Читать книгу Vorbild und Vorurteil - Jeannine Borer - Страница 16

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Auf meinem Oberarm ist eine Blume tätowiert. Es ist eine Fantasieblume, die ich selbst gezeichnet habe. Sie symbolisiert meine Liebe zur Natur. Mit 15 habe ich mir dieses Tattoo stechen lassen, es gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Der Sport gab mir dasselbe Gefühl. Schon als Kind. Dabei erinnere ich mich an ein Ritual mit meinem Vater: Stundenlang standen wir manchmal an der Aare und warfen Steine ans andere Ufer. Wir zielten auf einen grossen Steinbrocken. Drei Mal sollte ich treffen, sagte mein Vater, erst dann würden wir zurückjoggen. Ich war ehrgeizig und hätte nie aufgegeben. Damals war ich neun Jahre alt, und ich liebte dieses Steinwurfritual mit ihm. In diesen Momenten war meine Welt in Ordnung. Wenn ich traf, fühlte ich mich wie eine kleine Königin. Ich war stolz, mein Vater war stolz. Rückblickend glaube ich, dass an der Aare der Grundstein für meine Speerwurfkarriere gelegt wurde. Mir gefiel das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Sport machte mich sichtbar.

In meiner Kindheit war ich nicht immer sichtbar. Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof in der Nähe von Bern mit zwei älteren Brüdern und Eltern, die viel und hart arbeiteten. Ich kann mich an kein harmonisches Zuhause erinnern. Bei uns gab es wenig Geborgenheit, dafür immer wieder heftige Streitereien. Ich flüchtete mich in den Sport, in die Leichtathletik, vor allem ins Speerwerfen. Meinen allerersten Wettkampf bestritt ich mit fünf Jahren. Ich war noch viel zu jung und hätte eigentlich gar nicht teilnehmen dürfen. Beim Ballweitwurf verblüffte ich aber alle. Als kleines, introvertiertes Mädchen warf ich den gelben Ball über die Absperrung. Die Leute lobten mich, und in mir kam dieses stolze Gefühl wieder auf. Wahrgenommen zu werden, tat mir gut. Diese Geschichte ist symbolisch: Ich bin ein ruhiger, zurückhaltender Mensch. Wenn ich aber weiss, dass ich etwas kann, will ich es zeigen. Diese Kraft und der Glaube an mich steckten schon immer in mir.

In meinem Leichtathletikklub LAG Zollikofen fühlte ich mich wohl. Die Menschen gaben mir Halt, und nach jedem Training waren meine «Batterien» wieder voll. In meinen Teenagerjahren trainierte ich viel im Verein, aber auch zu Hause auf dem Bauernhof. Mein Vater hatte eine Speerwurfanlage für mich und meinen Bruder aufgebaut: eine ausgerollte Tartanbahn direkt neben dem Misthaufen. Ich warf den Speer in die Säuliwiese hinaus. Dank meinem Trainingswillen und meinem Ehrgeiz wurde ich schnell besser: Mehrmals wurde ich Schweizer Meisterin im Speerwerfen in meiner Alterskategorie, und mit 16 kam ich ins Perspektivkader des Schweizer Leichtathletikverbands. Sportlich lief es wie gewünscht, zu Hause aber wurde es für mich unerträglich. Meine Eltern trennten sich. Endlich, eigentlich. Mein Vater hatte eine neue Freundin, die kurz nach der Trennung bei uns auf dem Bauernhof einziehen wollte. Die neue Partnerin meines Vaters und ich verstanden uns gar nicht gut. Es gipfelte darin, dass mein Vater mich rauswarf. Ich war erst 17 Jahre alt und hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Zu meiner Mutter wollte ich nicht, und so liess ich mich von der Frauenzentrale Bern beraten. Die Ausgangslage war klar: Ich brauchte eine Wohnung, hatte aber kein Geld, weil ich erst kurz vor dem Lehrbeginn als Goldschmiedin stand. Mein Traumberuf.

Schon immer zogen mich Mineralien und Steine an. Feines Arbeiten mit den Händen, Präzision und Geduld zeichneten mich bereits als Kind aus. Ich konnte beispielsweise stundenlang ganz alleine in meinem Zimmer sitzen und einen Scherenschnitt machen. War er am Ende nicht so perfekt, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, schmiss ich ihn weg. Ich bin Perfektionistin. Auf den ersten Blick mag meine Affinität zum feinen Handwerk ein Kontrast zum kraftvollen Speerwerfen sein. Nicht für mich. Für mich hat Speerwerfen nichts mit Kraft zu tun. Es ist eine Kunst. Beide Künste, das Goldschmieden und das Speerwerfen, haben mir den nötigen Halt gegeben in einer wirklich schwierigen Zeit. Es wäre wohl das Einfachste gewesen, ich wäre nach der Trennung meiner Eltern zu meiner Mutter gezogen. Ich spürte jedoch, dass mir diese Dynamik nicht guttun würde. Auf mein Bauchgefühl konnte ich mich schon immer verlassen, und so bezog ich eine kleine Sozialwohnung im Fischermätteli in Bern. Ich lebte von staatlichen Unterstützungsgeldern, von der Kinderzulage, die meine Mutter mir gab, und von meinem Lehrlingslohn als Goldschmiedin. In dieser Phase entstand mein zweites Tattoo. Dieses Mal auf meinem Unterschenkel. Es war ein schwarzer Panther und symbolisierte das Grosse, Starke, Böse, was ich auch in mir haben wollte. Ich wollte einfach mehr sein als das zurückhaltende «Huscheli» vom Land.

