Читать книгу Autorität. Auslöschung. Akzeptanz. - Jeff VanderMeer - Страница 5

2 INTEGRATION

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Am Morgen erwachte ich mit derart geschärften Sinnen, dass mir sogar die grobe braune Borke der Kiefern oder das gewöhnliche Hämmern eines Spechts wie eine kleine Offenbarung vorkamen. Die lange anhaltende Mattigkeit nach dem fünftägigen Fußmarsch zum Basislager war verschwunden. War das ein Nebeneffekt der Sporen oder der tiefe Schlaf? Ich fühlte mich so erfrischt, dass es mir egal war.

Aber meine Hochstimmung wurde schnell durch eine schreckliche Neuigkeit gedämpft. Die Anthropologin war verschwunden, und mit ihr alles Persönliche aus ihrem Zelt. Das Schlimmste aber war meiner Meinung nach, dass die Psychologin aufgewühlt schien und scheinbar kaum geschlafen hatte. Sie kniff die Augen zusammen, das Haar war zerzaust. Die Sohlen ihrer Stiefel waren dreckverkrustet. Sie agierte nur mit der rechten Körperseite, als wäre sie verwundet.

»Wo ist die Anthropologin?«, wollte die Vermesserin wissen, während ich mich zurückhielt und versuchte, mir meinen eigenen Reim zu machen. Was hast du mit der Anthropologin gemacht? Das war meine unausgesprochene Frage, und ich wusste, dass sie unfair war. Die Psychologin hatte sich nicht groß verändert, sie war wie vorher; dass ich das Geheimnis ihrer Zaubertricks kannte, hieß nicht, dass sie eine Bedrohung war.

Die Psychologin trat unserer wachsenden Panik mit einer merkwürdigen Erklärung entgegen. »Ich habe gestern spät Abend mit ihr gesprochen. Was sie da in diesem … Gebäude … sah, hat sie so nervös gemacht, dass sie die Expedition nicht fortsetzen wollte. Sie hat sich auf den Rückweg gemacht. Sie hat einen vorläufigen Bericht dabei, so dass unserer Vorgesetzten wissen, wie weit wir gekommen sind.« Für ihre Angewohnheit immer im falschen Augenblick ein schmales Lächeln aufzusetzen, hätte ich sie ohrfeigen können.

»Aber sie hat ihre Ausrüstung hiergelassen – auch ihre Waffe«, sagte die Vermesserin.

»Sie hat nur mitgenommen, was sie braucht, damit wir mehr haben – auch eine weitere Waffe.«

»Glaubst du, wir brauchen eine zusätzliche Waffe?«, fragte ich die Psychologin. Ich war gespannt. In gewisser Weise war die Psychologin ebenso faszinierend wie der Turm. Ihre Motive, ihre Gründe. Warum griff sie jetzt nicht auf Hypnose zurück? Vielleicht kann man manche Dinge, trotz unserer grundlegenden Konditionierung, nicht suggerieren, oder die Suggestion wird mit jeder Wiederholung schwächer, vielleicht war die Psychologin nach den Ereignissen der letzten Nacht auch einfach zu schwach.

»Ich glaube, wir wissen nicht, was wir brauchen«, sagte die Psychologin. »Aber wir haben bestimmt keine Anthropologin gebraucht, die nicht in der Lage ist, ihren Job zu machen.«

Die Vermesserin und ich starrten die Psychologin an. Die Vermesserin hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. Während der Ausbildung hatten wir gelernt, bei unseren Kolleginnen ganz genau auf Zeichen von mentalem Stress oder Funktionsstörungen zu achten. Vielleicht glaubte sie auch, ich würde jetzt meinen, wir hätten eine Wahl. Wir konnten die Erklärung der Psychologin für das Verschwinden der Anthropologin akzeptieren, oder auch nicht. Wenn nicht, dann sagten wir damit gleichzeitig, dass die Psychologin uns anlügen würde, und wir deshalb ihre Autorität in einer kritischen Situation nicht akzeptieren würden. Und wenn wir uns auch auf den Heimweg machen würden, in der Hoffnung, die Anthropologin einzuholen, um die Geschichte der Psychologin zu verifizieren – hätten wir danach noch die Willenskraft, zum Basislager zurückzukehren?

»Wir sollten weitermachen wie geplant«, sagte die Psychologin. »Wir sollten den … Turm erforschen.« Das Wort Turm klang in diesem Zusammenhang wie ein offensichtlicher Appell an meine Loyalität.

Die Vermesserin zögerte immer noch, als müsste sie mit den Suggestionen der Psychologin von gestern Abend kämpfen. Das alarmierte mich in anderer Hinsicht. Ich würde Area X nicht verlassen, ohne den Turm zu erforschen. Das war eine Tatsache, die ich mit jeder Faser meines Körpers spürte. Und in diesem Zusammenhang konnte ich es mir nicht leisten, so schnell ein weiteres Mitglied des Teams zu verlieren und alleine mit der Psychologin dazustehen. Nicht, wenn ich mir ihrer nicht sicher sein konnte, und nicht, wenn ich keine Ahnung hatte, welche Auswirkungen die Sporen auf mich hatten.

»Sie hat Recht«, sagte ich. »Wir sollten die Mission fortsetzen. Wir können auch ohne die Anthropologin auskommen.« Aber mein fester Blick in Richtung der Vermesserin machte uns beiden deutlich, dass wir das Thema Anthropologin später wieder aufgreifen würden.

Die Vermesserin nickte mürrisch und sah zur Seite.

Die Psychologin gab einen hörbaren Seufzer von sich, entweder aus Erleichterung oder vor Erschöpfung. »Das wäre dann geklärt«, sagte sie und hastete an der Vermesserin vorbei, um das Frühstück zu machen. Bisher hatte immer die Anthropologin das Frühstück gemacht.

Aber am Turm war die Lage schon wieder eine andere. Die Vermesserin und ich hatten die leichten Rucksäcke gepackt, genug Wasser und Nahrungsmittel, um den ganzen Tag dort unten zu verbringen. Wir hatten unsere Waffen eingepackt. Wir beide hatten Atemmasken gegen die Sporen, obwohl es bei mir schon zu spät war. Wir beide trugen Schutzhelme mit fest montierten Stirnlampen.

Aber die Psychologin stand im Gras neben dem kreisrunden Turm, ein kleines Stück hinter uns, und sagte: »Ich halte hier die Stellung und euch den Rücken frei.«

»Vor wem?«, fragte ich ungläubig. Wenn ich etwas wirklich nicht wollte, dann, die Psychologin aus den Augen zu lassen. Ich wollte, dass sie an den Risiken dieser Erkundung teilhatte und nicht oben blieb, als ein Symbol für die Macht, die sie über uns hatte.

Auch die Vermesserin war nicht glücklich. In flehendem Tonfall, der einen hohen Grad an unterdrücktem Stress verriet, sagte sie: »Du solltest mit uns kommen. Zu dritt ist es sicherer.«

»Aber ihr müsst doch sicher sein, dass der Eingang bewacht ist«, sagte die Psychologin und schob ein Magazin in ihre Pistole. Das harte Kratzgeräusch hallte stärker in meinen Ohren wider, als ich gedacht hätte.

Die Vermesserin griff das Sturmgewehr fester, und ihre Knöchel traten weiß hervor. »Du musst mit uns kommen.«

»Das Risiko lohnt sich nicht«, sagte die Psychologin, und am Tonfall erkannte ich den Hypnosebefehl.

Der Griff der Vermesserin um das Gewehr lockerte sich. Ihre Gesichtszüge verloren für einen Augenblick alle Konturen.

»Du hast Recht«, sagte die Vermesserin. »Natürlich, du hast Recht. Es macht einfach Sinn.«

Ein Anflug von Furcht rieselte mir über den Rücken. Jetzt waren es zwei gegen eine.

Ich ließ mir das kurz durch den Kopf gehen, ließ die ganze Wucht des Blicks der Psychologin auf mich wirken, die mich jetzt mit voller Aufmerksamkeit anstarrte. Albtraumartige, paranoide Szenarien gingen mir durch den Kopf. Ein versperrter Einstieg bei unserer Rückkehr, die Psychologin, wie sie uns abschoss, während wir die Hände dem freien Himmel entgegen reckten. Andererseits: Sie hätte uns in jeder Nacht der Woche umbringen können.

»So wichtig ist das nicht«, sagte ich einen Augenblick später. »Hier oben bist du für uns genauso wertvoll wie da unten.«

Und so stiegen wir, unter dem wachsamen Auge der Psychologin, hinab.

Das erste, was ich im Zwischengeschoss bemerkte, bevor wir das spiralförmige Treppenhaus nach unten betraten, um wieder auf die Worte an der Wand zu stoßen war: Der Turm atmete. Der Turm atmete, und als ich an die Wand trat, um sie zu berühren, spürte ich das Echo eines Herzschlags … und sie war nicht aus Stein, sondern aus lebendiger Materie. Diese Wand war noch immer leer, aber sie strahlte etwas silbrigweiß Phosphoreszierendes ab. Die Welt schien ins Schlingern zu geraten, und ich ließ mich schwerfällig mit dem Rücken zur Wand niedersinken, die Vermesserin war an meiner Seite und versuchte, mir wieder aufzuhelfen. Ich glaube, ich zitterte, als ich schließlich wieder auf den Beinen war. Ich weiß nicht, ob ich die Ungeheuerlichkeit dieses Augenblicks mit Worten vermitteln kann. Der Turm war in gewissem Maße ein lebendiges Wesen. Wir waren dabei, in einen Organismus hinabzusteigen.

»Was ist los?«, fragte mich die Vermesserin, ihre Stimme klang dumpf unter der Maske. »Was ist passiert?«

Ich griff nach ihrer Hand und presste sie auf die Wand.

»Lass mich los!« Sie versuchte, die Hand zurückzuziehen, aber ich hielt sie fest.

»Spürst du das?«, fragte ich unnachgiebig. »Kannst du es spüren?«

»Was spüren? Was redest du da?« Natürlich hatte sie Angst. Ich verhielt mich wie eine Irre.

Aber ich beharrte darauf: »Eine Schwingung. Eine Art Rhythmus.« Ich ließ ihre Hand los und trat einen Schritt zurück.

Die Vermesserin atmete tief durch, aber ließ die Hand auf der Wand. »Nein. Vielleicht. Nein. Nein, nichts.«

»Was ist mit der Wand. Woraus besteht sie?«

»Natürlich Stein«, sagte sie. Im Lichtkegel meiner Helmleuchte wirkte ihr im Schatten liegendes Gesicht wie ausgehöhlt, ihre von Dunkelheit umgebenen Augen wie vergrößert, und durch die Maske schien es, als hätte sie weder Nase noch Mund.

Ich atmete tief durch. Ich wollte alles mit einem Schlag auskotzen: dass ich kontaminiert war, dass die Psychologin uns viel häufiger hypnotisierte, als wir je vermutet hätten. Dass die Wände aus lebendem Gewebe bestanden. Aber ich tat es nicht. Ich bekam »meinen Scheiß geregelt«, wie mein Ehemann zu sagen pflegte. Ich bekam meinen Scheiß geregelt, weil wir weitermachen mussten und die Vermesserin nicht sehen konnte, was ich sah, und nicht spüren konnte, was ich spürte. Und ich sie nicht dazu bringen konnte, es zu begreifen.

»Vergiss es«, sagte ich. »Ich habe nur einen Augenblick lang die Orientierung verloren.«

»Hör mal, wir sollten zurückgehen. Du bist völlig panisch«, sagte die Vermesserin. Man hatte uns gesagt, dass wir in Area X vielleicht Dinge zu sehen glaubten, die gar nicht existierten. Mir war klar, dass sie jetzt dachte, genau das sei mir passiert.

Ich hob das schwarze Kästchen an meinem Gürtel hoch. »Nichts – blinkt nicht. Uns geht’s gut.« Es war ein Witz, ein dürftiger zwar, aber immerhin.

»Du hast etwas gesehen, das nicht existiert.« So leicht ließ sie mich nicht davonkommen.

Du begreifst nicht, was da existiert, dachte ich.

»Kann sein«, gab ich zu, »aber ist das nicht auch wichtig? Gehört das nicht zu allem dazu? Den Berichten? Und etwas, das ich spüre, du aber nicht, kann wichtig sein.«

Die Vermesserin ließ sich das kurz durch den Kopf gehen. »Wie fühlst du dich jetzt?«

»Mir geht’s gut«, log ich. »Jetzt spüre ich nichts mehr.« Mein Herz fühlte sich an wie ein Tier, das in meinem Brustkorb gefangen war und versuchte, nach draußen zu klettern. Die Vermesserin war jetzt in eine Korona des weißen Phosphoreszierens der Wänden getaucht. Nichts von ›ich spüre nichts mehr‹. Alles war immer noch da.

»Dann gehen wir weiter«, sagte die Vermesserin. »Aber nur, wenn du mir versprichst, sofort zu sagen, wenn du wieder irgendwas Ungewöhnliches bemerkst.«

Ich weiß noch, dass ich darüber fast lachen musste. Ungewöhnliches? Etwa merkwürdige Worte an der Wand? Die von winzigen Gemeinschaften von Lebewesen unbekannter Herkunft gebildet wurden.

»Versprochen«, sagte ich. »Und für dich gilt das Gleiche, oder?« Rollentausch, damit sie verstand, dass es ihr auch passieren konnte.

Sie nickte und sagte: »Aber rühr mich bloß nicht mehr an, oder ich garantiere für nichts.«

Ich nickte auch. Zu merken, dass ich stärker war als sie, passte ihr gar nicht.

