Читать книгу Autorität. Auslöschung. Akzeptanz. - Jeff VanderMeer - Страница 6
3 OPFER
ОглавлениеWährend ich schweigend und allein an den letzten Kiefern und Zypressenstümpfen vorbeiging, die im schwarzen Wasser zu treiben schienen, alle bedeckt von Spanischem Moos, überkam mich eine merkwürdige Stimmung. Es war, als würde – während ich durch die Landschaft wanderte – eine ausdrucksstarke und durchdringende Arie in meinen Ohren erklingen. Alles war von Gefühlen durchtränkt, geradezu überflutet, und ich war nicht länger eine Biologin, sondern irgendwie der Kamm einer Welle, die sich immer höher und höher aufbaute, aber nie an einem Strand brach. Mein Sehvermögen hatte sich völlig verändert, ich konnte jetzt alle Feinheiten der Veränderungen erkennen, die aus den Marschen Salzmarschen gemacht hatten. Als aus dem Pfad ein Weg mit Böschung wurde, erstreckten sich nach rechts düstere Binnenseen, in denen Algen jegliches andere Leben abgewürgt hatten, während links am Weg ein Kanal entlangführte. Auf der Kanalseite mäanderten unregelmäßige Wassergräben labyrinthisch durch einen Wald von Schilf, und in der Ferne tauchten Inseln, Oasen von windzerzausten Bäumen, wie plötzliche Offenbarungen auf. Das Bild dieser gebeugten, geschwärzten Bäume wirkte vor dem ausgedehnten und goldbraun schimmernden Schilfmeer wie ein Schock. Die merkwürdige Beschaffenheit des Lichts über diesem Habitat, das allgegenwärtige Schweigen, eine erwartungsvolle Stimmung brachten mich an den Rand einer Ekstase.
Dahinter ragte der Leuchtturm auf, und auf dem Weg dorthin, wusste ich, würde ich auf die Überreste eines Dorfes stoßen, das auch auf der Karte verzeichnet war. Aber vor mit lag der Pfad, der immer wieder von eigentümlich gemarterten, schweren weißen Stücken Treibholz übersät war, die der letzte Hurrikan weit landeinwärts getragen hatte. Legionen von winzigen roten Heuschrecken bevölkerten die langen Schilfrohre, für die wenigen Frösche ein wahres Festmahl, während plattgedrückte Schneisen die Wege jener riesigen Reptilien markierten, die vom Sonnenbaden zurück ins Wasser geglitten waren. Hoch oben zogen Raubvögel perfekt geometrische Kreise am Himmel und suchten den Boden nach Beute ab.
In diesem Kokon von Zeitlosigkeit hatte ich viel Zeit, über den Turm und unsere Expedition nachzudenken, da auch der Leuchtturm noch fern am Horizont aufragte, egal wie lange ich schon unterwegs war. Ich hatte das Gefühl, mich inzwischen meiner Verantwortung entzogen zu haben, der gerecht zu werden bedeutet hätte, all das, was wir innerhalb des Turm gefunden hatten, als Teile einer ungeheuren biologischen Entität zu begreifen. Aber die reine Tragweite dieser Vorstellung auf der Makroebene zu bedenken, wäre für meine Stimmung wie eine Lawine gewesen, die meinen Körper unter sich begraben hätte.
Also – was wusste ich? Was waren die spezifischen Details? Ein … Organismus … schrieb lebendige Worte an die Innenwand des Turms, und das vielleicht schon seit sehr langer Zeit. Ganze Ökosysteme hatten sich entwickelt und gediehen jetzt zwischen ihnen, waren von ihnen abhängig, und wenn die Worte verblassten, dann starben sie. Aber das war nur ein Nebeneffekt, den die Bereitstellung der richtigen Umstände für ein funktionsfähiges Habitat mit sich brachten. Es war nur insofern wichtig, als dass die Worte mir etwas über den Turm an sich erzählen konnten. Zum Beispiel die Sporen, die ich inhaliert hatte und die mir das wahrhaftige Verständnis des Turms wohl erst ermöglicht hatten.
Dieser Gedanke ließ mich kurz innehalten, inmitten all der Marschgräser, die im Wind wie verwaschene Wellen wogten. Ich hatte angenommen, dass die Psychologin mich per Hypnose dazu bringen wollte, den Turm rein technisch, als Gebäude und nicht als biologische Entität zu begreifen, und dass mich die Wirkung der Sporen gegen hypnotische Befehle immun gemacht hatte. Aber was, wenn dieser Prozess viel komplexer war? Was, wenn der Turm selbst, auf welche Weise auch immer, etwas bewirkte – eine Art Mimikry, um sich zu schützen, und dass mich die Sporen dieser Sinnestäuschung gegenüber immun gemacht hatten?
Aus diesem Kontext ergaben sich eine Reihe von miteinander verzahnten Frage, für die ich kaum eine Antwort hatte. Welche Rolle spielte zum Beispiel der Crawler? (Ich hatte beschlossen, dass es wichtig war, dem Schöpfer der Worte einen Namen zu geben.) Was war der Zweck der physischen »Rezitation« der Worte? Hatten diese Worte eine Bedeutung, oder hätten es auch beliebige andere Worte sein können? Woher kamen die Worte? Gab es eine Wechselbeziehung zwischen den Worten und dem Turm-Wesen? Mit anderen Worten: Waren die Worte eine Art symbolischer oder eine parasitäre Kommunikation zwischen Crawler und Turm? Entweder war der Crawler ein Bote des Turms, oder er hatte ursprünglich eine unabhängige Existenz geführt und war dann in seinen Bannkreis geraten. Aber ohne die verdammte, noch fehlende Probe aus der Wand des Turms konnte ich keine vernünftige Vermutung anstellen.
Was mich zurück zu den Worten brachte. Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs … Wespen und Vögel und andere Nestbauer nutzen für ihre Bauten im Allgemeinen bestimmte Materialien, von denen sie nie abrücken, holen sich aus der unmittelbaren Umgebung aber immer wieder dies und jenes, das sie beim Bauen zusätzlich verwenden. Das könnte eine Erklärung für die doch irgendwie beliebige Wahl der Worte sein. Sie waren einfach Baumaterial, und vielleicht war dies eine Erklärung für das Verbot unserer Vorgesetzten, Hightech mit nach Area X zu nehmen; sie wussten, dass so etwas auf unbekannte, aber machtvolle Art dem nützen könnte, was diesen Ort in Besitz genommen hatte – was immer es auch war.
Während ich eine Kornweihe dabei beobachtete, wie sie vom Himmel in die Gräser stürzte und mit einem zappelnden Kaninchen in den Fängen wieder hochstieg, explodierten die neuen Überlegungen in meinem Kopf geradezu. Zunächst, die Worte – die Zeilen, ihre Körperlichkeit – waren für das Wohlbefinden entweder des Turms oder des Crawlers oder beider von ganz zentraler Bedeutung. Ich hatte die bleichen Skelette so vieler vormaliger Zeilen gesehen, dass der Gedanke, eine biologische Notwendigkeit für die Arbeit des Crawlers anzunehmen, gar nicht so fern lag. Vielleicht war der Prozess Teil des Reproduktionszyklus des Turms oder des Crawlers. Vielleicht war der Crawler darauf angewiesen, und für den Turm fielen ein paar ergänzende Vorteile ab? Oder umgekehrt. Vielleicht waren die Worte bedeutungslos, weil alles Teil eines Befruchtungszyklus war, der erst dann als abgeschlossen galt, wenn die ganze linke Wand des Turms auf voller Länge mit Worten bedeckt war.
Obwohl ich versuchte, die Arie in meinen Ohren nicht verstummen zu lassen, kam ich doch mit ein paar Missklängen wieder auf den Boden der Realität zurück, während ich versuchte, all diese Möglichkeiten zu durchdenken. Es gab viel zu viele Variablen, zu wenig Daten, und ich war dabei, mich zu einigen grundlegenden Annahmen zu versteigen, die vielleicht gar nicht stimmten. Zum Beispiel lag all meinen Annahmen zugrunde, dass weder der Crawler noch der Turm intelligent waren, intelligent in dem Sinne, dass sie einen freien Willen besaßen. Meine Fortpflanzungstheorie wäre zwar auch in einem erweiterten Kontext anzuwenden, aber es gab andere Möglichkeiten – Rituale in bestimmten Kulturen und Gesellschaften zum Beispiel. Inzwischen sehnte ich mich nach der Anthropologin, ihrem Wissen, obwohl ich beim Studium von Insektenstämmen einen gewissen Einblick in diese Art von Forschung erhalten hatte.
