Читать книгу Autorität. Auslöschung. Akzeptanz. - Jeff VanderMeer - Страница 8
5 AUFLÖSUNG
ОглавлениеIch habe mich in Städten nie besonders wohl gefühlt, obwohl ich in einer gewohnt habe – weil mein Mann die Stadt brauchte, weil es nur dort für mich gute Jobs gab, weil ich zur Selbstzerstörung neigte, wenn sich im Außendienst die Gelegenheit dazu bot. Aber ich war kein domestiziertes Tier. Der Schmutz und Dreck einer Stadt, die nie zur Ruhe kommt, das ständige Gedränge, die permanente Beleuchtung, die die Sterne überstrahlt, die omnipräsenten Benzinabgase, die tausend Vorboten unseres Untergangs – all das stieß mich eher ab.
»Wo gehst du so spät am Abend noch hin?«, hatte mein Mann öfters gefragt, bevor er neun Monte später mit der elften Expedition aufbrach. Es gab ein unausgesprochenes »wirklich« vor dem »hin« – ich konnte es genau hören, laut und hartnäckig.
»Nirgendwohin«, sagte ich. Überallhin.
»Also – wohin denn wirklich?« Ich muss ihm zugute halten, dass er nie versuchte, mir zu folgen.
»Ich gehe nicht fremd, falls du das meinst.«
Diese Direktheit ließ ihn meistens verstummen, obwohl sie ihn keineswegs beruhigte.
Ich hatte ihm gesagt, dass ein Spaziergang alleine am Abend mich beruhigte, mich besser schlafen ließ, wenn mir der Stress oder die Langeweile meines Jobs zu viel wurden. Aber in Wahrheit ging ich nie weiter als bis zu einem leeren, grasbewachsenen Grundstück. Das leere Grundstück zog mich an, weil es nicht wirklich leer war. Zwei Gattungen Schnecken hatten hier ihr Heim und drei Gattungen Eidechsen, außerdem Schmetterlinge und Libellen. Aus einfachsten Anfängen – matschige Fahrspuren von Lastwagenreifen – hatte sich eine ehemalige Pfütze in einen kleinen Teich verwandelt. Fischeier waren ins Wasser gelangt und jetzt konnte man Elritzen und Kaulquappen hier finden sowie Wasserinsekten. An den Ränder waren Gräser gewachsen und verhinderten, dass Erde in den Teich rutschte. Singvögel auf Wanderung hatten den Ort zum Rastplatz erkoren.
Das Habitat als solches war nicht besonders vielfältig, aber seine Nähe dämpfte mein Verlangen, mich einfach ins Auto zu setzen und zur nächstgelegenen Wildnis zu fahren. Ich ging gerne am späten Abend dorthin, weil ich dann möglicherweise einen wachsamen Fuchs zu sehen bekam oder einen Kurzkopfgleitbeutler, der auf einem Leitungsmast rastete. Nachtschwalben sammelten sich nahebei, wo Insekten ihre blinden Angriffe gegen Straßenlaternen flogen, ein wahres Festmahl. Maus und Eule lebten ihr uraltes Jäger-und-Beute-Schema aus. Sie alle waren auf eine Art wachsam, die sich von der Wachsamkeit der Tiere in freier Wildbahn unterschied; es war eine ermattete Wachsamkeit, die Folge einer langen und abstumpfenden Entwicklung. Geschichten von absichtlicher Böswilligkeit in den von Menschen besiedelten Gebieten, tragisch und lange her.
Ich sagte meinem Mann nicht, dass meine Spaziergänge ein Ziel hatten, denn ich wollte den Ort für mich alleine haben. Es gibt so viele Dinge, die ein Paar aus reiner Gewohnheit tut und weil das von ihm erwartet wird, und ich hatte auch nichts gegen solche Rituale. Manchmal machten sie mir sogar Spaß. Aber was diesen Flecken städtischer Wildnis betraf, musste ich einfach egoistisch sein. Er inspirierte mich, wenn ich arbeitete, beruhigte mich, hielt eine Reihe von kleinen Dramen für mich bereit, auf die ich mich freute. Ich wusste es nicht, aber während ich versuchte, dieser Notlösung für meine Bedürfnisse möglichst uneingeschränkt nachzugehen, träumte mein Mann bereits von Area X und wesentlich weiteren, offenen Räumen. Später allerdings half mir diese Entsprechung dabei, meinen Ärger über seinen Weggang zu mildern und dann meine Verwirrung, als er in einem Zustand völliger Veränderung wieder zurückkam – wobei die schlichte Wahrheit ist, dass ich immer noch nicht genau wusste, was ich an ihm denn nun vermisste.
Die Psychologin hatte gesagt: »Die Grenze breitet sich aus … jedes Jahr ein bisschen weiter.«
Aber ich fand diese Aussage zu einschränkend, zu unvollständig. Es gab Tausende von »toten« Plätzen wie das Grundstück, das ich beobachtet hatte, Tausende von Lebensräumen, die sich in einem Übergangsstadium befanden, um die sich niemand kümmerte, die nicht wahrgenommen wurden, weil sie »nicht von Nutzen« waren. Alles Mögliche hätte sich dort zeitweise ansiedeln können, ohne dass irgend jemand es mitbekam. Wir hatten uns darauf geeinigt, die Grenze als einen unsichtbaren, monolithischen Wall zu sehen, aber wenn die Mitglieder der elften Expedition es geschafft hatten, zurückzukommen, ohne dass jemand aufmerksam wurde, was noch alles hätte sie mittlerweile unbemerkt überqueren können?
In dieser neuen Phase meines Leuchtens, während der meine Verletzungen heilten, rief der Turm pausenlos nach mir; ich konnte seine physische Anwesenheit in der Erde mit einer Klarheit spüren, die jenem ersten Rausch der Verlockung glich, in dem man genau weiß, wo im Raum das Objekt der Begierde zu finden ist, ohne sich umschauen zu müssen. Ein Grund war sicher mein Bedürfnis, zu ihm zurückzukehren, aber ein anderer hatte wohl mit der Wirkung der Sporen zu tun, und so kämpfte ich dagegen an, denn ich hatte noch einiges zu tun. Und wenn ich diese Arbeit ohne merkwürdige äußere Einflussnahme durchführen konnte, dann würde sie die Dinge vielleicht sogar in die richtige Perspektive rücken.
Zunächst einmal musste ich all die Lügen und Entstellungen meiner Vorgesetzten von jenen Daten isolieren, die sich auf die tatsächlichen Besonderheiten von Area X bezogen. Zum Beispiel das geheim gehaltene Wissen, dass es etwas wie eine Proto-Area X gegeben hatte, ein Vorspiel, einen Brückenkopf. Und so sehr meine Entdeckung des Bergs von Tagebüchern meine Einschätzung von Area X verändert hatte, so wenig glaubte ich, dass mir die pure Vielzahl von Expeditionen etwas über den Turm und seine Auswirkungen verraten würde. In erster Linie bestätigte diese Tatsache, dass man trotz des verifizierten Vordringens der Grenze wohl zu einer eher vorsichtigen Einschätzung der Gebiete gekommen war, die Area X sich einverleibte. Die kontinuierlich punktuell erfassten Daten, die in den Tagebüchern dokumentiert worden waren, bezogen sich auf wiederkehrende Zyklen und den Wechsel zwischen Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem und waren nützlich, um Trends aufzuzeigen. Aber auch das war meinen Vorgesetzten wohl bekannt, und ich konnte davon ausgehen, dass sie bereits darüber berichtet hatten. Der Mythos, dass nur die frühesten Expeditionen, über deren Startzeitpunkt Southern Reach nie mehr als nebulöse Angaben gemacht hatte, zu Schaden gekommen waren, bekräftigte die Vorstellung von Zyklen innerhalb der allgemein akzeptierten Vorstellung eines Vordringens.
Die persönlichen Geschichten in den Tagebüchern erzählten von Heldentum oder Feigheit, von guten oder schlechten Entscheidungen, aber im Grunde schilderten sie alle etwas Unausweichliches. Bis jetzt hatte niemand die tiefere Bedeutung einer Absicht oder eines Zwecks auf eine Art und Weise ausgelotet, die sich dieser Absicht oder dem Zweck in den Weg gestellt hätte. Sie alle waren entweder gestorben oder umgebracht worden, waren verändert oder unverändert zurückgekehrt, aber Area X hatte einfach immer weitergemacht – während unsere Vorgesetzten scheinbar so viel Angst vor einer radikalen Neueinschätzung der Situation hatten, dass sie weiterhin Expeditionen losschickten, denen das Wissen darum vorenthalten wurde, als sei dies die einzige Option. Area X weiter füttern, aber nicht reizen, und vielleicht wird irgendwann jemand – durch Glück oder schiere Wiederholung – auf eine Erklärung stoßen, eine Lösung, bevor die ganze Welt zu Area X wird.
Ich hatte keine Möglichkeiten, auch nur eine dieser Theorien zu erhärten, aber sie zu entwickeln war mir ein grimmiger Trost.
Ich hob mir das Tagebuch meines Mannes bis zum Schluss auf, obwohl seine Sogwirkung fast so stark wie die des Turms war. Statt dessen konzentrierte ich mich auf das, was ich mit zurückgebracht hatte: Die Proben aus dem verlassenen Dorf und der Psychologin, sowie die Proben meiner eigenen Haut. Ich baute das Mikroskop auf dem wackeligen Tisch auf, den die Vermesserin wohl schon derart lädiert vorgefunden hatte, dass er ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr wert schien. Es zeigte sich, dass beide Zellproben der Psychologin, die der nicht infizierten Schulter und die der Wunde, nur aus normalen menschlichen Zellen bestanden. Aber das traf auch die Zellen zu, die ich mir selbst entnommen hatte. Und das war einfach unmöglich. Ich prüfte die Proben wieder und wieder und tat sogar, als ob ich kein Interesse an ihnen hätte, bevor ich mich mit meinem Adlerauge über sie hermachte.
Ich war überzeugt davon, dass diese Zellen, wann immer ich durch das Okular des Mikroskops schaute, zu etwas anderem wurden, dass der pure Akt der Beobachtung alles änderte. Ich wusste, das war Irrsinn, aber ich glaubte es trotzdem. Ich hatte das Gefühl, dass Area X sich über mich lustig machte – jeder Grashalm, jedes verirrte Insekt, jeder Wassertropfen. Was würde passieren, wenn der Crawler am Fuß des Turms angekommen war? Was würde passieren, wenn er wieder nach oben kam?
Dann untersuchte ich die Proben aus dem Dorf: Moos aus der »Stirn« einer der Wucherungen, Holzsplitter, von einem toten Fuchs, einer Ratte. Das Moos und der Fuchs – bestanden aus modifizierten menschlichen Zellen. Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären …
Vermutlich hätte ich schockiert vom Mikroskop zurückzucken sollen, aber ich war jenseits einer solchen Reaktion bei allem, was das Gerät mir zeigen mochte. Stattdessen begnügte ich mich mit stillem Fluchen. Der Keiler auf dem Weg zum Basislager, die fremden Augen der Delfine, das gequälte Tier im Schilf. Perverserweise sogar der Gedanke, dass von der elften Expedition nur Replikanten zurückgekommen waren. All das schien zu belegen, was ich durch das Mikroskop sah. Hier war alles in Verwandlung begriffen, und so sehr ich mich auch auf meinem Weg zum Leuchtturm als Teil einer »natürlichen« Landschaft gefühlt hatte, so konnte ich doch nicht bestreiten, dass diese Habitate sich auf eine zutiefst unnatürliche Weise verwandelten. Ein perverses Gefühl der Erleichterung überkam mich; zumindest hatte ich jetzt einen Beweis, dass hier etwas sehr Merkwürdiges passierte, zusätzlich zu dem Gehirngewebe, das die Anthropologin der Haut des Crawlers entnommen hatte.
