Читать книгу Autorität. Auslöschung. Akzeptanz. - Jeff VanderMeer - Страница 7
4 VERSENKUNG
ОглавлениеAlles, was ich über die Psychologin wusste, hatte ich durch Beobachtung während unserer Ausbildung gelernt. Sie hatte sowohl als unsere Aufseherin fungiert, die auf Distanz blieb, als auch in einer eher persönlicheren Rolle als Beichtvater. Vielleicht hatte ich einiges unter Hypnose gebeichtet, aber während der regelmäßigen Sitzungen, die wir als Voraussetzung für die Teilnahme an der Expedition akzeptiert hatten, trug ich freiwillig wenig bei.
»Erzähl mir was über deine Eltern. Wie sind sie?« Das war einer ihrer klassischen Schachzüge, ein Gespräch zu eröffnen.
»Normal«, antwortete ich und versuchte mich an einem Lächeln, während ich distanziert, unpraktisch, unwichtig, launisch, zu nichts zu gebrauchen dachte.
»Deine Mutter ist eine Alkoholikerin, stimmt’s? Und dein Vater eine Art … Hochstapler?«
Über diesen Affront, der nichts mit Erkenntnis zu tun hatte, verlor ich fast die Beherrschung. Ich reagierte beinahe herausfordernd: »Meine Mutter ist eine Künstlerin und mein Vater Unternehmer.«
»Was ist deine früheste Erinnerung?«
»Frühstück.« Ein ausgestopfter Hundewelpe, den ich immer noch habe. Ein Vergrößerungsglas über das Erdloch einer Ameisenjungfer zu halten. Einen Jungen zu küssen und ihn dazu zu bringen, sich für mich auszuziehen, einfach weil ich es nicht besser wusste. In einen Brunnen zu fallen und mir den Kopf aufzuschlagen; das Ergebnis waren fünf Stiche in der Notfallambulanz und eine bleibende Angst vor dem Ertrinken. Wieder in der Notfallambulanz, als Mutti zu viel getrunken hatte; das folgende Jahr eine große Erleichterung, weil sie fast trocken blieb.
Von all meinen Antworten ärgerte sie »Frühstück« am meisten. Ich merkte es an ihrer steifen Haltung, der Kälte im Blick und wie sie sich anstrengen musste, die Mundwinkel nicht allzu weit nach unten zu ziehen. Aber sie beherrschte sich.
»Hattest du eine glückliche Kindheit?«
»Normal«, antwortete ich. Meine Mutter einmal so betrunken, dass sie mir Orangensaft statt Milch ins Müsli schüttete. Das permanente, nervöse Geplapper meines Vaters, das sich nach ständigen Schuldgefühlen anhörte. Im Urlaub billige Motels am Strand, wo Mama am Ende anfing zu weinen, weil wir wieder zurück in unser normales Knapp-bei-Kasse-Leben mussten, obwohl wir es ja nie verlassen hatten. Das Gefühl drohenden Unheils, das sich im Auto ausbreitete.
»Wie nah waren dir deine weiteren Verwandten?«
»Nah genug.« Geburtstagskarten für eine Fünfjährige, die ich auch noch mit Zwanzig bekam. Ein freundlicher Großvater mit langen gelben Fingernägeln und der Stimme eines Bärs. Eine Großmutter, die mir Vorträge über den Wert von Religion und Sparsamkeit hielt. Wie hießen sie doch gleich?
»Wie fühlst du dich dabei, Teil eines Teams zu sein?«
»Ganz in Ordnung. Ich habe in Teams schon öfter meine Rolle gespielt.« Ja, dachte ich dabei, aber immer die Nebenrolle.
»Bei einer ganzen Reihe deiner Jobs im Außendienst ist dein Vertrag nicht verlängert worden. Möchtest du mir sagen, warum?«
Sie wusste, warum, also zuckte ich nur wieder mit den Schultern und sagte nichts.
»Nimmst du an dieser Expedition nur wegen deines Ehemanns teil?«
»Wie nah standet ihr beide euch?«
»Habt ihr euch oft gestritten? Warum habt ihr euch gestritten?«
»Warum hast du nicht sofort die Behörden angerufen, als er bei dir zu Hause auftauchte?«
Es war völlig klar, dass diese Sitzungen die Psychologin in professioneller Hinsicht frustrierten, in Anbetracht all dessen, was sie ihr bei der Ausbildung für diesen Job eingebläut hatte. Alles war darauf angelegt, den Klienten so viele persönliche Informationen wie möglich zu entlocken, um so Vertrauen herzustellen und dann in tiefer gelegene Schichten vorzudringen. »Du bist sehr verschlossen«, sagte sie einmal zu mir, aber das war nicht abschätzig gemeint. Und erst am zweiten Tag unseres Marsches von der Grenze zu unserem Basislager fiel mir auf, dass vielleicht genau die Eigenschaften, die sie als Psychologin missbilligte, mich für die Expedition als geeignet erschienen ließen.
Jetzt lag sie im Schatten des Walls halb aufgerichtet auf einem Haufen Sand, wie ein gebrochener Mast, ein Bein ausgestreckt, das andere unter sich begraben. Sie war allein. Ihr Zustand und wie sie da lag ließ keinen Zweifel, dass sie von der Spitze des Leuchtturms gesprungen oder gestoßen worden war. Vielleicht war sie auf den Wall geprallt und hatte sich dabei verletzt. Während ich, methodisch wie ich nun einmal war, stundenlang in den Tagebüchern suchte, hatte sie die ganze Zeit lang hier gelegen. Mir war unverständlich, warum sie überhaupt noch lebte.
Hemd und Jacke waren blutdurchtränkt, aber sie atmete und ihre Augen waren offen und hinaus auf aufs Meer gerichtet, als ich neben ihr niederkniete. Der linke Arm war ausgestreckt, und in der Hand hielt sie eine Waffe, die ich ihr sanft entwand und zur Seite legte, nur für den Fall.
Die Psychologin schien meine Anwesenheit nicht wahrzunehmen. Ich berührte behutsam ihre breite Schulter, und dann schrie sie los, während sie gleichzeitig hochfuhr und wieder in sich zusammenfiel und ich zurückschreckte.
»Auslöschung!«, schrie sie mir ins Gesicht. »Auslöschung! Auslöschung!« Mit jeder Wiederholung schien mir das Wort bedeutungsloser, wie der Schrei eines Vogels mit einem gebrochenen Flügel.
»Ich bin’s bloß, die Biologin«, sagte ich mit ruhiger Stimme, obwohl sie mich aus der Fassung gebracht hatte.
»Bloß du«, sagte sie mit keuchenden Glucksen, als hätte ich einen Witz gemacht. »Bloß du.«
Während ich sie wieder aufrichtete, gab sie ein knirschendes Stöhnen von sich, und mir wurde klar, dass sie sich wahrscheinlich fast alle Rippen gebrochen hatte. Die linke Schulter und der obere Arm fühlten sich schwammig unter der Jacke an. Unter der Hand, die sie instinktiv auf den Bereich um ihren Magen gepresst hielt, sickerte dunkelrotes Blut hervor. Ich konnte riechen, dass ihre Blase ausgelaufen war. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
»Du bist immer noch hier«, sagte sie, wobei sie überrascht klang. »Aber ich habe dich doch getötet, oder?« Die Stimme von jemandem, der in einen Traum gleitet, oder aus einem Traum erwacht.
»Nicht mal ansatzweise.«
Wieder ein raues Keuchen, dann wurden ihre Augen klarer. »Hast du Wasser mitgebracht? Ich habe Durst.«
»Habe ich.« Ich presst ihr die Feldflasche an den Mund, sodass sie ein paar Schlucke trinken konnte. Auf ihrem Kinn glitzerten Bluttropfen.
»Wo ist die Vermesserin?«, fragte die Psychologin keuchend.
»Im Basislager.«
»Wollte nicht mit dir kommen?«
»Nein.« Der Wind blies ihr die Locken aus dem Gesicht und enthüllte eine klaffende Wunde auf der Stirn, vielleicht vom Aufprall auf den Wall.
»Mochte wohl deine Gesellschaft nicht«, sagte die Psychologin. »Mochte wohl nicht, was aus dir geworden ist.«
Mich fröstelte. »Ich bin die Gleiche wie immer.«
Der Blick der Psychologin driftete wieder aufs Meer hinaus. »Weißt du, ich habe dich gesehen, wie du den Pfad zum Leuchtturm entlanggekommen bist. Deshalb wusste ich ganz genau, dass du dich verändert hast.«
»Was hast du gesehen?«, fragte ich, um sie aufzuheitern.
Ein Husten, der von rotem Speichel begleitet wurde. »Du warst eine Flamme«, sagte sie und ich bekam eine kurze Vorstellung davon, wie mein Leuchten von außen wirkte. »Du warst eine Flamme, die sich in meinen Blick brannte. Eine Flamme, die über die Salzmarschen waberte und durch das zerstörte Dorf. Eine lodernde Flamme, ein Irrlicht, das durch die Marschen und über die Dünen treibt, weiter und weiter, etwas Nichtmenschliches, aber frei und dahintreibend … «
An der veränderten Tonlage ihrer Stimme bemerkte ich, dass sie mich sogar jetzt noch zu hypnotisieren versuchte.