Und wenn nicht Ritual, dann waren wir wieder bei der Kommunikation, jetzt aber im Sinne des Bewusstseins und nicht der Biologie. Welche Botschaft konnten die Worte an der Wand dem Turm mitteilen? Ich musste annehmen, oder glaubte das zumindest, dass der Crawler nicht einfach im Turm lebte – er schweifte weit herum, um Worte zu sammeln, sie dann zu assimilieren, auch wenn er sie nicht verstand, und damit zum Turm zurückzukehren. Der Crawler musste sie in gewisser Weise auswendig lernen, womit er sie auf eine Art absorbierte. Die Satzketten an der Wand des Turms konnten Befunde sein, die der Crawler zurückgebracht hatte, damit der Turm sie analysierte.
Aber es gibt Grenzen, wenn man sich über die kleinen Teile von etwas so Monumentalem Gedanken macht. Der Schatten des großen Ganzen ragt immer in deinem Rücken auf, und die Panik bei der Vorstellung, wie riesig dieser Leviathan sein mag führt auch dazu, dass man sich in seinen Gedanken verliert. Ich musste das alles erst mal so belassen, in die verschiedenen Bereiche aufgesplittert, bis ich Zeit hatte alles aufzuschreiben, es mir auf einem Blatt Papier anzusehen, und anfangen konnte, die wahre Bedeutung zu erahnen. Inzwischen war auch der Leuchtturm am Horizont größer geworden. Seine Präsenz lastete um so schwerer auf mir, da ich jetzt verstand, dass die Vermesserin zumindest in einem Punkt recht gehabt hatte. Wer immer sich auf dem Leuchtturm befand, konnte mich kilometerweit kommen sehen. Und dann war da immer noch dieser andere Effekt der Sporen, das Leuchten in meinem Brustkorb: Während ich weiterging, arbeitete etwas in mir, schien mich geradezu umzuformen, und als ich das verlassene Dorf erreichte, also die halbe Wegstrecke zum Leuchtturm zurückgelegt hatte, kam es mir vor, als könnte ich jetzt einen Marathon laufen. Ich traute diesem Gefühl nicht. Ich hatte den Eindruck, dass ich belogen wurde, und das in mehrfacher Hinsicht.
Angesichts der übernatürlichen Gelassenheit der Mitglieder der elften Expedition hatte ich während unserer Ausbildung häufig an die harmlosen Berichte der ersten Expedition gedacht. Bevor ein undefinierbares ›Ereignis‹ die Gegend in ein abgegrenztes Gebiet verwandelt hatte, in dem sich unerklärliche Dinge ereigneten, war Area X Teil einer Wildnis gewesen, die an eine Militärbasis grenzte. Menschen hatten hier auch noch gelebt, allerdings nicht viele, und auch die mehr wie Flüchtlinge in einem Naturpark, schweigsame Abkömmlinge von Fischern. Ihr Verschwinden mochte einigen nur wie der Abschluss eines Vorgangs erschienen sein, der schon Generationen vorher eingesetzt hatte.
In den Anfängen hing über Area X eine Zeitlang eine Aura von Unbestimmtheit und Verwirrung, und noch immer wissen nicht allzu viele Menschen draußen in der Welt, dass sie überhaupt existiert. Die Regierung ließ durchsickern, dass eine Reihe von Ereignissen eine lokale Umweltkatastrophe ausgelöst hätte, deren Ursprung Experimente auf der Militärbasis waren. Die Geschichte wurde der Öffentlichkeit scheibchenweise über mehrere Monate verkauft, so dass sie – wie der sprichwörtliche Frosch im Topf heißen Wassers – für die Menschen bloß Teil jener medialen Übersättigung mit Nachrichten zur Umweltzerstörung war, die schon längst keine Alarmglocken mehr zum Klingen brachten. Es dauerte nur ein oder zwei Jahre, da war Area X zum bevorzugten Thema von Verschwörungstheoretikern und anderen randständigen Elementen geworden. Zum Zeitpunkt meiner Bewerbung, als ich schließlich den Sicherheitscheck durchlaufen hatte und mir ein unverstelltes Bild der Wahrheit vorlag, war Area X in den Köpfen vieler Menschen nicht mehr als ein düsteres Märchen, etwas, über das sie nicht allzu genau nachdenken wollten. Falls sie überhaupt darüber nachdachten. Wir hatten so viele andere Probleme.
Während der Ausbildung wurde uns gesagt, dass die erste Expedition etwa zwei Jahre nach dem ›Ereignis‹ einrückte. Wissenschaftler hatten zuvor herausgefunden, wie man die Grenze überschreiten konnte. Es war die erste Expedition, die das Basislager absteckte und eine erste, ungefähre Karte von Area X erstellte, die bereits viele der Orientierungspunkte enthielt. Sie fanden eine unberührte Wildnis vor, die menschenleer war. Sie fanden, was man eine übernatürlich Stille nennen könnte.
»Ich hatte das Gefühl, freier als jemals zuvor und doch eingeschränkter zu sein«, sagte ein Mitglied der Expedition. »Ich fühlte mich, als könnte ich alles tun, so lange es mir nichts ausmachte, dabei beobachtet zu werden.«
Andere erwähnten euphorische Gefühle und ein extremes sexuelles Verlangen, für das es keine Erklärung gab, und das ihren Vorgesetzten letztlich unwichtig fanden.
Wenn man nach Anomalien in ihren Berichten suchte, dann fand man sie nur bei Nebensächlichkeiten. Erstens brachten sie ihre Tagebücher nicht mit zurück; stattdessen boten sie nach ihrer Rückkehr an, Berichte in langen Befragungen zu liefern, die aufgezeichnet wurden. Für mich war das ein Zeichen, dass sie der direkten Konfrontation mit ihren Erfahrungen aus dem Weg gehen wollten, wobei mir damals auch durch den Kopf ging, dass ich vielleicht, im nicht-klinischen Sinn, an Verfolgungswahn litt.
Einige von ihnen lieferten Beschreibungen des verlassenen Dorfes, die mir nicht schlüssig erschienen. Die Verwerfungen und der Grad der Zerstörung schienen einen Ort zu beschreiben, der schon viel länger als nur ein paar Jahre verlassen war. Aber wenn jemandem diese Merkwürdigkeit früher aufgefallen war, dann hatte das keinen Niederschlag in den Akten gefunden oder war daraus gelöscht worden.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass ich und der Rest der Expedition zu diesen Informationen nur deshalb Zugang hatten, weil es unseren Vorgesetzten völlig egal war, ob wir das wussten oder nicht. Dafür gab es nur eine logische Erklärung: Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass nur wenige, wenn überhaupt jemand, zurückkommen würden.
Das verlassene Dorf war so in der natürlichen Küstenlandschaft aufgegangen, dass ich es erst sah, als ich direkt davorstand. Der Pfad führte in eine Art Senke, und da lag das Dorf, gesäumt von verkümmerten Bäumen. Von den zwölf oder dreizehn Häusern trugen nur noch wenige ein Dach, und der früher gepflasterte Weg war jetzt nur noch mit porösem Schotter bedeckt. Einige der Außenwände standen noch, dunkles verrottetes Holz, von Flechten überzogen, aber bei den meisten Häusern waren die Wände zerfallen und erlaubten mir merkwürdige Einblick in das Innere: Überreste von Stühlen und Tischen, Kinderspielzeug, verrottete Kleidung, eingebrochene Deckenbalken auf der Erde, überzogen von Moos und Ranken. Ein scharfer Geruch nach Chemikalien lag in der Luft, und mehr als ein totes Tier verweste auf dem Mulch. Ein paar der Häuser waren mit der Zeit in den Kanal zur Linken abgerutscht, und ihre skelettartigen Überreste wirkten wie Wesen, die versuchten dem Wasser zu entkommen. Alles sah so aus, als sei vor hundert Jahren etwas passiert und als seien waren nur vage Erinnerungen an dieses Ereignis übrig geblieben.
Aber in den ehemaligen Küchen oder Wohnzimmern oder Schlafzimmern konnte ich ein paar merkwürdige Wucherungen von Moos oder Flechte erkennen, die knapp eineinhalb Meter unförmig aufragten und etwas wie Gliedmaßen und Köpfe und Rümpfe zu bilden schienen. Als wären sie ein Abklatsch jener Substanzen, die – zu schwer für die Gravitation – sich am Fuß dieser Objekte versammelten. Aber vielleicht bildete ich mir diesen Effekt auch nur ein.
Besonders eine Szene rührte an meine Gefühle: Vier solcher Wucherungen, von denen eine »stand« und drei so zerfallen waren, dass sie zu »sitzen« schienen, in einem Raum, der wohl mal ein Wohnzimmer mit Couch und Couchtisch gewesen war – alle starrten auf einen Punkt am anderen Ende des Zimmers, wo nur noch die bröckelnden Überreste der Ziegel eines Kamins samt Schornstein zu sehen waren. Plötzlich lag über Moder und Lehm der Geruch von Limonen und Minze in der Luft.
