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0001: DER LEUCHTTURMWÄRTER

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Den Linsenapparat überholt und die Linsen geputzt. Die Wasserpumpe im Garten repariert. Kleine Reparatur am Tor. Werkzeuge und Schaufeln etc. im Schuppen geordnet. Besuch vom SSB. Muss Farbe für die Bake anfordern – das Schwarz ist seeseitig erodiert. Brauche auch Nägel und muss die westliche Sirene überprüfen. Gesichtet: Pelikane, Sumpfhühner, eine Art Grasmücke, zahllose Stärlinge, Sanderlinge, eine Königsseeschwalbe, Fischadler, Spechte, Kormorane, Drosseln, Zwergklapperschlange (am Zaun – nicht vergessen), ein oder zwei Kaninchen, Weißwedelhirsch und kurz vor Morgengrauen auf dem Weg das ein oder andere Gürteltier.

An diesem Wintermorgen zerrte ein kalter Wind am Kragen von Saul Evans’ Mantel, während er den Pfad zum Leuchtturm entlangstapfte. In der letzten Nacht hatte es gestürmt, und vor ihm und zur Linken sah er durch raschelndes und knisterndes Plattährengras das aufgewühlte und graue Meer unter einem mattblauen Himmel. Treibholz und Flaschen, verwaschene weiße Bojen und einen toten Hammerhai hatte es im Nachhinein an den Strand gespült, eingewickelt in Seegrasknoten; aber weder hier noch im Dorf waren echte Schäden entstanden.

Seine Füße streiften Brombeerranken und die dicken grauen Disteln, die im Frühjahr und Sommer purpurn erblühten. Schwärme von Stärlingen drückten die dünnen Zweige der Bäume zur Erde, flogen panisch auf, wenn er näher kam, und versammelten sich erneut zu schwatzhaften Gemeinschaften, sobald er vorüber war. In der frischen Salzluft schwang ein Hauch Feuer mit: entweder aus einem der nahegelegenen Häuser oder von einem noch glimmenden Lagerfeuer.

Saul hatte schon vier Jahre im Leuchtturm gewohnt, als er Charlie kennenlernte. Er wohnte noch immer dort, aber letzte Nacht war er im Dorf geblieben, das nicht weit entfernt lag, in Charlies Häuschen. Das war etwas Neues gewesen, das hatten sie so nicht vereinbart, aber als er gerade seine Sachen wieder anziehen und gehen wollte, hatte Charlie ihn zurück ins Bett gezogen. Saul hatte nichts dagegen gehabt, nur etwas unbeholfen gelächelt.

Charlie rührte sich kaum, als Saul aufstand, sich anzog und Eier zum Frühstück machte. Er hinterließ für Charlie eine großzügige Portion samt Orangenschnitz, stellte eine Schüssel darüber, um sie warm zu halten, und legte einen Zettel neben den Toaster; das Brot steckte bereits drin. Beim Gehen warf er noch einmal einen Blick zurück auf den Mann, der dort auf dem Rücken lag und von den Laken nur halb bedeckt wurde. Charlie war schon fast vierzig, hatte aber den durchtrainierten, muskulösen Oberkörper, die breiten Schultern und stämmigen Beine eines Mannes, der einen großen Teil seines Erwachsenenlebens auf Booten verbracht und Netze eingeholt hatte; sein flacher Bauch war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er nicht zu viele Nächte durchzechte.

Die Tür fiel leise ins Schloss, und sobald er ein paar Schritte gemacht hatte, fing er an, wie ein Idiot gegen den Wind zu pfeifen – dankte dem Gott, der ihn schlussendlich doch glücklich gemacht hatte, wenn auch verspätet und auf so unerwartete Art. Manche Dinge widerfuhren einem erst spät, aber besser spät als nie.

Nicht lange, und der Leuchtturm ragte massig und hoch über ihm auf. Tagsüber fungierte er als Bake, als Navigationshilfe für die Boote in den Untiefen, aber die Hälfte der Woche leuchtete er die Nacht hindurch, entsprechend den Fahrplänen der Handelsschiffe weiter draußen auf See. Er kannte jede Treppenstufe, jeden Raum im Inneren der Natur- und Backsteinmauern, jeden Riss in den Wänden.

Das atemberaubende Leuchtfeuer auf der Spitze war einzigartig, und er hatte Hunderte von Möglichkeiten, das Licht zu justieren. Eine Fresnellinse erster Kategorie, über ein Jahrhundert alt.

