was sonst nicht immer ihre Art ist.

Aber dann hat sie den guten Eindruck wieder kaputtgemacht, indem sie mir ernsthaft erklärte: »Angela, man muss im Leben auch mal vernünftig werden. Und du schon zweimal, mit deinen Flausen vom freien Künstlerinnendasein im Kopf! Halte dir diesen Mann warm, der hat was.« – Sie meinte damit NICHT sein Geld. Jedenfalls nicht in erster Linie.

Hinterher habe ich mich selbstverständlich schwarz geärgert, weil ich so blöd gewesen bin

1. meiner Mutter vor einem Jahr etwa zu gestehen, dass ich nur noch zum Schein an der Uni eingeschrieben sei, dafür nebenher aber eifrig Malerei und Bildhauerei studiere (während mein Vater immer noch glaubt, dass sein monatlicher kleiner Beitrag in die Chemie wandert!) und

2. ihr gerade eben von Bertholds Problemfeld erzählt zu haben.

Ich bin ja so was von dusselig, also ehrlich! Schließlich hätte ich wissen können, dass meine Mutter keinerlei Verständnis für mich aufbringen würde. Sie ist immerhin seit mehr als dreißig Jahren mit einem Mann wie meinem Vater verheiratet!

2. November 96 Berthold und ich hatten gestern – am Feiertag, der neblig, diesig und saukalt war, ein Tag, an dem man gerne mit dem Liebsten im Bett blieb und heiße Sachen anstellte, hahaha – ein ernstes, offenes Gespräch miteinander.

Mir war nämlich in der Nacht vorher nach einer halben Flasche Rotwein der Kragen geplatzt, was heißen soll, ich hatte meinen Frust ordentlich artikuliert!

Was wiederum heißen soll, ich habe Berthold in der Hitze des Gefechts einen Schlappschwanz geheißen.

Da er unbestritten ein hochintelligenter Mann ist, hat er natürlich sofort kapiert.

Traurig sagte er: »Du hast ja Recht, Engelchen. Ich bin dir auch nicht böse. Meine Performance ist wirklich nicht die beste.«

»Performance« sagte er auf Englisch! Allen Ernstes. Aber irgendwie traf der Ausdruck auch durchaus ins Schwarze.

Er wirkte so niedergeschlagen und schuldbewusst zugleich, dass sich mein Herz zusammenzog. Am liebsten hätte ich ihn ja jetzt in die Arme genommen und getröstet wie ein Kind.

Aber auf der anderen Seite war ich natürlich so … ernüchtert, wütend, enttäuscht. FRUSTRIERT. Jawoll.

Und das mir! Und das in unserem Alter, du lieber Himmel! Berthold ist doch erst 36!!!!

Wir sind dann bald, eng aneinandergekuschelt, eingeschlafen. Immerhin waren wir beide nicht ganz nüchtern, draußen heulte der Wind ums Haus, und es war eigentlich ganz schön. Auch ohne Orgasmus.

Am nächsten Morgen haben wir dann zusammen Frühstück gemacht und in der überheizten Küche lange geredet.

Berthold hat von seiner Zeit an der Uni gesprochen. Als er seine Doktorarbeit schrieb. Über den Umgang mit gefährlichen, krebserzeugenden organischen Stoffen. Benzol etwa.

Einige der Substanzen – soviel weiß ich auch noch aus meinen Chemiezeiten – können tatsächlich unter anderem die männliche Potenz (und nicht nur die!) beeinflussen. Negativ nämlich.

Berthold glaubt, dass dies bei ihm der Fall sei.

Wie der Zufall es will, habe ich dann heute Morgen in der Tageszeitung diesen Artikel gefunden. Im Wirtschaftsteil. Es ging um Lebensversicherungen. Eigentlich wollte ich das Ganze bloß überfliegen, aber dann blieb mein Blick an einer Stelle haften.

Wenn ich das Ganze richtig verstanden habe, ging es um Risikozulagen für bestimmte gefährdete Berufsgruppen.

Na ja, jedenfalls konnte ich dann schwarz auf weiß nachlesen: Die durchschnittliche allgemeine Lebenserwartung für Chemiker – insbesondere der organischen Richtung – liegt derzeit bei 58 Jahren. Nur, von der Warte der Lebensversicherer aus betrachtet, aber trotzdem …

Demnach also hätte der arme Berthold nur mehr 22 Jährchen vor sich, im Schnitt. Und die meisten davon noch nicht einmal im Vollbesitz seiner männlichen Kräfte, wie ich leider hinzufügen muss.

Ich habe auf den Schreck hin einer guten alten Freundin, die nach Teneriffa ausgewandert ist, eine E-Mail geschickt. Elke ist Heilpraktikerin und glaubt außerdem an Schamanen und deren Heilkünste.