Ich verbot mir Spekulationen über dieses Tableau, seine Bedeutung oder durch welche Ereignisse es entstanden sein mochte. Dieser Ort strahle alles andere als Frieden aus, es schien eher, als sei etwas ungelöst oder immer noch im werden. Ich wollte hier weg, aber zunächst nahm ich Proben. Ich wollte dokumentieren, was ich gefunden hatte, und ein Foto schien mir angesichts dessen, was mit den anderen Bildern passiert war, nicht auszureichen. Ich schnitt ein Stück Moos aus der »Stirn« einer der Ballungen. Ich sammelte Holzsplitter ein. Ich kratzte sogar das Fleisch toter Tiere zusammen – von einem verendeten Fuchs, zusammengerollt und ausgetrocknet, und einer Art Ratte, die wohl erst vor ein oder zwei Tagen gestorben war.
Kurz nachdem ich das Dorf verlassen hatte, passierte etwas Merkwürdiges. Auf dem Kanal durchschnitten plötzlich zwei Linien das Wasser und bewegten sich in meine Richtung. Mein Fernglas war keine große Hilfe, da das Wasser das blendend helle Sonnenlicht reflektierte. Otter? Fische? Etwas anderes? Ich zog meine Waffe.
Dann brachen Delfine durch die Oberfläche, und ihr Anblick war nicht weniger erschütternd als unser erster Abstieg in den Turm. Ich wusste, dass Delfine sich manchmal in die Kanäle wagten, sich ans Süßwasser angepasst hatten. Aber wenn der Kopf sich eine Reihe von Erklärungen zurechtgelegt hat, ist alles eine Überraschung, was die Erwartungen nicht erfüllt. Dann geschah etwas noch Herzzerreißenderes. Als sie an mir vorbeiglitten, legte sich der mir nähere leicht auf die Seite und starrte mich mit einem Auge an – ein Auge, das selbst in diesem kurzen Aufblitzen nichts Delfinhaftes hatte. Es war schmerzhaft menschlich, ja sogar vertraut. Aber im nächsten Augenblick waren sie vorbei und wieder untergetaucht, und ich hatte keine Möglichkeit zu verifizieren, was ich gesehen hatte. Ich stand da, sah die beiden Spuren im Wasser verschwinden, Richtung verlassenes Dorf. Ich hatte das beunruhigende Gefühl, dass die mich umgebende Natur nichts als eine Art Ablenkungsmanöver war.
Leicht erschüttert ging ich weiter auf den Leuchtturm zu, der jetzt größer vor mir aufragte, fast schon erdrückend. Mit den schwarzweißen Streifen, die rot abgesetzt waren, hatte er etwas Gebieterisches an sich. Auf dem letzten Stück Weg gab es nichts mehr, wo ich hätte Deckung suchen können. Wer oder was auch immer dort oben sein mochte, ich war ein Fremdkörper in dieser Landschaft, etwas Unnatürliches. Vielleicht sogar eine Gefahr.
Als ich den Leuchtturm schließlich erreichte, war es Mittag. Ich hatte sorgsam darauf geachtet, immer wieder Wasser zu trinken, und sogar eine Kleinigkeit gegessen, war aber trotzdem erschöpft. Vielleicht hatte mich der Schlafmangel jetzt doch eingeholt. Ich erinnerte mich an die Warnung der Vermesserin und war die letzten paar hundert Meter bis zum Leuchtturm durchaus angespannt. Ich hatte die Pistole gezogen und hielt sie zu Boden gerichtet, was auch immer ich damit gegen ein Hochleistungsgewehr würde ausrichten können. Immer wieder sah ich wachsam zu dem kleinen Fenster auf halber Höhe inmitten der schwarzweißen Ringe hinauf, und dann noch weiter zum großen Panoramafenster ganz oben, ob sich etwas bewegte.
Der Leuchtturm stand direkt am natürlichen Scheitelpunkt der Dünen, die zum Meer hin in Wellen abfielen und in den Strand übergingen. Von Nahem machte er stark den Eindruck, als sei er zu einer Festung umgebaut worden – was bei unserer Ausbildung praktischerweise unerwähnt geblieben war. Das bestätigte nur meinen bereits aus größerer Entfernung gewonnenen Eindruck: Obwohl das Gras immer noch hoch stand, fehlte auf den letzten fünfhundert Metern des Pfads jeglicher Baumbestand. Nur alte Stümpfe waren zu sehen. Bei zweihundertfünfzig Metern hatte ich einen Blick durch das Fernglas geworfen und dabei einen etwa drei Meter breiten Wall entdeckt, der den Leuchtturm auf der Landseite umgab und ganz offensichtlich nicht Teil der ursprünglichen Anlage war.
Auf der Seeseite gab es einen weiteren Wall, ein noch stärker wirkender Festungsbau hoch oben auf den bröckelnden Dünen, dessen Krone Glasscherben zierten. Als ich näher kam, konnte ich auch Zinnen erkennen, wie für eine Reihe von Gewehrschützen gemacht. Alles drohte den Hang hinab auf den Strand zu stürzen. Da dies aber noch nicht geschehen war, musste, wer auch immer den Wall gebaut hatte, seine Fundamente tief im Boden verankert haben. Offenbar hatten die früheren Verteidiger des Leuchtturms im Krieg mit dem Meer gelegen. Ich mochte diesen Wall nicht, den er war ein Zeichen einer ganz spezifischen Art von Irrsinn.
Außerdem hatte irgendwann jemand weder Zeit noch Mühe gescheut, sich an der Außenseite des Leuchtturms abzuseilen und überall Glasscherben anzubringen, mit einem starken Kleber oder Bindemittel. Die Glasdolche fingen etwa im ersten Drittel an und zogen sich den ganzen Leuchtturm hoch bis zum vorletzten Stufe, unterhalb des verglasten Leuchtfeuers. An dieser Stelle hatte man eine Art Metallkragen angebracht, der einen guten halben Meter über den Rand ragte und mit rostigem Stacheldraht verstärkt war.
Irgendjemand hatte sehr viel Arbeit investiert, um andere fernzuhalten. Ich dachte an den Crawler und die Worte an der Wand. Ich dachte daran, dass immer wieder der Leuchtturm im Mittelpunkt der bruchstückhaften Aufzeichnungen der letzten Expedition gestanden hatte. Aber abgesehen von diesen Misstönen war ich froh, den Schatten des kühlen, feuchten Walls auf der Landseite des Leuchtturms erreicht zu haben. Hier konnte mich keine Kugel von ganz oben oder aus dem Fenster in der Mitte erreichen. Der erste Teil des Spießrutenlaufens war vorbei. Wenn die Psychologin sich drinnen aufhielt, dann hatte sie sich gegen Gewaltanwendung entschieden, zunächst einmal.
Der Verteidigungswall auf der Landseite war in einem Zustand der Baufälligkeit, die zeigte, dass hier jahrelang niemand mehr gearbeitet hatte. Ein großes, unregelmäßiges Loch führte direkt zur Eingangstür des Leuchtturms. Die Tür war nach innen aufgebrochen, und nur noch Reste von Holz hingen an den Türangeln. Eine violett blühende Kletterpflanze hatte sich der Leuchtturmwand bemächtigt und ringelte sich um die linke Seite der Türreste. Irgendwie wirkte das tröstlich, und was immer für Gewalttaten sich hier abgespielt hatten, es musste lange her sein.
Trotzdem machte mich die Dunkelheit dahinter misstrauisch. Während der Ausbildung hatten wir einen Grundriss zu sehen bekommen und daher wusste ich, dass der Leuchtturm auf dieser Ebene drei nach außen gelegene Räume hatte, irgendwo links die Treppe nach oben führte und rechts die Zimmer in eine Art Lagerraum mündeten, wo es zumindest noch einen größeren Raum gab. Also jede Menge Möglichkeiten, sich zu verstecken.
Ich nahm einen Stein, warf ihn rollend auf den Boden hinter der zerschmetterten Tür. Er klapperte und drehte sich über die Steinfliesen und ins Dunkel. Ich hörte kein anderes Geräusch, keine Bewegung, keinen Hinweis auf Atemzüge, außer meinen. Mit einer Waffe in der Hand ging ich so leise wie möglich hinein, schob mich mit der Schulter an der linken Wand entlang und hielt nach der Öffnung Ausschau, wo die Treppe nach oben begann.