Als er noch Priester war, glaubte er seinen Frieden gefunden zu haben, seine Berufung, aber erst nachdem er das alles aufgab und ins Exil ging, hatte Saul wirklich das gefunden, wonach er suchte. Er hatte ein gutes Jahr gebraucht, um das zu verstehen: Beim Predigen hatte er etwas nach außen projiziert, hatte sich der Welt aufgedrängt, und die Welt hatte auf ihn zurückprojiziert. Aber sich um den Leuchtturm zu kümmern bedeutete, nach Innen zu schauen, und das fühlte sich weniger anmaßend an. Hier ging es nur um das Praktische, das, was er von seinem Vorgänger gelernt hatte: die Pflege der Linse, das akkurate Funktionieren von Ventilator und Linsen-Verschlussklappe, wie man die Anlage in Ordnung hält, wie man all das repariert, was kaputtgeht – die alltäglichen Arbeiten. Jeder Teil dieser Routine war ihm willkommen, er genoss es, keine Zeit zu haben, über die Vergangenheit nachdenken zu müssen, und deshalb machten ihm die gelegentlichen Überstunden auch nichts aus – besonders jetzt, wo er immer noch Charlies Umarmungen spürte.

Aber dieses Gefühl schwand schnell, als er sah, wer ihn auf dem Schotterparkplatz erwartete, der wie das ganze Gelände von einem makellosen weißen Zaun eingefasst wurde. Der ramponierte Kombi war ihm, wie auch die beiden Adepten der Séance-&-Science-Brigade, nur allzu bekannt. Sie hatten sich wieder herangeschlichen, um seine gute Stimmung zu ruinieren, und sogar schon ihre Ausrüstung neben dem Wagen gestapelt – sie konnten es offenbar kaum erwarten, loszulegen. Er winkte ihnen von Weitem halbherzig zu.

Inzwischen waren sie ständig hier, führten Messungen durch und fotografierten, fütterten ihre sperrigen Tonbandgeräte mit Berichten, drehten ihre dilettantischen Filme. Auf der Suche nach … was? Er kannte die Geschichte der hiesigen Küste, wusste, wie durch Abgeschiedenheit und Stille das Profane überhöht wurde. Wie durch diese Orte und den Nebel und die leeren Strände die Gedanken sich dem Unheimlichen zuwandten und anfingen, aus nichts eine Geschichte zu machen.

Saul ließ sich Zeit, weil sie ihn langweilten und inzwischen ziemlich berechenbar waren. Sie waren zu zweit unterwegs, der eine für die Séance, der andere für die Wissenschaft zuständig, und er fragte sich manchmal, was sie wohl wie miteinander besprachen – voller innerer Widersprüche, genau wie er zum Ende seiner Predigerzeit, als die Diskussionen in seinem Kopf nicht verstummen wollten. Zuletzt waren immer dieselben gekommen: ein Mann und eine Frau, beide Mitte zwanzig, obwohl sie ihm manchmal wie Teenager vorkamen, ein Junge und ein Mädchen, die von zu Hause mit einem Chemiebaukasten und einem Ouija-Board unterm Arm ausgerissen waren.

Henry und Suzanne. Saul hatte angenommen, dass die Frau für den Aberglauben zuständig war, aber sie stellte sich als die Wissenschaftlerin heraus – welches Fach wohl? –, während er sich der Erforschung des Unheimlichen widmete. Henry sprach mit einem leichten Akzent, den Saul nicht zuordnen konnte, der aber alles, was er sagte, mit Bedeutsamkeit und Autorität auflud. Er war untersetzt und so glatt rasiert, wie Saul bärtig war; er hatte dunkle Schatten unter den blassblauen Augen und trug das schwarze Haar in einem Topfschnitt, der die ungewöhnlich hohe und zumeist bleiche Stirn verdeckte. Weltliche Dinge wie die winterliche Jahreszeit schienen Henry nicht zu interessieren, denn er trug immer die gleiche Kombination von zartblauem Button-down-Hemd und Anzughose. Die glänzenden schwarzen Stiefeletten mit Reißverschluss waren mehr für die Straßen der Stadt als fürs Gelände gemacht.

Suzanne schien mehr ein »Hippie« zu sein, wie die Leute das heutzutage nannten, aber zu Sauls Jugendzeiten hätten sie wohl eher von Kommunisten oder Zigeunern gesprochen. Sie hatte blonde Haare und trug eine bestickte, weiße Bauernbluse sowie einen braunen Wildlederrock, der ihr über die Knie und fast bis zu den wadenhohen braunen Stiefel reichte. Frauen wie sie waren ab und zu mal bei seinen Predigten aufgetaucht – verlorene Gestalten, die nur in ihrem eigenen Kopf lebten und auf etwas warteten, das sie erleuchtete. Sie wirkte zerbrechlich, was sie wie eine Art Schwester von Henry erscheinen ließ.