Schließlich hatte ich von den Proben dann doch genug. Ich aß etwas zu Mittag und entschloss mich, keine weitere Energie mit dem Aufräumen des Lagers zu verschwenden; die nächste Expedition sollte ja auch noch etwas zu tun haben. Es war ein weiterer strahlender Nachmittag mit blendend blauem Himmel und gerade noch angenehmer Hitze. Eine Zeitlang saß ich einfach da und beobachtete die Libellen, die durchs hohe Gras glitten, und die Loopings, die ein rotköpfiger Specht drehte. Ich schob nur das Unausweichliche hinaus, meine Rückkehr zum Turm, und verschwendete meine Zeit.
Schließlich nahm ich mir das Tagebuch meines Mannes, und als ich anfing zu lesen und immer weiter las überfluteten mich nicht enden wollende Wellen des Leuchtens und verbanden mich mit der Erde, dem Wasser, den Bäumen und der Luft, während ich mich weiter und immer weiter öffnete.
Nichts am Tagebuch meines Mannes war so, wie man es hätte erwarten können. Von einigen knappen, hingekritzelten Ausnahmen abgesehen waren alle Einträge an mich gerichtet. Mir war das unangenehm, und sobald es nicht mehr zu ignorieren war, musste ich mich zusammennehmen, um das Tagebuch nicht einfach fallen zu lassen, als wäre es Gift. Meine Reaktion hatte nichts mit Liebe oder Nicht-Liebe zu tun, sondern entstand eher aus einem Schuldgefühl. Er hatte dieses Tagebuch mit mir teilen wollen, und jetzt war er entweder richtig tot oder existierte in einer Form, die mir keine Möglichkeit bot, ihm zu antworten, mit ihm zu kommunizieren.
Die elfte Expedition hatte aus acht Männern bestanden: Einem Psychologen, zwei Sanitätern (einer davon mein Mann), ein Linguist, ein Vermesser, ein Biologe, ein Anthropologe und ein Archäologe. Sie waren im Winter nach Area X gekommen, als die Bäume schon den größten Teil der Blätter verloren hatten und das Schilfrohr härter und dicker war. Seiner Beschreibung nach wurden die blühenden Büsche »düster« und schienen am Weg zu »kauern«. »Weniger Vögel als frühere Berichte erwarten ließen«, schrieb er. »Aber wohin verschwinden sie? Das weiß nur Geistervögelchen.« Der Himmel war meistens verhangen und der Wasserpegel der Zypressensümpfe niedrig. »Kein Regen in der Zeit, die wir jetzt schon hier sind,« schrieb er am Ende der ersten Woche.
Auch sie hatten das, was ich den Turm nenne, am sechsten oder siebten Tag entdeckt – ich war mehr denn je davon überzeugt, dass die Lage des Basislagers so gewählt war, dass es zu dieser Entdeckung kommen musste –, aber ihr Vermesser war der Ansicht, sie müssten erst einmal die weitere Umgebung kartieren. Was bedeutete, dass sie anderen Direktiven folgten als wir. »Keiner von uns ist scharf darauf, dort hineinzugehen«, schrieb mein Mann. »Und ich am allerwenigsten.« Mein Mann litt unter Klaustrophobie, er stand manchmal sogar mitten in der Nacht aus unserem gemeinsamen Bett auf, um auf der Veranda zu schlafen.
Aus welchem Grund auch immer forderte der Psychologe die Expeditionsteilnehmer nicht dazu auf, in den Turm hinabzusteigen. Sie erkundeten das weitere Umfeld, das verlassene Dorf, den Leuchtturm und noch weiter. Beim Leuchtturm beschrieb mein Mann ihr Grauen, als sie die Zeichen des Gemetzels fanden, aber »aus Respekt vor den Toten nicht anfingen, aufzuräumen« – womit er wohl die umgestürzten Tische im Erdgeschoss meinte. Das Foto des Leuchtturmwärters an der Wand des Treppenhauses erwähnte er nicht, worüber ich etwas enttäuscht war.
Wie ich hatten auch sie den Berg der Tagebücher ganz oben im Leuchtturm entdeckt und es mit der Angst bekommen. »Wir hatten einen erbitterten Streit darüber, was wir jetzt tun sollten. Ich wollte die Mission abbrechen und nach Hause zurückkehren, denn offenbar hatte man uns belogen.« Aber an diesem Punkt hatte der Psychologe offenbar wieder die Kontrolle übernommen, wenn auch nur eine schwache. Eine der Anweisungen, die jede Expedition nach Area X mit auf den Weg bekam, war, zusammenzubleiben. Aber im nächsten Eintrag hatten die Teilnehmer beschlossen, sich zu trennen – als wollten sie die Mission retten, indem jede der teilnehmenden Personen ihrem eigenen Willen folgen durfte – und so sicherzustellen, dass niemand zur Grenze zurückgehen würde. Der andere Sanitäter, der Anthropologe, der Archäologe und der Psychologe blieben im Leuchtturm, um die Tagebücher zu lesen und die Gegend um den Leuchtturm zu erkunden. Der Linguist und der Biologe gingen zurück, um den Turm zu untersuchen. Mein Mann und der Vermesser wollten weiter, den Landstrich jenseits des Leuchtturms erkunden.
»Dir würde es hier großartig gefallen«, schrieb er in einem besonders manischen Eintrag, der nicht so sehr nach Optimismus, sondern eher nach verstörender Euphorie klang. »Du würdest das Licht über den Dünen lieben. Du würdest die pure Weite dieser Wildnis lieben.«
Sie wanderten eine weitere Woche an der Küste entlang, kartierten die Landschaft und waren ganz sicher, an irgendeinem Punkt auf die Grenze zu stoßen, in welcher Form sie sich auch zeigen mochte – irgendetwas, das sie am Weitergehen hinderte.
Aber nichts dergleichen geschah.
Stattdessen waren sie Tag für Tag mit dem gleichen Habitat konfrontiert. »Ich glaube, wir gehen nach Norden«, schrieb er, »aber obwohl wir jeden Abend beim Dunkelwerden fünfzehn bis zwanzig Meilen hinter uns gebracht haben, verändert sich nichts. Alles sieht gleich aus«, wobei er ausdrücklich betonte, dass er nicht der Meinung sei, etwas würde sie »in einer wiederkehrenden Schleife gefangenhalten.« Ihm war aber klar, dass »wir eigentlich inzwischen die Grenze erreichen hätten müssen.« Allerdings waren sie tief in ein Gebiet vorgedrungen, das Southern Reach bisher noch nicht hatte kartieren lassen, »aber die Unbestimmtheit unserer Vorgesetzten hatte uns annehmen lassen, dass es existiert, irgendwo im letzten Winkel zur Grenze.«
Auch ich wusste, dass Area X kurz hinter dem Leuchtturm endete. Aber woher wusste ich das? Unsere Vorgesetzten hatten es uns während der Ausbildung gesagt. Also wusste ich tatsächlich überhaupt nichts.
Schließlich kehrten sie um, weil »wir hinter uns in großer Entfernung Lichtkaskaden sahen und, aus dem Landesinneren, noch mehr Lichter und Klänge hörten, die wir nicht identifizieren konnten. Wir fingen an, uns Sorgen um die Expeditionsteilnehmer zu machen, die wir zurückgelassen hatten.« Als sie umkehrten, waren sie in Sichtweite einer »felsigen Insel, die erste Insel überhaupt, die wir sahen«, wobei sie »einen heftigen Drang verspürten, sie zu erforschen, obwohl es nicht einfach zu sein schien, überzusetzen«. Die Insel »schien irgendwann einmal bewohnt gewesen zu sein – wir konnten über einen Hügel verteilte Steinhäuser erkennen und weiter unten einen Anleger.«
Der Rückweg zum Leuchtturm dauerte vier Tage, und nicht sieben, »als ob das Land sich zusammengezogen hätte.« Am Leuchtturm war der Psychologe verschwunden und im Zwischengeschoss auf halbem Weg nach oben stießen sie auf die blutigen Folgen einer Schießerei. Sie trafen auf den Archäologen, der im Sterben lag und »und berichtete, dass etwas ›nicht von dieser Welt‹ die Treppen hochgekommen wäre und den Psychologen umgebracht und beim Rückzug seinen Körper mitgenommen hatte. ›Aber der Psychologe kam später wieder zurück‹, delirierte der Archäologe. Es gab noch zwei weitere Leichen, aber keine davon war der Psychologe. Er konnte uns das Fehlen nicht erklären. Er konnte uns auch nicht sagen, warum sie aufeinander geschossen hatten, er sagte nur wieder und wieder, ›wir haben uns gegenseitig misstraut‹.« Mein Mann bemerkte, dass »einige der Wunden, die ich sehen konnte, nicht von Kugeln stammten, und auch die Blutspritzer an der Wand hatten nichts mit dem zu tun, was ich von einem Tatort wusste. Der Boden war mit einem merkwürdigen Belag überzogen.«
Der Archäologe »hatte sich in einer Ecke des Flurs halb aufgerichtet und drohte, uns zu erschießen, wenn wir ihm nahe genug kämen, um seine Verletzungen sehen zu können. Kurz darauf starb auch er.« Später schleiften sie die Leichen nach unten und begruben sie hoch am Strand in einiger Entfernung vom Leuchtturm. »Das war nicht einfach, Geistervögelchen, und ich weiß nicht, ob wir uns davon je wirklich erholen werden. Eigentlich nicht.«
Blieben noch der Linguist und der Biologe im Turm. »Der Landvermesser schlug vor, entweder an der Küste nördlich des Leuchtturms zurückzugehen, oder die Küste hinab dem Strand zu folgen. Aber wir beide wussten, dass wir damit nur den Tatsachen auswichen. Tatsächlich meinte er, dass wir die Mission abbrechen und uns in der Landschaft verlieren sollten.«
Die Landschaft selbst war inzwischen dabei, Wirkung zu entfalten. Die Temperatur stieg und fiel in extremen Sprüngen. Es polterte tief unter der Oberfläche, was wie ein leichtes Erdbeben wirkte. Die Sonne schien eine »grünliche Färbung« anzunehmen, als ob »die Grenze irgendwie unser Wahrnehmungsvermögen verzerrt hätte«. Sie sahen auch »ganze Vogelschwärme Richtung Binnenland fliegen – aber nicht eine Art pro Schwarm, sondern Falken und Enten, Reiher und Adler, alle zusammen, als würden sie gemeinsame Sache machen.«
Im Turm wagten sie sich nur ein paar Stockwerke hinab, bevor sie wieder nach oben stiegen. Mir fiel auf, dass von Worten an der Wand keine Rede war. »Sollten der Linguist und der Biologe da drinnen sein, dann waren sie viel weiter unten, aber wir hatten kein Interesse, ihnen zu folgen.« Sie kehrten zum Basislager zurück und fanden dort die Leiche des Biologen, die aus zahllosen Stichwunden blutete. Der Linguist hatte einen Zettel mit einer schlichten Botschaft hinterlassen. »Bin zurück zum Tunnel. Sucht nicht nach mir.« Ich fühlte einen seltsamen, schmerzlichen Stich voller Sympathie für einen gefallenen Kollegen. Zweifellos hatte der Biologe versucht, den Linguisten zur Vernunft zu bringen. Jedenfalls sagte ich mir das. Vielleicht hatte er auch versucht, den Linguisten zu töten. Aber der Linguist war eindeutig schon in die Fänge des Turms geraten, der Worte des Crawlers. Inzwischen wusste ich, dass es wohl für jeden zu viel gewesen wäre, die Worte in ihrer ureigenen Bedeutung zu verstehen.