Alle äußeren Räume auf der Grundfläche des Leuchtturms waren leer. Der Wind klang dumpf, die Mauern waren dick und nur zwei kleine Fenster zur Türseite brachten etwas Licht; ich musste meine Taschenlampe herausholen. Und während meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, wuchs und wuchs der Eindruck von Zerstörung und Einsamkeit. Die violette Kletterpflanze war nicht weiter als bis zum Eingang gekommen, in der Dunkelheit gab es kein Blühen. Es gab keine Stühle. Die Bodenfliesen waren mit Dreck und Schutt bedeckt. In diesen Räumen gab es keinerlei persönliche Habseligkeiten. In der Mitte eines großen, offenen Raums fand ich die Treppe. Niemand stand auf den Stufen, um mich zu beobachten, aber ich hatte den Eindruck, dass noch vor Kurzem jemand dagestanden hatte. Ich überlegte, zuerst nach oben zu steigen, ohne die Hinterzimmer zu untersuchen, entschied mich dann aber dagegen. Es war besser, so wie die Vermesserin mit ihrer militärischen Ausbildung zu denken und nachzusehen, ob die Luft rein war, obwohl jederzeit jemand durch die Eingangstür kommen konnte.
Das Hinterzimmer erzählte eine völlig andere Geschichte. Meine Phantasie reichte nicht aus, um mir auszumalen, was sich hier ereignet haben mochte. Hier waren stabile Eichentische umgestürzt und zu einer Art primitiven Barrikade geworden: Einige der Tische waren voller Einschusslöcher, andere von Gewehrfeuer zerfetzt und versengt. Hinter den Überresten der Tische kündeten dunkle, über die Wände und auf dem Boden verteilte Flecken von unaussprechlicher und plötzlicher Gewalt. Auf alles hatte sich Staub sowie der kühle, schale Geruch langsamen Verfalls gelegt, ich sah Rattenkot und in einer Ecke Anzeichen für ein Lager oder Bett, das irgendwann später dort aufgeschlagen worden sein musste. Wobei: Wer konnte zwischen all diesen Spuren eines Massakers schlafen? Auch hatte jemand seine Initialen in einen der Tische geritzt: »R.S. war hier.« Die Kerben sahen frischer aus als alles andere hier. Wer nicht besonders sensibel war, kratzte seine Initialen vielleicht in ein Kriegsmonument. Hier stank es nach Prahlerei, um die Angst zu übertünchen.
Die Treppenstufen warteten auf mich, und um meine Übelkeit zu unterdrücken, ging ich zu ihnen zurück und begann, nach oben zu steigen. Die Waffe hatte ich da schon wieder weggesteckt, da ich meine Hand brauchte, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, aber ich wünschte mir das Sturmgewehr der Vermesserin. Ich hätte mich einfach sicherer gefühlt.
Es war ein merkwürdiger Aufstieg, das Kontrastprogramm zu meinem Abstieg in den Turm. Das brackige Licht auf den angegrauten Innenwänden war besser als die Phosphoreszenz des Turms, aber was ich dort vorfand, verunsicherte mich nicht weniger, nur auf andere Art. Mehr Blutflecken, meistens dicke Kleckse, als wären Menschen verblutet, während sie versuchten, sich vor Angriffen von unten in Sicherheit zu bringen. Manchmal lange Tropfspuren von Blut. Manchmal Spritzer.
Auch an diesen Wänden fand ich Worte, die aber denen im Turm in nichts ähnelten. Noch mehr Initialen, aber auch kleine obszöne Bildchen und ein paar Mitteilungen persönlicherer Art. »Wenn du das hier liest, sag –––, dass ich sie liebe«, gefolgt von einer Unterschrift. Ein paar längere Hinweise darauf, was wohl passiert sein mochte: »Vier Kisten mit Lebensmitteln, drei Kisten mit medizinischem Bedarf und Trinkwasser für fünf Tage, wenn rationiert; genug Kugeln für uns alle, falls notwendig.« Auch Bekenntnisse, die ich hier nicht dokumentieren werde, die von soviel Ehrlichkeit und Ernst zeugten, wie sie nur jemand an den Tag legt, der damit rechnen muss, in Kürze nicht mehr am Leben zu sein. So viele, die so viel mitteilen wollten, aber so wenig kam dabei heraus.
Ich fand Sachen auf den Stufen … einen weggeworfenen Schuh … das Magazin einer automatischen Pistole … ein paar schimmelige Fläschchen mit Proben, längst verrottet oder widerlich verflüssigt … Kreuze, die so aussahen, als wären sie von der Wand gerissen worden … ein Klemmbrett, dessen Holz durchweicht und dessen Metallteile tief orange vor Rost war … und, am schlimmsten, einen ramponierten Spielzeughasen mit zerfetzten Ohren. Vielleicht ein Glücksbringer, den ein Expeditionsteilnehmer reingeschmuggelt hatte. Soweit ich weiß, gab es in Area X keine Kinder mehr, nachdem die Grenze sich gesenkt hat.
Ungefähr auf halbem Weg nach oben kam ich zu einem Absatz; etwa auf dieser Höhe hatte ich wohl in der Nacht zuvor das Flackern gesehen. Die Stille beherrschte immer noch alles, und für Bewegungen weiter oben gab es keine Anzeichen. Fenster links und rechts sorgten für besseres Licht. Hier hörten die Blutspritzer abrupt auf, auch wenn die Wände von Kugeln durchsiebt waren. Der Boden war von Patronenhülsen übersät, aber jemand hatte sich die Zeit genommen und sie beiseite gekehrt, so dass ein Weg zur Treppe nach oben frei blieb. Links stapelten sich Pistolen und Gewehre, einige schon recht alt und andere offenbar nicht aus Armeebeständen. Es war schwer zu sagen, ob sich kürzlich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Mir fiel wieder ein, was die Vermesserin gesagt hatte, und ich fragte mich, wann ich auf die erste Donnerbüchse stoßen würde oder einen anderen schrecklichen Scherz.
Darüber hinaus gab es nur Staub und Schimmel und ein kleines quadratisches Fenster, das auf den Strand und das Schilf hinausging. Ihm gegenüber baumelte an einem Nagel ein zerbrochener Rahmen mit einem Foto. Das Glas war gesprungen und zur Hälfte mit grünen Schimmelflecken übersät. Das körnige Foto zeigte zwei Männer, die am Fuß des Leuchtturms standen, und neben ihnen ein Mädchen. Jemand hatte mit einem Marker einen Kreis um den Mann in der Mitte gezogen. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und trug eine Kapitänsmütze. Aus dem schweren Gesicht stachen zwei scharfe Adleraugen hervor, das linke hatte er zusammengekniffen. Ein dichter Bart verdeckte alles andere, ließ nur ein kräftiges Kinn erahnen. Er lächelte nicht, sah aber auch nicht böse drein. Ich hatte genug Erfahrungen mit Leuchtturmwärtern gemacht, um zu wissen, wann ich einen vor mir hatte. Aber er schien auch etwas besonderes auszustrahlen, was vielleicht nur an dem Staub hing, der sich um sein Gesicht gelegt hatte, und mich an einen Leuchtturmwärter denken ließ. Oder vielleicht war ich einfach schon viel zu lange hier, und mein Verstand war für jede Antwort dankbar, auch auf einfache Fragen.
Die massige Rundung des Leuchtturms hinter den dreien war hell und scharf, die Tür am rechten Rand in gutem Zustand. Kein Vergleich zu dem, den ich vorgefunden hatte, und ich fragte mich, wann das Foto wohl entstanden war. Wie viele Jahre lagen zwischen dem Foto und dem Zeitpunkt, da hier alles angefangen hatte? Wie viele Jahre war der Leuchtturmwärter seinem Zeitplan und seinen Ritualen nachgegangen, hatte an diesem Ort gelebt, war in die örtliche Bar oder Kneipe gegangen. Vielleicht war er verheiratet. Vielleicht war das Mädchen auf dem Foto seine Tochter. Vielleicht war er ein bekannter Mann gewesen. Oder einsam. Oder beides. Doch so oder so, am Ende war das alles bedeutungslos.
Ich starrte ihn über die Jahre hinweg an, versuchte in diesem modrigen Foto zu lesen, der Kinnlinie und den Lichtreflexen in seinen Augen, wie er wohl reagiert hatte, wie seine letzten Stunden verlaufen waren. Vielleicht war er rechtzeitig weggekommen, wahrscheinlich aber nicht. Vielleicht moderte er in einer vergessenen Ecke im Erdgeschoss vor sich hin. Oder er wartete oben auf mich, in der Spitze. In irgendeiner Form. Ich nahm das Foto aus dem Rahmen und schob es in die Tasche. Der Leuchtturmwärter sollte mit mir kommen, obwohl er wohl kaum als Glücksbringer durchgehen mochte. Als ich den Treppenabsatz verließ, kam mir der merkwürdige Gedanke, dass ich nicht die Erste war, die das Foto mitgenommen hatte, dass irgendjemand immer wieder ein neues in den Rahmen steckte und den Leuchtturmwärter wieder in Umlauf brachte.