»Es funktioniert nicht«, sagte ich. »Ich bin inzwischen immun gegen Hypnose.«
Sie öffnete den Mund, schloss ihn, öffnete ihn wieder. »Natürlich bis du das. Du warst schon immer schwierig«, sagte sie, als würde sie mit einem Kind sprechen. Klang da eine merkwürdige Form von Stolz durch?
Vielleicht hätte ich die Psychologin alleine lassen sollen, sie sterben lassen, ohne zu versuchen, Antworten von ihr zu bekommen, aber diese Gunst wollte und konnte ich ihr nicht gewähren.
Während ich daran dachte, wie nichtmenschlich ich wohl gewirkt hatte, kam mir ein Gedanke. »Warum hast du mich nicht erschossen, während ich noch auf dem Weg war?«
Ungewollt bekam ihr Blick etwas Lauerndes, während sie den Kopf drehte, um mich anzusehen, als könne sie nicht mehr alle Gesichtsmuskeln beherrschen. »Mein Arm, meine Hand, ich konnte den Abzug nicht mehr durchziehen.«
Das klang mir nach einer Wahnvorstellung, und davon abgesehen hatte ich im ganzen Leuchtturm kein Gewehr entdeckt. Ich versuchte es noch einmal. »Und dein Sturz? Absicht oder ein Unfall oder gestoßen worden?«
Sie zog die Stirn in Falten und ein Ausdruck echten Erstaunens trat in die Falten um ihre Augenwinkel, als ob die Erinnerung nur bruchstückhaft zurückkam. »Ich glaubte … ich glaubte, dass etwas hinter mir her war. Ich versuchte, dich zu erschießen, aber es ging nicht, und dann warst du schon drinnen. Dann meinte ich etwas in meinem Rücken zu sehen, das sich mir von den Stufen her näherte, und ich spürte eine so überwältigende Angst, dass ich einfach weg musste. Also sprang ich über das Geländer. Ich sprang.« Sie schien selbst nicht zu glauben, dass sie so etwas getan hatte.
»Wie sah das Ding aus, das hinter dir her war?«
Ein Hustenanfall, mit dem die Worte aus ihr heraus kollerten. »Ich habe es nie gesehen. Es gab es einfach nicht. Oder ich habe es oft gesehen. Es war in mir drin. Ich habe versucht zu entkommen. Dem, was da in mir drin ist.«
Damals habe ich ihr keine dieser fragmentarischen Erklärungen geglaubt, die darauf hinauszulaufen schienen, dass ihr etwas vom Turm aus gefolgt sei. Ich interpretierte ihre wilden Dissoziationen als Teil eines Kontrollbedürfnisses. Sie hatte die Kontrolle über die Expedition verloren und brauchte etwas oder jemanden, dem sie dieses Versagen anhängen konnte, wie unwahrscheinlich auch immer.
Ich versuchte es auf andere Art. »Warum hast du die Anthropologin mitten in der Nacht mit hinunter in den ›Tunnel‹ genommen? Was ist dort passiert?«
Sie zögerte, aber ich wusste nicht, ob aus Vorsicht oder ob etwas in ihrem Körper zusammenbrach. Dann sagte sie: »Eine Fehleinschätzung. Ungeduld. Ich brauchte Informationen, bevor wir die Mission als solche riskierten. Ich musste wissen, woran wir waren.«
»Du meinst, wie weit der Crawler war?«
Sie lächelte boshaft. »So nennst du es also? Crawler?«
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Was glaubst du wohl, was passiert ist? Alles ist schiefgelaufen. Die Anthropologin ist zu nah drangekommen.« Was hieß: Die Psychologin hatte sie gezwungen, zu nah ranzugehen. »Das Ding hat reagiert. Es hat sie getötet und mich verletzt.«
»Und deshalb hast du am nächsten Morgen so erschüttert ausgesehen.«
»Ja. Und weil mir bereits klar war, dass du dich schon veränderst.«
»Ich verändere mich nicht!« Ich schrie es heraus, und in mir stieg eine unerwartete Wut hoch.
Ein nasses Kichern, ein höhnischer Ton. »Natürlich veränderst du dich nicht. Wirst einfach immer mehr zu der, die du immer schon warst. Und auch ich verändere mich nicht. Keiner von uns verändert sich. Alles ist in Ordnung. Wie wär’s mit einem Picknick?«
»Halt den Mund. Warum hast du dich abgesetzt?«
»Die Expedition stand auf dem Spiel.«
»Das ist keine Erklärung.«
»Hast du mir während der Ausbildung jemals eine anständige Erklärung geliefert?«
»Wir waren nicht so gefährdet, dass wir deshalb die Expedition hätten abbrechen müssen.«
»Sechs Tage im Basislager, und eine Person ist tot, zwei schon dabei, sich zu verändern und die vierte unschlüssig? In meinen Augen ist das ein Desaster.«
»Wenn es ein Desaster war, dann hast du es selbst mit heraufbeschworen.« Mir wurde klar, dass ich der Psychologin persönlich zwar misstraut, auf sie als Leiterin der Expedition aber trotzdem gebaut hatte. In gewisser Hinsicht war ich wütend, dass sie uns betrogen hatte, wütend, dass sie mich jetzt möglicherweise verlassen würde. »Du bist in Panik verfallen und hast aufgegeben.«
Die Psychologin nickte. »Auch das. Bin ich. Bin ich. Ich hätte früher bemerken sollen, dass du dich verändert hattest. Ich hätte dich zurück zur Grenze schicken sollen. Ich hätte nicht mit der Anthropologin da hinunter gehen sollen. Aber so ist es nun mal.« Sie zog eine Grimasse und hustete etwas Zähes, Feuchtes aus.
Ich ignorierte ihre Spitze und änderte meine Fragetaktik. »Wie sieht die Grenze aus?«
Wieder das Lächeln. »Das sage ich dir, wenn ich dort angekommen bin.«
»Was passiert wirklich, wenn wir sie überqueren?«
»Nichts, was du dir darunter vielleicht vorstellst.«
»Raus damit! Was überqueren wir da?« Ich hatte schon wieder das Gefühl, den Überblick zu verlieren.
Das Funkeln in ihren Augen gefiel mir gar nicht, es verhieß Gefahr. »Denk mal über Folgendes nach. Vielleicht bist du immun gegen Hypnose – vielleicht –, aber was ist mit dem Block, den wir dir schon vorher verpasst haben? Was wäre, wenn ich diesen Block auflösen würde und du Zugriff auf deine Erinnerungen an den Grenzübergang hast?«, fragte mich die Psychologin. »Wie würde dir das gefallen, kleine Flamme? Würde es dir gefallen, oder würdest du durchdrehen?«
»Wenn du versuchst, irgendwas mit mir anzustellen, dann bring ich dich um«, sagte ich – und ich meinte es ernst. Ich hatte Hypnose und die damit verbundene Konditionierung schon immer problematisch gefunden, ein schwerer Eingriff, den ich als Preis für das Betreten von Area X zu zahlen bereit war. Aber der Gedanke, dass ich weiter manipuliert werden sollte, war völlig unerträglich.
»Was glaubst du, wie viele deiner Erinnerungen wir dir eingepflanzt haben«, fragte die Psychologin. »Welche deiner Erinnerungen an die Welt jenseits der Grenze kannst du verifizieren?«
»Das funktioniert bei mir nicht«, ließ ich sie abblitzen. »Ich bin mir sicher, was das hier und jetzt betrifft, dieser Augenblick, und der nächste. Und meiner Vergangenheit.« Das war die Trutzburg von Geistervögelchen, und sie war uneinnehmbar. Sie mochte durch die Hypnose während der Ausbildung hier und da ein Loch bekommen haben, aber sie war nicht erobert worden. Darin war ich mir völlig sicher, und würde das auch bleiben, denn ich hatte keine andere Wahl.
»Ich bin sicher, dein Mann hat sich genauso gefühlt, bevor es mit ihm zu Ende ging«, sagte die Psychologin.
Ich hockte mich hin und starrte sie an. Ich wollte weg, bevor das Gift, das sie versprühte, bei mir zu wirken begann, aber ich konnte einfach nicht.
»Bleiben wir bei deinen Halluzinationen«, sagte ich. »Beschreib mir den Crawler.«
»Es gibt Dinge, die musst du mit deinen Augen sehen. Vielleicht kommst du näher dran. Vielleicht bist du vertrauter damit.« Ihr Mangel an Respekt für das Schicksal der Anthropologin war abscheulich, aber ich war auch nicht besser.
»Was hast du uns über Area X verschwiegen?«
»Zu weitschweifige Frage.« Obwohl die Psychologin im Sterben lag, amüsierte sie sich wohl immer noch darüber, dass ich bei ihr so verzweifelt nach Antworten suchte.