Dieser brüchigen Vereinbarung entsprechend gingen wir vor zu den Stufen und betraten den Schlund des Turms, dessen Tiefen sich jetzt als eine Art fortgesetzte Horrorshow von derartiger Schönheit und solchem Artenreichtum erwiesen, dass ich kaum in der Lage war, alles zu begreifen. Aber ich versuchte es, so wie ich es immer versucht habe, schon ganz am Anfang meines Berufslebens.


Wenn die Leute mich fragen, warum ich Biologin geworden bin, fällt mir immer wieder der zugewucherte Swimmingpool hinter dem Haus ein, in dem ich aufgewachsen bin. Meine Mutter war eine überdrehte Künstlerin, die durchaus einige Erfolge vorzuweisen hatte, aber ein bisschen zu sehr am Alkohol hing und ständig auf der Suche nach neuer Kundschaft war, während mein Vater, ein unterbeschäftigter Steuerberater, sich auf raffinierte Pläne, um schnell reich zu werden, spezialisiert hatte, die normalerweise nichts einbrachten. Keiner von beiden schien die Fähigkeit zu haben, sich eine Zeit lang auf eine Sache konzentrieren zu können. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich wäre an eine Familie vermittelt worden und nicht in sie hineingeboren.

Sie waren weder Willens noch hatten sie Lust, den nierenförmigen Pool zu säubern, obwohl er wirklich nicht groß war. Kurz nachdem wir eingezogen waren, fing das Gras an seinen Rändern an zu wachsen. Riedgräser und andere hoch aufschießende Pflanzen nahmen überhand. Die kurzen Büsche am Zaun um den Pool verdeckten bald die Absperrkette. In den Ritzen der gesprungenen Steinplatten, mit denen der Weg drumherum gepflastert war, wuchs Moos. Regen füllte den Pool weiter auf, und Algen machten einen Brackwassertümpel daraus. Libellen beobachteten die Veränderung wachsam. Ochsenfrösche siedelten sich an, die zappelnden, missgestalteten schwarzen Flecken ihrer Kaulquappen waren nicht zu übersehen. Wasserläufer und Wasserkäfer waren überall. Und anstatt mein Süßwasseraquarium ganz abzuschaffen, was meine Eltern verlangten, schüttete ich die Fische in den Pool; ein paar überstanden den Schock sogar. Angezogen von den Fröschen, Fischen und Insekten fingen auch örtliche Vogelarten wie Fisch- und Silberreiher an, den Teich zu besuchen. Und wie durch ein Wunder tauchten kleine Schildkröten im Pool auf; ich hatte keine Ahnung, woher die kamen.

Nur ein paar Monate nach unserem Einzug war der Pool zu einem funktionierenden Ökosystem geworden. Ich betrat den Garten durch eine knarrende Holztür und beobachtete das Treiben von einem verrosteten Gartenstuhl aus, den ich in einer entfernten Ecke aufgestellt hatte. Im Haus gingen meine Eltern all den banalen, chaotischen Dingen nach, die Menschen in der Menschenwelt so machen, und manchmal wurde es sehr laut dabei. Aber ich konnte mich problemlos in dieser Mikrowelt des Pools verlieren. Obwohl ich eine begründete und starke Angst vor dem Ertrinken habe, war ich immer gerne am Wasser.

Zwangsläufig brachte mir das seitens meiner Eltern Vorträge über meine chronische Introvertiertheit ein, sie glaubten mich damit wohl davon überzeugen zu können, dass sie immer noch die Verantwortung für mich hatten. Sie erinnerten mich daran, dass ich zu wenige (oder überhaupt keine) Freunde hätte. Ich schien mich auch um nichts zu bemühen. Ich könnte doch mit einem Teilzeitjob Geld verdienen. Aber als ich ihnen erzählte, dass ich mich schon mehrere Male vor den Rüpeln am Baggersee, der mitten in stillgelegten Feldern jenseits der Schule lag, hatte in Sicherheit bringen müssen, da wussten sie keine Antwort. Auch nicht, als ich eines Tages eine Mitschülerin »grundlos« mit der Faust ins Gesicht schlug, die in der Warteschlange am Lunch-Tresen Hallo zu mir gesagt hatte.

Und so machten wir weiter, jeder seinen eigenen Zwängen ergeben. Sie führten ihr Leben, und ich führte meines. Meine Lieblingsbeschäftigung war, Biologin zu spielen, und über das Spiel wird man manchmal zu dem, was man nachahmt. Oder zumindest ein akzeptables Abbild davon, mit Abstand betrachtet. Ich füllte diverse Tagebücher mit meinen Beobachtungen vom Pool. Ich konnte jeden einzelnen Frosch erkennen, der Alte Platscher war ganz anders als der Hässliche Hüpfer, und wusste, in welchem Monat es im Gras nur so von hüpfenden Jungfröschen wimmeln würde. Ich wusste, welche Gattung Reiher das ganze Jahr lang immer wieder kam und welche zu den Zugvögeln gehörte. Die Käfer und Libellen waren weniger leicht zu identifizieren, ihre Lebenszyklen schwieriger zu erahnen, aber auch sie versuchte ich gründlich zu verstehen. Bei all dem ging ich Büchern über Ökologie oder Biologie aus dem Weg. Ich wollte alles Wissenswerte zunächst selbst entdecken.

Ich war überzeugt – ein Einzelkind, eine Expertin in der Nutzung der Einsamkeit –, dass meine Beobachtungen dieses Miniaturparadises sich eine Ewigkeit hätten fortsetzen können. Ich schraubte sogar notdürftig einen wasserdichten Blitz mit einer wasserdichten Kamera zusammen und plante, die Apparatur unter die dunkle Oberfläche zu versenken, Fotos mittels eines langen Drahts zu machen, den ich mit dem Auslöser verbunden hatte. Ich habe keine Ahnung, ob das funktioniert hätte, denn plötzlich war es mit dem Luxus, Zeit zu haben, vorüber. Das Glück hatte uns verlassen und wir konnten die Miete für das Haus nicht mehr bezahlen. Wir zogen in eine winzige Wohnung, vollgestopft mit den Gemälden meiner Mutter, die für mich nicht mehr als Tapete waren. Eines der großen Traumata meines Lebens war die Angst um den Pool. Würden die neuen Besitzer seine Schönheit und die Notwendigkeit erkennen, ihn so zu belassen, wie er war? Oder würden sie alles zerstören, ein unvorstellbares Massaker anrichten, nur um den Pool seiner ursprünglichen Bestimmung zuzuführen?

Ich habe es nie herausgefunden – ich konnte es nicht ertragen zurückzugehen, genauso wie ich den Reichtum dieses Ortes nie haben vergessen können. Ich konnte nichts anderes tun, als nach Vorne zu schauen, als das, was ich beim Beobachten der Bewohner des Teichs gelernt hatte, anzuwenden. Und ich habe niemals zurückgeschaut, was auch immer geschehen ist. Wenn die Finanzierung eines Projekts auslief oder das Gebiet, das wir gerade erforschten, zur Erschließung freigegeben wurde, bin ich nie wieder dorthin zurückgekehrt. Es gibt bestimmte Arten zu sterben, die man nicht noch einmal erleben sollte, und bestimmte Bindungen gehen so tief, dass man den Knacks in sich spürt, wenn sie zerbrochen werden.

Während wir weiter in den Turm vordrangen fühlte ich, seit langer Zeit zum ersten Mal, wieder jenes Hochgefühl, das ich zum ersten Mal als Kind bei meinen Entdeckungen gespürt hatte. Aber ich wartete auch auf den Knacks.


Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die …

Die Turmtreppe schraubte sich vor uns ins Dunkel, ihre weißlichen Stufen wie die Zähne eines unergründlichen wilden Tiers, und wir folgten ihnen, weil uns nichts anderes übrig blieb. Zeitweise wünschte ich mir, ich hätte die bornierte Weltsicht der Vermesserin. Ich verstand jetzt, warum die Psychologin uns schützen wollte, und fragte mich, wie sie das aushalten würde, denn sie hatte niemanden, der sie beschützte … wovor auch immer.

Zunächst waren da »nur« die Worte, und das war genug. Sie tauchten auf jeweils gleicher Höhe an der linken Seite der Wand auf, und eine Zeitlang versuchte ich sie aufzuzeichnen, aber es waren so viele, die mal einen Sinn ergaben und dann wieder nicht, dass der Versuch, ihre Bedeutung zu erfassen, einem Irrweg durch ein Spiegelkabinett glich. Über eines waren die Vermesserin und ich uns sofort einig: Wir würden die physikalische Beschaffenheit der Worte dokumentieren, aber um diesen nicht enden wollenden Satz zu fotografieren bedurfte es eines weiteren Tages, einer weiteren Mission.

… mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln während in düsteren Gängen anderer Orte Formen die niemals waren und niemals sein durften sich mit der Ungeduld der Wenigen krümmen die nie erblickten was hätte sein können …

Die ominöse Beschaffenheit der Worte zu ignorieren rief ein Unbehagen hervor, das mit den Händen greifbar war. Es infizierte unsere eigenen Sätze, die wir miteinander wechselten, während wir versuchten, die biologische Realität dessen, was wir sahen, zu katalogisieren. Beide sahen, denn die Psychologin hatte uns damit beauftragt, die Worte und wie sie entstanden waren zu verstehen, und die physikalische Realität der Turmwände einfach zu unterdrücken war eine gewaltige und strapaziöse Aufgabe.

Auch diese Dinge erlebten wir beide, während wir zum ersten Mal in die Dunkelheit hinabstiegen: Die Luft wurde kühler, aber auch feuchter und nahm mit dem Fallen der Temperatur eine sanfte Süßlichkeit an, wie von fauligem Nektar. Wir beide sahen die winzigen, handförmigen Organismen, die zwischen den Buchstaben lebten. Die Decke war höher, als wir gedacht hatten, und im Licht der Helmleuchten konnte die Vermesserin, als wir nach oben sahen, die sich kringelnden Schlieren von Schneckenspuren erkennen. Büschel von Moos oder Flechten verteilten sich über die Decke, und winzige durchscheinende Höhlenkrebse mit kräftigen, ausgreifenden Beinen bewegten sich zwischen ihnen.

Was nur ich sehen konnte: Die Wände hoben und senkten sich präzise mit der Atmung des Turms. Die Farben der Worte wechselten mit einem Kräuseln, oszillierten wie bei einem Tintenfisch. Dass es eine geisterhafte Spur früherer Worte gab, die sich knapp zehn Zentimeter oberhalb und unterhalb der jetzigen Sätze in der gleichen Kursivschrift abzeichneten. Diese Schichten von Worten wirkten wie eine Art Wasserzeichen, denn sie waren nicht mehr als ein flüchtiger Eindruck an der Wand, ein fahler Hinweis in grün und manchmal violett, dass hier einst Buchstaben auf der Wand gewachsen waren. Die meisten schienen das aktuelle Thema zu wiederholen, einige aber auch nicht.

Während die Vermesserin Beispiele der lebendigen Worte fotografierte, las ich die Phantomworte um zu sehen, wie weit sie voneinander abwichen. Sie waren schwer zu lesen – es gab verschiedene Stränge, die sich überlappten, abbrachen und wieder einsetzten. Ich verlor einzelne Worte und Formulierungen aus den Augen. Es gab so viele von diesen geisterhaften Skripten, dass sich der Eindruck aufdrängte, das Turm-Wesen würde diese schon seit langer Zeit produzieren. Aber ohne den kleinsten Anhaltspunkt, wie lange so ein »Schreibzyklus« dauern könnte, war es unmöglich, die Jahre auch nur ungefähr zu schätzen.

Es gab noch ein weiteres kommunikatives Element an der Wand. Ich war mir nicht sicher, ob die Vermesserin es wahrnehmen konnte, und entschloss mich, das zu testen.

»Weiß du, was das hier ist?«, fragte ich sie und zeigte auf ein ineinandergreifendes Gittermuster, das ich zunächst gar nicht gesehen hatte. Es lag unter den Phantomworten, ragte oben und unten ein wenig hervor, der Wortstrang verlief etwa in der Mitte. Das Muster erinnerte vage an Skorpione, die sich mit erhobenen Schwänzen gegenüberstehen, nur um sich dann wieder aufzulösen. Mir war nicht einmal klar, ob ich etwas Sprachliches vor Augen hatte. Es hätte möglicherweise auch einfach ein dekoratives Muster sein können.

Zu meiner großen Erleichterung konnte sie es sehen. »Nein, ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie. »Aber ich bin auch keine Expertin.«

Ich fand das irritierend, aber das hatte nichts mit ihr zu tun. Für diese Aufgabe hatte ich den falschen Kopf, und sie auch; wir brauchten eine Linguistin. Wir konnten noch eine Ewigkeit auf diese Gitterbuchstaben schauen, und mir wollte nichts Originelleres dazu einfallen, als dass sie wie sich verästelnde Steinkorallen aussahen. Die Vermesserin sah darin vielleicht so etwas wie Nebenarme eines riesiges Flusses.

Schließlich gelang es mir, eine Handvoll der Fragmente zu rekonstruieren. »Warum soll ich ruhen, wenn die Welt voller Gottlosigkeit ist.« »Gottes Liebe wird über all jenen leuchten, die die Grenzen des Duldens begreifen, und ihnen wird vergeben werden.« »Zum Dienst an einer höheren Macht erwählt.« Wenn der Hauptstrang wie eine Art düstere, unbegreifliche Predigt klang, dann schlugen die Fragmente einen verwandten Ton an, aber ohne den ausschweifenden Satzbau.