Sie muss selbst gerade am Computer gesessen haben, jedenfalls kam ziemlich rasch eine Antwort herein.

»Mach dich nicht unglücklich, Mädchen, dieser Mann ist ohnehin nichts für dich«, schrieb Elke. »Die Sache mit der Chemie ist bloß eine faule Ausrede. Natürlich können organische Substanzen eine ganze Menge im Körper anrichten. Aber die Auswirkungen – inklusive Krebs – zeigen sich doch in den allermeisten Fällen erst Jahrzehnte später. Schlimm genug, aber wenn er jetzt mit 36 diese Probleme hat, muss die Lösung dafür woanders gesucht werden. Komm schon, Angela, das weißt du doch selbst, wenn du ehrlich bist. Und lass deine Mutter reden – Mütter wollen bloß, dass sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchen!«

Ich werde Elke ewig dankbar sein für ihre offenen Worte!

10. November 96 Berthold war beim Arzt und hat sich irgendein Mittelchen verschreiben lassen. Es wirkt auch zuverlässig, das Problem ist jetzt bloß, dass er unter der Wirkung zu einer fast schon schmerzhaften Dauererektion neigt.

Außerdem mag ich es gar nicht, wenn Berthold mir abends plötzlich – nach einem bedeutungsvollen Räuspern, das ich mittlerweile zu fürchten gelernt habe – mitteilt, er hätte vor einer Stunde etwa »seine Medizin« geschluckt.

Dann MUSS er nämlich, ob ich Lust habe oder nicht – wegen der Dauererektion nämlich …

Ich habe beschlossen, morgen früh eine weitere E-Mail an Elke zu schreiben. Vielleicht weiß sie ja Rat.

Angie ließ es an dieser Stelle gut sein und fuhr den Laptop herunter.

Eine Weile saß sie nachdenklich da und trank ihren zweiten Milchkaffee des Morgens.

Bei der Lektüre von Angelas Tagebuchauszügen hatte sich ihr Herz beinahe vor Mitleid zusammengekrampft. Auch wenn die intimen Geständnisse flott, ja fast heiter klangen, lustig war das Ganze im Grunde genommen nicht.

Angie konnte förmlich fühlen, wie unglücklich Angela damals über Bertholds kleines Problemfeld gewesen sein musste.

Aber auch er, wie musste sich er erst gefühlt haben, der Arme!

Sie ließ ihre Blicke über die Nachbartische schweifen, wo die vier mittelalten Urlauberpärchen sich immer noch verbissen anschwiegen.

Welcher Prozentsatz unter ihnen mochte unter dem gleichen Problemfeld leiden?

0 %, 25 %, 50 %, 75 % oder gar 100 %? Nein, Letzteres wohl nicht gerade, aber ersteres vermutlich auch nicht. Die Wahrheit lag wie so oft im Leben mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch hier in der Mitte.

Auf alle Fälle ein schöner Schlamassel für die Betroffenen. Und dabei handelte es sich doch bloß um eines der möglichen Problemfelder auf der Beziehungsebene der Geschlechter. Wenn auch um ein wichtiges.

Mit zunehmendem Alter wurde es sicher nicht leichter, allenfalls nahm die Tendenz zu resignieren deutlich zu. Da half es wohl auch nicht weiter, in Urlaub zu fahren. Oder, na ja: vielleicht in Ausnahmefällen!

Immerhin hatte Angela Engel es in der Karibik geschafft, sich hemmungslos zu vergnügen mit diesem gutaussehenden Amerikaner namens Dr. Mark Adams.

Aber Angela war auch noch vergleichsweise jung und vor allem bestürzend attraktiv gewesen. Damals, im April 97.

Und risikofreudig obendrein, das musste man auch sagen. Aber gerade Letzteres war nicht jedem gegeben. Am Aussehen konnte man jederzeit herumbasteln, an der inneren Einstellung nicht. Oder jedenfalls nur schwer. Und nur unter gewaltigem Energie- und Zeitaufwand.

Traurig, aber leider wahr.

In diesem Augenblick schmuggelte sich ein völlig anderes Bild in Angies Gedanken: Allister Fraser aus Aberdeen in seiner ganzen prachtvollen Männlichkeit. So, wie sie ihn beim Morgengrauen hatte aus dem Meer auftauchen sehen.

Angie fühlte sich augenblicklich wieder gut und energiegeladen wie eine Bombe. Es war ein schönes, ein geradezu erhebendes Gefühl.

Sie fragte sich allerdings auch, ob sie heute Morgen bei der Landung auf dem Planeten nicht einfach das berühmte Glück des Anfängers auf ihrer Seite gehabt hatte.

Wilder Engel

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