»Na gut, dann eben: Was messen die schwarzen Kästchen eigentlich?«
»Nichts. Sie messen gar nichts. Die sind nur ein psychologischer Trick, um die Expedition ruhig zu stellen: kein rotes Licht, keine Gefahr.«
»Was ist das Geheimnis des Turms?«
»Der Tunnel? Glaubst du, wir würden immer wieder Expeditionen losschicken, wenn wir das wüssten?«
»Southern Reach hat Angst, oder?«
»Den Eindruck habe ich auch.«
»Dann wissen sie auch nicht weiter.«
»Ich kann dir nur soviel sagen: Die Grenze ist auf dem Vormarsch. Derzeit nur langsam, jedes Jahr ein kleines Stück. Auf eine Art, die du nie vermuten würdest. Aber vielleicht nicht mehr lange und sie frisst sich ein oder zwei Meilen auf einmal vorwärts.«
Der Gedanke daran verschlug mir eine Zeitlang einfach die Sprache. Wenn man dem Kern eines Geheimnisses zu nah ist, dann hat man keine Möglichkeit, einen Schritt zurückzutreten und es in seiner Gesamtheit zu überblicken. Vielleicht hatten die schwarzen Kästchen wirklich keine Funktion, aber vor meinem inneren Augen blinkten sie alle grellrot.
»Wie viele Expeditionen hat es schon gegeben?«
»Aha, die Tagebücher«, sagte sie. »Gibt wirklich eine ganze Menge davon, nicht wahr?«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Vielleicht kenne ich die Antwort nicht. Vielleicht will ich es dir auch einfach nicht sagen.«
Es schien immer so weiterzugehen, bis zum bitteren Ende, und scheinbar gab es nichts, was ich tun konnte.
»Was hat die ›erste‹ Expedition wirklich entdeckt?«
Die Psychologin zog eine Grimasse, aber dieses Mal nicht vor Schmerz, sondern weil sie sich an etwas erinnerte, das Schuldgefühle hervorzurufen schien. »Es gibt Videos von dieser Expedition … so eine Art. Hauptsächlich deshalb wurde den weiteren Expeditionen das Mitnehmen von Hightech untersagt.«
Video. Nachdem ich mich durch diesen Berg von Tagebücher gewühlt hatte jagte mir das keine Angst mehr ein. Ich machte einfach weiter.
»Welche Befehle hattest du, die du uns verschwiegen hast?«
»Du fängst an, mich zu langweilen. Und ich merke, dass ich schwächer werde … Manchmal haben wir euch mehr erzählt, manchmal weniger. Die haben da ihre eigenen Kriterien und Gründe.« Irgendwie schienen diese »die« eher Pappkameraden zu sein, an die sie selbst nicht so recht glaubte.
Widerwillig wandte ich mich wieder persönlicheren Dingen zu. »Was weißt du über meinen Mann?«
»Nicht mehr als was du auch herausfindest, wenn du sein Tagebuch liest. Hast du es schon gefunden?«
»Nein«, log ich.
»Sehr aufschlussreich – besonders, was dich betrifft.«
War das ein Bluff? Sie hatte sicher genug Zeit im Leuchtturm gehabt, um es zu finden, zu lesen und wieder auf den Haufen zu werfen.
Es machte auch keinen Unterschied. Das Dunkel am Himmel war dabei, sich überall auszubreiten, die Wellen wurden heftiger, die Brandung scheuchte die Strandvögel von ihren Stelzenbeinen auf und ließ sie beim Zurückweichen an anderer Stelle wieder niedergehen. Der Sand um uns herum schien plötzlich löchrig zu werden. Auf seiner Oberfläche zeichneten sich die mäandernden Spuren von Krebsen und Würmern ab. Ganze Gemeinwesen schienen dort zu leben, die ihren Geschäften nachgingen und denen unser Gespräch völlig egal war. Und wo dort draußen befand sich die seeseitige Grenze? Als ich das die Psychologin während unserer Ausbildung fragte sagte sie nur, die hätte nie jemand überschritten und ich hatte mir Expeditionen ausgemalt, die einfach im Nebel und Licht und der Ferne verschwunden waren.
Das Rasseln war jetzt bei jedem Atemzug der Psychologin zu hören, sie atmete flach und unregelmäßig.
»Kann ich irgendetwas tun, um es dir angenehmer zu machen?«. Mitleidig.
»Lass mich hier sterben«, sagte sie. Ihre Angst war inzwischen nicht mehr zu übersehen. »Begrab mich nicht. Bring mich nicht irgendwo hin. Lass mich mich hier, wo ich hingehöre.«
»Willst du mir noch irgendwas anderes sagen?«
»Wir hätten nie hierher kommen sollen. Ich hätte nie hierher kommen sollen.« Ihr Ton war so rau, dass er eine persönliche Qual verriet, die mit ihrem körperlichen Zustand nichts zu tun hatte.
»Das ist alles?«
»Das ist, glaube ich inzwischen, die einzige und grundlegende Wahrheit.«
Ich verstand das so, dass es besser war, die Grenze sich selbst zu überlassen, sie zu ignorieren und weiter vordringen zu lassen, ein Problem kommender Generationen. Ich war anderer Meinung, sagte aber nichts. Erst später ging mir auf, dass sie etwas völlig anderes gemeint hatte.
»Ist irgendjemand mal wirklich aus Area X zurückgekehrt?«
»Schon lange nicht mehr«, sagte die Psychologin. Ihre Stimme war nur noch ein müdes Flüstern. »Zumindest nicht wirklich.« Aber ich war mir nicht sicher, ob sie die Frage verstanden hatte.
Ihr Kopf sackte auf die Brust, und sie verlor das Bewusstsein, kam wieder zu sich und starrte hinaus auf die Wellen. Sie murmelte ein paar Worte, die nach »draußen« oder »von Außen« und »behüten« oder »ausbrüten« klangen. Aber sicher war ich mir nicht.
Bald würde die Dunkelheit sich über alles senken. Ich gab ihr noch einmal Wasser. Je näher sie dem Tod kam, um so schwerer war es, in ihr eine Gegnerin zu sehen, obwohl sie offensichtlich viel mehr wusste, als sie mir gesagt hatte. Auch wenn es hart klingt, es lohnte sich nicht, daran auch nur einen weiteren Gedanken zu verschwenden, denn sie wollte keine weiteren Geheimnisse preisgeben. Und vielleicht hatte ich ja auf dem Weg hierher wie eine Flamme ausgesehen. Vielleicht konnte sie mich inzwischen gar nicht mehr anders sehen.
»Wusstest du von diesem Berg Tagebücher?«, fragte ich. »Ich meine, bevor wir hierher kamen?«
Aber sie antwortete nicht.
Nachdem sie gestorben war, musste ich noch einiges erledigen, auch wenn das Tageslicht zunehmend verblasste, auch wenn ich das nicht gerne tat. Wenn sie meine Fragen nicht beantworten wollte, so lange sie noch lebte, dann sollte sie einige jetzt beantworten. Ich zog der Psychologin die Jacke aus und legte sie zur Seite; dabei entdeckte ich, dass sie ihr eigenes Tagebuch in einer Innentasche mit Reißverschluss versteckt hatte. Auch das legte ich zur Seite und beschwerte es mit einem Stein, während die Windböen an den Seiten zerrten.
Dann nahm ich mein Taschenmesser und trennte äußerst vorsichtig den linken Ärmel ihres Hemds ab. Die Formlosigkeit der Schulter hatte mich beunruhigt, und jetzt sah ich, dass meine Unruhe einen Grund hatte. Vom Schlüsselbein bis zum Ellbogen war der Arm eine einzige faserige, grüngoldene Masse, die schwach glühte. Den tief eingegrabenen Schnittwunden auf ihrem Trizeps konnte man entnehmen, dass es von einer Wunde Ausgang genommen hatte – die Wunde, die ihr zufolge auf den Crawler zurückging. Was auch immer sie kontaminiert hatte, es hatte sich durch diesen anderen und viel direktere Kontakt mit desaströsen Konsequenzen viel schneller ausgebreitet. Bestimmte Parasiten und Fruchtkörper können nicht nur Paranoia, sondern sogar Schizophrenie hervorrufen, hyperrealistische Halluzinationen, die zu einem wahnhaften Verhalten führen. Ich hatte jetzt keinen Zweifel mehr, dass sie mich auf meinem Weg zum Leuchtturm als Irrlicht wahrgenommen hatte, dass sie in ihrer Unfähigkeit, auf mich zu schießen, die Einwirkung einer äußeren Macht sah und von der Angst vor etwas Unsichtbarem gepackt wurde. Und wenn nichts anderes, dann würde die Erinnerung an den Zusammenstoß mit dem Crawler sie bis zu einem gewissen Grad aus der Fassung gebracht haben.
Ich schnitt ein Stück Haut mit dem darunterliegenden Fleisch aus dem Arm und schob es in ein Probenfläschchen. Dann nahm ich eine Probe aus dem anderen Arm. Zurück im Basislager wollte ich beide untersuchen.
Da ich inzwischen leicht zitterte, machte ich eine Pause und wandte mich dem Tagebuch zu. Es war durchgängig mit der Abschrift der Worte auf der Wand des Turm gefüllt und enthielt eine Menge neuer Passagen.