Vom Land ins Ausland. Meine erste richtige Auslandserfahrung machte ich in Australien. Mit 17 ging ich für fünf Monate ans andere Ende der Welt und lebte bei einer Gastfamilie in Sydney. Schnell fühlte ich mich in dieser Familie wohl. Vielleicht fühlte ich mich zu wohl, denn meine Gastmutter wuchs mir ans Herz. Und ich ihr. Sie kümmerte sich um und interessierte sich für mich. Zwei Mal wöchentlich fuhr sie mich ins Trainingscenter in Sydney, wo ich mit Weltklasseathleten im olympischen Stützpunkt trainierte. Meine Gastmutter hegte aber keine Muttergefühle für mich: Sie verliebte sich in mich. Das war eine unglaublich schwierige Situation. Einerseits schätzte ich die emotionale Nähe, andererseits war es mir extrem unangenehm. Die Umstände waren einfach zu speziell: Sie war zwanzig Jahre älter als ich, mit einem Mann verheiratet und hatte zwei Kinder. Reich an neuen Erfahrungen und mit einem vollen Herzen flog ich zurück in die Schweiz. Ich habe in dieser Zeit viel Liebe und Geborgenheit erfahren, dennoch war für mich klar, dass ich meine australische Gastmutter nicht in meinem Leben behalten konnte. Dafür waren die Umstände zu kompliziert. Was dieses Loslassen wirklich bedeutete, erfuhr ich erst Jahre später. Es ist eine traurige Geschichte, die dann Symbol für mein drittes Tattoo wurde.

Dass ich lesbisch bin, wusste ich mit 13, als ich mich in eine Schulfreundin verliebte, die mich faszinierte und die ich wunderschön fand mit ihren blauen Augen. Meine Gefühle behielt ich damals für mich. Ich hatte Angst, mit meinen Eltern darüber zu reden, denn bei uns zu Hause war Lesbischsein verpönt und wurde als nicht normal angesehen. Jahrelang sprach ich mit niemandem darüber. Mit einer Ausnahme: Als Kind stand mir meine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter, sehr nahe. Ihr vertraute ich. Mit 14, also 1996, sagte ich ihr, dass ich lesbisch sei. Sie umarmte mich einfach und zeigte mir so, dass ich nicht falsch fühlte oder abnormal war. Trotzdem verheimlichte ich meine Liebe zu Frauen noch elf Jahre lang. Vor allem im Sport.

Dabei hatte ich einige Freundinnen während dieser Zeit. Die erste mit 17, eine Coiffeuse aus Thun. Sie war ein paar Jahre älter als ich und war mir eine grosse Stütze. Mit ihr habe ich mich bei meiner Mutter ein erstes Mal geoutet, und zwar am Telefon. Rückblickend war das vielleicht eine schlechte Entscheidung, denn meine Mutter reagierte heftig. Für sie war mein Lesbischsein nicht akzeptabel. Ich fühlte mich danach so schlecht, dass ich eine Woche später wieder angerufen habe und ihr mitteilte, dass es ein Ausrutscher gewesen und ich jetzt nicht mehr lesbisch sei. Heimlich habe ich meine Beziehung mit meiner Freundin weitergeführt.

Mit meiner nächsten Freundin bin ich einige Jahre nach meinem Auslandaufenthalt nach Australien zurückgekehrt. Wir waren Anfang zwanzig. Auf unserer dreimonatigen Reise wollte ich ihr zeigen, wo ich gelebt hatte, und wir besuchten spontan meine Gastfamilie. Als wir beim Haus ankamen, irritierte mich die Unordnung rund ums Haus. Ich klingelte, aber niemand öffnete die Tür, so ging ich zur Nachbarin und erkundigte mich nach ihnen. Als sie mich sah, brach sie in Tränen aus und erzählte mir, dass sich meine Gastmutter vor einem halben Jahr das Leben genommen hatte. Die Nachricht erschütterte mich. Ich wusste, dass sich meine Gastmutter nach meiner Abreise heimlich mit Frauen getroffen hatte. Ich wusste, dass es sie innerlich zerrissen hatte. Dass sie daran zerbrechen könnte, hätte ich aber nie gedacht. Ich habe immer noch Schuldgefühle, auch wenn ich weiss, dass es nicht meine Schuld ist. In Erinnerung an meine Gastmutter liess ich mir vor vier Jahren das japanische Zeichen für Freundschaft auf meinen Oberarm tätowieren. Dasselbe Zeichen hatte auch sie als Tattoo. Es verbindet uns auch über ihren Tod hinaus.