Aber stammten sie aus einer Art längerem Bericht, vielleicht von Mitgliedern früherer Expeditionen? Und falls dem so war, welchen Zweck erfüllten sie? Und seit wie vielen Jahren?

Solche Frage mussten später und bei Tageslicht geklärt werden. Mechanisch wie ein Golem fotografierte ich einfach die zentralen Wendungen – selbst wenn die Vermesserin glaubte, ich würde nur die nackten Wände oder periphere Teil des Hauptstrangs der Pilzworte aufnehmen –, um etwas Distanz zwischen mich und meinen Gedanken über diese Varianten zu legen. Während das Hauptgekrakel weiterging und uns weiterhin zermürbte: … In den schwarzen Wassern über denen die Sonne um Mitternacht scheint werden die Früchte zur Reife kommen und im Dunkel dessen was golden ist aufbrechen und enthüllen die Offenbarung der verheerenden Sanftheit der Erde

In gewisser Weise überwältigten mich diese Worte. Während wir weitergingen entnahm ich Proben, aber nur halbherzig. All diese winzigen toten Stückchen, die ich mit der Pinzette in Glasröhren stopfte – was sollten sie mir schon erzählen? Nicht viel, hatte ich das Gefühl. Manchmal fühlt man einfach, dass sich die Wahrheit nicht durch ein Mikroskop erkennen lässt. Außerdem wurde der Widerhall des Herzschlags durch die Wände langsam so laut, dass ich kurz anhielt und die mitgenommenen Ohrenstöpsel anlegte, um den Rhythmus zu dämpfen, während die Vermesserin mit etwas anderem beschäftigt war. Maskiert und aus unterschiedlichen Gründen halb taub setzen wir unseren Abstieg fort.

Eigentlich hätte ich die Veränderung wahrnehmen sollen, und nicht sie. Aber nachdem wir uns eine Stunde lang vorgearbeitet hatten, hielt die Vermesserin auf den Stufen vor mir an.

»Findest du nicht auch, dass die Worte … frischer aussehen?«

»Frischer?«

»Neueren Datums.«

Ich starrte sie einen Augenblick lang einfach an. Ich hatte mich an die Situation gewöhnt, hatte mich angestrengt, vorgeblich der objektive Beobachter zu sein, der schlicht Details katalogisiert. Aber jetzt fühlte ich die ganze, hart erkämpfte Objektivität entgleiten.

»Mach doch mal dein Licht aus«, schlug ich ihr vor, während ich das Gleiche tat.

Die Vermesserin zögerte. Nachdem ich mich vorher so impulsiv gezeigt hatte, würde es wohl eine Zeit lang brauchen, bis sie mir wieder vertraute. Jedenfalls so weit vertraute, dass sie ohne nachzudenken einem Vorschlag folgte, der uns beide schlagartig in Dunkelheit hüllen würde. Aber sie tat es. Ich hatte nämlich meine Waffe vorsätzlich im Halfter am Gürtel stecken lassen; sie hätte mich im Nu mit ihrem Sturmgewehr töten können, das sie nur mit einer fließenden Bewegung über die Schulter zu ziehen brauchte. Diese Vorahnung von Gewalt machte rational überhaupt keinen Sinn, und doch stellte sie sich bei mir so einfach ein, als wäre sie mir von äußeren Mächten in den Kopf gepflanzt worden.

Während der Herzschlag des Turms seinen Rhythmus gegen mein Trommelfell schlug, schienen sich die Buchstaben in der Dunkelheit hin und her zu wiegen, während die Wände unter ihrem Atem erzitterten und ich sah, dass die Worte wirklich lebhafter schienen, die Farben strahlender, das Aufblitzen intensiver, als ich es von den oberen Ebenen in Erinnerung hatte. Der Effekt war sogar noch deutlicher sichtbar, als wären die Worte plötzlich mit Tinte und Füller geschrieben worden. Der strahlende, feuchte Schwung des Neuen.

Dieser Ort war völlig unmöglich, und so sagte ich es, bevor die Vermesserin es sagen konnte, damit es mir niemand nehmen konnte.

»Irgendetwas unter uns schreibt diesen Text. Vielleicht ist irgendetwas da unter uns noch immer dabei, diesen Text zu schreiben.« Wir erkundeten einen Organismus, der vielleicht einen zweiten mysteriösen Organismus beherbergte, der seinerseits einen weiteren Organismus benutzte, um Worte an die Wand zu schreiben. Dagegen wirkte der verwilderte Pool meiner Jugend primitiv, ja eindimensional.

Wir schalteten unsere Leuchten wieder ein. In den Augen der Vermesserin erkannte ich Furcht, aber auch eine merkwürdige Entschlossenheit. Ich habe keine Ahnung, was sie im meinen erblickte.

»Warum hast du etwas gesagt?«, fragte sie.

Ich sah sie verständnislos an.

»Warum hast du ›irgendetwas‹ anstatt ›irgendjemand‹ gesagt?«

Ich zuckte bloß mit den Schultern.

»Zieh deine Waffe«, sagte die Vermesserin, und die Spur von Entrüstung in ihrer Stimme verbarg irgendwelche tiefer liegenden Gefühle.

Ich tat, was mir gesagt wurde, weil es für mich wirklich keinen Unterschied machte. Aber mit der Waffe in der Hand fühlte ich mich schwerfällig und sonderbar, als wäre das die falsche Reaktion auf die komplizierte Beschaffenheit dessen, was uns erwartete.

Während ich bis zu diesem Punkt die Führung übernommen hatte, schien es jetzt so, als hätten wir die Rollen getauscht, und folglich änderte sich der Charakter unserer Untersuchung. Offensichtlich hatte sich unser Plan geändert. Wir hörten auf, die Worte und Lebewesen an der Wand zu dokumentieren. Wir bewegten uns schneller vorwärts und unsere Aufmerksamkeit galt der Dunkelheit, die sich vor uns erstreckte. Wir flüsterten nur noch, als könnte uns jemand hören. Ich ging voran, während die Vermesserin mir von hinten Deckung gab, bis wir zur nächsten Kurve kamen, wo sie voranging und ich ihr folgte. An keiner Stelle sprachen wir davon, umzukehren. Die Psychologin, die uns den Rücken freihielt, hätte auch Tausende von Kilometern entfernt sein können. Das Wissen, dass es da unten eine Antwort geben könnte, hatte uns bis zum Anschlag mit einer nervösen Energie vollgepumpt. Eine lebendige, atmende Antwort.

Jedenfalls wären das vielleicht die Worte der Vermesserin gewesen. Sie konnte das Pochen der Wände nicht hören oder fühlen. Aber während wir weitergingen, konnte auch ich mir den Schreiber dieser Worte nicht mehr vorstellen. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen als das, was ich auf unserem Weg zum Basislager gesehen hatte, bei meinem Blick zurück zur Grenze: eine verschwommene weiße Leere. Und doch wusste ich, dass es vielleicht etwas Nichtmenschliches war.

Warum? Aus einem sehr guten Grund – den die Vermesserin schließlich bemerkte, nachdem wir weitere zwanzig Minuten lang vorgedrungen waren.

»Hier ist jetzt was auf dem Boden«, sagte sie.

Ja, da war was auf dem Boden. Schon seit einiger Zeit waren die Stufen mit einer Art Ablagerung überzogen. Ich hatte nicht angehalten, um den Belag zu untersuchen, weil ich die Vermesserin nicht verunsichern wollte und nicht wusste, ob sie ihn überhaupt wahrnahm. Der Belag bedeckte die Fläche vom linken Rand der Wand bis etwa sechzig Zentimeter vor der rechten. Das heißt, er zog sich etwa zweieinhalb Meter breit über die Treppenstufen.

»Ich schau mir das mal an«, sagte ich und ignorierte ihren bebenden Finger. Ich kniete nieder und drehte mich, um die Helmleuchte auf die Stufen über uns zu richten. Die Vermesserin stieg wieder herauf und schaute mir über die Schulter. Der Belag funkelte in einem gedämpften goldenen Schimmer, in den Flecken eingesprenkelt waren, rot wie getrocknetes Blut. Er schien teilweise reflektierend zu sein. Ich nahm einen Stift zum Sondieren.

»Er ist zähflüssig, wie Schleim«, sagte ich. »Und auf den Stufen etwa einen guten Zentimeter stark.«

Es machte den Eindruck, als würde etwas die Treppen hinabfließen.

»Was ist mit diesen Spuren«, fragte die Vermesserin und beugte sich vor, um noch einmal auf etwas zu zeigen. Sie flüsterte, was mir sinnlos vorkam, und ihre Stimme schien zu stocken. Aber jedes Mal, wenn ihre Panik stärker zu werden schien, wurde ich ruhiger.

Ich sah mir die Spuren genauer an. Als wäre etwas gerutscht, oder geschleift worden, aber so langsam, dass der Belang noch weiteres enthüllte. Die Spuren hatten eine ovale Form und waren knapp dreißig Zentimeter lang und halb so breit. Über die gesamte Breite der Stufen gab es sechs, in zwei Reihen. Einkerbungen innerhalb dieser Form ließen an knapp zehn Zentimeter lange Wimpern denken, die in einen geschlossenem Kreis oder eine Knolle ausliefen. Etwa fünfundzwanzig Zentimeter außerhalb der Abdrücke gab es zwei Linien, die einen unregelmäßigen Doppelkreis bildeten. Dieser Kreis ging wellenförmig über den Abdruck hinaus und dann wieder zurück, wie der Saum eines Kleides. Jenseits dieses »Saums« gab es undeutliche Anzeichen weiterer »Wellen«, als sei irgendeine Kraft von einem Zentralkörper ausgegangen, der die Spuren hinterlassen hatte. Sie erinnerten stark an die Ränder im Sand, die die Ebbe bei zurückweichendem Wasser hinterlässt. Allerdings hatte irgendetwas die Ränder verwischt und unscharf gemacht, wie bei einer Kohlezeichnung.

Ich war fasziniert von dieser Entdeckung. Ich konnte nicht aufhören, die Spur anzustarren, die Wimperkerben. Ich stellte mir vor, dass ein Lebewesen so die Neigung der Stufen ausgleichen würde, wie der Bildstabilisator in einer Kamera die Unebenheiten eines Wegs.

»Hast du jemals irgendetwas Ähnliches gesehen?«, fragte die Vermesserin.

»Nein«, antwortete ich. Mühsam verkniff ich mir eine sarkastischere Antwort. »Nein, habe ich niemals.« Bestimmte Trilobiten, Schnecken und Würmer hinterließen vage ähnliche Spuren. Ich war überzeugt, dass niemand in der Welt, die wir hinter uns gelassen hatten, jemals eine so komplexe und so großflächige Spur gesehen hatte.

»Und was ist damit?« Die Vermesserin deutete auf eine Stufe etwas weiter oben.

Ich richtete das Licht darauf und sah etwas, das einem Stiefelabdruck im Belag ähnelte. »Nur einer unserer eigenen Stiefel.« Vergleichsweise banal. Langweilig.

Ihre Helmleuchte schaukelte von links nach rechts und wieder zurück, während sie den Kopf schüttelte. »Nein. Schau doch.«

Sie zeigte auf die Abdrücke meiner und ihrer Stiefel. Der Abdruck war von einem dritten Paar, und führte die Stufen hinauf.

»Du hast Recht«, sagte ich. »Da war noch jemand hier unten, noch gar nicht so lange her.«

Die Vermesserin fing an zu fluchen.

In diesem Augenblick dachten wir nicht daran, nach weiteren Stiefelabdrücken zu suchen.


Den Aufzeichnungen zufolge, die man uns gezeigt hatte, war der ersten Expedition nichts ungewöhnliches in Area X aufgefallen, nichts als unberührte, leere Wildnis. Nachdem die zweite und die dritte Expedition nicht zurückkehrten, und sich ihr Schicksal herumsprach, wurden die Expeditionen eine Zeitlang eingestellt. Als sie wieder aufgenommen wurden, bestanden sie aus Freiwilligen, die das ganze Risiko zumindest erahnen konnten. Seitdem waren einige Expeditionen erfolgreicher verlaufen als andere.

Die elfte Expedition hatte sich als besonders schwierig herausgestellt – und für mich persönlich schwierig auf Grund eines Umstands, bei dem ich bisher nicht ganz ehrlich war. Ich habe etwas verschwiegen.

Mein Ehemann gehörte der elften Expedition an, als Sanitäter. Er wollte nie Arzt werden, aber immer »Erste Hilfe« leisten oder mit Traumatisierten arbeiten. »Eine Triage-Krankenschwester im Außendienst«, wie er es nannte. Er war von einem Freund für Area X rekrutiert worden, der sich an ihn aus gemeinsamen Zeiten bei der Navy erinnerte, bevor mein Mann in den Sanitätsdienst wechselte. Er hatte nicht sofort ja gesagt, war sich unsicher, aber mit der Zeit hatten sie ihn überzeugt. Das führte zu häufigem Streit zwischen uns, obwohl wir bereits jede Menge Probleme miteinander hatten.

Mir ist klar, dass die Information wohl jedermann zugänglich ist, aber ich habe gehofft, dass Sie mich beim Lesen dieses Berichts für eine zuverlässige, objektive Zeugin halten. Nicht für jemanden, der sich auf Grund von anderen Ereignissen für Area X gemeldet hat, die mit dem unmittelbaren Zweck der Expedition nichts zu tun haben. In gewisser Weise stimmt das immer noch, und dass mein Mann Mitglied einer Expedition war, hat in vielerlei Hinsicht nichts mit den Gründen zu tun, aus denen ich angeheuert habe.