… aber ob sie unter der Erde verwest oder oben auf grünen Feldern, oder draußen auf See oder in purer Luft, alles wird sich offenbaren und schwelgen im Wissen der alles erstickenden Frucht – und die Hand des Sünders wird jubilieren, denn da ist keine Sünde in Schatten oder Licht die die Saat der Toten nicht vergeben kann …
An den Rand hatte sie ein paar Notizen gekritzelt. Ich konnte »Leuchtturmwärter« entziffern und fragte mich, ob sie den Mann auf dem Foto markiert hatte. Andere Worte waren »Norden?« und »Insel«. Ich hatte keine Ahnung, was die Notizen bedeuteten – oder ob es etwas über den geistigen Zustand der Psychologin verriet, dass sie das ganze Tagebuch diesen Texten gewidmet hatte. Ich fühlte nur eine schlichte, schnörkellose Erleichterung, dass jemand eine Aufgabe erledigt hatte, die andernfalls für mich zu aufwendig und schwierig gewesen wäre. Ich fragte mich nur, ob sie den Text von den Wänden des Turms abgeschrieben, aus den Tagebüchern im Leuchtturm oder einer völlig anderen Quelle hatte. Ich weiß es immer noch nicht.
Dann untersuchte ich den Körper der Psychologin und achtete sorgfältig darauf, Arm und Schulter nicht zu berühren. Ich taste Hemd und Hose nach irgend etwas Verstecktem ab. Sie hatte eine winzige Handfeuerwaffe an die linke Wade geschnallt, und im rechten Stiefel fand ich einen kleinen, zusammengefalteten Brief. Die Psychologin hatte einen Namen auf den Umschlag geschrieben; zumindest sah es nach ihrer Handschrift aus. Der Name fing mit S. an. Der Name ihres Kindes? Eines Freundes? Ein Liebhaber? Ich hatte schon seit Monaten keinen Namen mehr laut ausgesprochen oder aufgeschrieben gesehen, und der Anblick verunsicherte mich zutiefst. Er schien hier völlig fehl am Platz zu sein, nicht zu Area X zu gehören. Ein Name war hier ein gefährlicher Luxus. Opfer brauchten keinen Namen. Menschen, die eine Aufgabe erfüllten, brauchten keinen Namen. Dieser Name stürzte mich weiter und tiefer in Verwirrung, wurde zu einem dunklen Loch, das in meinem Kopf immer größer und größer wurde.
Ich warf die Waffe weit weg in den Sand, knüllte den Briefumschlag zusammen und warf ihn hinterher. Ich dachte daran, dass ich das Tagebuch meines Mannes gefunden hatte, was in gewisser Weise schlimmer war, als es nicht zu finden. Und irgendwie war ich immer noch böse auf die Psychologin.
Schließlich untersuchte ich die Hosentaschen. Ich fand etwas Kleingeld, einen glatten Handschmeichler und einen Zettel. Sie hatte eine Liste mit Hypnosebefehlen aufgeschrieben, darunter »verursacht Lähmung«, »bewirkt Zustimmung« und »erzwingt Gehorsam«, die jeweils von einem bestimmten dazugehörigen Wort oder Satz ausgelöst wurden. Sie musste fürchterliche Angst gehabt haben, jene Worte zu vergessen, die ihr Kontrolle über uns gaben, und hatte sie aufgeschrieben. Der Spickzettel enthielt auch noch andere Gedächtnisstützen: »Vermesserin muss bestärkt werden«, und »Anthropologin kann nicht klar denken«. Über mich gab es nur eine kryptische Bemerkung: »Schweigen ist auch eine Form von Gewalttätigkeit.« Wie aufschlussreich.
Das Wort »Auslöschung« war dem Satz »hilft, sofortigen Selbstmord auszulösen« zugeordnet.
Wir alle waren mit einem Selbstzerstörungsschalter ausgerüstet worden, aber die Einzige, die ihn umlegen konnte, war tot.
Das Leben meines Mannes wurde immer wieder durch Albträume bestimmt, die er während der Kindheit hatte. Diese lähmenden Erlebnisse hatten dazu geführt, dass er sich in psychiatrische Behandlung begab. Es ging um ein Haus und einen Keller und fürchterliche Verbrechen, die sich dort ereigneten. Aber der Psychiater hatte ausgeschlossen, dass es sich dabei um unterdrückte Erinnerungen handelte, und so blieb ihm am Ende nicht mehr als der Versuch, das Böse zu bannen, indem er es einem Tagebuch anvertraute. Als er später die Universität besuchte, ein paar Monate, bevor er bei der Marine anheuerte, ging er anlässlich eines Festival klassischer Filme ins Kino – und dort oben auf der großen Leinwand sah mein künftiger Ehemann plötzlich seine lebendig gewordenen Alpträume. Erst da begriff er, dass jemand wohl den Fernseher angelassen hatte, als er noch sehr jung war, und dort dieser Horrorfilm lief. Dieser Splitter in seinem Bewusstsein, der niemals ganz entfernt worden war, löste sich in nichts auf. Das war der Augenblick, sagte er, in dem er wusste, dass er frei war, dass er damit die Schatten seiner Kindheit hinter sich gelassen hatte – die eine Illusion gewesen waren, ein Schwindel, eine Kritzelei in seinem Gehirn, das ihn fälschlicherweise in eine Richtung hatte gehen lassen, während er sich doch in die andere hätte bewegen sollen.
In der Nacht, als er mir beichtete, dass er einer Teilnahme an der elften Expedition zugestimmt hatte, gab er zu: »Ich habe schon eine Zeit lang wieder einen Traum, einen neuen. Aber dieses Mal ist es eigentlich kein Albtraum.«
In diesem Träumen glitt er über eine unberührte Wildnis wie Area X, auf die er von hoch oben aus den Augen einer Kornweihe hinabblickte, und das Gefühl, frei zu sein, »ist unbeschreiblich. Als hätte sich all das, was ich in den Albträumen erlebt habe, ins Gegenteil verkehrt.« Die Träume kamen wieder und entwickelten sich, sie variierten in Intensität und Blickwinkel. In einigen Nächten schwamm er durch die Marschkanäle. In anderen wurde er zu einem Baum oder einem Wassertropfen. Alles, was er erlebte, verstärkte seine Sehnsucht nach Area X.
Obwohl er mir nicht viel erzählen durfte, räumte er doch ein, dass er sich schon diverse Male mit den Leuten getroffen hatte, die die Expeditionsteilnehmer rekrutierten. Er hatte stundenlang mit ihnen geredet und war sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Es war eine Ehre. Längst nicht jeder wurde genommen – einige wurden abgelehnt, andere konnten irgendwann nicht mehr folgen. Wieder andere, hielt ich ihm entgegen, werden sich wohl gefragt haben, was sie da getan hatten – nachdem es zu spät war. Damals begriff ich nicht mehr von dem, was er Area X nannte, als die vagen, offiziellen Verlautbarungen über eine Umweltkatastrophe, die von Gerüchten und abgedrehtem Gemunkel begleitet wurden. Gefahren? Der Umstand, dass mein Ehemann mir soeben gesagt hatte, er wolle mich verlassen und diese Information schon ein paar Wochen mit sich herumtrug, war in meinem Kopf wesentlich präsenter. Ich hatte noch keine Vorstellung von Hypnose oder Rekonditionierung, und so kam mir auch nicht in den Sinn, dass er während der Treffen vielleicht schon empfänglich dafür gemacht worden war.
Er suchte in meinem Gesicht nach etwas, was er wohl zu finden gehofft hatte, aber meine Antwort war tiefes Schweigen. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa, während ich mir ein ordentliches Glas Wein einschenkte und mich auf einen Stuhl ihm gegenüber setzte. So saßen wir eine ziemlich lange Zeit.
Dann fing er wieder an zu reden – was er über Area X wusste, warum ihn seine Arbeit inzwischen nicht mehr befriedigte und er nach einer Herausforderung suchte. Aber ich hörte ihm nicht richtig zu. Ich dachte an meinen banalen Job. Ich dachte an die Wildnis. Ich fragte mich, warum nicht ich getan hatte, was er jetzt tat: Von etwas anderem zu träumen und davon, wie man dorthin gelangt. In diesem Augenblick konnte ich ihm keinen rechten Vorwurf machen. War ich in meinem Job nicht auch manchmal auf Exkursionen? Vielleicht war ich nicht gleich Monate weg, aber im Prinzip war es das Gleiche.
Die Streitereien kamen erst später, als es ernst wurde. Aber ich bettelte nicht. Ich bat ihn nicht zu bleiben. Ich konnte einfach nicht. Vielleicht glaubte er sogar, dass sein Fortgehen unsere Ehe retten, dass es uns einander wieder näher bringen würde. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Es gibt einfach Sachen, in denen war und bin ich nicht gut.
Aber als ich neben der toten Psychologin stand und hinaus aufs Meer schaute, wusste ich, dass das Tagebuch meines Mannes auf mich wartete, dass ich bald wissen würde, welche Art Albtraum er hier erlebt hatte. Und ich wusste auch, das ich ihm seine Entscheidung immer noch verübelte … aber trotzdem wusste ich auch, irgendwo tief in meinem Herzen, dass ich inzwischen sicher war, an keinem Ort lieber sein zu wollen als in Area X.