Auch auf meinem weiteren Weg nach oben fand ich Spuren von Gewalt. Je näher ich der Spitze kam, desto mehr bekam ich das Gefühl, dass hier vor kurzem noch jemand gelebt hatte. Der Muff wich einem Hauch von Schweiß, aber auch dem Geruch von Seife. Auf den Stufen lag weniger Schutt herum, und die Wände waren sauber. Als ich schließlich über die letzten Stufen in den Laternenraum bog und plötzlich die Decke über mir spürte war ich sicher, dass jemand mit festem Blick auf mich warten würde.
Ich zog also wieder die Waffe, aber wie vorher war niemand da – nur ein wackeliger Tisch auf einem Teppich, und überraschenderweise war das dicke Glas noch intakt. Die Signalleuchte stand sinnlos und ungenutzt mitten im Raum. Man hatte nach allen Seiten kilometerweit freie Sicht. Ich blieb einen Augenblick stehen und schaute auf den Weg, den ich gekommen war: der Pfad, der mich hierher gebracht hatte, auf den Schatten in einiger Entfernung, der das Dorf sein konnte, und dann nach links, über die Ausläufer der Marschen, die in Buschland übergingen, dessen knorrige Sträucher vom seeseitigen Wind malträtiert wurden. Sie hatten sich in den Boden gekrallt und verhinderten Erodierung, schützten das dahinterliegende Plattährengras und die Dünen. Dahinter fiel das Gelände nach rechts hinaus sanft ab zum glitzernden Strand, zu den Wellen und der Brandung.
Ein zweiter Blick, und aus Richtung Basislager, das sich zwischen dem Marschland und den weit entfernten dunklen Kiefern befand, sah ich Schwaden schwarzen Rauchs aufsteigen, was alles Mögliche bedeuten konnte. Aber in Richtung des Turms nahm ich so etwas wie ein Leuchten wahr, das von ihm ausging, eine Art gebrochenes Phosphoreszieren, an das ich jetzt aber keinen Gedanken verschwenden wollte. Dass ich es sah, mich dazu hingezogen fühlte, irritierte mich. Ich war sicher, dass niemand anderes, der sich hier noch aufhielt, weder die Psychologin noch die Vermesserin, dieses Aufwallen des Unerklärlichen sehen konnte.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit den Stühlen zu, dem Tisch, suchte nach irgendwas, das mir Einsicht in was auch immer geben konnte. Nach fünf Minuten kam mir die Idee, den Teppich wegzuziehen. Darunter kam eine quadratische Falltür von etwa ein Meter achtzig zum Vorschein. Der Riegel war in das Holz des Fußbodens eingelassen. Ich schob den Tisch zur Seite, was ein steinerweichendes Geräusch verursachte, bei dem ich die Zähne zusammenbeißen musste. Dann riss ich die Falltür auf und für den Fall, das dort jemand auf mich wartete, brüllte ich etwas hirnverbranntes wie »Ich hab eine Waffe!« und zielte, die Pistole in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand, nach unten.
Ich hatte ein vages Gefühl, dass mir die Waffe durch ihr schieres Gewicht entglitt und die Taschenlampe in der anderen Hand wild zitterte, aber irgendwie schaffte ich es, beide festzuhalten. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da unten sah und fühlte mich völlig verloren. Die Falltür führte zu einem Raum, der etwa sieben Meter tiefer lag und ungefähr fünfzehn Meter Durchmesser hatte. Die Psychologin war offensichtlich hier gewesen, denn ihr Rucksack, diverse Waffen, Wasserflaschen und eine große Taschenlampe lagen links an der Seite. Aber von ihr selbst fehlte jede Spur.
Aber was mich wirklich nach Luft schnappen ließ, was wie ein Schlag in die Magengrube war, als ich auf die Knie fiel, war dieser riesige Haufen, der den Raum beherrschte, eine Art irrwitziger Misthaufen. Ich blickte auf einen Aktenberg, den Hunderte von Tagebüchern krönten – genau wie jene, die man uns gegeben hatte, um darin unsere Beobachtungen in Area X aufzuzeichnen. Jedes trug einen Namen auf dem Umschlag. Wie sich zeigte, war jedes vollgeschrieben. Und es waren viel viel mehr, als nur zwölf Expeditionen hätten hervorbringen können.
Können Sie sich wirklich vorstellen, wie es im ersten Augenblick war, da hinunter zu starren, in diesen düsteren Raum, und das zu sehen? Vielleicht können Sie es. Vielleicht starren Sie gerade jetzt darauf.
Mein dritter und bester Feldeinsatz während der Collegezeit erforderte, dass ich zu einem sehr abgelegenen Ort an der Westküste reisen musste, einer gekrümmten Landspitze, wie sie weiter entfernt von jeglicher Zivilisation nicht sein konnte, wo das Klima zwischen gemäßigt und arktisch schwankte. Hier hatte die Erde riesige Felsformationen ausgespuckt, um die herum schon seit Urzeiten ein Regenwald wuchs. In dieser Welt war es immer feucht, die jährliche Regenmenge lag bei 1800 Millimeter Niederschlag, und es galt als außerordentliches Ereignis, wenn mal nicht Regentropfen von den Blättern tropften. Die Luft war so erstaunlich sauber und die Vegetation so dicht, so üppig grün, dass mir jedes eingerollte Farnkraut das Gefühl vermittelte, mit mir und der Welt im Reinen zu sein. In diesen Wäldern lebten Bären und Panter und Elche und eine Vielzahl von Vogelarten. Die Fische in den Flüssen waren riesig und nicht mit Quecksilber belastet.
Ich lebte in einem Dorf nahe der Küste, das etwa dreihundert Einwohner hatte. Ich hatte eine Hütte gleich neben einem Haus auf einem Hügel gemietet, das seit fünf Generationen Fischern gehörte – inzwischen einem kinderlosen Ehepaar, das die für diese Gegend typische barsche Art hatte. Ich habe dort keine Freundschaften geschlossen und war mir auch nicht sicher, ob selbst langjährige Nachbarn miteinander befreundet waren. Nur in der örtlichen Kneipe, die alle frequentierten, spürte man nach ein paar Bierchen so etwas wie Freundlichkeit und Kameradschaft. Aber es brauchte auch nicht viel, um eine Prügelei ausbrechen zu lassen, und ich mied diesen Ort den größten Teil meiner Zeit. Es sollte noch vier Jahre dauern, bis ich meinen künftigen Ehemann traf, und zu dieser Zeit war ich nicht darauf aus, jemanden kennenzulernen.
Außerdem hatte ich auch genug zu tun. Jeden Tag fuhr ich auf dieser höllisch windigen Straße, die sogar ohne Regen trügerisch, weil voller Löcher und Spurrillen, war, zu einem Ort, der schlicht Rock Bay hieß. Dort waren die Magmaschichten hinter dem felsigen Strand über die Jahrmillionen erodiert, und es hatten sich kleine Teiche gebildet, die bei Flut vollliefen. Ich fotografierte diese Teiche am Vormittag bei Ebbe, vermaß sie und katalogisierte das Leben, das ich in ihnen vorfand; manchmal blieb ich auch bis zum Hochwasser, watete in meinen Gummistiefeln umher, während mich die Gischt der Wellen, die an die Felsvorsprünge klatschten, durchnässte.
In diesen Gezeitenbecken lebte eine Muschelart, die sonst nirgends vorkam, in Symbiose mit einem Fisch namens Gartner, nach seinem Entdecker benannt. Auch diverse Arten von Meeresschnecken und Seeanemonen hielten sich dort versteckt, und ein zäher kleiner Kalmar, dem ich den Spitznamen Heiliger Streithammel gab und somit seinen wissenschaftlichen Namen umging, weil seine Alarmsignale, ein weißes Aufleuchten des Korpus, diesen wie eine päpstliche Mitra aussieht ließ.
Ich konnte hier problemlos Stunden damit verbringen, das verborgene Leben in diesen Gezeitenbecken zu beobachten, und manchmal geriet ich darüber ins Staunen, dass ich so ein Geschenk erhalten hatte: Ich konnte nicht nur völlig im jeweiligen Augenblick aufgehen, sondern hatte hier jene Einsamkeit, nach der ich mich während meines ganzen Studiums gesehnt hatte. Eine Übung für meine jetzige Situation.