Als der Vermesser und mein Mann wieder beim Turm ankamen, dämmerte es bereits. Warum, geht aus den Tagebuch-Einträgen nicht hervor – es gab jetzt Lücken, die sich über einige Stunden erstreckten, und keine spätere Zusammenfassung. Aber im Laufe der Nacht sahen sie eine grausige Prozession, die sich auf den Turm zubewegte: Sieben der acht Teilnehmer der Expedition, inklusive der Doppelgänger meines Mannes und des Vermessers. »Und hier, direkt vor mir: ich selbst. Ich ging ganz steif. Ich hatte eine ausdruckslosen Blick. Ich war so offensichtlich nicht ich selbst … und doch war ich es. Der Vermesser und ich waren schockiert und wie gelähmt. Wir haben nicht versucht, sie aufzuhalten. Irgendwie schien es auch gar nicht möglich zu sein, uns selbst aufzuhalten – und ich lüge nicht wenn ich sage, wir hatten Angst. Wir konnten nichts anderes tun als zuzusehen, bis sie verschwunden waren. Hinterher hatte ich kurz den Eindruck, alles zu verstehen, alles, was passiert war. Wir waren die Toten. Wir waren Gespenster, die in einer Geisterlandschaft umherirrten, und obwohl wir es nicht wussten, lebten Menschen hier ihr normales Leben, hier war alles so, wie es sein sollte … nur konnten wir den Schleier nicht durchdringen, der uns von allem trennte.«
Mein Mann schüttelte dieses Gefühl nur langsam ab. Sie warteten stundenlang in den Bäumen jenseits des Turms, um zu sehen, ob ihre Doppelgänger wieder auftauchten. Sie stritten sich darüber, was zu tun sei, sollte das passieren. Der Vermesser wollte sie töten. Mein Mann wollte sie befragen. Beide standen noch immer so unter Schock, dass keinem des Fehlen des Psychologen auffiel. Während sie noch warteten, ging ein zischendes Geräusch vom Turm aus, und ein Lichtstrahl schoss hinauf in den Himmel, um abrupt wieder abzubrechen. Aber von den Doppelgängern tauchte keiner wieder auf, und so gingen die beiden Männer schließlich zurück ins Lager.
An diesem Punkt beschlossen sie, getrennte Wege zu gehen. Der Vermesser hatte alles ausgeführt, was seinem Auftrag entsprach, und wollte so schnell wie möglich zurück zur Grenze. Mein Mann lehnte das ab, weil er beim Lesen der Tagebücher den Verdacht geschöpft hatte, dass »die Vorstellung, denselben Weg zurückzugehen, auf dem wir gekommen sind, vielleicht eine Falle ist.« Mein Mann war im Laufe der letzten Tage, während der sie auf kein Hindernis gestoßen waren, das ihnen den Weg weiter nach Norden versperrt hätte, »misstrauisch geworden, was diese Vorstellung einer Grenze betrifft.« Allerdings konnte er »dieses intensive Gefühl« nicht in eine schlüssige Theorie fassen.
In diesen unmittelbaren Bericht über den Verlauf der Expedition waren immer wieder persönliche Beobachtungen gestreut, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Außer dieser einen Passage, die sowohl Area X als auch unsere Beziehung betrifft:
Bei allem, was ich hier sehe und erlebe wünschte ich, dass du hier wärst. Ich wünschte, wir hätten uns zusammen beworben. Ich hätte dich hier, auf der Wanderung nach Norden, viel besser verstanden. Wir hätten auch nicht reden müssen, wenn du nicht gewollt hättest. Das hätte mich auch nicht gestört. Überhaupt nicht. Und wir hätten auch nicht zurückgehen müssen. Wir wären einfach immer weiter gegangen, bis es nicht mehr ging.
Es war eine langsam gewonnene und schmerzhafte Einsicht, die sich mit dem Lesen des Tagebücher einstellte. Mein Ehemann hatte ein Seelenleben gehabt, das über seine gesellige Extrovertiertheit hinausging, und wenn ich mehr darüber gewusst und mich ihm geöffnet hätte, dann hätte ich das vielleicht auch verstehen können. Aber hatte ich eben nicht. Ich hatte mich mit Gezeitenbecken und Pilzen, die Plastik zersetzen können, befasst – aber nicht mit ihm. Von allen Aspekten dieses Tagebuchs nagte dieser am meisten an mir. Auch er hatte seinen Anteil an unseren Problemen – trieb mich zu sehr an, wollte zu viel von mir, sah Dinge in mir, die es nicht gab. Aber ich hätte ihm auf halbem Weg entgegenkommen und doch meine Souveränität behalten können. Dafür war es jetzt zu spät.
Seine persönlichen Beobachtungen waren voller Ausschmückungen und Anregungen: In der Randspalte die Beschreibung eines Gezeitenbeckens in den Felsen an der Küste gleich hinter dem Leuchtturm. Eine ausführliche Beobachtung, wie ein Scherenschnabel bei Ebbe versucht, einen großen Fisch zu töten, wobei er völlig atypisch eine bei Niedrigwasser offenliegende Austernkolonie benutzt. Fotos des Gezeitenbeckens steckten in einem Umschlag weiter hinten. Auch gepresste Wildblumen waren behutsam in diesem Umschlag untergebracht, eine schmale Samenschote, ein paar unbekannte Blätter. Mein Mann interessierte sich im Grunde für all das herzlich wenig; den Scherenschnabel zu beobachten und dann eine ganze Seite darüber zu schreiben hatte wahrscheinlich seine ganze Konzentration erfordert. Ich wusste, dass dieser Teil für mich und nur für mich allein war. Zwar fand sich nirgendwo ein liebevolles Wort, aber ich verstand, warum er sich damit zurückhielt. Er wusste genau, wie sehr ich Worte wie »Liebe« hasste.
Den letzten Eintrag hatte er geschrieben, nachdem er wieder zum Leuchtturm zurückgekehrt war: »Ich werde wieder der Küste folgen. Aber nicht zu Fuß. Im verlassenen Dorf gibt es ein Boot. Es hat zwar Löcher und ist verrottet, aber am Wall um den Leuchtturm gibt es genug Holz, mit dem ich es reparieren kann. Ich werde so weit ich komme an der Küste entlangfahren. Bis zur Insel, und vielleicht noch weiter. Wenn du das hier jemals liest, weißt du, wohin ich gehe. Dort werde ich sein.« War es möglich, dass es, sogar innerhalb dieser ganzen sich verändernden Ökosysteme, einen weiteren Übergang gab – wo die Macht des Turms endete, aber die Grenze noch keinen Einfluss hatte?
Das Lesen des Tagebuchs hinterließ bei mir das tröstliche und immer wieder aufflackernde Bild meines Mannes, wie er in einem selbstgebauten Boot in See stach, durch die brechenden Wellen der Brandung in ruhigere Gewässer gleich dahinter. Wie er der Küstenlinie nach Norden folgte, alleine, und in dieser Erfahrung die Erinnerung an jene kurzen Momente der Freude suchte, die er aus besseren Tagen kannte. Es machte mich rasend stolz auf ihn. Es zeigte Entschlossenheit. Es zeigte Mut. Es schuf ein engeres und intimeres Band zwischen uns als wohl alles, was wir unserer Zeit als Paar hatten.
Es waren nur Gedankensplitter, ein kurzes Aufblitzen, aber in der Folge meiner Lektüre fragte ich mich doch, ob er noch immer ein Tagebuch führte oder ob das Delfinauge mir aus einem anderen Grund, als dass es so menschlich wirkte, bekannt vorgekommen war. Aber ich verbannte diesen Quatsch schnell wieder aus meinen Gedanken; manche Fragen zerstören dich, wenn du die Antwort nur lange genug vorenthalten bekommst.
Meine Verwundungen spürte ich inzwischen nur noch beim Atmen durch konstante, aber erträgliche Schmerzen. Es war auch kein Zufall, dass mit Anbruch der Dämmerung das Leuchten wieder durch meine Lungen und den Hals fegte, sodass ich mir einbildete, es gleich in kleinen Wölkchen aus meinem Mund aufsteigen zu sehen. Beim Gedanken an den grünen Halo über der Psychologin, dieses Zeichen allen Elends, den ich von Ferne gesehen hatte, schüttelte es mich. Ich konnte es kaum erwarten, dass es wieder Morgen wurde, auch wenn dies nur die Vorahnung einer noch weit entfernten Zukunft zu sein schien. Ich würde jetzt zum Turm zurückkehren. Wohin sollte ich sonst gehen. Ich nahm weder das Sturmgewehr noch eine der anderen Waffen mit. Ich ließ mein Messer im Lager. Ich ließ den Rucksack dort, hängte nur eine Wasserflasche an meinen Gürtel. Ich nahm die Kamera mit, überlegte es mir auf dem Weg aber anders und legte sie auf halber Strecke neben einen Felsen. Der Trieb, alles aufzuzeichnen, würde mich nur ablenken, und Fotos zählten auch nicht mehr als Proben. Im Leuchtturm warteten Tagebücher aus mehreren Jahrzehnten auf mich. Generationen von geisterhaften Expeditionen waren mir vorausgegangen. Die Sinnlosigkeit des Ganzen und der Druck fingen wieder an, mir an die Nieren zu gehen. Was für eine Verschwendung.
Ich hatte eine Taschenlampe eingesteckt, stellte aber fest, dass ich durch das grüne Leuchten meines Körpers genug sehen konnte. Ich bewegte mich schnell durch das Dunkel, immer den Weg zum Turm entlang. Die wolkenlose Schwärze über mir, wie eingerahmt von den ausladenden Schattenrissen der Pinien, ließ die ganze Grenzenlosigkeit des Himmels aufscheinen. Keine Grenzen, kein künstliches Licht, das die Tausende glitzernder Nadelstiche überstrahlte. Ich konnte alles sehen. Als Kind hatte ich in den Nachthimmel gestarrt und wie jeder auf Sternschnuppen gewartet. Als Erwachsene, während ich auf dem Dach meines Häuschens nahe der Bucht saß und als ich noch später immer wieder das leere Grundstück aufsuchte, hielt ich nicht nach Sternschnuppen Ausschau, sondern nach Fixsternen und versuchte mir vorzustellen, welche Art von Leben sich auf diesen himmlischen Gezeitenbecken entwickelt haben mochte, die so weit von uns entfernt waren. Die Sterne, die ich jetzt sah, wirkten fremd, waren über das Dunkel in chaotischen neuen Mustern verteilt, wo ich doch gerade in der Nacht zuvor noch in ihrer vertrauten Anordnung Trost gefunden hatte. Sah ich sie erst jetzt deutlicher? War ich vielleicht weiter von Zuhause weg, als ich gedacht hatte? Die grimmige Befriedigung, die ich bei diesem Gedanken empfand, war eigentlich fehl am Platz.