Aber wie hätte mich Area X auch kalt lassen sollen, und sei es nur wegen ihm? Eines Abends, etwa ein Jahr, nachdem er zur Grenze aufgebrochen war, lag ich alleine im Bett und hörte jemanden in der Küche. Bewaffnet mit einem Baseballschläger verließ ich das Schlafzimmer und machte überall im Haus die Lichter an. Ich fand meinen Mann neben dem Kühlschrank in voller Expeditionsmontur, wie er Milch trank, bis sie ihm über Kinn und Hals rann; allerlei Reste in sich hineinstopfte, als hätte er seit Monaten nichts Richtiges zu essen bekommen.

Ich war sprachlos. Ich konnte ihn nur anstarren, als wäre er eine Erscheinung, die sich bei einem Wort oder einer Bewegung meinerseits in Luft auflösen würde.

Dann saßen wir im Wohnzimmer, er auf dem Sofa und ich in einem Sessel, ihm gegenüber. Ich brauchte etwas Abstand von dieser plötzlichen Erscheinung. Er wusste nicht, wie er aus Area X herausgekommen war, hatte keinerlei Erinnerungen an den Rückweg nach Hause. An die Expedition selbst konnte er sich nur noch sehr vage erinnern. Er strahlte eine merkwürdige Ruhe aus, die nur von Momenten leichter Panik bei allen Fragen durchbrochen wurde, die ich ihm über die Geschehnisse stellte; dann merkte er, dass er einen unnatürlichen Gedächtnisverlust erlitten hatte. Offenbar erinnerte er sich auch nicht mehr daran, dass unsere Ehe schon dabei war in die Brüche zu gehen, bevor wir anfingen, uns über seinen Aufbruch nach Area X zu streiten. Er zeigte jetzt genau jene Distanziertheit, die er in der Vergangenheit mir mal mehr, mal weniger dezent vorgeworfen hatte.

Nach einer Weile konnte ich es nicht länger ertragen. Ich schickte ihn unter die Dusche, führte ihn dann zum Schlafzimmer, zog ihn aus, legte ihn unter mich und liebte ihn. Ich versuchte, Überreste des Mannes zurückzuholen, an den ich mich erinnerte, der Mann, der – so ganz anders als ich – kontaktfreudig und leidenschaftlich war und sich immer nützlich machen wollte. Der Mann, der ein begeisterter Freizeitsegler war und zwei Wochen im Jahr mit ein paar Freunden in Richtung Küste verschwand, um zu segeln. Nichts von all dem fand ich jetzt in ihm wieder.

Die ganze Zeit, die er in mir steckte, schaute er mit einem Ausdruck zu mir auf, der mir sagte, dass er sich an mich erinnerte, aber nur wie durch eine Art Nebel. Trotzdem half mir das eine Zeitlang. Es machte ihn realer, jedenfalls konnte ich mir das einreden.

Aber nur eine Zeitlang. Er war nur für vierundzwanzig Stunden wieder in mein Leben getreten. Sie holten ihn am nächsten Abend, und nachdem ich erst einmal die langatmige Sicherheitsüberprüfung durchlaufen hatte, besuchte ich ihn in der Einrichtung, wo er unter Beobachtung stand, bis zum Ende. Jener antiseptische Ort, an dem sie ihn immer wieder Tests unterzogen und erfolglos versuchten, hinter seine Gelassenheit und den Gedächtnisverlust zu kommen. Er begrüßte mich wie eine alte Freundin – ein Rettungsanker, der seiner Existenz einen Sinn verlieh –, aber nicht wie eine Geliebte. Ich gestehe, dass ich dorthin ging, weil ich hoffte, noch einen Funken jenes Mannes zu wiederzufinden, den ich einmal gekannt hatte. Aber ich fand ihn nicht. Selbst an dem Tag, als mir gesagt wurde, er sei an einem inoperablen, im ganzen Körper verteilten Krebs erkrankt, starrte mich mein Ehemann mit einem leicht verwirrten Gesichtsausdruck an.

Sechs Monate später war er tot. Während der ganzen Zeit gelang es mir nicht, hinter die Maske vorzudringen, zu dem Mann vorzustoßen, der er einmal gewesen war. Nicht durch unser persönliches Zusammenkommen, auch nicht, indem ich schließlich die Befragungen beobachtete, denen er und die anderen Mitglieder des Teams unterzogen wurden. Alle starben an Krebs.

Was auch immer in Area X passiert war, er war nicht zurückgekommen. Nicht wirklich.


Wir gingen sogar noch weiter, tiefer hinab ins Dunkel, und ich konnte nicht umhin mich zu fragen, ob auch mein Mann dies alles erlebt hatte. Ich wusste nicht, ob meine Infektion alles veränderte. Waren wir auf der gleichen Reise, oder hatte er etwas komplett anderes vorgefunden? Falls gleich, wie anders hatte er reagiert, und hätte das etwas an dem geändert, was als nächstes geschah?

Der Schleim auf dem Weg wurde dicker, und wir konnten jetzt erkennen, dass die roten Flecken lebende Organismen waren, weil sie aus irgendetwas Darunterliegendem kamen, denn sie schlängelten sich durch die zähflüssige Schicht. Die Farbe der Substanz wurde intensiver, so dass sie an einen funkelnden goldenen Teppich erinnerte, der vor uns ausgerollt war, um uns den Weg zu einem merkwürdigen, aber großartigen Bankett zu weisen.

»Sollen wir zurückgehen?«, fragte mal die Vermesserin, mal ich.

Und die andere antwortete: »Nur noch um die nächste Ecke. Nur noch ein bisschen weiter, und dann gehen wir zurück.« Es war ein Test für unser fragiles Vertrauensverhältnis. Es war ein Test unserer Neugier und Faszination, die Seite an Seite mit unserer Angst einhergingen. Ein Test, ob wir es vorzogen, unwissend zu bleiben oder uns einer Gefahr auszusetzen. Das Gefühl an unseren Stiefeln, die wir vorsichtig Schritt für Schritt durch den zähflüssigen Belag schoben, die Art, in der die Schwüle uns Probleme bereitete, während wir uns mühsam vorwärts bewegten, würde schließlich zur Bewegungsunfähigkeit führen, das war uns klar. Wenn wir es zu weit trieben.

Aber dann verschwand die Vermesserin um die nächste Ecke, nur um gleich wieder in mich hineinzuprallen und mich die Stufen hochzuschieben. Ich ließ es zu.

»Da unten ist irgendwas auf den Stufen«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Etwas wie ein Körper oder ein Mensch.«

Ich verzichtete auf den Hinweis, dass ein Körper auch ein Mensch sein könne. »Schreibt es Worte an die Wand?«

»Nein – zusammengesackt an der Wand.« Ihr Atem unter der Maske ging schnell und flach.

»Ein Mann oder eine Frau?«, fragte ich.

»Ich glaube, es ist ein Mensch«, ignorierte sie meine Frage. »Ich glaube, es ist ein Mensch. Glaube ich.« Körper waren eine Sache; aber keine Ausbildung bereitet dich darauf vor, einem Monster gegenüberzutreten.

Aber wir konnten den Turm nicht wieder verlassen, ohne zunächst dieses neue Geheimnis zu untersuchen. Wir konnten einfach nicht. Ich nahm sie bei den Schulter und sah ihr direkt in die Augen. »Du sagst, es sieht wie jemand aus, der an die Wand gelehnt sitzt. Das hat nichts mit den Spuren zu tun, die wir verfolgen. Das sind die anderen Stiefelabdrücke. Das weißt du doch. Was immer das ist, wir können riskieren, es uns anzusehen, und dann gehen wir zurück nach oben. Wir gehen nicht weiter, egal was wir finden, das verspreche ich dir.«

Die Vermesserin nickte. Die Vorstellung, dass es nicht weiter nach unten ging reichte aus, um sie zu beruhigen. Nur noch diese eine Sache durchstehen, und dann siehst du bald die Sonne wieder.

Wir gingen zurück nach unten. Die Stufen schienen jetzt besonders glitschig zu sein, obwohl es auch an unserem Zittern liegen konnte, und wir gingen langsam und stützten uns an der leeren, rechten Seite der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Turm schwieg, hielt den Atem an, sein Herzschlag hatte sich plötzlich verlangsamt und kam wie aus weiter Ferne, aber vielleicht übertönte das Rauschen des Bluts in meinem Kopf auch einfach alles andere.

Als ich um die Ecke kam, sah ich die Gestalt und richtete mein Helmlicht auf sie. Ich musste das sofort tun, denn nur einen Augenblick später hätte mich der Mut schon verlassen. Es war der Körper der Anthropologin, der an der linken Wand zusammengesackt war, die Hände lagen in ihrem Schoß, der Kopf nach vorne geneigt wie im Gebet, etwas Grünes quoll aus ihrem Mund. Ihre Kleidung schien merkwürdig flockig, verschwommen. Ein schwacher goldener Schimmer umspielte ihren Körper, kaum wahrnehmbar; ich konnte mir vorstellen, dass die Vermesserin ihn überhaupt nicht bemerkte. Völlig unvorstellbar, dass die Anthropologin noch lebte. Die Psychologin hat uns belogen, dieser eine Gedanke beherrschte mich, und plötzlich bekam die Vorstellung, dass sie weit oben über uns den Eingang bewachte, eine unerträglich Schwere.

Ich streckte der Vermesserin eine Handfläche entgegen und bedeutete ihr so zu bleiben, wo sie war, nämlich hinter mir, und ging dann weiter voran in die Dunkelheit. Ich ging weit genug an dem Körper vorbei, um sicherzustellen, dass die Stufen unter ihm leer waren, und eilte dann zurück zur Anthropologin.

»Pass auf, während ich sie mir anschaue«, zischte ich der Vermesserin zu. Ich sagte ihr nicht, dass ich ein ganz schwaches Echo von irgendwas gespürt hatte, viel tiefer unten, das sich langsam bewegte.

»Ist es ein Körper?«, sagte die Vermesserin. Vielleicht hatte sie etwas viel Merkwürdigeres erwartet. Vielleicht dachte sie auch, die Gestalt würde einfach nur schlafen.

»Es ist die Anthropologin«, sagte ich und sah, wie sich ihre Schultern bei dieser Information verkrampften. Ohne ein Wort zu verlieren, hastete sie an mir vorbei und bezog gleich hinter dem Körper Position, das Sturmgewehr im Anschlag Richtung Dunkel.

Behutsam kniete ich neben der Anthropologin nieder. Von ihrem Gesicht war nicht mehr viel übrig, die verbliebene Haut war von merkwürdigen Brandmalen überzogen. Aus ihrem gebrochenen Kiefer, der aussah, als hätte ihn jemand brutal aufgerissen, ergoss sich ein Schwall grüner Asche, der auf der Brust einen Hügel gebildet hatte. Ihre Hände lagen mit den Handflächen nach oben in ihrem Schoß, sie waren bar jeglicher Haut, nur von einer Art hauchdünner Fäden und mehr Brandmalen überzogen. Die Beine schienen wie miteinander verschweißt und halb zerschmolzen, ein Stiefel war gegen die Wand geflogen und der andere fehlte. Um die Anthropologin herum lagen einige Probenröhrchen verstreut, wie ich sie auch mit mir führte. Ihr schwarzes Kästchen lag zertreten weit entfernt von ihrem Körper. Ihre Waffe konnte ich nirgends entdecken.

»Was ist bloß mit ihr passiert?«, flüsterte die Vermesserin. Sie warf mir nervöse Blicke zu, so als wäre das, was passiert war, noch nicht zu Ende. Als würde sie erwarten, dass die Anthropologin wieder zu einer entsetzlichen Lebendigkeit erwachen würde.

Ich antwortete nicht. Mehr als ein Ich habe keine Ahnung hätte ich nicht herausgebracht, ein Satz, der zu einer Art Beweis unserer Ignoranz oder Inkompetenz zu werden schien. Oder beides.

Ich leuchtete mit meiner Lampe die Wand oberhalb der Anthropologin aus. In einem größeren Bereich wurde die Schrift unregelmäßig, brach nach oben oder unten aus, bevor sie wieder ins Gleichgewicht geriet.

die Schatten des Abgrunds sind wie die Blätter einer monströsen Blume die aus dem Schädel erblüht und den Geist über alles hinaus weitet, was ein Mensch ertragen kann

»Ich glaube, sie hat den Schöpfer der Wandtexte bei seiner Arbeit gestört«, sagte ich.

»Und er hat ihr das angetan?« Sie bettelte geradezu darum, dass ich eine andere Erklärung fand.

Aber ich hatte keine, und so antwortete ich nicht, ging nur wieder dazu über, mir alles genau anzusehen, während sie weiterhin dastand und mich beobachtete.

Eine Biologin ist keine Kriminalbeamtin, aber ich begann wie eine zu denken. Ich musterte den gesamten Boden, erkannte meine Fußabdrücke und die der Vermesserin. Die ursprünglichen Abdrücke waren durch unsere undeutlicher geworden, aber es gab noch Spuren davon. Zunächst einmal, das Ding – und was auch immer die Vermesserin sich erhoffte, ich sah da nichts Menschliches am Werk – hatte sich offenbar in einer Art Raserei herumgedreht. Anstelle der weichen gleitenden Spuren formte der Belag eine Art rechtsdrehenden Wirbel, die Abdrücke der »Füße« (ich stellte sie mir als solche vor) waren jetzt plötzlich länglicher und lagen näher zusammen. Aber mitten auf diesem Wirbel konnte ich Stiefelabdrücke erkennen. Ich holte mir den einzelnen Stiefel und ging vorsichtig um dieses Indiz eines Zusammentreffen herum. Die Stiefelabdrücke in der Mitte des Wirbels stammten tatsächlich von der Anthropologin – und ich konnte weiteren teilweise unvollständigen Abdrücken bis hinten zum rechten Teil der Wand folgen, als ob sie diese umarmt hätte.