Und doch machte mich schon während der Rückfahrten ins Dorf das absehbare Ende dieses Glücks traurig. Denn ich wusste, dass es schließlich enden würde. Das Forschungsstipendium lief nur über zwei Jahre, wer würde sich schon länger als zwei Jahre für Muscheln interessieren, und es stimmte schon, meine Forschungsmethoden waren manchmal etwas exzentrisch. Je näher das Ende rückte, desto häufiger erwischte ich mich bei solchen Gedanken, und die Aussichten auf eine Verlängerung wurden immer düsterer. Obwohl ich es besser hätte wissen müssen, verbrachte ich mehr und mehr Zeit in der Kneipe. Dann wachte ich am nächsten Morgen benebelt auf, manchmal lag jemand neben mir, den ich kannte, der aber trotzdem ein Fremder blieb, und begriff, dass die Abreise wieder einen Tag näher gerückt war. Das durchzumachen war in gewisser Weise auch eine Erleichterung, nicht so stark wie die Traurigkeit erleichterte – aber doch der Gedanke, dass ich durch das alles, im Gegensatz zu allem anderen, was ich fühlte, nicht zu der Person wurde, die die Einheimischen draußen bei den Felsen sahen und die sie immer noch als Fremde betrachteten. »Ach, das ist bloß die olle Biologin. Sie ist schon seit einer Ewigkeit hier und wird beim Forschen über diese Muscheln langsam verrückt. Sie redet mit sich selbst, murmelt an der Bar vor sich hin, und wenn man etwas Nettes zu ihr sagt …«
Als ich jetzt die Berge von Tagebüchern sah hatte ich einen sehr langen Augenblick das Gefühl, dass ich schließlich doch zu dieser Biologin geworden war. Auf diese Weise setzt sich der Wahnsinn der Welt in dir fest: von außen nach innen – und zwingt dich, in seiner Wirklichkeit zu leben.
Aber die Wirklichkeit hat auch noch andere Wege. An einem bestimmten Punkt unserer Beziehung fing mein Ehemann an, mich »Geistervögelchen« zu nennen; das war seine Art, mich dafür zu hänseln, dass ich in seinem Leben nicht präsent genug war. Er sagte es immer mit ein paar Fältchen um die Mundwinkel, die auch ein dünnes Lächeln hätten sein können, aber in seinen Augen erkannte ich den Vorwurf. Wenn wir mit seinen Freunden in eine Kneipe gingen, und er machte kaum etwas lieber als das, dann kam ich genauso freiwillig mit, wie ein Häftling zum Verhör ging. Es waren nicht meine Freunde, jedenfalls nicht wirklich, aber ich hatte mich auch noch nie für oberflächliche oder »weitschweifige Konversation«, wie ich es nannte, erwärmen können. Politik war mir ziemlich egal, es sei denn, sie nahm Einfluss auf die Umwelt. Ich war nicht religiös. Alle meine Hobbys waren in meine Arbeit eingebunden. Ich lebte für meine Arbeit, und war begeistert von der Kraft, die mir diese Konzentration gab. Ich mochte nicht über meine Forschungsarbeit sprechen. Ich schminkte mich nicht, und die aktuelle Schuhmode war mir ebenso egal wie die neuste Musik. Ich bin sicher, die Freunde meines Mannes fanden mich verschlossen oder Schlimmeres. Vielleicht fanden sie mich sogar sterbenslangweilig oder »merkwürdig ungebildet«, wie ich einen von ihnen sagen hörte, wobei ich nicht sicher bin, dass er mich damit meinte.
Ich war gern in den Kneipen, aber aus anderen Gründen als mein Mann. Ich genoss es, den späten Abend nicht zu Hause ausklingen zu lassen, während meine Gedanken um ein Problem, ein paar Messergebnisse kreisten und ich zum einen unter Menschen, zum anderen aber ganz für mich war. Doch er machte sich zu viele Sorgen um mich, und mein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit nagte an der Freude, die es ihm bereitete, mit seinen Freunden zu reden, die er meistens aus dem Krankenhaus kannte. Ich bekam mit, wie er mitten im Satz verstummte und mir einen Blick zuwarf, um zu sehen, ob ich zufrieden war, während ich meinen Whisky trank. »Geistervögelchen«, pflegte er dann später zu sagen, »hast du Spaß gehabt?« Und ich nickte und lächelte.
Aber Spaß haben hieß für mich, mich davonzustehlen und in einen Gezeitenteich zu starren, die Kompliziertheit der dort heimischen Lebewesen zu begreifen. Mein leibliches Wohl war für mich eng mit Ökosystemen und Habitaten verbunden; plötzlich zu begreifen, wie alle Lebewesen miteinander vernetzt waren, war ein Orgasmus. Beobachten bedeutete für mich mehr als Wechselwirkung. Ich glaube, er wusste das alles. Aber ich konnte es ihm einfach nicht richtig erklären, obwohl ich es versuchte, und er mir zuhörte. Und doch, in anderer Hinsicht war ich nichts als Ausdruck. Ich glaube inzwischen, dass meine einzige Begabung, mein Talent darin besteht, Orte auf mich einwirken zu lassen, und ich mit Leichtigkeit in ihnen aufgehe. Selbst eine Kneipe war eine Art Ökosystem, wenn auch ein primitives, und wenn jemand hereinkam, der nicht wie mein Mann gepolt war, dann hätte dieser Mensch mich dort sitzen sehen und keine Problem gehabt, sich vorzustellen, dass ich in meiner kleinen Blase aus Schweigen glücklich war. Hätte keine Schwierigkeiten gehabt sich vorzustellen, dass ich dazugehöre.
Doch die Ironie war: Auch wenn mein Mann sich wünschte, dass ich mich integrierte, so wollte er doch aus der Masse herausstechen. Aber im Angesicht dieses riesigen Bergs von Tagebüchern kam mir ein weiterer Gedanke: dass er wegen genau dieser Eigenschaft nicht der Richtige für die elfte Expedition war. Hier waren unterschiedslos die Berichte so vieler Menschen, dass sein Bericht unmöglich herausstechen konnte. Und damit war er am Ende auf einen Status reduziert, der meinem sehr ähnlich war.
Diese Tagebücher waren wie windige Grabsteine und konfrontierten mich von Neuem mit dem Tod meines Mannes. Ich fürchtete mich, sein Heft zu finden, fürchtete den wahren Bericht zu finden, und nicht das nichtssagende, allgemeine Gemurmel, das er unseren Vorgesetzten nach seiner Rückkehr vorgesetzt hatte.
»Geistervögelchen, liebst du mich?«, flüsterte er mir einmal im Dunklen zu, bevor er zu Ausbildung verschwand, obwohl doch er der Geist war. »Geistervögelchen, brauchst du mich?« Ich liebte ihn, aber ich brauchte ihn nicht und dachte, genau so sollte es sein. Ein Geistervogel kann hier ein Habicht sein und dort eine Krähe, ganz wie die Umstände es verlangen. Was an einem Morgen als Spatz in den blauen Himmel schoss, konnte mitten im Flug zu einem Fischadler werden. Genau das passierte hier mit den Dingen. Es gab keine Gründe, die so mächtig waren, dass sie mein Verlangen hätten außer Kraft setzen können, im Einklang mit den Gezeiten und dem Wechsel der Jahreszeiten zu sein und den Rhythmen, die allem, was mich umgab, zugrunde lagen.
Die Tagebücher und andere Materialien bildeten einen modernden Haufen von etwa drei Meter fünfzig Höhe, der am Fuß etwa fünf Meter durchmaß und dort schon in einem fortgeschrittenen Zustand des Kompostierens war; das Papier faulte vor sich hin. Diese Art von Archiv zog unwiderstehlich Käfer und Silberfische an sowie kleine schwarze Kakerlaken, die permanent ihre Fühler kreiseln ließen. Ziemlich weit unten im Haufen quollen Reste von Fotos und Dutzende ruinierter Tonbandkassetten hervor, die sich mit zu Schnipseln zerfetzten Seiten mischten. Rattenspuren von waren nicht zu übersehen. Um überhaupt feststellen zu können, was da alles war, musste ich wohl eine Leiter an den Rand der Falltür befestigen und mich dann über einen einstürzenden Müllberg aus in Auflösung begriffenen Papiers quälen. Die Szene verkörperte indirekt ein Stück der Schrift, auf die ich an der Wand des Turms gestoßen war: Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln …
Ich stürzte den Tisch um und schob ihn gegen den schmalen Einstieg zum Treppenhaus. Ich hatte keine Ahnung, wo die Psychologin abgeblieben war, aber ich wollte vermeiden, dass sie oder irgendjemand anderes mich überraschte. Sollte jemand von unten versuchen, den Tisch wegzuschieben, würde ich es hören und wieder hochklettern und sie mit der Waffe willkommen heißen. Ich hatte außerdem ein Gefühl, das ich im Nachhinein jenem Leuchten zuschreibe, das in mir wuchs: das Gefühl einer Präsenz, die von tief unten hochstieg und von den Rändern meiner Sinne auf mich einwirkte. Immer wieder und völlig unerwartet lief ein Kribbeln über meine Haut, für das es keinen ersichtlichen Grund gab.