Als ich den Turm betrat, kam der Herzschlag aus größerer Entfernung als zuvor. Ich hatte meine Maske fest um Mund und Nase gezurrt und wusste nicht, ob ich weitere Kontaminierungen vermeiden oder mir das Leuchten so bewahren wollte. Die Biolumineszenz der Worte an der Wand hatte zugenommen, und das Schimmern meiner ungeschützten Haut schien darauf zu reagieren und beleuchtete meinen Weg. Aber das waren die einzigen Unterschiede, die mir auffielen, während ich die ersten Stockwerke hinabstieg. Wenn das daran lag, dass dieser Oberlauf der Treppen mir inzwischen nicht mehr fremd war, so wurde das durch den ernüchternden Umstand aufgewogen, dass ich zum ersten Mal alleine hier war. Mit jeder neuen Biegung, die diese Wände hinab in eine Dunkelheit nahmen, die nur von dem grießigen, grünen Licht gebannt wurde, rechnete ich fest damit, dass etwas aus dem Schatten springen und mich angreifen würde. In diesen Momenten vermisste ich die Vermesserin und musste meine Schuldgefühle unterdrücken. Und obwohl ich mich auf anderes konzentrierte, merkte ich, wie die Worte an den Wänden mich anzogen; sogar als ich nur noch an die Tiefe und das, was mich dort erwartete dachte, zogen die Worte mich immer wieder in ihren Bann … Und siehe über den Pflanzen im Schatten werden Gnade und Schonung liegen die dunkle Blumen erblühen lassen, und ihre Zähne sollen verschlingen und vernichten und vom Vergehen eines Zeitalters künden …
Schneller als erwartet erreichte ich die Stelle, wo wir die tote Anthropologin gefunden hatten. Irgendwie war ich überrascht, dass sie immer noch dort lag, inmitten der Überbleibsel ihres Abgangs – Kleiderfetzen, der leere Rucksack, ein paar zerbrochene Probenfläschchen, ihr Kopf, der in einem grotesken Winkel zum Körper lag. Sie war von einem sich bewegenden Teppich bleicher Organismen überzogen; als ich näher trat sah ich, dass er aus den kleinen, handförmigen Organismen bestand, die zwischen den Worten an der Wand hausten. Es war unmöglich zu sagen, ob sie sie schützten, umwandelten oder den Körper in seine Einzelteile zerlegten – genauso wenig, wie ich wusste, ob eine Version der Anthropologin tatsächlich der Vermesserin in der Nähe des Basislagers erschienen war, nachdem ich mich auf den Weg zum Leuchtturm gemacht hatte …
Ich blieb nicht länger stehen, sondern ging weiter nach unten.
Inzwischen war der Herzschlag des Turms lauter geworden und warf ein Echo. Die Worte an der Wand sahen jetzt frischer aus, als wären sie eben erst geschrieben und dann »getrocknet« worden. Unter dem Herzschlag bemerkte ich jetzt ein Summen, einen fast statisch brummenden Ton. Der scharfe Moder hier unten machte etwas Süßlich-Tropischem Platz. Ich bemerkte, dass ich schwitze. Doch am wichtigsten war, dass die Spuren des Crawlers unter meinen Stiefeln immer dicker und klebriger wurden, und ich versuchte, mich eher nahe der rechten Wand zu halten, um dieser Substanz auszuweichen. Aber auch die rechte Wand hatte sich verändert, sie war jetzt mit einer dünnen Schicht Moos oder Flechte bedeckt. Ich wollte mich keineswegs mit dem Rücken an der Wand entlangschieben, um den Bodenbelag zu umgehen, aber ich hatte keine Wahl.
Nachdem ich zwei Stunden nur langsam vorangekommen war hatte der Herzschlag des Turms eine solche Wucht erreicht, dass die Treppenstufen zu beben schienen, und das unterschwellige Brummen war zu einem kräftigen Prasseln geworden. Meine Ohren dröhnten, mein Körper vibrierte im Takt mit, und aufgrund der Feuchtigkeit war meine Kleidung inzwischen durchgeschwitzt; es war so schwül, dass ich mir die Maske vom Gesicht reißen wollte, um tief Luft zu holen. Aber ich widerstand der Versuchung. Ich war nah dran. Ich wusste, dass ich nah dran war … ich wusste nur nicht, woran.
Die Worte an den Wänden waren hier so frisch, dass sie vor Feuchtigkeit zu tropfen schienen; es gab viel weniger der handförmigen Lebewesen, und die, die zu sehen waren, hatten die Finger zur Faust geballt, als wären sie noch nicht recht erwacht und lebendig. Das was stirbt wird das Leben im Tod erkennen denn alles was vergeht ist nicht vergessen und wird zum Leben zurückgebracht und wird unter dem Stern des Nicht-Wissens die Welt durchwandern …
Ich ging den nächsten Spiralarm des Treppenhauses hinab, und als ich zu der schmalen Gerade vor der nächsten Kurve kam … sah ich Licht. Die Ränder eines stechenden, goldenen Lichts, das von etwas jenseits meines Blickfelds ausging, von der Wand verdeckt wurde, und das Leuchten in mir fieberte und pulsierte ihm entgegen. Das Brummen wurde noch einmal intensiver, und sein scharfes Zischen schien meine Ohren zum Bluten zu bringen. Der übermächtige Herzschlag dröhnte durch jeden Teil meines Körpers. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, ein Mensch zu sein, sondern nur noch Empfangsstation für eine Reihe übermächtiger Transmissionen. Ich spürte, wie das Leuchten aus meinem Mund drängte, ein halb transparenter Nebel, der gegen die Atemmaske schlug. Keuchend riss ich sie mir herunter. Gebe zurück, was du bekommen hast, schoss mir durch den Kopf, ohne zu wissen, was ich damit vielleicht nährte, oder was es für diese Zusammenballung von Zellen bedeutete, aus denen ich bestand.
Verstehen Sie, ich hätte mich ebenso wenig umdrehen und zurückgehen können, wie ich durch die Zeit in die Vergangenheit reisen konnte. Mein freier Wille war wie gelähmt, und sei es nur durch den heftigen Sog, den das Unbekannte auf mich ausübte. Hier aufzugeben, zur Oberfläche zurückzukehren, ohne um diese Ecke gegangen zu sein – meine Phantasie hätte mich den Rest meines Lebens lang gequält. In diesem Augenblick hatte ich mich selbst überzeugt, dass ich eher wissend sterben würde … etwas, irgendetwas wissend.
Ich überschritt die Schwelle. Ich versank im Licht.
Während des letzten Monats in Rock Bay war ich eines Abends außergewöhnlich unruhig. Ich hatte bereits erfahren, dass mein Stipendium nicht verlängert wurde, und noch keinen neuen Job in Aussicht. Um mich abzulenken hatte ich mal wieder einen Fremden in der Bar abgeschleppt, aber der war schon vor Stunden wieder gegangen. Ich konnte meine Schlaflosigkeit nicht abschütteln und war immer noch betrunken. Es war dumm und gefährlich, aber ich beschloss, in meinen Pickup-Truck zu steigen und hinaus zu den Gezeitenbecken fahren. Ich wollte mich an das ganze verborgene Leben anschleichen und irgendwie versuchen, es zu überraschen. Ich hatte die feste Vorstellung, dass die Gezeitenbecken sich des Nacht, wenn niemand sie beobachtete, veränderten. Vielleicht passiert das, wenn man etwas so lange studiert hat, dass man aus dem Handgelenk die eine Seeanemone von der anderen unterscheiden oder jeden Bewohner dieser Becken bei einer Gegenüberstellung identifizieren kann, sollte er etwas ausgefressen haben.
Ich parkte den Wagen und machte mich mit Hilfe der winzigen Taschenlampe, die ich an meinem Schlüsselbund hatte, auf den gewundenen Weg hinunter zum schottrigen Strand. Dann watete ich durchs seichte Wasser und kletterte auf die Felsbrocken. Ich wollte ganz und gar in etwas aufgehen. Mein ganzes Leben lang hatten die Leute gesagt, ich sei zu kontrolliert, aber das war nie der Fall. Ich hatte mich niemals unter Kontrolle, ich wollte das auch gar nicht.
Und obwohl ich immer tausend Entschuldigungen vorbrachte und anderen die Schuld gab, wusste ich an diesem Abend, dass ich verschissen hatte. Berichte nicht abgegeben hatte. Mich nicht auf den Job konzentriert hatte. Abwegige Daten irgendwelcher Nebensächlichkeiten gesammelt hatte. Nichts hatte, was jene Organisation zufriedengestellt hätte, der ich das Stipendium verdankte. Ich war die Königin der Gezeitenbecken, mein Wort war Gesetz, und ich berichtete das, was ich für berichtenswert hielt. Ich hatte mich ablenken lassen, wie eigentlich immer, weil ich in meiner Umgebung aufging, mich nicht davon separieren, keinen Abstand halten konnte – Objektivität war ein Fremdwort für mich.
Ich ging mit meiner jämmerlichen Taschenlampe von Becken zu Becken, verlor ein halbes Dutzend mal das Gleichgewicht und fiel fast hin. Falls irgendjemand mich dabei beobachtet hätte – und wer sagt jetzt noch, dass da niemand war? –, er hätte eine fluchende, angetrunkene, leichtsinnige Biologin gesehen, die jegliche Perspektive verloren hatte, die schon das zweite Jahr am Stück hier draußen am Ende der Welt war und sich verletzlich und einsam fühlte, obwohl sie sich immer geschworen hatte, niemals einsam zu sein. Dinge, die sie getan und gesagt hatte, und die die Gesellschaft unsozial und selbstsüchtig nannte. Die in dieser Nacht in den Becken nach etwas suchte, obwohl auch das, was sie am Tag entdeckte, wundersam genug war. Sie hätte ebenso gut auf den glitschigen Felsen schreien, kreischen und herumwirbeln können, als würden einen auch die besten Stiefel der Welt nicht mal im Stich lassen und nach einem Sturz mit der Stirn in einer Pfütze voller Napfschnecken, Seepocken und Blut zurücklassen.
Aber Tatsache ist, dass – auch wenn ich es nicht verdient hatte, und hatte ich wirklich nur nach etwas Vertrautem gesucht? – ich etwas Wundersames fand, etwas, das sich mir durch sein eigenes Licht enthüllte. Ich erspähte ein glitzerndes, zitterndes Versprechen auf Erleuchtung in einem der größeren Becken, das mir zu denken gab. Wollte ich wirklich ein Zeichen? Wollte ich wirklich etwas entdecken, oder wollte ich das nur glauben? Nun gut, ich beschloss, dass ich etwas entdecken wollte, denn ich ging schlurfend darauf zu, war plötzlich auch nüchtern genug, um auf meine Schritte zu achten und mir nicht den Schädel aufzuschlagen, bevor ich sah, was immer das dort in dem Becken war.
Als ich schließlich dort stand, die Hände auf den gebeugten Knien, und in dieses Gezeitenbecken starrte, sah ich einen riesigen Seestern, eine sehr seltene Gattung, sechsarmig, größer als ein Kochtopf, der ein dunkelgoldenes Licht ins Wasser verströmte, als würde er brennen. Die meisten unserer Profession verzichten auf seinen wissenschaftlichen Namen zugunsten der viel passenderen Bezeichnung »Weltenzerstörer«. Er war übersät mit dicken Stacheln, und seine Ränder zierten, wie ich eben noch erkennen konnte, Tausende zartester smaragdgrüner Flimmerhärchen, die ihn auf seiner Route vorantrieben, auf der Suche nach Beute: andere, kleinere Seesterne. Ich hatte noch nie einen »Weltenzerstörer« gesehen, nicht mal in einem Aquarium, und der Anblick war so unerwartet, dass ich völlig den glitschigen Fels vergaß und, um Balance ringend, fast fiel, mich aber gerade noch mit einem Arm am Rand des Beckens abstützte.