Keiner von beiden hatten ihm einen Nachnamen verraten, obwohl einer von ihnen mal etwas von »Serum-Liste« gesagt hatte, was aber keinen Sinn ergab. Wenn Saul ehrlich war, wollte er sie auch nicht näher kennenlernen und nannte sie hinter ihrem Rücken »die Fliegen-Brigade«, wie von »Fliegengewicht«.

Als Saul schließlich vor ihnen stand, begrüßte er sie mit einem knurrigen ›Hallo‹, und wie häufig benahmen sich die beiden, als sei er ein Angestellter im Lebensmittelladen des Dorfes und der Leuchtturm eine öffentliche Einrichtung, die Dienstleistungen anbot. Ohne die Genehmigung der Parkverwaltung hätte er ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen.

»Saul, warum sehen Sie so unglücklich drein, wo doch ein so schöner Tag ist«, sagte Henry.

»Saul, es ist wirklich ein so schöner Tag«, ergänzte Suzanne.

Er rang sich ein Nicken und ein mürrisches Lächeln ab, was beide in Lachkrämpfe verfallen ließ, die er ignorierte.

Aber sie redeten weiter auf ihn ein, während er die Tür aufschloss. Sie wollten immer reden, obwohl er es lieber gesehen hätte, wenn sie sich einfach um ihre Sachen gekümmert hätten. Dieses Mal ging es um etwas, das sie »nekromantische Dopplung« nannten, um den Bau eines dunklen Raums voller Spiegel, soweit er verstand. Es war ein merkwürdiger Begriff und er hörte über ihre Erklärungen hinweg, konnte keine Verbindung mit dem Leuchtfeuer oder seinem Leben im Leuchtturm erkennen.

Die Leute hier waren nicht dumm, aber sie waren abergläubisch, und angesichts des zuweilen menschenfressenden Meers konnte man ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Ein Glücksbringer an einer Halskette konnte ebenso wenig Schaden anrichten wie ein paar Gebete für die Sicherheit eines geliebten Menschen. Jeder, der von außen kam und nach Erklärungen suchte, die Dinge »analysieren und untersuchen« wollte, wie Suzanne es ausgedrückt hatte, stieß die Leute ab, denn er trivialisierte alle zukünftigen Tragödien. Aber so wie man sich an diese nervigen Ratten der Lüfte gewöhnte, die Möwen, so gewöhnte man sich nach einer Weile auch an die »Brigade«. An besonders eintönigen Tagen freute er sich beinahe über ihre Anwesenheit. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?

»Henry glaubt, dass das Leuchtfeuer so ziemlich wie ein nekromantischer Raum funktionieren könnte«, sagte Suzanne, als wäre das eine bedeutende und verblüffende Erkenntnis. Ihr Enthusiasmus schien ihm sowohl ernst gemeint und authentisch als auch leichtfertig und amateurhaft. Manchmal erinnerten ihn die beiden an reisende Prediger, die ihre Zelte an den Rändern kleiner Städte aufbauten und nicht viel mehr als ihren religiösen Eifer zu bieten hatten. Manchmal hielt er sie für Scharlatane. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte Saul Henry so verstanden, dass sie die Lichtbrechung in einem geschlossenen System untersuchen wollten.

»Kennen Sie diese Theorien?«, fragte Suzanne, während sie die Treppen hinaufstiegen; sie trug einen Koffer, und die Kamera um den Hals wie Schmuck. Henry versuchte, nicht allzu angestrengt auszusehen, und schwieg. Er war schwer mit der Ausrüstung bepackt, die zum Teil in einer Kiste verstaut war: Mikrofone, Kopfhörer, UV-Messgeräte, 8mm-Kameras und einen Haufen Geräte mit Skalen, Drehknöpfen und anderen Anzeigen.

»Nein«, sagte Saul – hauptsächlich, um ihr zu widersprechen, denn Suzanne behandelte ihn häufig wie einen Kulturbanausen, hielt seine schroffen Umgangsformen für Unwissenheit und seine legere Kleidung für die eines Simpels. Und davon abgesehen waren sie in seiner Gegenwart umso entspannter, je weniger er sagte. Es war fast so wie mit potenziellen Spendern während seiner Zeit als Prediger. Außerdem wusste er wirklich nicht, wovon sie sprachen, und genauso wenig hatte er verstanden, was Henry meinte, als er erzählte, sie würden das »Trottoir« oder den »Terror« der Gegend untersuchen, auch wenn er das Wort T-e-r-r-o-i-r buchstabiert hatte.