Ich hatte zu viel Zeit vertrödelt und musste jetzt durch die Dunkelheit zurück zum Basislager. Wenn ich ein gleichmäßiges Tempo durchhielt, konnte ich es bis Mitternacht schaffen. Angesichts der Umstände, unter denen die Vermesserin und ich auseinandergegangen waren, konnte es durchaus von Vorteil sein, zu unerwarteter Stunde zurückzukommen. Auch warnte mich irgendetwas davor, über Nacht im Leuchtturm zu bleiben. Vielleicht war es einfach das Unbehagen, das mich angesichts der ungewöhnlichen Verletzungen der Psychologin befallen hatte, oder möglicherweise auch ein Gefühl, dass etwas anderes diesen Ort bewohnte; jedenfalls machte ich mich kurz darauf mit meinem Rucksack voller Vorräte und dem Tagebuch meines Mannes auf den Weg. Hinter mir ragte eine zunehmend düstere Silhouette auf, die nicht länger ein Leuchtturm, sondern eher eine Art Reliquienschrein war. Als ich einen Blick zurückwarf, sah ich einen dünnen, grünen Lichtschein aufsteigen, der von den Schattenlinien der Dünen eingerahmt wurde, was mich nur weiter anstachelte, möglichst schnell Abstand zu gewinnen. Es war die infizierte Wunde der Psychologin, es kam von der Stelle am Strand, die heller leuchtete als zuvor. Eine Lebensform, die so schnell wucherte und dabei ein grelles Licht verströmte, war nichts, was ich näher untersuchen wollte. Ich erinnerte mich an eine weitere Formulierung in ihrem Tagebuch: Ein Feuer wird kommen, das deinen Namen kennt und im Angesicht der alles erdrückenden Frucht wird seine dunkle Flamme dich vollständig in Besitz nehmen.
Eine Stunde später war der Leuchtturm in der Nacht verschwunden und mit ihm das Fanal, zu dem die Psychologin geworden war. Der Wind frischte auf, die Dunkelheit wurde tiefer. Das weiter und weiter entfernte Rauschen der Wellen klang, als würde man einer Unterhaltung lauschen, die Unheil versprach. Ich ging im Licht einer dünnen Mondsichel so geräuschlos wie möglich durch das verlassene Dorf und wagte es nicht, meine Taschenlampe einzuschalten. Über die sichtbaren Trümmerformen in den Zimmern hatte sich eine Art Dunkelheit gelegt, die sich deutlich vom Nachtdunkel abhob, und in der völligen Stille hatte es den Anschein, als würde sich irgendetwas bewegen. Ich war froh, sie bald hinter mir zu lassen und zu dem Teil des Weges zu kommen, wo das Röhricht sowohl den Kanal zur Seeseite als auch die kleinen Seen zur Linken fest im Griff hatte. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis ich zum schwarzen Wasser und den Zypressen kam, Vorhut der wetterharten Kiefern.
Ein paar Minuten später setzte das Stöhnen und Wehklagen ein. Einen Moment lang dachte ich, es sei nur ein Echo in meinem Kopf. Dann hielt ich abrupt inne und lauschte. Was auch immer wir jeden Abend bei Einbruch der Dämmerung gehört hatten, es war wieder da. Und in meinem Eifer, so schnell wie möglich vom Leuchtturm wegzukommen, hatte ich völlig vergessen, dass es irgendwo im Schilf lebte. Aus der Nähe hatte der Klang etwas tief Gutturales, war voller wirrer Qual und Wut. Etwas zutiefst Menschliches und doch Unmenschliches, so dass ich zum zweiten Mal, seit ich Area X betreten hatte, an Jenseitiges dachte. Die Quelle der Laute lag vor mir, landeinwärts, sie drangen durch das dicke Schilf, das das Wasser vom Pfad fernhielt. Ich schien unmöglich da vorbeikommen zu können, ohne dass es mich hörte. Und was dann?
Schließlich beschloss ich, einfach weiterzulaufen. Ich fingerte nach der kleineren meiner beiden Taschenlampen und ging nach dem Einschalten unwillkürlich tief gebückt weiter, weil ihr Schein weit über das Schilf hinaus sichtbar war. In dieser eher linkischen Haltung bewegte ich mich vorwärts, in der andere Hand die Pistole, äußerst wachsam, was die Richtung betraf, aus der die Geräusche kamen. Noch waren sie ein Stück weit entfernt, aber wie ich bald feststellte, kam etwas langsam näher, bahnte sich einen Weg durch das Schilf und hörte dabei nicht auf, diese entsetzlichen Laute von sich zu geben.
Die Minuten vergingen, und ich kam gut voran. Plötzlich stieß etwas an meinen Stiefel und blieb klatschend daran hängen. Ich richtete die Taschenlampe auf den Boden – und fuhr keuchend zurück. Es war unglaublich, aber aus der Erde schien ein menschliches Gesicht aufzutauchen. Doch als nichts weiter passierte, leuchtete ich es wieder an und sah, dass es eine Art Sprühmaske aus Haut war, fast durchscheinend, die auf ihre Art an den abgeworfenen Panzer eines Pfeilschwanzkrebses erinnerte. Ein breites Gesicht, mit dem Anflug einiger Pockennarben auf der linken Wange. Die Augen waren leer und starrten mich an. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich an diese Gesichtszüge erinnern – und dass es sehr wichtig sein könnte –, aber so vom Körper getrennt konnte ich es nicht.
Der Anblick dieser Maske brachte mir ein gewisses Maß jener Gelassenheit zurück, die mir während der Konversation mit der Psychologin abhanden gekommen war. Wie fremdartig das auch schien, ein abgeworfener Hauptpanzer war – selbst wenn er an ein menschliches Gesicht erinnerte – ein lösbares Mysterium. Jedenfalls eines, das die verstörende Vorstellung einer vorrückenden Grenze und die zahllosen Lügen, die Southern Reach uns aufgetischt hatte, in den Hintergrund drängte.
Als ich niederkniete und meine Taschenlampe nach vorne richtete, sah ich noch mehr Überbleibsel einer Häutung: eine lange Spur hautartiger Abfälle, verschorfte Hautfetzen. Vielleicht würde ich alsbald auf das treffen, was diese Substanz abgestoßen hatte, und ebenso eindeutig war dieses laut stöhnende Wesen menschlich oder war es zumindest einmal gewesen.
Ich dachte wieder an das verlassene Dorf, die so fremden Augen der Delfine. Das alles warf Fragen auf, deren Beantwortung ich mit der Zeit vielleicht am eigenen Leibe erfahren würde. Aber die wichtigste Frage war im Augenblick, ob das Ding, das sich da gehäutet hatte, eher träger oder aktiver werden würde. Das hing ganz von der Gattung ab, und in Bezug auf diese war ich kein Experte. Einer neuerlichen Begegnung wäre ich auch nicht mehr gewachsen, das spürte ich deutlich, obwohl es inzwischen für einen Rückzug zu spät war.
Ich ging weiter und kam bald zu der Stelle, wo das Schilf linksseitig dem Erdboden gleichgemacht war und sich ein knapp ein Meter breiter Pfad ins Dunkel zog. Auch die Hautfetzen, wenn es denn welche waren, verloren sich im Dunkel. Ich leuchtete mit der Taschenlampe den Pfad entlang und konnte sehen, dass er nach etwas dreißig Metern einen scharfen Rechtsknick vollführte. Was hieß, dass dieses Lebewesen vor mir war, irgendwo im Schilf, und vielleicht einen Bogen schlagen und mir den Weg zurück ins Basislager versperren würde.
Das Knacken und Rascheln der brechenden Schilfrohre war lauter geworden, wie auch das Stöhnen. Ein schwerer Moschusgeruch hing in der Luft.
Ich hatte noch immer kein Verlangen, zum Leuchtturm zurückzukehren, also beschleunigte ich meine Schritte. Inzwischen war die Dunkelheit so tief, dass ich nur ein paar Schritte voraus sehen konnte, wobei die Taschenlampe kaum noch eine Hilfe war. Ich hatte das Gefühl, in einem Tunnel im Kreis zu laufen. Das Stöhnen wurde immer lauter, und ich konnte nicht mehr feststellen, aus welcher Richtung es kam. Der Geruch war zu einem spezifischen Gestank geworden. Der Boden begann unter meinem Gewicht leicht nachzugeben, und ich wusste, dass es nicht mehr weit bis zum Wasser sein konnte.
Und dann erklang das Stöhnen so nah, wie ich es noch nie gehört hatte, begleitet von einem lauten Bersten. Ich blieb stehen, stellte mich auf die Zehenspitzen und ließ das Licht der Taschenlampe über das Schilf zur Linken gleiten, gerade rechtzeitig, um es in einer breiten Welle brechen zu sehen, die sich rechtwinklig auf den Pfad zubewegte und schnell näherkam. Das Röhricht wurde so schnell entwurzelt, als wäre eine Mähmaschine im Einsatz. Das Ding versuchte, mich auf der Flanke zu umgehen, doch das helle Leuchten, das von ihm ausging, hielt meine Panik in Schach.
Einen Augenblick lang zögerte ich. Ein Teil von mir wollte das Lebewesen sehen, das ich so viele Tage nur gehört hatte. Waren es die Reste der Wissenschaftlerin in mir, die sich ein letztes Mal formierten und an mein Denkvermögen appellierten, wo es doch um nichts anderes als das reine Überleben ging?
Doch wenn es so war, dann konnte sich die Wissenschaftlerin nicht durchsetzen.