Doch je länger ich ihn anstarrte, um so weniger konnte ich diese Kreatur begreifen. Je fremder sie mir vorkam, um so mehr hatte ich das Gefühl, überhaupt nichts zu wissen – über die Natur, über Ökosysteme. Etwas an meiner Stimmung und ihrem düsteren Glühen verdunkelte jeden meiner Sinne, mit dem ich diese Kreatur hätte wahrnehmen können, die natürlich ihren Platz in der Taxonomie zugewiesen bekommen hatte – katalogisiert, untersucht, beschrieben –, aber nichts davon half mir jetzt weiter. Und wenn ich sie noch länger anstarrte, dann, war mir klar, würde ich schließlich zugeben müssen, dass ich auch über mich weniger als nichts wusste, ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht.
Als ich schließlich meinen Blick vom Seestern losgerissen hatte und wieder stand, konnte ich nicht mehr erkennen, wo Himmel und Meer zusammentrafen, ob ich auf Wasser blickte oder den Strand. Ich war völlig hilflos und deplatziert, und das Einzige, woran ich mich in diesem Augenblick orientieren konnte, war das glühende Leuchtfeuer zu meinem Füßen.
Um die Ecke zu gehen und zum ersten Mal dem Crawler gegenüberzustehen, war eine ähnliche Erfahrung, allerdings tausendmal stärker. Wenn ich vor ein paar Jahren auf diesen Felsen nicht das Meer vom Strand hatte unterscheiden können, so waren es hier die Treppenstufen von der Wand, und obwohl ich mich mit dem Arm an der Wand abstützte, schien die Wand zurückzuweichen, bevor ich sie berührte, und ich musste kämpfen, nicht durch sie hindurch zu fallen.
Dort unten in der Tiefe des Turms versuchte ich erst gar nicht zu verstehen, was ich da anstarrte, und auch jetzt noch muss ich mich wirklich anstrengen, die vielen Fragmente zusammenzufügen. Es ist schwer zu sagen: Vielleicht ist das, was meinen Kopf so leer sein lässt, nur ein Füllstoff, einfach, um den vielen Unbekannten ihr Gewicht zu nehmen.
Hatte ich gesagt, ich hätte ein goldenes Licht gesehen? Sobald ich komplett um die Ecke herum war, schien es nicht länger golden, sondern blaugrün, und dieses blaugrüne Licht war mit nichts zu vergleichen, was ich jemals gesehen hatte. Es brandete auf, blendend und blutend und massig und überlagernd und faszinierend. Es überforderte meine Fähigkeit, Formen in ihm zu erkennen so sehr, dass ich mich zwang, den Blick abzuwenden und mich zunächst darauf zu konzentrierten, was meine anderen Sinne mir zu sagen hatten.
Ich hörte inzwischen eine Art Eis-Crescendo oder splitterndes Eis, ein unirdisches Getöse, das ich zuvor irrtümlich für ein Brummen gehalten hatte und das jetzt eine eindringliche Melodie und einen Rhythmus annahm, die meinen ganzen Kopf ausfüllten. Nur vage und von sehr weit her verstand ich jetzt, dass auch die Worte von Klang erfüllt waren, aber mein Hörvermögen hatte nicht ausgereicht, um das zu verstehen. Die Vibrationen hatten Textur und Bedeutung, und es roch irgendwie verbrannt, wie nach späten Herbstblättern oder einer riesigen und weit entfernten Maschine, die kurz vor der Überhitzung stand. Ich hatte einen Geschmack wie von brennender Salzlake auf der Zunge.
Keine Worte können … Kein Foto könnte …
Als ich mich an das Licht gewöhnt hatte, veränderte sich der Crawler weiterhin mit blitzartiger Geschwindigkeit, als wolle er meine Fähigkeiten, ihn zu begreifen, verhöhnen. Ich sah eine Figur innerhalb verschiedener Schichten gebrochener Glasscheiben. Ich sah Schichten, die einen Torbogen bildeten. Ich sah ein riesiges schneckenartiges Monster, das von einem Satellitenring noch merkwürdigerer Kreaturen umgeben war. Ich sah einen funkelnden Stern. Meine Augen prallten immer wieder davon ab, als wäre der Sehnerv nicht in der Lage, das alles zu erfassen.
Dann blähte es sich in meiner ramponierten Wahrnehmung zu einer ungeheuren Größe auf, die immer weiter wuchs und wuchs, während sie auf mich einzustürzen schien. Die Gestalt dehnte sich aus, bis sie selbst dort war, wo sie nicht war oder nicht hätte sein sollen. Inzwischen schien sie mehr Hindernis oder Wand oder eine massive Tür zu sein, die den Zugang zu den Treppen blockierte. Keine Wand aus Licht – golden, blau, grün, aus irgendeiner anderen Art Spektrum –, sondern eine Mauer aus Fleisch, die Licht ähnelte, mit eingeschlossenen scharfen, gekrümmten Elementen und Gewebe wie Eis, wie aus gefrorenem fließendem Wasser. Der Eindruck von etwas Lebendigem, das träge drumherum kreiste wie weiche Kaulquappen, aber an den Rändern meines Gesichtsfelds, sodass ich nicht sagen konnte, ob es sich dabei um diese nicht-existenten dahintreibenden grauen Staubflecken handelte, die das Auge narren.
Im Inneren dieser vielfach gebrochenen Massivität, unter all diesen unterschiedlichen Abbildern des Crawlers – halb blind, aber immer noch mit Orientierung durch meine drei anderen Sinne –, glaubte ich den dunklen Schatten eines Arms zu erkennen oder eine Art Echo eines Arms, der in ständiger schattenhafter Bewegung auf die linke Wand Mitteilungen von großer Tiefe und Signalkraft übertrug, was sein Vorankommen mühselig und langsam machte – seine Botschaft, seine Chiffren der Veränderung, von Neukalibrierung und Korrektur, von Verwandlung. Und vielleicht einen weiteren dunklen Schatten, vage kopfförmig über dem Arm – aber so undeutlich, als wäre ich durch trübes Wasser geschwommen und hätte in einiger Entfernung einen Umriss gesehen, der durch dickes Seegras kaum zu erkennen war.
An diesem Punkt versuchte ich, wieder zurückzugehen, die Treppen hochzukriechen. Aber ich konnte nicht. Entweder hielt der Crawler mich gefangen, oder mein Gehirn gaukelte mir irgendetwas vor, aber ich konnte mich nicht bewegen.
Die Wirkung des Crawlers veränderte sich oder ich fing an, immer wieder in Ohnmacht zu fallen und erneut zu Bewusstsein zu kommen. Es schien so, als sei dort nichts, ganz und gar nichts, und dann zitterte sich der Crawler zurück ins Leben, um gleich wieder zu verschwinden, und das einzig Konstante war die Ahnung eines Arms und der Eindruck von Worten, die geschrieben wurden.
Was bleibt einem zu tun, wenn die fünf Sinne nicht genug sind? Denn ich konnte es auch hier immer noch nicht richtig verstehen, nicht besser jedenfalls als unter dem Mikroskop, und das machte mir an meisten Angst. Warum verstand ich es nicht? In Gedanken stand ich vor dem Seestern in Rock Bay, und der Seestern wuchs und wuchs, er wurde nicht nur zum Gezeitenbecken, sondern zur ganzen Welt, und ich stakste auf der rauen, phosphoreszierenden Oberfläche herum und starrte wieder in den Nachthimmel, während sein Licht mich umspielte und durch mich hindurchfloss.
Das Licht entwickelte einen schrecklichen Druck, als würde das ganze Gewicht vom Area X hier zusammenlaufen, also änderte ich meine Taktik, versuchte mich darauf zu konzentrieren, wie die Worte an der Wand entstanden, das vage Bild eines Kopfes oder Helmes oder … was? … irgendwo oberhalb des Arms. Eine Kaskade Funken, von denen ich wusste, dass es Lebewesen waren. Ein neues Wort an der Wand. Und ich immer noch fast blind und das Leuchten, das sich in mir wand und eine fast demütige Haltung einnahm, als wären wir in einer Kathedrale.
Die Ungeheuerlichkeit dieser Erfahrung im Verbund mit dem Herzschlag und der Lautstärke der Geräusche beim pausenlosen Schreiben erfüllte mich so sehr, dass es keinen Raum mehr für mich selbst gab. Dieser Augenblick, auf den ich vielleicht unbewusst mein ganzes Leben lang gewartet hatte – dieser Augenblick der Begegnung mit dem Allerschönsten, dem Allerschrecklichsten, auf das ich je treffen würde – ging über mein Fassungsvermögen. Welch unzureichende Aufzeichnungsmöglichkeiten hatte ich, welch ungenügenden Namen hatte ich gewählt, für es – den Crawler. Zeit und nochmal Zeit war nichts als Treibstoff für die Worte, die dieses Ding seit wer weiß wie lange zu welchem Zweck auch immer auf die Wand geschrieben hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich starr auf der Schwelle stand und den Crawler beobachtete. Ich hätte dort für immer stehenbleiben können und nie gemerkt, wie schrecklich schnell ein paar Jahre verstreichen.
Aber was dann?
Was kommt nach Offenbarung und Ohnmacht?
Entweder der Tod oder ein langsames und verlässliches Wiederzusichkommen. Die Rückkehr in die reale Welt. Nicht, dass ich mich an die Existenz des Crawlers gewöhnt hatte, aber ich war an einem Punkt – ein einziger, winziger Moment –, an dem ich erneut begriff, dass der Crawler ein Organismus war. Ein komplexer, einmaliger, komplizierter, Ehrfurcht gebietender, gefährlicher Organismus. Vielleicht nicht zu erklären. Vielleicht waren meine Sinne – oder meine Wissenschaft oder mein Intellekt – zu begrenzt, um ihn ganz zu erfassen, aber ich war noch immer der festen Überzeugung, dass ich einer Art Lebewesen gegenüberstand, eines, das mit meinen Gedanken Mimikry betrieb. Denn selbst dann glaubte ich, dass es möglicherweise diese unterschiedlichen Impressionen von ihm, die sich in meinem Kopf gesammelt hatten, aufnahm und sie zurück auf mich projizierte, als eine Art Camouflage. Um der Biologin in mir einen Strich durch die Rechnung zu machen, um das bisschen Logik, das mir noch verblieben war, zu enttäuschen.
Mit einer Anstrengung, die meine Glieder aufstöhnen ließ, einer Luxation der Knochen, schaffte ich es, dem Crawler den Rücken zu kehren.
Schon diese einfache, qualvolle Handlung war so eine Erleichterung, dass ich die gegenüberliegende Wand in all ihrer kühlen Härte umarmte. Ich schloss die Augen – was brauchte ich ein Sehvermögen, wenn alles, was es mir zeigte, Betrug war? – und trat im Krebsgang den Rückweg nach oben an, spürte noch immer das Licht in meinem Rücken. Spürte die Musik, die von den Worten ausging. Die Waffe, die ich völlig vergessen hatte, grub sich in meine Hüfte. Schon der Gedanke an eine Waffe erschien mir jetzt ebenso jämmerlich und sinnlos wie das Wort Probe. Beides implizierte, dass man etwas anvisierte. Aber was gab es anzuvisieren?