Christa Wittwer ist vierfache Schweizer Meisterin im Speerwerfen. An den Schweizermeisterschaften 2014 in Frauenfeld holte sie die Bronzemedaille mit einer Weite von 50,02 Metern. Christa Wittwer musste sich während ihrer Karriere drei Mal am Ellbogen und einmal an der Schulter operieren lassen.

Der Tod meiner Gastmutter bewegte etwas in mir: Soll man Liebe verheimlichen? Es dauerte zwar noch einige Jahre bis zum ersten Befreiungsschlag, aber mit 25 outete ich mich in meinem Freundeskreis und ein zweites Mal bei meiner Mutter. Diesmal sagte ich es mit Überzeugung. Ich habe das Gefühl, meine Mutter wünscht sich bis heute einen Mann an meiner Seite, und hat Mühe damit, dass ihre einzige Tochter lesbisch ist. Das macht mich manchmal traurig.

Meinen richtigen Befreiungsschlag vollbrachte ich mit 33, dank meiner Freundin. Sie hat mir geholfen, meine Ängste abzuschütteln und öffentlich zu meiner Liebe zu Frauen zu stehen – auch in der Leichtathletik. Im Sport habe ich mich zuletzt geoutet. Mein Coming-out gab ich im Schweizer Fernsehen in der Sendung «Liebesleben – im Bett mit Herr und Frau Schweizer». Als lesbisches Paar sprachen wir in dieser Sendung über unsere Beziehung und den Sex. Öffentlicher kann ein Coming-out kaum sein, umso nervöser machte mich der Gedanke an die Reaktionen im Klub und auf dem Sportplatz. Eine Woche nach der Ausstrahlung hatte ich einen Wettkampf. Was dort passierte, war eine wunderbare Erfahrung: So viele Athleten, Betreuer und Bekannte haben mir zu meinem Auftritt gratuliert. An diesem Tag stand ich im Fokus der Aufmerksamkeit und habe mich gefühlt, als wäre ich Europameisterin. Dabei ging es zum ersten Mal nicht um meine sportliche Leistung, sondern um meine Persönlichkeit. Ich wurde als Christa Wittwer wahrgenommen und akzeptiert. Ein befreiendes Gefühl, denn seit diesem Moment kann ich voll und ganz zu meiner Liebe stehen.

Meine Liebe zur Leichtathletik ist bis heute ungebrochen. Doch Ende 2017, mit 35 Jahren, beendete ich meine aktive Karriere – aus gesundheitlichen Gründen. Meine Schulter hatte wegen des jahrelangen Speerwerfens gelitten und musste operiert werden. Es folgten die schwierigsten Monate meines Lebens. Im Jahr meines Rücktritts habe ich mich selbstständig gemacht. Zusammen mit meiner Geschäftspartnerin eröffneten wir unser Goldschmiedeatelier «E Luda» in Bern. Elf Monate nach der Eröffnung habe ich meine Schulter operieren lassen. Geplant war ein kleiner Eingriff mit kurzer Ausfallzeit. Während der OP stellten die Ärzte jedoch fest, dass eine Sehne angerissen war und verstärkt werden musste. Der Eingriff wurde umfangreicher, und mir wurde nach der Operation mitgeteilt, dass ich für vier Monate krankgeschrieben werden sollte. Als Selbstständige, die ihr Geschäft gerade aufbaute und Schulden hatte, war das eine fast untragbare Belastung. Ich arbeitete natürlich bereits nach kurzer Zeit wieder, doch während Monaten hatte ich grosse Schmerzen und Existenzängste. Dazu kam, dass ich mich mit Sport nicht ablenken konnte, und so hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich an einer Krise nicht wachsen, sondern daran zerbrechen würde. Ich weinte tagelang, fühlte mich absolut hilflos und wurde depressiv. Ein Psychologe half mir, wieder auf die Beine zu kommen, mein Leben in die Hand zu nehmen und vorwärts zu schauen.

Heute geht es mir gut, auch wenn ich noch «Baustellen» habe. Zum Beispiel habe ich meinen Vater seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Seit meinem Rausschmiss mit 17 konnten wir uns nicht mehr annähern. Die Beziehungen zu meiner Mutter und zu meinen Brüdern mit ihren Familien wurden glücklicherweise besser. Halt gibt mir nach wie vor die Kunst: die Kunst des Goldschmiedens und die Kunst des Speerwerfens. Letztere lebe ich jetzt als Trainerin bei der Gymnastischen Gesellschaft Bern aus. Ich möchte in den Kindern das Feuer fürs Speerwerfen entfachen, wie damals mein Vater es in mir entfacht hatte.

Heute bin ich aber nicht mehr das schüchterne Kind und das «Huscheli» vom Land. Und darum musste der schwarzen Panther auf meinem Unterschenkel auch weg. Er hat mich genervt. Heute brauche ich ihn nicht mehr als Symbol für das Grosse, Starke, Böse. An ihn erinnert nur noch ein unerkennbarer blauer Fleck.

— Christa Wittwer, *1982

— Aufgewachsen in Zollikofen, Kanton Bern

— Goldschmiedin und Geschäftsführerin «E Luda»

— Schweizer Meisterin Speerwurf: 2006, 2008, 2011, 2012

Vorbild und Vorurteil

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