Ich rannte. Ich war überrascht, wie schnell ich rennen konnte – ich war noch nie so schnell gerannt. In den schwarzen schilfgesäumten Tunnel hinein, dessen Rohre von rechts und links in meinen Weg ragten, was mir völlig egal war, denn das Leuchten trieb mich vorwärts. Um an der Bestie vorbeizukommen, bevor sie mir den Weg abschnitt. Ich spürte das Dröhnen ihrer Tritte, mit denen sie sich durch das splitternde Röhricht Bahn brach, und das Stöhnen hatte einen erwartungsvoll suchenden Unterton bekommen, dessen Eindringlichkeit mir den Magen umdrehte.
Aus der Dunkelheit zu meiner Linken schien etwas ungeheuer Massiges auf mich loszustürmen, die Ahnung einer gequälten, bleichen Fratze, die von einem schwerblütigen Körper getrieben wurde. Es raste auf einen Punkt zu, der vor mir lag, aber mir blieb nichts anderes, als es kommen zu sehen und mich wie ein Sprinter über die Ziellinie zu stürzen und somit an ihm vorbei und frei zu sein.
Aber es kam schnell, viel zu schnell. Mir war klar, dass ich es nicht schaffen würde, es war einfach nicht zu schaffen, nicht bei diesem Winkel, aber ich wollte es jetzt wissen.
Dann kam der entscheidende Augenblick. Ich schien auf gleicher Höhe mit seinem heißen Atem zu sein, und selbst im Laufen noch schrie ich auf und zuckte zusammen. Aber dann war der Weg vor mir frei, und von rechts hinter mir hörte ich einen schrillen Klagelaut, ich fühlte, wie etwas plötzlich diesen Raum ausfüllte, versuchte, abzubremsen und die Richtung zu ändern und trotzdem von seinem eigenen Schwung in das Schilf auf der anderen Seite des Weg gerissen wurde. Eine schon wehmütige Klage, die mit aller Einsamkeit dieses Ortes nach mir rief. Und rief, und rief, mich anflehte, zurückzukommen, um es in seiner Gänze zu sehen, seine Existenz anzuerkennen.
Ich schaute nicht zurück. Ich rannte einfach weiter.
Irgendwann hörte ich schwer atmend auf zu rennen. Auf wackeligen Knien stolperte ich weiter, bis der Pfad den Wald erreichte, so weit, bis ich eine große Eiche fand, die ich erklettern konnte und dort eine ungemütliche Nacht verkeilt in einer Astgabelung verbrachte. Wenn dieses stöhnende Wesen mir bis hierhin gefolgt wäre, ich hätte nicht gewusst, was ich hätte tun sollen. Ich konnte es immer noch hören, aber offenbar in großer Entfernung. Ich wollte nicht mehr daran denken, aber ich konnte nicht aufhören, daran zu denken.
Ich hatte einen unruhigen Schlaf, aus dem ich immer wieder aufschreckte, und hielt ein wachsames Auge auf den Boden gerichtet. Einmal blieb etwas Großes am Fuß des Baumes stehen und schnüffelte, zog dann aber seiner Wege. Dann hatte ich den Eindruck von etwas weiter entfernten Schemen, aber das war es auch schon. Sie schienen einen Augenblick inne zu halten, phosphoreszierende Augen, die in der Dunkelheit schwammen, aber ich empfand sie nicht als Bedrohung. Ich hielt das Tagebuch meines Mannes wie einen Talisman an meine Brust gedrückt, aber weigerte mich noch immer, hineinzuschauen. Meine Angst vor dem, was ich dort lesen mochte, war inzwischen noch größer.
Irgendwann vor Sonnenaufgang wachte ich auf und sah, dass mein »Leuchten« sprichwörtlich geworden war: In der Dunkelheit strahlte meine Haut leicht phosphoreszierend, ich versuchte, meine Hände in den Ärmeln zu verstecken und zog den Kragen hoch, um so wenig sichtbar wie möglich zu sein, und ließ mich wieder in den Schlaf treiben. Ein Teil von mir wollte immer weiter schlafen, durch alles hindurch, was vielleicht noch passieren mochte.
Aber inzwischen war mir eines wieder eingefallen: wo ich die Maske, die abgestreifte, schon einmal gesehen hatte. Es war das Gesicht des Psychologen der elften Expedition, ein Mann, den ich nur aus Befragungen nach seiner Rückkehr über die Grenze kannte. Ein Mann, der mit ruhiger, ja gelassener Stimme gesagt hatte: »Es war sehr schön, ausgesprochen friedlich in Area X. Wir haben nichts Ungewöhnliches bemerkt. Überhaupt nichts Ungewöhnliches.« Und dann hatte er unbestimmt gelächelt.
Ich fing langsam an zu verstehen, dass der Tod hier nicht das gleiche war wie auf der anderen Seite der Grenze.
Während ich am nächsten Morgen in den Teil von Area X kam, wo der Weg einen steilen Hang empor führte, auf dessen beiden Seiten die sumpfigen schwarzen Gewässer mit den trügerischen, gleichsam toten Zypressenstümpfen übersät sind, hallte in meinem Kopf immer noch das Stöhnen dieses Lebewesens wider. Das Wasser erstickte jedes Geräusch, und seine reglose Oberfläche reflektierte nichts als graue Flechten und Äste. Ich liebte diesen Teil des Wegs wie keinen anderen. Hier war diese Welt auf eine Art wach, die mit einem Gefühl friedlicher Einsamkeit einherging. Die Stille lud geradezu dazu ein, die eigene Wachsamkeit schleifen zu lassen, und war gleichzeitig eine Warnung, nicht allzu sorglos zu werden. Das Basislager war nur noch eine Meile entfernt, und das Licht und die durch das hohe Gras summenden Insekten hatten mich träge gemacht. Ich war auch schon dabei, mir zurechtzulegen, was ich der Vermesserin sagen, was ich ihr erzählen und was ich lieber für mich behalten wollte.
Mein inneres Leuchten flackerte auf und gab mir so die Zeit, einen halben Schritt nach rechts zu machen.
Der erste Schuss schlug in der linken Schulter ein, anstatt mein Herz zu treffen, und der Stoß warf mich zur Seite und nach hinten. Der zweite Schuss riss meine linke Seite auf, er holte mich nicht von Füßen aber führte dazu, dass ich ins Trudeln geriet und stolperte. Während ich in der folgenden Stille den Hang hinab kollerte fing es in meinen Ohren an zu dröhnen. Ich lag am Fuß des Hügels, die Luft aus der Lunge gepresst, die Hand des ausgestreckten Arms hing im Wasser, den anderen hatte ich unter mir begraben. Der Schmerz in meiner linken Seite fühlte sich zunächst so an, als würde mich jemand mit einem Schlachtermesser aufschneiden und dann wieder zusammennähen. Er reduzierte sich wie durch eine zelluläre Verschwörung aber schnell zu einem dumpfen Pochen, die Schusswunde fingen an sich anzufühlen, als würden winzige Tierchen in mir hin und her wuseln.
Es waren nur ein paar Sekunden vergangen. Ich wusste, dass ich hier wegmusste. Glücklicherweise hatte ich meine Waffe im Holster stecken, sonst wäre sie weggeflogen. Jetzt zog ich sie heraus. Ich hatte das Zielfernrohr gesehen, ein winziger Kreis im hohen Gras, das mir verriet, wer diesen Hinterhalt gelegt hatte. Die Vermesserin war beim Militär gewesen, und sie war gut, aber sie konnte nicht wissen, dass mein »Leuchten« mich beschützte, dass der Schock mich nicht übermannt, dass die Wunde mich nicht starr vor Schmerzen gemacht hatte.
Ich rollte mich auf den Bauch und wollte am Ufer entlang kriechen.
Dann hörte ich die Stimme der Vermesserin von der anderen Seite der Böschung: »Wo ist die Psychologin? Was hast du mit ihr gemacht?«
Ich machte den Fehler, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Sie ist tot«, rief ich zurück und versuchte, meine Stimme zittrig und schwach klingen zu lassen.
Die einzige Antwort der Vermesserin war, einen Schuss über meinen Kopf hinweg abzugeben, wohl in der Hoffnung, dass ich die Deckung verlassen würde.
»Ich habe die Psychologin nicht getötet«, schrie ich. »Sie ist von der Spitze des Leuchtturms gesprungen.«
»Das Risiko lohnt sich«, war die Antwort der Vermesserin, die sie mir wie eine Handgranate entgegenschleuderte. Sie musste über diesen Augenblick nachgedacht haben, seitdem ich mich auf den Weg gemacht hatte. Die Wirkung bei mir war gleich Null, nicht anders als mein Versuch bei ihr.
»Hör mir zu! Du hast mich ziemlich schwer verletzt. Du kannst mich hier liegen lassen. Ich bin nicht dein Feind.«
Klägliche Worte, beruhigende Worte. Ich wartete, aber die Vermesserin antwortete nicht. Nichts als das Summen der Bienen um die Wildblumen, ein Gurgeln im schwarzen Sumpfwasser jenseits der Böschung. Ich schaute nach oben in das überwältigende Blau des Himmels und fragte mich, ob es an der Zeit war, mich zu bewegen.