Ich war nur einen oder zwei Schritte weit gekommen, als ich die zunehmende Hitze und etwas Schweres und eine Art Feuchtigkeit spürte, die an mir zerrten und züngelten, als würde sich das Licht in ein Meer verwandeln. Ich hatte wohl geglaubt, entkommen zu können, aber dem war nicht so. Als ich nach nur einem weiteren Schritt zu würgen anfing, verstand ich, dass das Licht sich tatsächlich in ein Meer verwandelt hatte. Und obwohl ich nicht wirklich unter Wasser war, fing ich an zu ertrinken.
Die Verzweiflung, die in mir aufstieg, war die schrecklich formlose Panik eines Kindes, das in einen Brunnen gefallen war und, während sich seine Lungen mit Wasser füllten, zum ersten Mal merkte, dass es sterben konnte. Sie hörte einfach nicht auf, war nicht zu überwinden. Ein grünblauer, von Funken erleuchteter Ozean umspülte mich. Und ich ertrank einfach immer weiter und kämpfte dagegen an, bis irgendein Teil von mir verstand, dass ich bis in alle Ewigkeit ertrinken würde. Ich stellte mir vor, wie ich von den Felsen taumelte, fiel und von der Brandung zerschmettert wurde. Tausende Meilen weiter wieder angeschwemmt wurde, unkenntlich, in dieser oder jenen Form, doch die Erinnerung an diesen schrecklichen Augenblick noch immer lebendig.
Dann meinte ich zu spüren, wie sich in meinem Rücken Hunderte von Augen auf mich richteten und mich anstarrten. Ich war ein Etwas in einem Swimmingpool, beobachtet von einem grässlichen kleinen Mädchen. Ich war die Maus auf einem leeren Grundstück, die ein Fuchs aufgespürt hatte. Ich war die Beute, die der Seestern endlich erreicht hatte und hinab ins Gezeitenbecken zerrte.
In irgendeinem wasserdichten Teil von mir ließ mich das Leuchten wissen, ich müsse akzeptieren, dass ich dieses Stadium nicht überleben würde. Ich wollte leben – ich wollte es wirklich. Aber ich konnte nicht mehr. Ich konnte nicht mal mehr atmen. Also öffnete ich den Mund und hieß das Wasser, die reißende Flut willkommen. Nur dass es kein richtiges Wasser war. Und die auf mich gerichteten Augen waren keine Augen. Es war der Crawler, der mich hier festgenagelt hatte, das verstand ich jetzt, ich hatte ihn in mich hinein gelassen, seine ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf mich gerichtet und ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht denken, war hilflos und allein.
Ein tosender Wasserfall brach über meinen Verstand herein, aber das Wasser bestand aus Fingern, aus Hunderten von Fingern, die sich gegen meinen Hals pressten und unter die Haut bohrten und dann durch den Knochen die Wirbelsäule hinauf in meinen Hinterkopf und in mein Gehirn … und dann ließ der Druck nach, obwohl der Eindruck einer grenzenlosen Macht blieb, und wenn ich auch weiter ertrank, kam für eine Weile doch eine eisige Ruhe über mich, und durch die Ruhe sickerte ein gewaltiges blaugrünes Licht. Irgendetwas brannte in meinem Kopf, ich konnte es riechen, rote und gelbe Blitze zuckten, und dann kam der Augenblick, an dem ich zu schreien anfing, während mein Schädel zu Staub zerfiel und sich Stäubchen für Stäubchen wieder zusammensetzte.
Ein Feuer wird kommen, das deinen Namen kennt und im Angesicht der alles erdrückenden Frucht wird seine dunkle Flamme dich vollständig in Besitz nehmen.
Eine größere Qual habe ich nie erlebt – es war, als würde eine Metallstange wieder und wieder in mich hineingestoßen, und dann begann sich der Schmerz wie eine zweite Haut bis an die Grenzen meiner Körperkontur auszubreiten. Alles wurde in Rot getaucht. Ich wurde ohnmächtig, kam wieder zu Bewusstsein, wurde ohnmächtig, schnappte immer wieder mit weichen Knien nach Luft, sucht verzweifelt Halt an der Wand. Während ich schrie, knackte etwas in meinem Kiefer. Ich glaube, ich hörte eine Minute lang auf zu atmen, aber das Leuchten in mir schenkte dieser Unterbrechung keine Beachtung. Es versorgte mein Blut einfach weiter mit Sauerstoff.
Dann war dieser grausame Übergriff vorbei, verschwunden, und damit das Gefühl des Ertrinkens und das sämige, mich umschließende Meer. Ich bekam einen Stoß, der Crawler stieß mich zur Seite, die Treppe hinunter. Ich war erledigt, zerschrammt und zerknautscht. Da nichts mir Halt bot fiel ich wie ein Sack, zerbröckelte vor etwas, das es nie hätte geben, das mich nie hätte übermannen dürfen. Ich sog die Luft mit tiefen, bebenden Atemzügen in mich hinein.
Aber dort konnte ich nicht bleiben, noch immer in seinem Blickfeld. Ich fühlte mich wie ausgeweidet, meine Kehle brannte, und so tastete ich mich auf Händen und Füßen in das Dunkel jenseits des Crawler, suchte nach einem Fluchtweg, von einem blinden, panischen Impuls getrieben, aus seinem Blickfeld zu kommen.
Erst als das Licht hinter mir an Kraft verlor, erst als ich mich sicherer fühlte, ließ ich mich wieder zu Boden sinken. Dort lag ich eine lange Zeit. Offensichtlich war ich für den Crawler jetzt lesbar. Offensichtlich bestand ich aus Worten, die er verstehen konnte, anders als bei der Anthropologin. Ich fragte mich, wie lange meine Zellen wohl in der Lage wären, ihre Transformation vor mir zu verbergen. Ich fragte mich, ob dies der Anfang vom Ende war. Aber am stärksten war das Gefühl der Erleichterung, dass ich dieses Spießrutenlaufen überstanden hatte, wenn auch nur knapp. Das Leuchten in mir hatte sich eingeigelt, traumatisiert.
Vielleicht bin ich nur in einer Hinsicht Expertin, und mein einziges Talent besteht darin, etwas über das Unerträgliche hinaus zu ertragen. Ich weiß nicht, wann ich wieder auf die Füße kam, um mit weichen Knien weiterzugehen. Ich weiß nicht, wie lange ich dafür brauchte, aber schließlich stand ich auf.
Es dauerte nicht lange, bis die spiralförmige Treppe sich begradigte. Mit der Begradigung ließ die erstickende Luftfeuchtigkeit schlagartig nach, die winzigen Lebewesen, die die Wand bevölkerten, waren nicht mehr zu sehen, und die Geräusche des Crawlers weiter oben wurden dumpfer. Auch wenn ich noch immer die Gespenster früheren Gekritzels an der Wand sah, wurde mein eigenes Leuchten jetzt gedämpfter. Ich war auf der Hut vor den Wortarabesken, als ob sie mich, ebenso wie der Crawler, verletzen konnten, und doch war es irgendwie tröstend, ihnen zu folgen. Die Variationen waren hier deutlicher zu lesen und leuchteten mir auch mehr ein. Und es kam, um mich zu erwählen. Und verstieß alle anderen. Wieder und wieder nachzulesen. Waren die Worte hier unten nicht so verschlüsselt, oder wusste ich inzwischen einfach mehr?
Ich konnte nicht übersehen, dass die Stufen jetzt in Tiefe und Breite fast exakt den Stufen im Leuchtturm entsprachen. Auch die bisher glatte Decke über mir hatte sich verändert und war jetzt verschwenderisch mit einem Zickzackmuster tief eingegrabener Furchen geschmückt.
Ich hielt inne, um einen Schluck zu trinken. Ich hielt inne, um zu verschnaufen. Die Begegnung mit dem Crawler schwappte noch immer wie ein Nachbeben in Wellen über mich. Als ich weiterging, geschah dies in der betäubten Erkenntnis, dass noch weitere Offenbarungen vor mir liegen mochten, auf die ich vorbereitet sein musste. Irgendwie.
Ein paar Minuten später nahm weit vor mir ein winziger Quader weißen, verschwommenen Lichts Form an. Während ich weiter hinabstieg, wurde er mit einem Widerwillen größer, den ich nur als Unschlüssigkeit bezeichnen kann. Nach einer weiteren halben Stunde glaubte ich, auf eine Art Tor zuzugehen, das aber verschwommen blieb, als wolle es sich nicht zu erkennen geben.
Je näher ich kam, je sicherer wurde ich trotz des immer noch großen Abstands, dass es eine unheimliche Ähnlichkeit mit jenem Tor hatte, das ich bei meinem Blick zurück zur Grenze gesehen hatte, als wir auf dem Weg zum Basislager waren. Ausgerechnet die Verschwommenheit löste diese Reaktion aus, denn es war eine ganz spezifische Verschwommenheit.
In der folgenden halben Stunde fühlte ich immer stärker das Bedürfnis umzukehren, worüber ich mich hinwegsetzte, indem ich mir einredete, dass ich den Rückweg und den Crawler noch nicht durchhalten würde. Aber es tat weh, die Furchen an der Decke anzusehen, als wären sie auf der Außenseite meines Schädels eingegraben und würden immer wieder neu gezogen. Sie waren zu Spuren einer abweisenden Macht geworden. Als eine Stunde später das schimmernde weiße Rechteck zwar größer geworden, aber nicht weniger verschwommen erschien, war ich so sehr von dem Gefühl, das Verkehrte zu tun, erfüllt, dass mein Magen rebellierte. Die Vorstellung, in eine Falle zu laufen, stand mir immer deutlicher vor Augen, dass dieses in der Dunkelheit schwimmende Licht keineswegs ein Tor war, sondern der Rachen eines Ungeheuers, und sollte ich zur anderen Seite hindurchtreten, würde es mich verschlingen.
Schließlich blieb ich stehen. Die Worte führten weiter unerbittlich nach unten, und ich schätzte, dass nicht mehr als weitere fünfhundert oder sechshundert Stufen vor mir lag. Es brannte sich jetzt förmlich im meinen Blick; meine Haut fühlte sich so wund an, als würde ich schon vom Ansehen einen Sonnenbrand bekommen. Ich wollte weitergehen, aber ich konnte nicht weitergehen. Ich konnte meine Beine nicht dazu nötigen, konnte den Verstand nicht zwingen, Angst und Unruhe zu überwinden. Selbst das Leuchten hatte sich vorübergehend zurückgezogen, war untergetaucht, noch ein Grund, sich nicht weiter vorzuwagen.
Ich blieb dort, setzte mich auf die Treppenstufen, beobachtete eine Zeitlang das Tor. Der Gedanke quälte mich, meine Empfindungen könnten Reste eines hypnotischen Zwangs sein, dass die Psychologin noch aus dem Grab heraus einen Weg gefunden hatte, mich zu manipulieren. Vielleicht gab es verschlüsselte Befehle oder Anordnungen, die meine Infektion nicht zu überlisten oder außer Kraft zu setzen imstande war. Befand ich mich im Endstadium einer hinausgezögerten Form der Auslöschung?
Obwohl die Gründe keine Rolle spielten. Ich wusste, ich würde das Tor nie erreichen. Ich würde so krank werden, dass ich mich nicht mehr würde bewegen können, und ich würde es nie schaffen, zurück zur Oberfläche zu kommen, die Augen zerschnitten und geblendet von den Furchen an der Decke. Ich würde auf der Treppe festsitzen wie die Anthropologin, eine fast so große Versagerin wie sie, und die Psychologin hatte das Unmögliche klar erkannt. Und so drehte ich mich unter großen Schmerzen und mit dem Gefühl, etwas von mir hier unten zurückzulassen, um und schleppte mich die Stufen hoch zurück nach oben; das Bild des verschwommenen Tors aus Licht hatte sich ebenso in mein Wahrnehmungsvermögen gebrannt wie die Ungeheuerlichkeit des Crawlers.