Es gefiel mir überhaupt nicht, dass die Psychologin ihre ganze Ausrüstung, darunter die meisten oder sogar alle ihrer Waffen, unten bei den Tagebüchern gebunkert hatte. Aber für den Augenblick musste ich dieses Rätsel aus meinen Gedanken verbannen, genau wie die Nachbeben der Einsicht, dass der größte Teil dessen, was man uns während der Ausbildung erzählt hatte, auf einer Lüge basierte. Während ich mich in den kalten, düsteren Raum hinabließ, spürte ich den Sog des Leuchtens in mir noch deutlicher. Er war kaum zu ignorieren, da ich nicht wusste, was er bedeutete.
Meine Taschenlampe und das natürliche Licht, das durch die offene Falltür fiel, zeigten, dass die Wände voller Schimmelschlieren waren, von denen einige matte rotgrüne Streifen bildeten. Von unten war deutlicher zu erkennen, wie der Müllhaufen an seinem Fuß Wellen von kleinen Hügeln ausgespuckt hatte. Zerrissene Seiten, zerquetschte Seiten, verzogene und feuchte Einbanddeckel der Tagebücher. Man könnte sagen, dass die Geschichte von Area X langsam zu Area X selbst wurde.
Ich hob stichprobenartig ein paar Tagebücher, die am Rand lagen, auf. Meist wurde auf den ersten Blick klar, dass ziemlich gewöhnliche Ereignisse geschildert wurden, wie von der ersten Expedition beschrieben – die nicht die erste Expedition hatte sein können. Einige waren seltsam, weil ihre Datierung keinen Sinn machte. Wie viele Expeditionen hatten die Grenze tatsächlich überschritten? Wie viele Informationen waren gefiltert oder unterdrückt worden, und wie lange schon? Bezog sich »zwölf« nur auf die letzte Phase einer schon viel länger laufenden Operation, und wurde der Rest ausgeblendet, um bei denen, die sich freiwillig bewarben, keine Zweifel aufkommen zu lassen?
Auch stieß ich auf eine Reihe von Berichten in ganz verschiedener Form, die ich zu einer »Vorexpeditionsphase« zählen würde. Das waren die ganz unten liegende Sammlung von Audiokassetten, angenagten Fotos und zerfallenden Aktenordnern, die ich von oben gesehen hatte – alles zerquetscht durch das Gewicht des darüber gestapelten Materials. Alles überzogen von einem dumpfen, feuchten Geruch, der den scharfen Gestank des Zerfalls mit sich trug, wie er nur an ganz bestimmten Orten auftaucht. Ein unglaublicher Wirrwarr von getippten, gedruckten und handgeschriebenen Worten, die sich in meinem Kopf neben mit nur einem Blick gestreiften Bildern stapelten, ein mentales Faksimile des Misthaufens selbst. Das Durcheinander ließ mich manchmal fast erstarren, sogar ohne die offensichtlichen Widersprüche zu erfassen. Langsam dämmerte mir die Bedeutung des Fotos in meiner Tasche.
Es nützte zwar nicht viel, aber ich fing an, Vorgaben zu machen. Ich ignorierte Berichtskladden in Kurzschrift und versuchte nicht die zu entschlüsseln, die chiffriert waren. Ich begann, einzelne Hefte ganz durchzulesen und beschloss bald, nur noch quer zu lesen. Aber nur Stichproben zu nehmen war manchmal noch schlimmer. Ich stieß auf Seiten, wo so unaussprechliche Dinge beschrieben wurden, dass ich mich immer noch nicht dazu zwingen kann, sie aufzuschreiben. Einträge, in denen von »Vergebung« und »Ende« die Rede war, gefolgt von »Auflodern« und »schrecklichen Offenbarungen«. Ganz egal, wie oft ich meine Annahmen über die Existenz von Area X revidieren musste und wie viele Expeditionen es hierher schon gegeben hatte, aus diesen Berichten ging eindeutig hervor, dass in dieser Gegend schon lange, bevor die Grenze sich bildete, merkwürdige Dinge passiert waren. Es hatte ein Ur-Area X gegeben.
Allerdings machten mich offensichtliche Lücken genauso verrückt wie ganz konkrete Beschreibungen. Ein von der Feuchtigkeit halb zerfressenes Tagebuch aus Papier konzentrierte sich einzig auf die Eigenschaften einer Art Distel mit lavendelfarbenen Blüten, die weiter im Landesinneren zwischen Wald und Sumpf wuchs. Seite um Seite war gefüllt mit der Entdeckung erst eines Exemplars und dann eines weiteren, zusammen mit der Beschreibung von Insekten und anderen Lebewesen, die dieses Mikrohabitat bevölkerten. Der Beobachter hatte in keinem der Fälle sich mehr als einen halben Meter von der Pflanze wegbewegt, und genauso wenig irgendetwas in Bezug auf das Basislager oder das Leben dort durchblicken lassen. Nach einer Weile beschlich mich ein ungutes Gefühl, ich begann hinter all diesen Eintragungen etwas entsetzlich Geisterhaftes aufscheinen zu sehen. Ich sah den Crawler oder etwas Entsprechendes im Raum um die Distel auftauchen und die Konzentration des Berichterstatters auf diesen einen Gegenstand als Weg, mit dem Entsetzen umzugehen. Etwas Geisterhaftes hat keine Präsenz, aber mit jeder neuen Beschreibung der Distel wurde das Frösteln stärker, das meine Wirbelsäule hinauf- und hinunterkroch. Als der hintere Teil des Buches sich in verschmierte Tinte und Papierbrei aufzulösen begann, war ich froh, diesen nervenaufreibenden Wiederholungen entkommen zu sein, denn diese Berichte hatten eine hypnotische Wirkung, die einen fast in Trance versetzte, und wäre es endlos so weitergegangen, dann hätte ich wohl eine gefühlte Ewigkeit dort gestanden und weitergelesen, bis ich umgefallen und vor Hunger oder Durst gestorben wäre.
Ich begann mich zu fragen, ob das Fehlen jeglicher Hinweise auf den Turm sich auch mit dieser Theorie erklären ließ, dieses Schreiben immer am Rand der Dinge entlang.
… in den schwarzen Wassern über denen die Sonne um Mitternacht scheint werden die Früchte zur Reife kommen …
Nach diversen banalen oder unverständlichen Stichproben fand ich dann ein Tagebuch, das so ganz anders war als meines. Es datierte aus einer Zeit, da die erste Expedition noch nicht unterwegs, die Grenze sich aber bereits herabgesenkt hatte; dort war die Rede vom »Bau des Walls«, womit eindeutig die Befestigung zum Meer hin gemeint war. Eine Seite später sprangen mir – inmitten esoterischer meteorologischer Beobachtungen – zwei Worte entgegen: »Angriff zurückgeschlagen.« Ich las die wenigen folgenden Einträge sehr sorgfältig. Zunächst machte der Autor keine Angaben zur Art des Angriffs oder der Identität der Angreifer, aber der Überfall war vom Meer aus erfolgt und »hinterher waren vier von uns tot«, obwohl der Wall standgehalten hatte. später wuchs die Verzweiflung und ich las:
… und wieder kommt die Zerstörung von See, mitsamt den merkwürdigen Lichtern und den Meereslebewesen, die sich bei Flut gegen unseren Wall werfen. In der Nacht, jetzt, versuchen ihre Vorposten, durch die Lücken in unserer Verteidigungsanlage zu kriechen. Noch halten wir stand, aber unsere Munition wird knapp. Ein paar von uns wollen den Leuchtturm aufgeben, versuchen, die Insel oder das Landesinnere zu erreichen, aber der Anführer sagt, er hat seine Befehle. Die Stimmung ist gedrückt. Längst nicht alles, was uns passiert, lässt sich rational erklären.
Kurz darauf brach der Bericht ab. Er hatte etwas ausgesprochen Surreales an sich, als sei er eine romanhafte Version tatsächlicher Ereignisse. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Area X wohl vor so langer Zeit ausgesehen haben mochte. Ich schaffte es nicht.
Der Leuchtturm schien die Expeditionsteilnehmer angezogen zu haben wie die Schiffe, denen er einst Sicherheit in den engen Passagen und Riffen vor der Küste bringen sollte. Ich kann nur noch einmal meine früheren Überlegungen unterstreichen, dass die meisten den Leuchtturm als ein Symbol sahen, eine Vergewisserung der alten Ordnung, und da er alles überragend am Horizont aufragte, schien er ein sicheres Refugium zu sein. Dass dieses Vertrauen enttäuscht worden war, wurde in allem deutlich, was ich unten vorgefunden hatte. Und obwohl einige von ihnen das gewusst haben müssen, waren sie trotzdem gekommen. Aus purer Hoffnung. Aus purem Vertrauen. Aus purer Dummheit.