»Geh zurück ins Basislager und nimmt die Vorräte«, schrie ich in einem weiteren Versuch. »Geh zur Grenze zurück. Mir ist das egal. Ich halte dich nicht auf.«
»Ich glaube dir kein Wort«, schrie sie zurück. Ihre Stimme klang jetzt näher, sie bewegte sich an der anderen Seite entlang. Dann: »Du bist zurückgekommen, und du bist kein Mensch mehr. Du solltest dich selber umbringen, dann muss ich es nicht tun.« Ihr beiläufiger Tonfall gefiel mir gar nicht.
»Ich bin ein Mensch so wie du«, antwortete ich, »das hier ist etwas ganz Natürliches.« Und begriff, dass sie nicht verstehen konnte, dass ich damit das Leuchten meinte. Ich wollte ihr sagen, dass auch ich ein Teil der Natur war, war mir dessen aber selbst nicht sicher – und zu meiner Verteidigung taugte das alles auch nicht.
»Sag mir, wie du heißt«, kreischte sie. »Sag mir, wie du heißt! Verrat mir deinen gottverdammten Namen!«
»Das würde überhaupt nichts ändern«, schrie ich zurück. »Was sollte das ändern? Ich verstehe nicht, welchen Unterschied das macht.«
Die Antwort war Schweigen. Sie würde nichts mehr sagen. Ich war ein Dämon, ein Teufel, etwas, das sie nicht verstehen konnte oder beschlossen hatte nicht zu verstehen. Ich spürte, wie sie tief gebückt näher kam, um in Deckung zu bleiben.
Sie würde nicht noch einmal schießen, bevor sie nicht freie Schussbahn hatte, während ich den Drang spürte, auf sie loszustürmen und wild um mich zu schießen. Statt dessen bewegte ich mich auf sie zu, halb schleichend, halb kriechend, aber schnell am Ufer entlang. Vielleicht erwartete sie, dass ich, um zu entkommen, den Abstand zwischen uns vergrößern würde, aber ich wusste, dass das bei der Reichweite des Sturmgewehrs einem Selbstmord gleichkam. Ich versuchte, flacher zu atmen. Ich wollte imstande sein, jedes Geräusch zu hören, das sie machte und so ihren Standort verriet.
Nach ein paar Augenblicken hörte ich Fußtritte auf der mir gegenüberliegenden Seite des Hügels. Ich nahm einen feuchten Klumpen Erde und warf ihn in die Richtung, aus der ich gekommen war, flach und parallel zum Ufer ins Wasser. Als er nach etwa zwanzig Metern mit einem klebrigem Plopp aufschlug, war ich schon auf dem Weg den Hügel hinauf und hatte den Saum des Wegs gerade noch im Blick.
Keine drei Meter vor mir hob die Vermesserin den Kopf. Sie war auf dem Bauch durch die langen Gräser auf dem Weg gekrochen. Es war nur ein kurzer Blick. Ich hatte sie weniger als eine Sekunde vor Augen, und gleich würde sie wieder verschwunden sein. Ich dachte nicht nach. Ich zögerte nicht. Ich erschoss sie.
Ihr Kopf flog zur Seite, der Körper sackte ins Gras, sie drehte sich mit einem Stöhnen auf den Rücken und lag dann still. Die eine Seite des Gesichts war blutüberströmt, und ihre Stirn sah schrecklich verunstaltet aus. Ich glitt zurück, den Hang hinunter. Ich starrte schockiert auf meine Waffe. Ich hatte das Gefühl, als würde ich zwischen zwei Varianten von Zukunft feststecken, obwohl ich mich doch gerade für eine davon entschieden hatten. Jetzt war nur noch ich übrig.
Als ich flach an den Hügel gepresst die Lage sondierte, lag sie immer noch ausgestreckt da, bewegungslos. Ich hatte noch nie jemanden getötet. Und wenn ich an die eigenen Gesetze dieses Ortes dachte, dann konnte ich nicht einmal sicher sein, wirklich jemanden getötet zu haben. Zumindest sagte ich das mir selbst, um mein Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Denn im Grunde konnte ich mich nicht von dem Gedanken lösen, dass ich vielleicht noch etwas länger hätte versuchen sollen, mit ihr vernünftig zu reden, oder es nicht auf den Versuch ankommen zu lassen und in der Wildnis unterzutauchen.
Ich stand auf und kletterte den Hügel hinauf; mein ganzer Körper tat mir weh, obwohl die Schulter nur noch dumpf pochte vor Schmerzen. Dann stand ich neben dem Körper, das Sturmgewehr lag wie ein Ausrufezeichen quer über dem blutigen Kopf, und ich fragte mich, wie ihre letzten Stunden im Basislager wohl ausgesehen hatten. Welche Zweifel an ihr genagt hatten. Ob sie schon auf dem Weg zur Grenze war, dann aber gezaudert hatte, zum Lager zurückgekehrt und sich wieder aufgemacht hatte, gefangen in einem Kreislauf von Unschlüssigkeit. Bestimmt hatte irgendetwas ihren Entschluss ausgelöst, mir entgegenzutreten, vielleicht hatte es auch schon gereicht, dass sie die ganze Nacht über im Basislager allein war. Einsamkeit konnte zu Depressionen führen und dem Gefühl, unbedingt etwas tun zu müssen. Wäre alles anders gekommen, wenn ich zum vereinbarten Zeitpunkt zurückgekommen wäre?
Ich konnte sie unmöglich hier liegen lassen, zögerte aber, sie zurück zum Basislager zu bringen und auf dem alten Friedhof hinter den Zelten zu begraben. Die Unsicherheit ging von meinem Leuchten aus. Was, wenn es ihre Bestimmung war, genau hier an diesem Ort zu sein? Würde eine Beerdigung nicht alle Möglichkeiten zunichte machen, dass auch sie sich veränderte, selbst jetzt noch? Schließlich rollte ich ihren immer noch warmen und beweglichen Körper hinunter zum Ufer, wobei das Blut weiter aus der Kopfwunde tropfte. Dann sagte ich mit ein paar Worten, ich hoffte, sie würde mir vergeben, und dass ihr vergeben würde, dass sie auf mich geschossen hatte. Ich wusste nicht, ob das in diesem Augenblick für sie oder mich Sinn machte. Es kam mir alles ziemlich absurd vor. Wäre sie plötzlich wieder auferstanden, dann wären wir uns vermutlich einig gewesen, einander nichts zu vergeben.
Ich hob sie vom Boden hoch und watete mit ihr auf den Armen in das schwarze Wasser hinein. Als es mir bis zu den Knien stand, ließ ich sie hineingleiten. Ich sah zu, wie sie sank, und als nicht einmal mehr die weiße Anemone ihrer ausgestreckten Hand zu erkennen war ging ich zurück zum Ufer. Ich hatte keine Ahnung, ob sie religiös war, ob sie erwartete, im Himmel wieder aufzuerstehen oder Fraß für die Würmer zu werden. Doch von all dem unbeeindruckt bildeten die Zypressen eine Art Kathedrale über ihrem Körper, der langsam in die Tiefe sank.
Mir blieb aber keine Zeit, darüber nachzudenken, was sich gerade ereignet hatte. Kurz nachdem ich wieder auf dem Weg stand, breitete sich das Leuchten weit über mein Nervenzentrum hinaus aus. Ich krümmte mich auf dem Boden zusammen, während in mir etwas wuchs, das sich wie ein Winter aus dunklem Eis anfühlte, das Leuchten weitete sich zu einer Korona aus strahlendem blauen Licht, das einem weißen Kern entsprang. Eine Art ätzender Schnee fing zu fallen an und fühlte sich beim Eindringen in meine Haut wie glühende Zigaretten an. Es dauerte nicht lange, und ich war wie erfroren, völlig taub, lag in meinem eigenen Körper gefangen auf dem Weg, meine Augen fixierten nur noch die dicken Grashalme vor mir, der halb offene Mund lag im Dreck. Es hätte mich eigentlich trösten sollen, dass mir die Schmerzen der Verletzungen erspart blieben, aber ich wurde in meinem Delirium von Geistern heimgesucht.
Ich kann mich nur noch an drei Stationen dieser Geisterbahn erinnern. In der ersten starrten die Vermesserin, die Psychologin und die Anthropologin durch Wellen auf mich hinab, als wäre ich eine Kaulquappe in einem Wasserbecken. Sie starrten mich eine abnorm lange Zeit an. In der zweiten saß ich neben dem stöhnenden Lebewesen, hatte meine Hand auf seinen Kopf gelegt und murmelte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. In der dritten starrte ich auf eine interaktive Karte der Grenze, die als großer kreisförmiger Festungsgraben um Area X angelegt war. In dem Festungsgraben schwammen riesige Seelebewesen, die sich nicht bewusst waren, dass ich sie beobachtete; ich empfand das Fehlen ihrer Aufmerksamkeit wie einen schrecklichen Trauerfall.
Den tiefen Spuren im Boden konnte ich hinterher entnehmen, dass ich die ganze Zeit keineswegs wie erfroren war: Ich hatte mich auf der weichen Erde wie ein Wurm krampfhaft hin und her gewälzt, wobei ein entlegener Teil von mir weiterhin die unerträglichen Schmerzen spürte und deshalb versuchte, meinen Tod herbeizuführen, obwohl das Leuchten das nicht zugelassen hätte. Wenn ich an meine Waffe gekommen wäre, dann hätte ich mir glaube ich in den Kopf geschossen … und wäre glücklich darüber gewesen.