Ich erinnere mich noch an das Gefühl, dass mir jemand aus dem Tor in dem Moment nachstarrte, als ich mich abwandte, aber als ich einen Blick zurück über die Schulter warf, grüßte mich nur das vertraute verschwommene weiße Gleißen.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich an den Rest des Wegs nur undeutliche Erinnerungen habe, als sei ich tatsächlich jenes Irrlicht, das die Psychologin gesehen hatte, und ich durch meine eigene Flamme nach außen starrte. Ich wünschte, ich könnte als nächstes von Sonne und der Oberfläche berichten. Aber obwohl ich es mir wirklich verdient hatte, dass es vorbei war … war es nicht vorbei.
Ich erinnere mich an jeden schmerzhaften, schaurigen Schritt nach oben, an jeden Augenblick. Ich weiß noch, dass ich inne hielt, als ich an die Ecke kam, hinter der der Crawler eifrig und unbegreiflich seiner Bestimmung nachging. Unsicher, ob ich die Aushöhlung meines Verstandes noch einmal ertragen würde. Unsicher, ob ich dieses Mal an dem Gefühl des Ertrinkens verrückt werden würde, wie sehr auch die Vernunft mir sagte, dass dies eine Illusion war. Ich wusste aber, dass mein Verstand mich um so sicherer im Stich lassen würde, je mehr meine Kräfte nachließen. Nicht mehr lange, und es würde nur allzu einfach sein, sich in die Schatten zurückzuziehen, als eine Hülle auf den unteren Treppenstufen herumzugeistern. Vielleicht würde ich nie wieder die nötige Kraft und Entschlossenheit aufbringen können.
Ich ließ Rock Bay fahren und den Seestern in seinem Teich. Statt dessen dachte ich an das Tagebuch meines Mannes. Dachte an meinen Mann, irgendwo in einem Boot, irgendwo im Norden. Ich dachte daran, wie alles weitere über mir lag, und nicht mehr unter mir.
Also klammerte ich mich wieder an die Wand. Also schloss ich wieder die Augen. So ertrug ich noch einmal das Licht, wankte und stöhnte, erwartete den Ansturm des Meeres in meinem Mund und das Aufbrechen meines Kopfs … aber nichts dergleichen geschah. Nichts, und ich kann nicht erklären, warum, außer, dass der Crawler mich einmal gescannt und gesampelt und auf Basis mir unbekannter Kriterien freigegeben hatte; er zeigte keinerlei Interesse mehr an mir.
Ich war schon fast über ihm und außer Sichtweite, dabei, die Ecke zu umrunden, als ein besonders eigensinniger Teil von mir darauf bestand, einen einzigen kurzen Blick zurück zu riskieren. Einen letzten, unvernünftigen, herausfordernden Blick auf etwas zu werfen, was ich wohl nie verstehen würde.
Mitten aus der Überfülle von Identitäten, die der Crawler generierte, sah ich, kaum zu erkennen, das Gesicht eines Mannes, verdeckt im Schatten und umgeben von unbeschreiblichen Dingen, die ich mir nur als seine Matrosen vorstellen konnte.
Der Gesichtsausdruck des Mannes zeigte einen derart extremen und komplexen Ausdruck von Gefühlen, dass ich wie gelähmt war. In seinen Zügen war die Fortdauer von endloser Qual und Leid zu erkennen, jawohl, aber ebenso eine Art grimmiger Befriedigung und Ekstase. So einen Ausdruck hatte ich noch nie gesehen, aber ich erkannte das Gesicht wieder. Ich hatte es auf einem Foto gesehen. Aus dem schweren Gesicht stachen zwei scharfe Adleraugen hervor. Ein dichter Bart verdeckte alles andere, ließ nur ein kräftiges Kinn erahnen.
Es war der Leuchtturmwärter, der im Crawler gefangen war. Der letzte Leuchtturmwärter, der zu mir herüberstarrte, wie es schien nicht nur über eine riesige, unüberbrückbare Kluft hinweg, sondern auch einen Abgrund von Jahren. Er wirkte zwar dünner – die Augen lagen tiefer in ihren Höhlen, die Kieferpartie war stärker betont –, aber seit dem Foto vor mehr als dreißig Jahren schien er keinen Tag gealtert zu sein. Jetzt führte dieser Mann eine Existenz an einem Ort, denn niemand von uns begreifen konnte.
Wusste er, was aus ihm geworden war, oder war er schon vor langem verrückt geworden? Konnte er mich überhaupt tatsächlich sehen?
Ich weiß nicht, ob er schon lange in meine Richtung schaute, mich beobachtete, bevor ich mich zum ihm umdrehte. Oder ob es ihn überhaupt gab, bevor ich ihn angesehen hatte. Aber für mich war er real, auch wenn ich seinem Blick nur ganz kurz standhielt, viel zu kurz, und ich kann nicht sagen, ob zwischen uns etwas passierte. Wie lange wäre nicht zu kurz gewesen? Es gab nichts, was ich für ihn hätte tun können, und in mir war nur noch für das Platz, was mein Überleben sicherte.
Möglicherweise gibt es Dinge, die viel schlimmer sind als zu ertrinken. Ich konnte nicht sagen, was er verloren oder in den letzten dreißig Jahren vielleicht gewonnen hatte, aber ich wusste, dass ich ihn um diese Reise nicht beneidete.
Vor Area X habe ich nie geträumt oder zumindest mich nicht an meine Träume erinnert. Mein Mann fand das merkwürdig und sagte einmal zu mir, das würde vielleicht bedeuten, dass ich in einem permanenten Traum leben würde, aus dem ich nie aufgewacht sei. Vielleicht sollte das ein Witz sein, vielleicht auch nicht. Schließlich war er jahrelang von einem Albtraum verfolgt worden, der ihn geprägt hatte, bevor dieser Traum sich als reine Fassade entpuppt und damit bedeutungslos geworden war. Ein Haus und einen Keller und fürchterliche Verbrechen, die sich dort ereignet hatten.
Aber ich hatte einen sehr anstrengenden Arbeitstag gehabt und nahm ihn ernst. Besonders, weil es die letzte Woche war, bevor er zur Expedition aufbrach.
»Wir alle leben in einem ständigen Traum«, ließ ich ihn wissen. »Wenn wir aufwachen, dann weil irgendetwas, irgendein Ereignis, vielleicht nur eine Kleinigkeit den Saum dessen streift, was wir für die Realität gehalten haben.«
»Bin ich dann diese Kleinigkeit, die den Saum deiner Wirklichkeit streift, Geistervögelchen?« Und dieses Mal merkte ich, wie verzweifelt seine Stimmung war.
»Oho, sind wir schon wieder bei Quäl-das-Geistervögelchen?«, sagte ich und zog eine Augenbraue hoch. Dafür fühlte ich mich nicht entspannt genug. Mir war schlecht, aber es schien wichtig zu sein, für ihn normal zu spielen. Als er später wieder zurückkam und ich sah, was Normalität sein konnte, wünschte ich mir, ich wäre unnormal gewesen, ich hätte losgebrüllt, hätte alles andere, nur nicht das Gewöhnliche getan.
»Vielleicht bin ich nur eine Erfindung deiner Realität«, sagte er. »Vielleicht existiere ich nur, um nach deiner Pfeife zu tanzen.«
»Dann bist du ein spektakulärer Fehlschlag« antwortete ich auf dem Weg zur Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Er war schon beim zweiten Glas Wein.
»Oder ein spektakulärer Erfolg, weil du willst, dass ich ein Fehlschlag bin«, sagte er, allerdings mit einem Lächeln.
Er trat hinter mich und umarmte mich. Er hatte dicke Unterarme und eine breite Brust. Seine Hände waren unübersehbar Männerhände, wie etwas, das eigentlich besser in seiner Höhle geblieben wäre, lächerlich stark und beim Segeln eine echte Bereicherung. Ein Hauch von Gummi und antiseptischem Wundpflaster umgab ihn wie ein besonders geschmeidiges Parfum. Er war ein einziges großes Wundpflaster, das direkt auf die Wunde appliziert worden war.
»Geistervögelchen, wo wärst du, wenn du nicht hier wärst?«
Darauf wusste ich keine Antwort. Nicht hier. Aber dort auch nicht. Vielleicht nirgends.
Dann: »Geistervögelchen?«
»Ja«, sagte ich, schicksalsergeben über meinen Spitznamen.
»Geistervögelchen, inzwischen fürchte ich mich«, sagte er. »Ich fürchte mich und muss etwas ganz Egoistisches fragen. Etwas, das zu fragen ich kein Recht habe.«
»Frag trotzdem.« Ich war immer noch wütend, aber in diesen letzten Tagen hatte ich mich mit dem Verlust abgefunden, hatte ihn in lauter Einzelteile aufgespalten, sodass ich ihm weiter meine Zuneigung schenken konnte. Aber es gab auch einen Teil in mir, der wütend war, weil ich immer weniger Möglichkeiten und Aufträge hatte, die mich ins Gelände brachten, und ihn um seine Chance beneidete; der sich diebisch über das leere Grundstück freute, weil es ganz meins war.
»Kommst du mir nach, mich holen, wenn ich nicht zurückkomme?«
»Du kommst zurück«, ließ ich ihn wissen. Wie er da so wie ein Golem saß schien sich alles, was ich über ihn wusste, zu verflüchtigen.
Ich wünsche mir so sehr und unsinnigerweise, ich hätte ihm eine Antwort gegeben, und sei es auch nur ein Nein gewesen. Und wie sehr wünsche ich inzwischen – obwohl es völlig unmöglich war –, ich wäre schließlich nach Area X gegangen, um ihn zu holen.
Ein Swimmingpool. Eine felsige Bucht. Ein leeres Grundstück. Ein Leuchtturm. Diese Dinge sind wirklich, und nicht wirklich. Sie existieren, und sie existieren nicht. Mit jedem neuen Gedanken, jedem Detail, an das ich mich erinnere, erschaffe ich sie in meinem Gehirn erneut, und jedes Mal sind sie ein bisschen anders. Manchmal sind sie getarnt, manchmal verkleidet. Manchmal tragen sie ein bisschen mehr Wahrheit in sich.
Schließlich kam ich zur Oberfläche und legte mich mit dem Rücken auf den Turm, zu erschöpft um mich zu bewegen, und das einfache, unerwartete Vergnügen an der Morgensonne, die meine Augenlider wärmte, trieb mir ein Lächeln ins Gesicht. Selbst dabei dachte ich die Welt immer wieder neu, wobei der Leuchtturmwärter meine Gedanken besetzt hielt. Immer wieder holte ich das Foto aus der Tasche und starrte auf sein Gesicht, als hielte es eine Antwort für mich bereit, die ich einfach nicht zu fassen bekam.
Ich wollte – ich musste – sicher sein, dass ich ihn wirklich gesehen hatte und nicht irgendeine Geistererscheinung aus dem Repertoire des Crawlers. Und so klammerte ich mich an alles, was mich in diesem Glauben bestärke. Am meisten überzeugte mich nicht das Foto – sondern die Gewebeprobe, die die Anthropologin vom Crawler genommen hatte, die Probe, die nachgewiesenermaßen aus menschlichem Gehirngewebe bestand.