Aber welche Macht auch immer sich aufgemacht hatte, Area X zu bewohnen, mir war inzwischen klar geworden, dass man einen Guerillakrieg führen musste, wenn man sie überhaupt bekämpfen wollte. Man musste mit der Landschaft verschmelzen, oder wie der Autor der Distel-Geschichte so lange wie möglich so tun, als wäre sie gar nicht da. Ihre Existenz anzuerkennen, ihr einen Namen zu geben, konnte schon heißen, ihr Tür und Tor zu öffnen. Vermutlich habe ich aus dem gleichen Grund von den Veränderungen in mir weiterhin als »Leuchten« gesprochen, denn diesen Zustand allzu genau zu untersuchen – ihn zu quantifizieren oder empirisch damit umzugehen, wenn ich kaum Kontrolle darüber habe –, würde ihn allzu real werden lassen.
Irgendwann verfiel ich in Panik angesichts der Masse dessen, was sich da weiterhin vor mir auftürmte, und in dieser Panik justierte ich noch einmal mein Hauptaugenmerk: Ich würde jetzt nur noch nach Formulierungen suchen, die mit den Worten an der Wand des Turms identisch oder ihnen ähnlich waren. Ich ging den Papierberg jetzt direkter an, kämpfte mich in den mittleren Teil vor und das helle Rechteck über meinem Kopf gab mir die Gewissheit, dass es in meinem Leben auch noch etwas anderes gab. Ich wühlte wie die Silberfische und die Ratten, ich schob meine Arme tief in das Chaos und zog mit den Händen hervor, was immer ich zu fassen kriegte. Manchmal verlor ich das Gleichgewicht und wurde unter dem Papier begraben, kämpfte mit ihm, roch und schmeckte die Verwesung. Noch während ich so fieberhaft wie sinnlos herumwühlte, war mir klar, dass jeder, der von oben zusehen würde, mich für verrückt erklärt hätte.
Aber ich fand, wonach ich suchte, in mehr Tagebüchern als erwartet, und meistens fing es mit diesen Worten an: Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen … Häufig einfach an den Rand gekritzelt und auch sonst ohne Zusammenhang mit dem vorherigen und folgenden Text. Ein Eintrag dokumentierte den Satz an der Wand des Leuchtturms, den »wir schnell abwuschen«, ohne das weiter zu erklären. Ein andermal fand ich einen Hinweis in krakeliger Handschrift auf »einen Eintrag in einem Logbuch, der so klang, als würde er aus dem Alten Testament stammen, aber in keinem Psalm enthalten ist, an den ich mich erinnern kann.« Wer würde da nicht sofort an den Crawler denken? … mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln … Aber das alles brachte mich dem Verständnis des Warum oder Wer nicht näher. Wir alle tappten im Dunkeln, krabbelten auf einem Haufen Tagebücher herum, und wenn ich jemals das Gewicht meiner Vorgänger auf mir lasten gespürt habe, dann war es dann und dort, so verloren in allem.
Irgendwann merkte ich, dass ich völlig überwältigt war und einfach nicht mehr weitermachen konnte, nicht einmal mehr ganz mechanisch. Es waren schlicht zu viele Informationen, in zu anekdotischer Form aufbereitet. Ich hätte mich jahrelang durch diese Seiten lesen können, ohne auf die richtigen Geheimnisse zu stoßen und dabei endlos darüber nachgrübeln, seit wann es diesen Ort schon gab, wer zuerst sein Tagebuch hiergelassen hatte, warum andere dem gefolgt waren, bis das so unausweichlich wurde wie ein sich tief eingeprägtes Ritual. Aber aus welchem Antrieb, welchem allen eigenen Fatalismus? Alles was ich wirklich zu wissen glaube ist, dass Tagebücher von bestimmten Expeditionen und einiger Expeditionsteilnehmer fehlten, dass die Berichte lückenhaft waren.
Außerdem war mir klar, dass ich zum Basislager zurückkehren musste, bevor es dunkel wurde, oder mir nur der Leuchtturm blieb. Die Vorstellung, im Dunklen zu gehen, behagte mir gar nicht, und wenn ich nicht zurückkehrte, hatte ich keine Garantie, dass die Vermesserin mich nicht fallenlassen und versuchen würde, über die Grenze zurückzukehren.
Ich beschloss, für heute einen letzten Versuch zu wagen. Unter großen Schwierigkeiten kletterte ich auf den Gipfel des Papierhaufens und versuchte dabei, die Tagebücher nicht nach unten zu treten. Ich hatte eine Art aufgewühltes Monster unter meinen Füßen, das keine Ruhe geben wollte, widerwillig wie der Sand der Dünen draußen, und jeden meiner Tritte mit einer Gegenreaktion beantwortete. Aber irgendwie schaffte ich es.
Wie ich mir gedacht hatte waren die Tagebücher ganz oben neueren Datums, und ich fand die der Expedition meines Mannes sofort. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen stöberte ich weiter im Angesicht des Unausweichlichen, das da kommen musste, und es kam auch. Ich fand es leichter, als ich erwartet hatte, es klebte durch getrocknetes Blut oder irgendeine andere Substanz fest Rücken an Rücken mit einem anderen Heft: das Tagebuch meines Ehemanns, in seiner selbstsicheren, kühnen Handschrift, die ich von Notizen am Kühlschrank oder Einkaufslisten kannte. Der Geistervogel hatte seinen Geist gefunden, auf einem unerklärlichen Stoß anderer Geister. Aber statt dass ich mich darauf freute, diesen Bericht zu lesen, hatte ich das Gefühl, ein privates Tagebuch zu stehlen, das durch seinen Tod verschlossen worden war. Ein dummes Gefühl, ich weiß. Er hatte sich immer gewünscht, dass ich mich ihm öffnen würde, und im Gegenzug war er immer offen zu mir gewesen. Jetzt lag er so offen wie ein Buch vor mir, und das möglicherweise für alle Zeit, eine Wahrheit, die ich kaum ertragen konnte.
Obwohl ich mich nicht dazu durchringen konnte, es sofort zu lesen, widerstand ich dem Drang, das Tagebuch meines Ehemanns wieder zurück auf den Haufen zu werfen, sondern steckte es mit eine paar anderen, die ich ins Basislager mitnehmen wollte, ein. Ich nahm auch zwei der Pistolen der Psychologin an mich, bevor ich aus diesem elenden Loch herauskletterte. Ihre anderen Vorräte ließ ich erst einmal dort. Ein geheimes Lager im Leuchtturm konnte noch von Nutzen sein.
Als ich von unten wieder auftauchte, war es später, als ich angenommen hatte. Der Himmel war bereits in tiefes Bernsteingelb getaucht, ein Zeichen, dass es schon später Nachmittag war. Das Meer erstrahlte im Licht, aber die reine Schönheit konnte mich nicht mehr täuschen. Dieser Ort hatte im Laufe der Zeit viele Menschenleben gehen sehen, Menschen, die freiwillig ins Exil oder Schlimmeres gegangen waren. Über allem lag der grausige Geist ungezählter verzweifelter Kämpfe. Warum wurden wir immer noch hierher geschickt? Und warum gingen wir immer noch? Eine Zeile aus einem Song fiel mir wieder ein: All this useless knowledge.
Nachdem ich so lange in dieser Enge gesteckt hatte, brauchte ich frische Luft und wollte den Wind spüren. Ich legte alles, was ich mitgenommen hatte, auf einen Stuhl und öffnete die Schiebetür, um mir auf dem rundum laufenden Sims die Beine zu vertreten. Der Wind zerrte an meiner Kleidung und war wie eine Ohrfeige. Die plötzliche Kühle war reinigend und der Blick sogar noch besser. Ich konnte rundum bis zum Horizont blicken. Aber nach einem Augenblick brachten mich Intuition oder eine Vorahnung dazu, direkt nach unten zu schauen, hinter die Überreste des Walls, runter zum Strand, der selbst aus dieser Perspektive teilweise vom Kamm der Dünen und dem Wall verdeckt war.
An dieser Stelle zeichnete sich im aufgewühlten Sand ein Fuß und der untere Teil eines Beins ab. Ich richtete das Fernglas auf den Fuß. Nichts regte sich. Ein vertrautes Hosenbein, ein vertrauter Stiefel mit glatter Doppelschleife. Ich klammerte mich an das Geländer, um dem Schwindel nicht nachzugeben. Ich kannte die Besitzerin dieses Stiefels.
Es war die Psychologin.