Vielleicht ist inzwischen klar geworden, dass ich nicht immer gut darin bin, den Leuten Dinge zu erzählen, die zu wissen sie wohl ein Recht haben, und in dieser Hinsicht habe ich es bislang versäumt, einige Details in Bezug auf mein Leuchten zu erwähnen. Der Grund dafür ist ein weiteres Mal die Hoffnung, dass sich der Leser von diesen Details nicht in seinem Urteil bezüglich meiner Objektivität beeinflussen lässt. Ich habe als Ausgleich versucht, deutlich mehr persönliche Informationen in diesen Bericht einfließen zu lassen, als ich es normalerweise tun würde, zum Teil, weil sie für den Charakter von Area X relevant sind.
Die Wahrheit ist, dass in dem Augenblick, bevor die Vermesserin versuchte, mich zu erschießen, das Leuchten auf meinen ganzen Körper übergriff und meine Sinne verstärkte. Ich konnte die Bewegungen ihrer Hüften spüren, als sie auf dem Boden lag und mich durch das Zielfernrohr erfasste. Ich konnte jede einzelne Schweißperle hören, die ihre Stirn hinunterfloss. Ich konnte ihr Deodorant riechen und das gelbe Gras schmecken, dass sie niedergedrückt hatte, um mir aufzulauern. Als ich sie niederschoss, waren diese erweiterten Wahrnehmungen am Werk, und nur aus diesem Grund hatte ich eine Chance gegen sie.
Dies war eine plötzliche und extreme Überhöhung eines Zustandes, den ich bereits erlebt hatte. Auf dem Weg zum Leuchtturm und zurück hatte sich das Leuchten teilweise wie ein leichte Erkältung angefühlt. Ich hatte etwas Fieber, Husten, und Probleme mit den Nebenhöhlen. Ich hatte Schwächeanfälle und fühlte mich immer wieder schwindelig. Mein Körper fühlte sich abwechselnd leichtgewichtig und bleischwer an, war aber nie in Balance, und so war ich entweder heiter oder niedergeschlagen.
Mein Mann wäre in Bezug auf das Leuchten sofort aktiv geworden. Er hätte tausend Wege gesucht und gefunden, um es zu heilen – und die Narben, die damit einher gingen – und hätte nicht zugelassen, dass ich auf meine Art damit umging; deshalb hatte ich ihm während unserer gemeinsamen Zeit manchmal auch nicht gesagt, dass ich krank war. Aber so oder so wären in diesem Fall all seine Anstrengungen vergeblich gewesen. Man kann entweder Zeit verschwenden und sich mit Gedanken an einen Tod quälen, der kommt oder nicht kommt, oder sich darauf konzentrieren, was noch vor einem liegen mag.
Als ich schließlich wieder zu mir kam, war es Mittag des nächsten Tages. Ich hatte es irgendwie geschafft, mich zurück zum Basislager zu schleppen. Ich war völlig ausgezehrt, eine Hülse, die in den nächsten Stunden erst mal ein paar Liter Wasser trinken musste, um wieder zu sich zu kommen. Meine linke Seite brannte, aber ich wusste, dass die Instandsetzung in vollem Gange war und sich so schnell vollzog, dass ich mich schon wieder bewegen konnte. Das Leuchten, das inzwischen in meine Glieder eingesickert war, schien jetzt von meinem Körper mit einer letzten großen Aufwallung bekämpft zu werden, mit bisher unentschiedenem Ausgang, und sein Vordringen wurde von der Notwendigkeit gehindert, sich um meine Verletzungen kümmern zu müssen. Die Symptome der Erkältung waren verschwunden, das Leichtgewichtige und die Schwere, sie waren von einem konstanten, kräftigenden inneren Brummen abgelöst worden, ein zeitweise verstörendes Gefühl, als ob irgendetwas unter meiner Haut krabbelte und dabei eine Schicht bildete, die eine perfekte Mimikry der äußeren, sichtbaren bildete.
Ich wusste, dass ich diesem Gefühl, es ginge mir gut, nicht trauen durfte, es konnte schlicht das Zwischenspiel zur nächsten Phase sein. Jede Erleichterung darüber, dass die Veränderungen bisher nicht tiefgreifender waren als verbesserte Sinneswahrnehmungen und Reflexe und eine phosphoreszierende Tönung der Haut, verblasste jedoch vor meiner jüngsten Erkenntnis: Um das Leuchten unter Kontrolle zu halten, musste ich weitere Verletzungen auf mich nehmen. Um mein System in Schock zu versetzen.
In diesem Kontext war meine Reaktion auf das Chaos, das im Basislager herrschte, vielleicht nüchterner, als sie unter anderen Umständen ausgefallen wäre. Die Vermesserin hatte so lange auf unsere Zelte eingehackt, bis das kräftige Segeltuch nur noch in lange Streifen herunterhing. Alle wissenschaftlichen Unterlagen, die frühere Expeditionen zurückgelassen hatten, waren von ihr verbrannt worden; ich konnte noch einzelne geschwärzte Fragmente der zu Asche zerfallenen Protokolle erkennen. Sie hatte jede Waffe, die sie nicht selber tragen konnte, sorgfältig in ihre Einzelteile zerlegt und diese im ganzen Lager verstreut, eine Art Kampfansage an mich. Ausgeleerte Konservendosen lagen auf dem ganzen Gelände herum. In meiner Abwesenheit war aus der Vermesserin eine durchgeknallte Serienmörderin alles Leblosen geworden.
Ihr Tagebuch lag wie ein Lockvogel auf den Überresten des Bettes in ihrem Zelt, umgeben von Haufen wild verstreuter Landkarten, einige schon alt und vergilbt. Aber es war leer. Die wenigen Male, die sie sich zum »Schreiben« zurückgezogen hatte, waren offenbar ein Täuschungsmanöver gewesen. Es war nie ihre Absicht gewesen, der Psychologin oder einer anderen von uns ihre wahren Gedanken mitzuteilen. Das konnte ich durchaus respektieren.
Trotzdem hatte sie eine abschließende Botschaft hinterlassen, kurz und bündig auf einem Blatt Papier neben dem Bett, die vielleicht ihre Feindseligkeit erklärte: »Die Anthropologin hat versucht, zurückzukommen, aber ich habe mich ihrer angenommen.« Entweder war sie verrückt geworden oder nur allzu vernünftig. Ich ging das Kartenmaterial sorgfältig durch, aber es hatte nichts mit Area X zu tun. Sie hatte Anmerkungen darauf geschrieben, persönliche Anmerkungen, wie zum Andenken, und schließlich wurde mir klar, dass es Karten von Orten waren, an denen sie gelebt oder die sie bereist hatte. Ich konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen, sich Dingen der Vergangenheit zuzuwenden, um darin einen Halt für die Gegenwart zu finden, wie vergeblich ein solches Unterfangen auch war.
Während ich überprüfte, was sonst noch vom Basislager übrig geblieben war, machte ich eine Bestandsaufnahme meiner Situation. Ich fand noch ein paar verschlossene Konservendosen, die sie wohl übersehen hatte. Ihr war auch der kleinen Vorrat an Trinkwasser entgangen, den ich einer Gewohnheit folgend in meinem Schlafsack versteckt hatte. Und obwohl auch alle meine Proben verschwunden waren – ich stellte mir vor, wie sie sie in den schwarzen Sumpf geworfen hatte, während sie den Weg hinab zu ihrem Hinterhalt gegangen war –, änderte ihr Verhalten nichts, weder zum Guten noch zum Schlechten. Ich hatte alle Analysen und Beobachtungen zu den Proben in einem kleinen Notizbuch gesammelt, das ich im Rucksack bei mir trug. Das große, stärkere Mikroskop würde ich zwar vermissen, aber das kleine, das ich eingepackt hatte, würde es auch tun. Ich hatte genügend Nahrung, um ein paar Wochen durchzuhalten, denn ich aß nicht viel. Meine Wasservorräte würde noch ein paar Tage länger reichen, und ich konnte immer welches abkochen. Ich hatte genug Streichhölzer, um einen Monat lang Feuer zu machen, und wusste sowieso, wie man das auch ohne schaffte. Und im Leuchtturm gab es weitere Vorräte, nicht zuletzt den Rucksack der Psychologin.
Etwas weiter draußen sah ich, was die Vermesserin auf dem alten Friedhof getan hatte: Ein leeres, frisch ausgehobenes Grab, mit einem Haufen Erde gleich daneben – und ein einfaches Holzkreuz aus abgebrochenen Ästen, das an einem Ende in den Boden gerammt war. War es das Grab für mich oder für die Anthropologin? Oder für uns beide? Der Gedanke, für alle Ewigkeit neben der Anthropologin zu liegen, war nicht besonders angenehm.
Wenig später beim Aufräumen bekam ich völlig überraschend einen solchen Lachkrampf, dass ich mich vor Schmerzen krümmte. Mir war plötzlich wieder eingefallen, wie ich am Abend, als mein Mann wieder nach Hause gekommen war, nach dem Essen das Geschirr spülte. Ich konnte mich mit aller Deutlichkeit erinnern, wie ich die Reste von Spaghetti und Huhn von den Tellern gekratzt und fassungslos über die Koexistenz von etwas so Banalem und dem Mysterium seiner Rückkehr gebrütet hatte.