»Präbiotische Partikel«, quetschte Henry fröhlich, aber keuchend hervor. »Kinetische Energien.«

Suzanne stieg darauf mit einem längeren Vortrag über Spiegel ein und Dinge, die aus Spiegeln heraussehen können, und wie man mehr über die wahre Natur von Sachen erfuhr, wenn man sie nicht direkt, sondern von der Seite her ansah, und während sie so redete, überlegte Saul, ob die beiden wohl ein Liebespaar waren. Ihr plötzlicher Enthusiasmus für den übersinnlichen Teil der Brigade hatte vielleicht ganz prosaische Gründe. Das würde auch ihre Lachkrämpfe bei der Begrüßung erklären. Aber er hatte erst mal genug. Auch wenn es kleinlich war, er wollte sich noch der Stimmung hingeben, die die Nacht mit Charlie bei ihm ausgelöst hatte.

»Wir sehen uns oben«, sagte er deshalb und sprang die Stufen hoch, nahm immer zwei auf einmal, während sich Suzanne und Henry hinter ihm abmühten und schnell außer Sicht waren. Er wollte so viel Zeit wie möglich alleine oben in der Spitze verbringen. Die Verwaltung würde ihn mit fünfzig in den Ruhestand schicken, so war es vorgeschrieben, aber bis dahin wollte er seine Form halten. Trotz des Stechens in den Gelenken.

Oben angekommen und keineswegs außer Atem war Saul glücklich, dass im Laternenraum noch alles so war, wie er es zurückgelassen hatte, die Schutzhülle über das Leuchtfeuer gestülpt, um sowohl Kratzer als auch Einfärbungen durch Sonnenstrahlen zu vermeiden. Er musste nur die Vorhänge vor dem umlaufenden Geländer zurückziehen, um Licht hereinzulassen. Nur für ein paar Stunden am Tag, sein Zugeständnis an Henry.

Einmal hatte er von seinem Aussichtspunkt aus etwas Riesiges durch die Gewässer jenseits der Sandbänke gleiten sehen, eine Art Schatten von düsterem und tiefem Grau, der sich wie eine mächtige, geschmeidige Kontur im Blau des Wassers abzeichnete. Selbst mit Fernglas hatte er nicht erkennen können, um welche Kreatur es sich handelte, oder was daraus werden mochte, wenn er nur lange genug darauf starrte. Wusste nicht, ob es schließlich in Tausende von Schatten zerspringen würde, sich als Fischschwarm entpuppte oder als Illusion, die bei Änderung der Farbe des Wassers oder Intensität des Lichts einfach verschwand. In diesem Spannungsfeld zwischen Wissen und Nichtwissen um das Alltägliche fühlte er sich auf eine Art wohl, die er vor fünf Jahren noch nicht gekannt hatte. Er brauchte keine größeren Mysterien als diese Augenblicke, in denen sich die Welt so wunderbar zeigte wie in seinen früheren Predigten. Außerdem war das eine gute Geschichte für die Bar unten im Dorf, genau die Art Geschichte, die man von einem Leuchtturmwärter erwartete – wenn man überhaupt etwas von einem Leuchtturmwärter erwartete.

»Und deshalb ist das für uns so interessant, wie die Linse hierhergekommen ist, und wie das mit der ganzen Geschichte der beiden Leuchttürme zusammenhängt«, sagte Suzanne in seinem Rücken. Sie hatte offensichtlich einfach weitergeredet, auch als Saul schon längst weg war, und schien jetzt zu glauben, er hätte irgendetwas geantwortet. Hinter ihr brach Henry fast zusammen, obwohl dieser Aufstieg für beide inzwischen zur Routine gehörte.

Als er die Ausrüstung abgestellt hatte und wieder zu Atem gekommen war, sagte Henry: »Sie haben wirklich einen tollen Blick von hier oben.« Er sagte das jedes Mal, und Saul hatte aufgehört, darauf zu antworten oder gar etwas Nettes zu erwidern.

»Wie lange wollt ihr eigentlich bleiben?«, fragte Saul. Die beiden waren jetzt schon zwei Wochen zugange, und bisher war er dieser Frage immer ausgewichen, weil er die Antwort fürchtete.