Langsam begann sich ein Bild in meinem Kopf zusammenzusetzen, von der Anthropologin, die in die Dunkelheit hinunterkroch, um den Schöpfer der Schrift zu beobachten. Die glitzernden, um sie herum verstreuten Glasröhrchen ließen mich vermuten, dass sie wohl gehofft hatte, Proben nehmen zu können. Aber wie irrwitzig oder blind war das! Welch ein Risiko war sie eingegangen, und die Anthropologin war mir nie besonders impulsiv oder mutig vorgekommen. Ich stand dort einen Augenblick, dann verfolgte ich die Spuren zurück auf die Treppe und bedeutete der Vermesserin, auf ihrem Posten zu bleiben, sehr zu ihrer Bestürzung. Vielleicht wäre sie ruhiger gewesen, wenn es tatsächlich ein Ziel für ihr Sturmgewehr gegeben hätte, aber wir waren allein mit dem, was sich in unserer Phantasie abspielte.

Ein Dutzend weitere Stufen nach oben, wo man die tote Anthropologin gerade noch im Blick hatte, fand ich zwei Paar Stiefelabdrücke, die sich gegenüber standen. Eines gehörte zur Anthropologin. Das andere weder zu mir, noch zu der Vermesserin.

Plötzlich passten die Puzzleteile zueinander und ich sah vor meinem inneren Auge, wie sich alles abgespielt hatte. Mitten in der Nacht hatte die Psychologin die Anthropologin geweckt, sie unter Hypnose gesetzt und war mit ihr zusammen zum Turm gegangen und bis hierher mit ihr hinabgestiegen. Genau hier hatte die Psychologin der Anthropologin einen weiteren hypnotischen Befehl gegeben, von dem sie möglicherweise wusste, dass er auf etwas Selbstmörderisches hinauslief, und die Anthropologin war direkt auf das Ding losgegangen, das die Worte auf die Wand schrieb und hatte versucht, eine Probe zu nehmen – und war dabei umgekommen, wahrscheinlich qualvoll. Dann war die Psychologin geflohen, und deshalb fand ich keine Abdrücke ihrer Stiefel, als ich wieder nach unten ging.

War es Mitleid oder Mitgefühl, was ich für die Anthropologin empfand? Machtlos, in der Falle, ohne Ausweg.

Die Vermesserin wartete ängstlich auf mich. »Und, was hast du gefunden?«

»Die Anthropologin war nicht alleine hier unten.« Ich berichtete ihr meine Theorie.

»Aber warum sollte die Psychologin so etwas tun?«, fragte sie mich. »Wir wollten doch zusammen am Morgen sowieso wieder hierher kommen?«

Ich hatte das Gefühl, die Vermesserin durch das falsche Ende eines Fernglases anzusehen.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich, »aber sie hat uns alle hypnotisiert, und nicht nur, damit wir im Kopf klar bleiben. Vielleicht dient diese Expedition noch anderen, uns unbekannten Zwecken.«

»Hypnose.« Sie sagte das Wort dahin, als sei es ohne Bedeutung. »Woher weißt du das? Mit dem Hypnotisieren.« Die Vermesserin schien sich zu ärgern – ob über mich oder meine Theorie konnte ich nicht sagen. Ich konnte aber verstehen, warum.

»Weil ich irgendwie dagegen immun geworden bin. Sie hat dich heute hypnotisiert, bevor wir hier runter gegangen sind, um ganz sicher zu sein, dass du deine Pflicht erfüllst. Ich war dabei, ich habe es gesehen.« Ich wollte der Vermesserin alles beichten – ihr erzählen, wie ich immun geworden bin, hielt das aber für einen Fehler.

»Und du hast nichts unternommen? Falls das nicht gelogen ist.« Zumindest hielt sie es nicht für völlig abwegig, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Vielleicht hatte sie doch noch eine verschwommene Resterinnerung an das Geschehen.

»Ich wollte nicht, dass die Psychologin merkt, dass sie mich nicht hypnotisieren kann.« Und ich wollte hier herunter kommen.

Die Vermesserin ließ sich das durch den Kopf gehen.

»Glaub mir, oder glaub mir nicht«, sagte ich. »Aber eines kannst du mir glauben: Wenn wir wieder oben sind, müssen wir mit allem rechnen. Vielleicht müssen wir die Psychologin unter Arrest stellen oder sogar töten, weil wir nicht wissen, was sie vorhat.«

»Was sollte sie schon vorhaben?«, fragte die Vermesserin. War das Verachtung in ihrer Stimme, oder bekam sie es wieder mit der Angst zu tun?

»Weil sie andere Befehle als wir bekommen haben muss«, sagte ich, als würde ich es einem Kind erklären.

Darauf antwortete sie nicht, und ich nahm das als Zeichen, dass sie sich mit der Idee anfreundete.

»Ich muss vorgehen, weil sie mich nicht beeinflussen kann. Und du musst die hier tragen. Vielleicht hilft das, dem nächsten Hypnosebefehl entgegenzuwirken.« Ich gab ihr mein zweites Paar Ohrstöpsel.

Sie nahm sie zögernd. »Nein«, sagte sie. »Wir gehen zusammen da hoch, gleichzeitig.«

»Das ist nicht vernünftig«, sagte ich.

»Das ist mir völlig egal. Du gehst jedenfalls nicht ohne mich nach oben. Ich warte nicht hier unten im Dunklen, bis du alles in Ordnung gebracht hast.«

Ich dachte einen Moment darüber nach und sagte dann: »In Ordnung. Aber wenn ich sehe, dass sie dich zu etwas zwingen will, dann werde ich sie davon abhalten.« Oder es zumindest versuchen.

»Falls du Recht hast«, sagte die Vermesserin. »Falls du die Wahrheit sagst.«

»Sage ich.«

Sie ignorierte meine Antwort. »Was machen wir mit dem Körper?«

Hieß das, wir waren uns einig? Ich hoffte es. Vielleicht würde sie auch versuchen, mich auf dem Weg nach oben zu entwaffnen. Vielleicht hatte die Psychologin sie schon diesbezüglich instruiert?

»Wir lassen die Anthropologin hier. Wir können uns nicht mit ihr belasten, und wir wissen auch nicht, welche Kontaminanten wir mit ihr nach oben bringen.«

Die Vermesserin nickte. Zumindest war sie nicht sentimental. Dieser Körper hatte mit der Anthropologin nichts mehr zu tun, das war uns beiden klar. Ich musste mich sehr anstrengen, nicht an die letzten Minuten der Anthropologin zu denken, den Horror, den sie bei der Ausführung einer Aufgabe empfunden haben musste, die ihr jemand anderes aufgezwungen hatte, und die ihren Tod bedeutete. Was hatte sie gesehen? Worauf hatte sie geschaut, bevor alles dunkel wurde?

Ehe wir uns auf den Rückweg machten, nahm ich noch eines der Glasröhrchen, die um die Anthropologin verstreut lagen. Es enthielt Spuren einer dicken, fleischartigen Substanz, die dunkelgolden schimmerte. Vielleicht hatte sie, kurz vor ihrem Ende, doch noch eine brauchbare Probe eingesammelt.


Während wir dem Licht entgegenstiegen, versuchte ich mich abzulenken. Immer wieder ging ich alle Stationen unserer Ausbildung durch, um einen Hinweis, einen Fetzen Information zu finden, der irgendeine Erklärung dessen bot, was wir entdeckt hatten. Aber mir fiel nichts ein und ich konnte nur über meine Gutgläubigkeit staunen, dass man uns überhaupt irgendetwas von Nutzen beigebracht hatte. Man hatte immer betont, wie wichtig unsere jeweiligen Fähigkeiten und unser Grundlagenwissen seien. Aber im Rückblick sehe ich deutlich, wie wir willentlich im Unklaren gelassen oder irregeleitet wurden, und das unter dem Vorwand, wir sollten keine Angst haben oder uns überfordert fühlen.

Die Karte war das erste Mittel zur Irreführung gewesen, denn was war eine Landkarte wert, die bestimmte Dinge herausstellte, andere aber verheimlichte? Immer wieder hatte man uns auf die Karte verwiesen, deren Details wir auswendig lernen sollten. Unser namenloser Ausbilder hatte mit uns sechs Monate lang die Lage des Leuchtturms im Verhältnis zum Basiscamp gepaukt, die Kilometer zwischen dem einen Flecken verfallener Häuser bis zum nächsten. Die Länge des Küstenstreifens, den wir erkunden sollten. Und fast immer in Bezug auf den Leuchtturm, nicht das Basislager. Wir fühlten uns so wohl mit der Karte, mit ihren Dimensionen und dem Gedanken, was darauf alles verzeichnet war, dass wir gar nicht auf die Idee kamen zu fragen, warum oder was.

Warum dieser Teil des Küstenstreifens? Was würden wir im Leuchtturm finden? Warum befand sich das Lager im Wald, weit entfernt vom Leuchtturm, aber nahe am Turm (der auf der Karte natürlich nicht verzeichnet war) – und war das Lager schon immer hier gewesen? Was befand sich jenseits der Karte? Da ich jetzt um das Ausmaß der hypnotischen Befehle wusste, wurde mir klar, dass die Konzentration auf die Karte vielleicht selbst ein verkappter Fingerzeig sein mochte. Dass wir keine Fragen stellten, weil wir programmiert waren, keine Fragen zu stellen. Dass der Leuchtturm, sei es nun stellvertretend oder tatsächlich, möglicherweise der unbewusste Auslöser für einen hypnotischen Befehl war? War er vielleicht das Epizentrum dessen, was sich ausgebreitet und zu Area X geworden war?

Meine Einweisung in die Ökologie des Gebiets war ähnlich borniert verlaufen. Den größten Teil der Zeit hatte ich mich mit der Natur eines Ökosystems im Übergang vertraut gemacht, mit Flora und Fauna und der Bestäubung verschiedener Pflanzen untereinander, mit der ich wohl rechnen musste. Ich hatte aber auch einen intensiven Auffrischungskurs über Pilze und Flechten mitgemacht, und im Lichte dessen, was wir an den Wänden des Turms vorgefunden hatten, schien dieser sich jetzt als wahrer Kern meiner Studien herauszustellen. Wenn die Karte ein reines Ablenkungsmanöver sein sollte, dann waren die ökologischen Forschungsarbeiten im Grunde genommen meine eigentliche Vorbereitung. Es sei denn, ich hatte paranoide Wahnvorstellungen. Aber wenn nicht, dann hieß das, dass sie von dem Turm wussten, vielleicht schon immer davon gewusst hatten.

Von da an wuchs mein Misstrauen. Man hatte uns durch ein derart strapaziöses Überlebens- und Waffentraining gejagt, dass wir an den meisten Abenden direkt in unsere jeweilige Unterkunft schlafen gingen. Selbst bei den wenigen Gelegenheiten für ein gemeinsames Training trainierte jede für sich allein. Im zweiten Monat nahmen sie uns die Namen, entzogen sie uns. In Area X hatten nur Dinge einen Namen, und dann auch nur in ihrer allgemeinsten Form. Auch das war eine Art, uns von bestimmten Fragen abzuhalten, die zu stellen es das Wissen spezifischer Details gebraucht hätte. Aber die richtigen spezifischen Details, und nicht etwa, dass es sechs Arten giftige Schlangen in Area X gab. Ein weites Feld, ja, aber ich war nicht in der Stimmung, selbst die unwahrscheinlichsten Szenarien außer Acht zu lassen.

Als wir dann endlich so weit waren, die Grenze zu überschreiten, wussten wir alles … und wussten doch nichts.


Als wir herauskamen, ins helle Sonnenlicht blinzelten, uns die Masken herunterrissen und die frische Luft einatmeten, fehlte von der Psychologin jede Spur. Wir hatten uns auf alle möglichen Szenarien eingestellt, aber nicht auf die Abwesenheit der Psychologin. Wir waren eine Zeitlang ratlos, ja hilflos an diesem völlig normalen Tag mit seinem strahlend blauen Himmel, unter dem die Bäume lange Schatten warfen. Ich nahm meine Ohrstöpsel heraus und stellte fest, dass von dem Herzschlag des Turms nichts mehr zu hören war. Das Nebeneinander dessen, was wir gesehen hatten, und der Alltagswelt war verwirrend. Es war, als wären wir zu schnell aus der Tiefsee emporgestiegen, aber die Dekompressionskrankheit wurde von der Erinnerung an die Lebewesen hervorgerufen, die wir gesehen hatten. Wir suchten einfach das Gelände weiter nach der Psychologin ab, waren sicher, dass sie sich irgendwo versteckte, hofften halbherzig, dass wir sie finden würden, denn sie hatte doch sicher eine Erklärung parat. Nach einer Weile grenzte es ans Krankhafte, dasselbe Gelände rund um den Turm immer wieder abzusuchen. Aber eine ganze Stunde lang konnten wir nicht damit aufhören.

Schließlich gab es keinen Weg mehr an der Wahrheit vorbei.

»Sie ist weg«, sagte ich.

»Vielleicht ist sie zurück zum Basislager gegangen«, sagte die Vermesserin.