Mit dieser Tatsache als Ausgangspunkt fing ich an, eine Geschichte des Leuchtturmwärters zu entwerfen, so gut ich konnte, sogar als ich aufstand und ein weiteres Mal den Rückweg zum Basislager einschlug. Es war schwierig, denn ich wusste so gut wie nichts über sein Leben, hatte keinen der Indikatoren, die es mir erlaubt hätten, mir ein Bild von ihm zu machen. Ich hatte nur ein Foto und den schrecklichen flüchtigen Blick auf ihn im Turm. Ich konnte mir nur vorstellen, dass dies ein Mann war, der einmal ein normales Leben gehabt hatte, vielleicht, aber keines dieser bekannten Rituale, die das Normale definieren, war von Dauer gewesen – oder hatte ihm geholfen. Ein Sturm hatte ihn eingefangen, der noch immer nicht abgeflaut war. Vielleicht hatte er ihn von der Spitze des Leuchtturms sogar aufziehen sehen, jenes ›Ereignis‹, das wie eine Welle über sie gekommen war. Hatte er, als die Lage hoffnungslos wurde, gewusst, wie sehr sich alles verändern würde? Hatte er Zeit gehabt zu reagieren, zu versuchen, sich und andere zu retten?
Und was hatte sich da manifestiert? Was glaube ich? Stellt es euch als einen Dorn vor, einen langen, dicken Dorn, so groß, dass er sich tief in die Flanke der Welt gebohrt hat. Der sich selbst in die Welt injiziert. Von diesem gigantischen Dorn geht ein suchtartiger, vielleicht automatisierter Impuls aus, zu assimilieren und zu imitieren. Assimilat und Assimilant interagieren durch einen Katalysator, ein Worte-Skript, das der Motor der Transformation ist. Vielleicht ist es ein Lebewesen, das in perfekter Symbiose mit seinen Wirtskreaturen lebt. Vielleicht ist es auch »nur« eine Maschine. Aber in beiden Fällen hat es Intelligenz, eine Intelligenz, die von unserer völlig verschieden ist. Sie schafft aus unserem Ökosystem eine neue Welt, deren Prozesse und Ziele uns völlig fremd sind – sie arbeitet auf einzigartige Weise mit Spiegelungen und indem sie auf vielfältigste Art im Verborgenen bleibt, und bei alldem gibt sie keinerlei Informationen über ihre Andersartigkeit preis, weil sie zu dem wird, worauf sie trifft.
Ich habe keine Ahnung, wie dieser Dorn hierher gekommen ist oder woher, ob nah oder fern, aber durch Glück oder eine Laune des Schicksals oder Absicht stieß er an einem Punkt auf den Leuchtturmwärter und integrierte ihn in seine Prozesse. Es ist nicht bekannt, wie das passierte. Es ist auch nicht bekannt, wie lang er noch bei sich war, während er neu erschaffen und einem Zweck zugeführt wurde. Niemand hat es beobachtet, es gibt keine Zeugen. Er war dreißig Jahre lang völlig alleine, bis eine Biologin einen Blick auf ihn erhaschte und sich fragte, zu was er wohl geworden ist. Katalysator. Funkenspender. Motor. Das Korn, aus dem die Perle wurde? Oder nichts als ein unfreiwilliger Mitreisender?
Und nachdem sein Schicksal besiegelt war … man stelle sich die Expeditionen vor – zwölf oder fünfzig oder ein paar Hundert, das macht keinen Unterschied –, die wieder und wieder in Kontakt mit diesem oder diesen Wesen kamen und erst zu Futter und dann neu erschaffen wurden. Diese Expeditionen, die durch ein verborgenes Tor in einer mysteriösen Grenze hierher kamen, ein Zugangspunkt, der (vielleicht) sein Spiegelgegenüber in den tiefsten Tiefen des Turms hat. Man stelle sich diese Expeditionen vor und begreife dann, dass sie alle in irgendeiner Form noch in Area X existieren – sogar diejenigen, die zurückgekommen sind, besonders diejenigen, die zurückgekommen sind: in Koexistenz, sich gegenseitig überlagernd, miteinander in Verbindung tretend, welcher Weg dazu ihnen geblieben sein mag. Vorstellbar, dass diese Kommunikation der Landschaft manchmal etwas Unheimliches verleiht, weil unser menschlicher Blick nun mal narzisstisch ist, aber hier ist das einfach Teil der natürlichen Umwelt. Vielleicht bekomme ich niemals heraus, was die Erschaffung dieser Doppelgänger ausgelöst hat, aber es spielt auch keine Rolle.
Ebenso vorstellbar ist, dass der Turm nicht nur die Welt innerhalb der Grenze neu und immer wieder erschafft, sondern dass er mehr und mehr Emissäre über die Grenze schickt, und diese Gesandten beginnen in verwilderten Gärten und auf öden Brachen mit ihrer Arbeit. Doch wie bewegen sie sich und wie weit? Welch fremde Substanzen kreuzen und mischen sich da? Vielleicht erreicht die Infiltration irgendwann in der fernen Zukunft auch jenen Flecken felsiger Küste und keimt in den Gezeitenbecken, die ich so gut kenne? Es sei denn, natürlich, ich irre mich dahingehend, dass Area X sich selbst aus dem Schlummer erweckt, sich verändert, zu etwas Anderem wird, als sie vorher war.
Das Schreckliche, der Gedanke, den ich nach allem, was ich gesehen habe, nicht mehr verdrängen kann, ist, dass ich nicht länger mit Überzeugung sagen kann, dass das schlecht ist. Nicht, wenn ich die unberührte Natur von Area X sehe und dann die Welt jenseits, die wir so sehr verändert haben. Bevor die Psychologin starb, sagte sie, ich hätte ein paar neue Seiten an mir, aber ich glaube, sie meinte, ich sei zur anderen Seite übergelaufen. Das stimmt nicht – ich weiß nicht einmal, ob es Seiten gibt oder was das bedeuten mag – aber es könnte wahr sein. Ich begreife jetzt, dass ich mich dazu überreden lassen könnte. Ein religiöser oder abergläubischer Mensch, jemand der an Engel oder Dämonen glaubt, mag da anderer Meinung sein. So gut wie jeder könnte da anderer Ansicht sein. Aber ich bin nicht diese Menschen. Ich bin einfach nur die Biologin; ich brauche das alles nicht, um einen tieferen Sinn zu sehen.
Ich weiß, dass diese ganzen Spekulationen unvollständig, ungenau, unrichtig, nutzlos sind. Wenn ich keine echten Antworten habe, liegt das daran, dass wir immer noch nicht wissen, welche Fragen wir stellen sollen. Unser Instrumentarium ist nutzlos, unsere Methodologie liegt in Trümmern, unsere Beweggründe sind egoistisch.
Das ist alles, was ich berichten kann, obgleich mein Bericht nicht frei von Mängeln ist. Ich habe mich bemüht, aber das war’s jetzt auch. Vom Turm aus bin ich noch einmal kurz zum Basislager gegangen und dann hierher gekommen, auf die Spitze des Leuchtturms. Ich habe vier lange Tage damit verbracht, diesen Bericht, den Sie jetzt lesen, abzuschließen, trotz all seiner Fehler. Ergänzt wird er durch ein zweites Tagebuch, in dem alle Untersuchungsergebnisse der verschiedenen Proben vermerkt sind, die ich oder andere Mitglieder der Expedition entnommen haben. Ich habe sogar eine Nachricht für meine Eltern geschrieben.
Ich habe diese Materialien mit dem Tagebuch meines Mannes zusammengeschnürt und lasse sie hier, ganz oben auf dem Haufen unter der Falltür. Den Tisch und den Teppich habe ich an die Seite geschoben, sodass jeder finden kann, was vorher versteckt war. Außerdem habe ich das Foto des Leuchtturmwärters wieder in den Rahmen gesteckt und an seinem Platz im Zwischengeschoss aufgehängt. Ich habe das Gesicht ein zweites Mal eingekreist, ich konnte es einfach nicht lassen.
Wenn die Hinweise in den Tagebücher zutreffen, dann steht, wenn der Zyklus des Crawlers im Turm an sein nächstes Ende kommt, Area X eine Phase blutigen Aufruhrs bevor, eine Art verheerende Häutung, um es mal so zu bezeichnen. Vielleicht ist der Zündfunke sogar die Verbreitung aktivierter Sporen, die die Worte des Crawlers emittieren. In den vergangenen zwei Nächten habe ich einen wachsenden Energiekegel über dem Turm aufsteigen und über der umgebenden Wildnis niedergehen sehen. Aus dem Meer ist zwar noch nichts gestiegen, aber aus dem verlassenen Dorf haben sich ein paar Gestalten in Richtung Turm aufgemacht. Aus dem Basislager kein Lebenszeichen. Am Strand ist nicht mal mehr ein Stiefel der Psychologin zu sehen, als wäre sie mit dem Sand verschmolzen. Jede Nacht lässt mich das Gebrüll des Lebewesens im Schilf wissen, dass es die Herrschaft über sein Königreich nicht abzugeben gedenkt.
All dies gesehen zu haben, hat auch die letzte Asche der mal in mir lodernden Begierde, alles … alles Mögliche … wissen zu wollen, hinweggefegt. An ihre Stelle ist das Wissen getreten, dass das Leuchten noch nicht fertig mit mir ist. Es ist noch ganz am Anfang, und die Vorstellung, mich ständig selbst verletzen zu müssen, um menschlich zu bleiben, kommt mir irgendwie jämmerlich vor. Ich werde sicher nicht mehr hier sein, wenn die dreizehnte Expedition das Basislager erreicht. Haben sie mich schon geortet, oder sind sie kurz davor? Bin ich schon nach Hause zurückgekehrt? Oder werde auch ich einfach mit dieser Landschaft verschmelzen, werde ich aus einem Büschel Gräser oder aus dem Kanal aufblicken und einen anderen Forscher ungläubig auf mich hinabstarren sehen? Werde ich mir darüber klar sein, dass alles verkehrt und fehl am Platz ist?
Ich habe vor, tiefer in Area X vorzudringen, so weit zu gehen wie möglich, bevor es zu spät ist, meinem Ehemann die Küste hinauffolgen, sogar über die Insel hinaus. Ich glaube nicht, dass ich ihn finden werde – ich muss ihn auch nicht finden –, aber ich will sehen, was er gesehen hat. Ich möchte ihm nahe sein, ihn spüren, als wären wir in einem Zimmer. Und wenn ich ehrlich bin, ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass er immer noch hier ist, irgendwo, sogar in gänzlich anderer Gestalt – im Auge des Delfins, in der Berührung aufragender Mooswucherungen, immer und überall. Vielleicht finde ich sogar ein herrenloses Boot an einem einsamen Strand, wenn ich Glück habe, oder irgendein Zeichen, was passiert sein mag. Schon damit würde ich zufrieden sein, bei all dem anderen, was ich erfahren habe.
Diesen Teil werde ich alleine absolvieren, ich lasse alles hinter mir. Folgt mir nicht. Ich bin euch inzwischen weit voraus und sehr schnell unterwegs.
Hat es überhaupt jemals jemanden wie mich gegeben, der die Toten begräbt, bereut, weitermacht, nachdem alle anderen tot sind?
Ich bin das letzte Opfer sowohl der elften, als auch der zwölften Expedition.
Ich werde nicht nach Hause zurückkehren.