»Würdest du mir zustimmen, dass ihr Verschwinden ein Eingeständnis von Schuld ist?«, fragte ich.

Die Vermesserin spuckte ins Gras und betrachtete mich eingehend. »Nein, würde ich nicht. Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen. Vielleicht musste sie zurück ins Lager gehen.«

»Du hast die Fußspuren gesehen. Den Körper.«

Sie gab mir ein Zeichen mit dem Gewehr. »Lass uns einfach zurück zum Basislager gehen.«

Ich wurde einfach nicht schlau aus ihr. Ich hatte keine Ahnung, ob sie sich gegen mich stellte oder einfach nur vorsichtig war. Dass wir wieder oben waren, hatte ihr offenbar Mut gemacht, und unsicher war sie mir lieber gewesen.

Aber als wir im Lager waren, fing ihre Entschlossenheit wieder an zu bröckeln. Die Psychologin war nicht da. Sie war nicht nur nicht da, sondern hatte die Hälfte unserer Vorräte und fast alle Waffen mitgenommen. Entweder das, oder sie hatte sie irgendwo vergraben. Aber wir wussten immerhin, dass die Psychologin noch lebte.

Ihr müsst begreifen, wie ich mich fühlte, wie die Vermesserin sich gefühlt habe muss: Wir waren Wissenschaftlerinnen, darin ausgebildet, Naturphänomene oder die Folgen menschlichen Handelns zu beobachten. Für die Begegnung mit dem Unheimlichen hatte es kein Training gegeben. In ungewöhnlichen Situationen kann sogar in der Konfrontation mit jemandem, der vielleicht dein Feind ist, ein gewisser Trost liegen. Jetzt waren wir auf etwas gestoßen, das beispiellos war, und hatten nach kaum einer Woche unserer Mission nicht nur die Linguistin vor der Grenze verloren, sondern inzwischen auch die Anthropologin und die Psychologin.

»Na gut, ich gebe auf«, sagte die Vermesserin, warf ihr Gewehr auf den Boden und ließ sich auf einen Stuhl vor dem Zelt der Anthropologin sacken, während ich darin herumstöberte. »Fürs erste werde ich dir glauben. Ich werde dir glauben, weil ich keine andere Wahl habe. Weil ich auch keine bessere Theorie habe. Was sollen wir jetzt tun?«

Es gab nicht viel im Zelt der Anthropologin, das einen Hinweis gegeben hätte. Das Entsetzen über das, was ihr zugestoßen war, rumorte immer noch in mir. In den eigenen Tod gezwungen zu werden. Wenn ich mich nicht täuschte, dann war die Psychologin eine Mörderin, viel mehr als etwas, das die Anthropologin tatsächlich umgebracht hatte.

Als ich nicht antwortete, wiederholte die Vermesserin, was sie gesagt hatte, und verlieh ihm zusätzlichen Nachdruck: »Also was zum Teufel sollen wir jetzt tun?«

Ich kam aus dem Zelt und sagte: »Wir untersuchen die Proben, die ich genommen habe, wir entwickeln die Fotos und sehen sie uns an. Und dann gehen wir morgen vielleicht wieder zurück in den Turm.«

Die Vermesserin suchte nach Worten und gab ein raues Lachen von sich. Einen Augenblick schien es, als würde es ihr das Gesicht zerreißen, vielleicht von der Anstrengung, einen weiteren hypnotischen Befehl zu bekämpfen. Schließlich rückte sie damit heraus: »Nein. Ich gehe da nicht noch mal runter. Und außerdem ist es ein Tunnel, kein Turm.«

»Und was willst du stattdessen machen?«, fragte ich sie.

Die Worte sprudelten aus ihr heraus, als sei ein Damm gebrochen, und sie klang viel entschlossener. »Wir gehen zurück zur Grenze und warten, dass man uns rausholt. Wir haben keine Ressourcen mehr, um weiterzumachen, und wenn du Recht hast, dann ist die Psychologin irgendwo da draußen und heckt etwas aus, auch wenn wir das vielleicht nur zu unserer Entschuldigung vorbringen können. Und wenn nicht, wenn sie tot oder verwundet ist, weil irgendetwas sie angefallen hat, dann ist das erst recht ein Grund, hier so schnell wie möglich zu verschwinden.« Sie hatte sich eine Zigarette angesteckt, eine der wenigen, die man uns mitgegeben hatte. Sie stieß zwei lange Rauchfahnen aus den Nasenlöchern.

»Ich bin noch nicht so weit, zurückzugehen«, ließ ich sie wissen. »Noch nicht.« Ich war es nicht mal ansatzweise, trotz allem, was passiert war.

»Du hast richtig was für diesen Ort übrig, stimmt’s?«, sagte die Vermesserin. Es war eigentlich keine Frage; eine Art Mitleid und Abscheu schwang in ihrer Stimme mit. »Glaubst du etwa, wir stehen das hier noch lange durch? Lass dir gesagt sein, dass ich sogar bei Manövern, die einen negativen Ausgang simulieren, schon bessere Chancen gesehen habe.«

Selbst wenn sie Recht haben sollte, aus ihren Worten sprach die Angst. Ich setzte auf Verzögerungstaktik.

»Lass uns das begutachten, was wir mit zurückgebracht haben. Zur Grenze zurück können wir auch noch morgen.«

Sie zog ein weiteres Mal an der Zigarette und verarbeitete das. Immerhin war es ein viertägiger Marsch zur Grenze.

»Stimmt schon«, sagte sie und gab für den Augenblick nach.

Ich sagte nicht, was mir durch den Kopf ging: dass es vielleicht nicht ganz so einfach war. Dass sie es zurück über die Grenze vielleicht nur im abstrakten Sinne schaffen würde, so wie bei meinem Mann – bar all dessen, was sie als Person ausmachte. Aber ich wollte vermeiden, dass sie das Gefühl bekam, es würde keinen Ausweg mehr geben.

Ich verbrachte den Rest des Nachmittags damit, mir die mitgebrachten Proben unter dem Mikroskop auf einem provisorischen Tisch vor dem Zelt anzusehen. Die Vermesserin beschäftigte sich mit dem Entwickeln der Fotos in ihrem Zelt, das als provisorische Dunkelkammer diente – ein frustrierender Vorgang, wenn man digitales Fotografieren gewöhnt war. Während die Fotos trockneten, ging sie noch einmal die Überreste der Karten und Papiere durch, die die vorhergegangene Expedition im Basislager hinterlassen hatte.

Meine Proben erzählten ein paar kryptische Geschichten samt Pointen, die ich nicht verstand. Die Zellen der Biomasse, die die Worte an die Wand schrieben, zeigten ungewöhnliche Strukturen, aber innerhalb einer akzeptablen Bandbreite. Oder sie waren äußerst erfolgreich darin, bestimmte Arten saprotrophischer Organismen nachzuahmen. Ich nahm mir vor, eine Probe aus der Wand hinter den Worten zu entnehmen. Ich hatte keine Vorstellung, wie tief die Fasern in der Wand wurzelten, oder ob es Knötchen darunter gab und die Fasern nur zum Schutz dienten.

Die Gewebeprobe des handförmigen Wesens entzog sich jeglicher Interpretation, was merkwürdig war, aber mich nicht weiterbrachte. Womit ich meine, die Probe enthielt keine Zellen: nur eine feste, bernsteinfarbene Oberfläche mit Luftbläschen drin. Damals interpretierte ich das als kontaminierte Probe oder Beweis dafür, dass dieser Organismus sich schnell zersetzte. Ein anderer Gedanke kam mir erst, als es schon zu spät für einen Test war: dass ich eine Reaktion bei der Probe verursachte, weil ich die Sporen des Organismus inhaliert hatte. Mir fehlte die medizinische Ausstattung, mit der ich hätte diagnostizieren können, ob sich mein Körper oder mein Verstand in irgendeiner Art verändert hatten.

Dann war da noch die Probe aus dem Röhrchen der Anthropologin. Aus offensichtlichen Gründen hatte ich sie bis zuletzt aufgehoben. Ich ließ die Vermesserin etwas auf ein Plättchen tun und dann aufschreiben, was sie durch das Mikroskop sah.

»Warum?«, fragte sie. »Warum soll ich das machen?«

Ich zögerte. »Hypothetisch … könnte eine Kontaminierung vorliegen.«

Was für ein hartes Gesicht, angespannte Kinnmuskel. »Hypothetisch – warum solltest du mehr oder weniger kontaminiert sein als ich?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Kein besonderer Grund. Allerdings war ich die Erste, die die Worte an der Wand gesehen hat.«

Sie sah mich an, als hätte ich Blödsinn verzapft, dann lachte sie barsch. »Wir stecken da doch viel tiefer drin. Glaubst du wirklich, diese Atemmasken könnten uns schützen? Vor was auch immer in aller Welt hier los sein mag?« Sie irrte sich – ich glaubte, dass sie sich irrte –, aber ich korrigierte sie nicht. Die Leute banalisieren oder simplifizieren Tatsachen aus so vielen Gründen.

Mehr war nicht zu sagen. Sie ging wieder an ihre Arbeit, und ich blinzelte durch das Mikroskop auf die Probe dessen, was auch immer die Anthropologin umgebracht hatte. Zunächst wusste ich gar nicht, was ich da ansah, denn es war völlig unerwartet. Es war Gehirngewebe – und kein beliebiges. Die Zellen waren bemerkenswert menschenähnlich, es gab nur ein paar Abweichungen. Damals dachte ich, die Probe sei durch etwas verunreinigt worden, wenn auch nicht durch meine Anwesenheit: die Notizen der Vermesserin beschrieben höchst genau, was auch ich sah, und als sie sich später die Probe noch einmal ansah, bekräftigte sie, dass sie unverändert war.

Ich blinzelte weiter durch das Mikroskop, hob meinen Kopf und blinzelte wieder, als würde ich die Probe nicht erkennen können. Dann beruhigte ich mich und starrte darauf, bis ich nur noch verschnörkelte Ringe sah. War das wirklich menschliches Gewebe? Oder täuschte es vor, menschlich zu sein? Wie ich schon sagte, es gab Unregelmäßigkeiten. Und wie hatte die Anthropologin die Probe entnommen? Einfach mit einem Eisportionierer zu dem Ding gegangen und gefragt: »Haben Sie mal etwas Hirn für mich?«. Nein, die Probe musste vom Rand stammen, vom Äußeren. Was hieß, dass es kein Gehirngewebe sein konnte, was bedeutete, dass es definitiv nicht-menschlich war. Ich fühlte mich mehr denn je auf schwankendem Grund. Dann kam die Vermesserin herübergeschlendert und warf mir die entwickelten Fotos auf den Tisch. »Nutzlos«, sagte sie.

Jedes Foto der Worte an der Wand war ein Tumult leuchtender, unscharfer Farben. Jedes Fotos von etwas anderem als den Worten war einfach nur pure Dunkelheit. Die paar Bilder, die dazwischen lagen, waren auch unscharf. Ich wusste, dass das vielleicht an dem langsamen, gleichmäßigen Atmen der Wände lag, die möglicherweise eine Art Wärme ausstrahlten oder einen Wirkstoff, der zu Verzerrungen führte. Dieser Gedanke machte mir bewusst, dass ich keine Probe von der Wand genommen hatte. Ich hatte begriffen, dass die Worte Organismen waren. Ich hatte gefühlt, dass es die Wände auch waren, aber für mein Gehirn waren Wände immer noch leblos, Teil eines Gebäudes. Warum Proben nehmen?

»Ich weiß«, sagte die Vermesserin und missverstand mein Fluchen. »Mehr Glück mit den Proben?«

»Nein. Überhaupt kein Glück«, sagte ich und starrte noch immer auf die Fotos. »Irgendwas bei den Karten und Unterlagen?«

Die Vermesserin schnaubte. »Nichts. Alles nur Dreck. Außer, dass sie alle auf den Leuchtturm fixiert scheinen – den Leuchtturm beobachten, zum Leuchtturm gehen, im Leuchtturm wohnen.«

»Also haben wir nichts.«

Die Vermesserin ignorierte das und fragte: »Und was machen wir jetzt?« Es war klar, dass sie diese Frage hasste.

»Abendessen«, sagte ich. »Einen kleinen Spaziergang in der Umgebung machen, um sicher zu sein, dass die Psychologin nicht irgendwo in den Büschen lauert. Darüber nachdenken, was wir morgen machen.«

»Ich sag dir eins, was wir morgen nicht machen. Wir gehen nicht zurück in den Tunnel.«

»Turm.«

Sie starrte mich an.

Ich hatte keinen Grund, mich mit ihr zu streiten.


Während der Dämmerung, als wir am Lagerfeuer zu Abend aßen, ertönte wieder das inzwischen vertraute Wehklagen aus den Salzmarschen. Ich bekam es kaum mit, so sehr war ich auf mein Essen fixiert. Es schmeckte so gut, und ich wusste nicht, warum. Ich schaufelte es in mich hinein, nahm mir eine zweite Portion, während die Vermesserin mich bloß verdutzt anstarrte. Wir hatten uns wenig oder eher nichts zu sagen. Reden hätte bedeutet zu planen, und nichts, was ich plante, hätte ihr gefallen.

Der Wind frischte auf, und es fing an zu regnen. Ich sah jeden Tropfen als perfekten facettierten flüssigen Diamanten fallen, der selbst in der Dunkelheit noch Licht spiegelte, ich konnte das Meer riechen und die anrollenden Wellen sehen. Der Wind schien etwas Lebendiges zu sein; er drang in jede Pore von mir ein und schien auch nach etwas zu riechen, er trug das Erdige der Gräser aus den Marschen mit sich. In der Enge des Turms hatte ich versucht, die Veränderung zu ignorieren, aber meine Sinne schienen immer noch allzu fein, allzu geschärft zu sein. Ich war dabei, mich daran anzupassen, aber in diesem Moment erinnerte ich mich daran, dass ich nur einen Tag zuvor noch eine andere gewesen war.

Wir wechselten uns bei der Wache ab. Schlafmangel schien uns weniger tollkühn zu sein als der Psychologin die Möglichkeit zu geben, sich unbemerkt an uns heranzuschleichen; sie kannte jeden Meter Stolperdraht um das Lager herum, und wir hatten keine Zeit, ihn abzubauen und zu versetzen. Als Zeichen meiner Aufrichtigkeit ließ ich die Vermesserin die erste Wache übernehmen.

Tief in der Nacht kam die Vermesserin, um mich für die zweite Schicht zu wecken, aber der Donner hatte mich schon geweckt. Mürrisch verzog sie sich in ihr Bett. Ich bezweifele, dass sie mir traute; ich glaube, sie konnte nur nach den anstrengenden Ereignissen des Tages die Augen keinen Augenblick länger offenhalten.

Der Regen wurde wieder heftiger. Ich hatte keine Sorge, dass wir weggeweht würden – die Zelte entsprachen den Standards der Armee und konnten allem außer einem Hurrikan standhalten –, aber wenn ich schon einmal wach war, dann wollte ich den Sturm auch erleben. Ich ging also hinaus, hinaus in die peitschenden Wassermassen, die rasenden Windböen. Ich konnte hören, dass die Vermesserin in ihrem Zelt schon schnarchte; vermutlich schlief sie nicht besonders gut. Die trübe Notbeleuchtung schimmerte von den Ecken des Lagers und machte aus den Zelten Dreiecke aus Schatten. Selbst die Finsternis schien mir jetzt lebendiger, umgab mich wie etwas Körperliches. Ich kann noch nicht einmal sagen, dass es etwas Unheimliches an sich hatte.

In diesem Augenblick fühlte ich mich, als wäre alles ein Traum – die Ausbildung, mein vorheriges Leben, die Welt, die ich hinter mir gelassen hatte. Nichts davon zählte jetzt noch, nur dieser Augenblick an diesem Ort, und nicht, weil die Psychologin mich hypnotisiert hatte. Ganz im Bann dieser starken Gefühle starrte ich Richtung Küste, durch die schartigen engen Zwischenräume der Bäume. Dort ballte sich eine noch dichtere Dunkelheit, die Vereinigung der Nacht mit den Wolken und dem Meer. Und irgendwo dahinter, eine weitere Grenze.

Und dann sah ich es, durch diese Dunkelheit hindurch: das Flackern eines orangenen Lichts. Nur den Hauch eines Leuchtens, zu hoch oben am Himmel. Das verwirrte mich, bis ich verstand, dass es wohl vom Leuchtturm kommen musste. Und noch während ich es beobachtete, bewegte sich das Flackern ein wenig nach links und leicht nach oben, bevor es erlosch, dann ein paar Minuten später viel höher wieder aufleuchtete, um dann endgültig zu verlöschen. Ich wartete darauf, dass dieses Licht zurückkam, aber vergeblich. Aus irgendeinem Grund wurde ich um so unruhiger, je länger es ausblieb, als wäre an diesem merkwürdigen Ort ein Licht – jede Art von Licht – ein Zeichen von Zivilisation.


Es hatte den ganzen Tag lang gestürmt, unserem letzten gemeinsamen Tag, an dem mein Mann von der elften Expedition zurückgekehrt war. Ein Tag, der so klar war wie ein Traum, irgendwie seltsam und doch vertraut – vertraute Routine, aber eine merkwürdige Gelassenheit, sogar stärker als die, die ich mir zugelegt hatte, bevor er ging.

In diesen Wochen vor der Expedition hatten wir uns gestritten – bis aufs Messer. Ich hatte ihn an die Wand gestoßen, Sachen nach ihm geworfen. Alles, um den Panzer zu durchdringen, hinter dem er seinen Entschluss verbarg und der, wie ich jetzt weiß, vielleicht durch einen hypnotischen Befehl entstanden war. »Wenn du gehst«, hatte ich zu ihm gesagt, »dann kommst du vielleicht nicht zurück, und sei dir bloß nicht zu sicher, dass ich auf dich warte, wenn du zurückkommst.« Er brach in ein verzweifeltes Gelächter aus und sagte: »Oho, hast du die ganze Zeit auf mich gewartet? Bin ich jetzt endlich angekommen?« Damit hatte er seinen Kurs abgesteckt, und auf alles, was ihm dabei in die Quere kam, reagierte er mit einem harschen Humor – was auch völlig normal war, Hypnose oder nicht. Es entsprach völlig seiner Persönlichkeit, sich auf irgendetwas zu versteifen und dann dabei zu bleiben, ohne Rücksicht auf Verluste. Eine zwanglose Anregung zu einem Zwang werden zu lassen, besonders wenn er glaubte, damit einer Sache zu dienen, die größer als er selbst war. Das war auch einer der Gründe, warum er sich bei der Navy für eine zweite Dienstzeit verpflichtete.

Unsere Beziehung war schon eine ganze Weile dabei, zu zerfasern, zum Teil, weil er gesellig war und ich die Einsamkeit bevorzugte. Zunächst hatte das unser Verhältnis gestärkt, aber das war lange her. Als wir uns kennenlernten, hatte ich ihn nicht nur attraktiv gefunden, sondern seine selbstbewusste, kontaktfreudige Art bewundert. Er brauchte es, unter Menschen zu sein – ich empfand das als gesundes Gegengewicht zu meiner Persönlichkeit. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, und als wir uns zum ersten Mal trafen, in einem Einkaufszentrum, umging er gekonnt meiner Verschlossenheit, indem er vorgab, wir beide seien Detektive, die an einem Fall arbeiteten und hier waren, um jemanden zu beschatten. Was dazu führte, dass wir uns alles Mögliche über das Leben der Leute ausdachten, die geschäftig wie ein Bienenschwarm um uns herumschwirrten, und dann zu uns selbst übergingen.

Zunächst muss ich ziemlich mysteriös auf ihn gewirkt haben, meine Reserviertheit, mein Bedürfnis, alleine zu sein, sogar nachdem er glaubte, meine Abwehr durchbrochen zu haben. Entweder war ich ein Rätsel, das gelöst werden musste, oder er glaubte einfach, dass er zu einem anderen Ort, einem wahren Kern in mir durchdringen könnte, wenn er mich erst mal besser kennengelernt hatte. Während einer unserer Auseinandersetzungen gab er das in gewisser Weise zu – und versuchte, seine »Bewerbung« für die Expedition als Zeichen dafür hinzustellen, wie sehr ich ihn weggestoßen hätte, was er später beschämt zurücknahm. Ich sagte es ihm klipp und klar, sodass kein Missverständnis möglich war: Der Mensch, den er kennenlernte wollte, existierte nicht. Ich war so, wie er mich von außen wahrnahm, und das würde sich auch nie ändern.

Schon früh in unserer Beziehung hatte ich meinem Mann von dem Swimmingpool erzählt; wir lagen im Bett, was wir damals häufig machten. Er war ganz fasziniert davon und dachte vielleicht sogar, dass noch weitere interessante Enthüllungen folgen würden. Dabei ließ er alles außer Acht, was auf die einsame Kindheit deutete, und konzentrierte sich völlig auf den Pool selbst.

»Ich hätte Segelboote draufgesetzt.«

»Mit Käpt’n Alter Platscher höchstpersönlich an Bord, na klar«, antwortete ich. »Und alle wären froh und glücklich gewesen.«

»Nein. Denn du wärst ganz sicher und voller Absicht grimmig gewesen. Ziemlich grimmig.«

»Ich hätte dich albern gefunden und mir gewünscht, dass die Schildkröten dein Boot versenken.«

»Wenn sie das getan hätten, hätte ich einfach ein neues, stärkeres gebaut und allen von dem grimmigen Kind erzählt, das mit den Fröschen spricht.«

Ich hatte nie mit Fröschen gesprochen, und außerdem hasse ich es, wenn man Tiere vermenschlicht. »Was hat sich denn dann verändert, wenn wir uns als Kinder nicht gemocht hätten?«, fragte ich ihn.

»Oh, ich hätte dich trotzdem gemocht«, sagte er grinsend. »Du hättest mich fasziniert, und ich wäre dir überallhin gefolgt. Ohne zu zögern.«

So passten wir damals auf unsere merkwürdige Art zusammen. Wir waren Gegensätze, die sich anzogen, und waren stolz auf die Vorstellung, dass dies uns stark machte. Wir schwelgten so sehr und so lange in diesem Konstrukt, dass die Welle sich nicht brach, bis wir verheiratet waren – und dann riss sie uns mit sich fort, zerstörte uns in deprimierend vertrauter Weise.

Aber das alles – das Gute und das Schlechte – war vergessen, als er von der Expedition zurückkehrte. Ich stellte keine Fragen, ließ unsere vergangenen Streitereien ruhen. Als ich am Morgen nach seiner Rückkehr neben ihm aufwachte, war mir bereits klar, dass unsere gemeinsame Zeit abgelaufen war.

Ich machte ihm in der Küche Frühstück, während draußen der Regen herunterprasselte und in der Nähe ein Blitz einschlug. Wir saßen an dem Tisch, von dem aus man durch die Glasschiebetüren auf den Rasen hinterm Haus schauen konnte, und plauderten bei Eiern und Schinken miteinander. Er bewunderte das Grau des neuen Futterhäuschens, das ich aufgestellt hatte, und den kleinen Kunstteich, in den die Regentropfen plätscherten. Ich fragte ihn, ob er genug geschlafen hätte und wie er sich fühlte. Ich fragte ihn sogar Dinge, die ich am Abend zuvor bereits gefragt hatte, etwa ob der Rückweg anstrengend gewesen sei.

»Nein«, sagte er, während eine Imitation seines früheren, aufreizenden Lächelns über sein Gesicht huschte, »mühelos«.

»Wie lange hast du gebraucht?«, fragte ich ihn.

»Es ging ruck-zuck.« Sein Gesichtsausdruck blieb für mich rätselhaft, aber in seiner Leere schwang etwas Schwermütiges mit, als gäbe es da etwas in ihm, das kommunizieren wollte, aber nicht konnte. Mein Mann war, so lange ich ihn kannte, niemals schwermütig gewesen, und das machte mir ein wenig Angst.

Er fragte mich, was meine Forschungen machten, und ich berichtete ihm von ein paar neuen Entwicklungen. Damals arbeitete ich für eine Firma, die sich auf die Entwicklung natürlicher Stoffe spezialisiert hatte, die Plastik und andere, nicht-kompostierbare Substanzen zersetzen konnten. Es war pure Langeweile. Davor war ich im Gelände unterwegs gewesen und hatte mich von Stipendium zu Stipendium gehangelt. Und davor war ich eine radikale Umweltschützerin, die an Demonstrationen teilnahm und bei einer gemeinnützigen Gesellschaft arbeitete, um per Telefon Spenden für den guten Zweck einzusammeln.

»Und deine Arbeit?«, fragte ich ihn zaghaft und unsicher, wie nahe ich ihm treten konnte, jederzeit bereit, dem Unerklärlichen aus dem Weg zu gehen.

»Ach, weißt du«, sagte er, als sei er nur ein paar Wochen fort gewesen und würde mit einem Kollegen reden, nicht mit seiner Frau und Geliebten. »Ach, weißt du, das Gleiche wie immer. Nichts wirklich Neues.« Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas mit Orangensaft – trank wirklich, um ihn zu genießen, und für eine Minute oder so gab es im Haus nichts anderen als seinen Genuss. Dann fragte er beiläufig, ob es noch andere Neuerungen im Haus gäbe.

Nach dem Frühstück saßen wir auf der Veranda, sahen zu, wie es in Strömen goss, wie sich Pfützen im Kräutergarten bildeten. Wir lasen eine Zeit lang, gingen dann zurück ins Haus und liebten uns. Es war eine Art monotones Ficken, wie in Trance, und nur angenehm, weil das Wetter uns in die eigenen vier Wände trieb. Auch wenn ich es bis zu diesem Punkt nicht recht hatte glauben wollen, so konnte ich mir jetzt nicht länger vormachen, mein Mann sei voll und ganz präsent.

Dann gab es Lunch und dann Fernsehen – ich stieß auf die Wiederholung eines Rennens für Zweimann-Boote – und weitere Plauderei. Er fragte nach einigen seiner Freunde, aber ich hatte keine Antworten. Ich hatte sie nie getroffen. Sie waren eigentlich nie meine Freunde gewesen; ich hatte Freundschaften nie gepflegt, ich hatte sie einfach von meinem Mann geerbt.

Wir versuchten uns an einem Quizspiel und lachten über einige der dümmeren Fragen. Dann wurde klar, dass er ein paar bizarre Wissenslücken hatte und wir hörten auf, während sich eine Art Schweigen zwischen uns ausbreitete. Er las die Zeitung und in seinen Lieblingszeitschriften, die sich angesammelt hatten, sah die Nachrichten im Fernsehen. Oder vielleicht tat er auch nur so, als ob er das alles machen würde.

Als es aufhörte zu regnen, wachte ich nach einem kurzen Schläfchen auf der Couch auf und stellte fest, dass er nicht mehr neben mir lag. Ich versuchte, nicht in Panik zu verfallen, suchte im ganzen Haus nach ihm und fand ihn schließlich in der Auffahrt zur Garage. Er stand vor dem Boot, das er vor ein paar Jahren gekauft hatte und das zu lang für die Garage war, so dass man sie nicht schließen konnte. Es war nur ein Einmaster, etwa sechs Meter lang, aber er liebte das Boot.

Als ich zu ihm ging und mich einhakte, hatte er einen ratlosen, ja sogar verlorenen Ausdruck im Gesicht, als könne er sich daran erinnern, dass das Boot ihm wichtig war, aber vergessen hatte, warum. Er nahm mich überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern starrte weiterhin ausdruckslos und mit wachsender Intensität auf das Schiff. Ich spürte förmlich, wie er sich an etwas Wichtiges zu erinnern versuchte; erst viel später verstand ich, dass es mit mir zu tun hatte. Dass er mir da, dort, etwas Lebenswichtiges hätte mitteilen können, wenn es ihm nur wieder eingefallen wäre. Aber so standen wir einfach da, und obwohl ich die Wärme und die Masse des Körpers neben mir spüren konnte, die regelmäßigen Atemzüge, lebten wir in zwei Welten.

Nach eine Weile hielt ich es einfach nicht mehr aus – die blanke ziellose Anonymität seiner Not, sein Schweigen. Ich führte ihn zurück ins Haus. Er hielt mich nicht auf. Er protestierte nicht. Er versuchte nicht, zurück zu seinem Boot zu schauen. Ich glaube, an diesem Punkt traf ich meine Entscheidung. Wenn er nur einmal den Kopf gewandt hätte. Wenn er sich nur einmal widersetzt hätte, nur einen Augenblick lang, dann wäre es vielleicht anders gewesen.

Beim Abendessen kamen sie mit vier oder fünf Zivilfahrzeugen und einem Überwachungswagen, um ihn abzuholen. Sie stürmten nicht unter lautem Gebrüll oder mit gezogenen Waffen und Handschellen ins Haus. Statt dessen näherten sie sich ihm mit Respekt, ja man könnte fast sagen Angst: jene Art von aufmerksamer Behutsamkeit, die man auch im Umgang mit einer scharfen Bombe zeigen würde. Er ging ohne Protest, und ich ließ es zu, dass sie diesen Fremden aus meinem Haus mitnahmen.

Ich hätte sie nicht aufhalten können, aber ich wollte es auch nicht. Die letzten Stunden hatte ich mit zunehmender Panik neben ihm verbracht, mehr und mehr davon überzeugt, dass aus Area X nur noch eine leere Hülle dessen zurückgekehrt war, was ihn einmal ausgemacht hatte; ein Roboter, der so tat, als ob. Den ich niemals gekannt hatte. Mit jeder atypischen Geste, jedem ungewohnten Wort trieb er mir die Erinnerung an jenen Menschen aus, den ich einmal gekannt hatte, und trotz allem was passiert war, wollte ich mir diese Vorstellung von ihm bewahren. Aus diesem Grund rief ich die Nummer an, die er mir für Notfälle gegeben hatte: Ich wusste nicht, was ich mit ihm machen sollte, und konnte, so verändert wie er war, auch nicht mehr mit ihm zusammenleben. Ihn gehen zu sehen gab mir, um ehrlich zu sein, ein Gefühl der Erleichterung, nicht von Schuld oder Verrat. Was sonst hätte ich auch tun sollen?

Wie ich schon sagte, habe ich ihn in der Einrichtung, wo er unter Beobachtung stand, bis zum Ende besucht. Selbst unter Hypnose hatte er bei den Befragungen, die mitgeschnitten wurden, nichts Neues zu sagen, es sei denn, man hat mir etwas vorenthalten. Am deutlichsten erinnere ich mich an die immer wiederkehrende Traurigkeit in seinen Worten: »Ich gehe endlos auf dem Weg von der Grenze zum Basislager. Es dauert sehr lange, und ich weiß, dass es noch länger dauern wird, zurückzugehen. Keiner ist bei mir. Ich bin ganz alleine. Die Bäume sind keine Bäume, die Vögel sind keine Vögel, und ich bin nicht ich, sondern nur etwas, das schon sehr lange unterwegs ist …«

Es gab nur eins, was ich nach seiner Rückkehr an ihm entdeckte: eine tiefe und unendliche Einsamkeit, so als hätte er ein Geschenk erhalten, von dem er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Ein Geschenk, das Gift für ihn war, und das ihn schließlich umbrachte. Aber hätte es auch mich umgebracht? Das war die Frage, die sich in meine Gedanken schlich, während ich ihm diese letzten wenige Male in die Augen starrte und unbedingt verstehen wollte, was er dachte, aber vergeblich.

Während ich weiter meinem zunehmend monotonen Job in einem sterilen Labor nachging, dachte ich immer wieder an Area X, und dass ich nie wissen würde, wie sie wirklich war, ohne dort gewesen zu sein. Keiner konnte es mir wirklich sagen, und kein Bericht würde mehr als ein schaler Ersatz sein. Deshalb meldete ich mich ein paar Monate, nachdem mein Mann gestorben war, freiwillig für eine Expedition nach Area X. Noch nie hatte sich der Ehepartner eines früheren Expeditionsmitglieds beworben. Ich glaube, dass ich unter anderem auch deshalb genommen wurde, weil sie sehen wollten, ob das einen Unterschied macht. Ich glaube, sie akzeptierten mich als Experiment. Andererseits haben sie vielleicht von Anfang an erwartet, dass ich mich melde.


Am Morgen hatte es aufgehört zu regnen, und der Himmel war von einem schneidenden Blau, praktisch wolkenlos. Nur die Kiefernnadeln auf den Zeltdächern und die schmutzigen Pfützen und abgebrochenen Äste zeugten noch vom Sturm der vergangenen Nacht. Die Klarheit, die meine Sinne infiziert hatte, war inzwischen in meiner Brust angekommen, anders kann ich es nicht beschreiben. Tief in mir war ein Leuchten, eine Art prickelnder Energie und Vorahnung, die hart gegen meinen Schlafmangel anging. War das Teil der Veränderung? Aber selbst wenn, es machte auch keinen Unterschied – ich hatte keine Möglichkeit, gegen das anzukämpfen, was mit mir geschah.

Außerdem musste ich eine Entscheidung treffen, denn ich spürte, dass sowohl der Turm als auch der Leuchtturm eine starke Anziehung auf mich ausübten. Ein Teil des Leuchtens wollte sofort in die Dunkelheit zurückkehren, was sowohl logisch war, als auch mit Mut zu tun hatte oder dem Mangel daran. Sofort wieder in den Tunnel abzutauchen, gedankenlos, planlos, war ein Schritt auf Treu und Glauben, von reiner Entschlossenheit und Leichtfertigkeit, und nichts anderes. Aber inzwischen wusste ich, dass in der vergangenen Nacht irgendjemand im Leuchtturm gewesen war. Sollte die Psychologin sich dorthin geflüchtet haben und ich sie dort auftreiben können, dann würde ich vielleicht mehr über den Turm erfahren, bevor ich ihn weiter erkundete. Das schien mir von zunehmender Wichtigkeit zu sein, denn die Ungewissheiten, die der Turm aufwarf, schienen sich verzehnfacht zu haben. Als ich schließlich mit der Vermesserin sprach, hatte ich mich für den Leuchtturm entschieden.

Der Morgen hatte den Geruch und das Gefühl eines Neuanfangs mit sich gebracht, aber es sollte nicht sein. Die Vermesserin wollte nicht zum Turm zurückkehren, und zeigte ebenso wenig Interesse am Leuchtturm.

»Du willst nicht herausfinden, ob die Psychologin vielleicht dort ist?«

Die Vermesserin schaute mich an, als ob ich irgendwas Idiotisches von mir gegeben hätte. »So hoch oben versteckt, mit klarer Sicht in alle Richtungen? An einem Ort, von dem sie uns erzählt haben, dass dort ein Waffenlager existiert? Ich bleibe lieber hier. Und wenn du schlau bist, dann machst du das auch. Vielleicht findest du ja noch heraus, dass eine Kugel im Kopf keinen Spaß macht. Davon abgesehen, könnte sie überall sein.«

Ihre Dickköpfigkeit machte mich allmählich wütend. Ich wollte nicht, dass wir zwei uns aus rein praktischen Gründen trennten – es stimmte, man hatte uns gesagt, dass frühere Expeditionen ein Waffenlager im Leuchtturm angelegt hatten –, und weil ich es wahrscheinlicher fand, dass die Vermesserin sich ohne mich auf den Rückweg machen würde.

»Entweder der Leuchtturm oder der Turm«, sagte ich, um dem Thema auszuweichen. »Und es wäre besser für uns, wenn wir die Psychologin finden, bevor wir zum Turm zurückgehen. Was auch immer die Anthropologin umgebracht hat, sie hat es mitbekommen. Sie weiß mehr, als sie uns gesagt hat.« Der unausgesprochene Gedanke dabei: Dass vielleicht nach ein oder zwei Tagen das, was da im Turm lebte und Worte an die Wand schrieb, verschwunden oder uns so weit voraus wäre, dass wir es niemals einholen würden. Was auf der anderen Seite die verstörende Vorstellung mit sich brachte, dass der Turm sich ohne Ende von Ebene zu Ebene in die Erde hinein erstreckte.

Die Vermesserin kreuzte die Arme vor der Brust. »Du scheinst es wirklich nicht zu kapieren, oder? Die Mission ist vorbei.«

Hatte sie Angst? Mochte sie mich einfach nicht genug, um ja zu sagen? Warum auch immer, ihr Widerstand ärgerte mich genauso wie ihr blasierter Gesichtsausdruck, und in diesem Augenblick tat ich etwas, das ich inzwischen bereue.

Ich sagte: »Das Risiko lohnt sich nicht, wenn wir jetzt sofort zurück zum Turm gehen.«

Mit diesem hypnotischen Befehl der Psychologin hatte ich geglaubt, raffiniert zu sein, aber ein Schauer fuhr über das Gesicht der Vermesserin, eine Art kurzfristiger Verwirrung. Als sie wieder klar wirkte, zeigte mir ihr Ausdruck, dass sie verstanden hatte. Sie schien nicht einmal erstaunt zu sein; ich hatte nur einen Eindruck bestätigt, der sich langsam und schon länger bei ihr herausgebildet hatte. Außerdem hatte ich gelernt, dass die hypnotischen Befehle nur durch die Psychologin wirkten.

»Du würdest alles tun, um deinen Kopf durchzusetzen, oder?«, sagte die Vermesserin, aber Tatsache war: Sie trug das Gewehr. Welche Waffen hatte ich? Und ich sagte mir, dass ich absichtlich diesen Weg der Auseinandersetzung gewählt hatte, damit der Tod der Anthropologin nicht sinnlos blieb.

Als ich nicht antwortete, seufzte sie und sagte dann mit müder Stimme: »Weißt du, ich habe es schließlich kapiert, während ich diese unbrauchbaren Fotos entwickelt habe. Das, was mich am meisten beunruhigt. Es ist nicht der Tunnel oder wie du dich aufführst oder irgendwas, was die Psychologin gemacht hat. Es ist dieses Gewehr. Als ich dieses verdammte Gewehr auseinandergenommen habe, um es zu reinigen, merkte ich, dass es aus dreißig Jahre alten Teilen zusammengeschustert worden ist. Nichts, was wir mitgebracht haben, stammt aus der Gegenwart. Weder unsere Kleidung noch unsere Schuhe. Es ist alles alter Ramsch. Aufgearbeiteter Mist. Die ganze Zeit haben wir schon in der Vergangenheit gelebt. Als würden wir irgendwas nachspielen. Und warum? Warum?« Sie schnaubte. »Das weißt nicht einmal du.«

Soviel auf einmal hatte sie noch nie zu mir gesagt. Ich wollte entgegnen, dass mir diese Information im Rahmen all dessen, was wir bisher entdeckt hatten, doch als kleinere Überraschung erschien, ließ es aber sein.

»Also bleibst du hier, bis ich zurück bin?«, fragte ich.

Das war jetzt die entscheidende Frage, und ich mochte weder den Tonfall ihrer Antwort, noch dass sie wie aus der Pistole geschossen kam.

»Versprochen. Was immer du willst.«

»Sag nichts, was du hinterher vielleicht bereust«, sagte ich. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgehört, Versprechungen zu trauen. Biologische Notwendigkeiten, ja. Umweltfaktoren, ja. Versprechungen, nein.

»Hau ab«, sagte sie.

Und das war dann der Stand – sie saß zurückgelehnt auf diesem klapprigen Stuhl und hielt das Sturmgewehr, während ich mich aufmachte, um die Quelle des Lichts aufzuspüren, das ich letzte Nacht gesehen hatte. Ich trug einen Rucksack mit Wasser und Lebensmitteln, zwei der Handfeuerwaffen, Material, um Proben zu nehmen, und eines der Mikroskope. Irgendwie fühlte ich mich mit dem Mikroskop sicherer. Und wie sehr ich auch versucht hatte, die Vermesserin zum Mitkommen zu bewegen, war doch ein Teil von mir froh über diese Chance, alleine auf Erkundung zu gehen, nicht von jemandem abhängig zu sein oder sich Sorgen um ihn zu machen.

Ich sah auf dem sich dahinschlängelnden Pfad noch ein paar Mal zurück, die Vermesserin saß immer noch da und starrte mir nach, als sei ich die verzerrte Spiegelung derjenigen, die ich noch vor Tagen gewesen war.

Autorität. Auslöschung. Akzeptanz.

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