Henrys umwölkter Blick verengte sich. »Unsere aktuelle Genehmigung läuft bis zum Ende des Jahres.« Irgendeine alte Verletzung oder ein Geburtsfehler brachte es mit sich, dass sein Kopf nach rechts geneigt war, und besonders wenn er sprach, berührte sein rechtes Ohr beinahe die hochgezogene Schulter. Es gab ihm etwas Roboterhaftes.

»Nur zur Erinnerung: Ihr dürft das Leuchtfeuer berühren, aber nichts tun, was seine Funktion stören könnte.« Saul hatte diese Warnung jedes Mal, seit sie aufgetaucht waren, wiederholt, denn manchmal hatten sie merkwürdige Vorstellungen davon, was sie tun durften und was nicht.

»Keine Panik, Saul«, sagte Suzanne, und er biss die Zähne zusammen, als sie ihn mit seinem Vornamen anredete. Am Anfang hatten sie noch Mr. Evans zu ihm gesagt, und das war ihm weitaus lieber gewesen.

Es machte ihm mehr als die übliche kindische Freude, ihnen den Platz auf dem Teppich zuzuweisen, unter dem sich die Falltür zu einem umgebauten Wachraum befand, in dem früher, bevor alles automatisiert wurde, all das untergebracht war, was man zum kontinuierlichen Unterhalt des Lichts brauchte. Diesen Raum vor ihnen geheim zu halten gab ihm das Gefühl, einen Teil seines Kopfes ihren Experimenten zu entziehen. Doch wären die beiden die aufmerksamen Beobachter gewesen, für die sie sich hielten, dann wäre ihnen sicher aufgefallen, dass die Stufen kurz vor der Spitze schmaler wurden.

Als er damit zufrieden war, wie sie alles aufgebaut hatten, und es unwahrscheinlich schien, dass sie etwas beschädigen konnten, nickte er ihnen zu und ging. Auf halbem Weg nach unten vermeinte er ein Geräusch zu hören, als würde etwas zerbrechen. Aber dabei blieb es. Er zögerte, tat es dann aber mit einem Schulterzucken ab und ging weiter nach unten.

Draußen werkelte Saul auf dem Gelände herum und räumte den Geräteschuppen auf, der ein einziges Chaos war. Schon mehr als ein Küstenwanderer hatte sich von einem Leuchtturmwärter überrascht gezeigt, der auf dem Gelände seines Turms herumfuhrwerkte wie ein Einsiedlerkrebs, der aus seinem Haus gekrochen war. Es gab allerdings wirklich viel instand zu halten, denn der Verschleiß durch Stürme und die salzige Luft war hoch. Im Sommer war diese Arbeit wegen der Hitze und den Stechfliegen deutlich mühsamer.

Während er das Boot hinter dem Schuppen inspizierte, hatte sich unbemerkt das Mädchen genähert. Der Schuppen grenzte an einen Grat aus Erde und Muschelkalk, der parallel zum Strand verlief; zum Meer hin erstreckte sich eine Reihe Felsen. Bei Flut schäumte das Wasser hoch genug, um kleine Gezeitenbecken voller Seeanemonen, Seesternen, Blaukrabben, Schnecken und Seegurken zurückzulassen.

Gloria war für ihre neun Jahre – »Neuneinhalb!« – kräftig und groß gebaut, und obwohl sie manchmal auf diesen Felsen ins Schwanken geriet, waren ihre Gedanken klar und präzise, was Saul bewunderte. Wohingegen sein eigenes Gehirn im fortgeschrittenen Alter schon mal ein oder zwei Gänge zurückschaltete.

Da war sie also wieder, eine stämmige Erscheinung auf den Felsen, in ihrer Winterkleidung – Jeans, Kapuzenjacke über dem Pullover, dicke Stiefel an den großen Füßen; er beendete die Arbeit am Boot und schob eine Schubkarre mit Abfällen auf die andere Seite des Turms. Sie redete mit ihm. Sie redete immer mit ihm, seit sie vor etwa einem Jahr angefangen hatte, ihn zu besuchen.

»Weißt du, meine Vorfahren haben hier gewohnt«, sagte sie. »Mama hat gesagt, genau hier, wo der Leuchtturm steht.« Für ihr Alter war ihre Stimme tief und voll, was ihn manchmal erschreckte.

»Meine auch, mein Kind«, verriet ihr Saul und kippte die Schubkarre auf dem Komposthaufen aus. Allerdings bestand die andere Hälfte seiner Familie aus einer merkwürdigen Mischung von Rum-Schmugglern und Fanatikern, die – wie er in der Bar gerne erzählte – »in dieses Land auf der Flucht vor der Religionsfreiheit« gekommen waren.

Gloria ließ sich diese Aussage einen Augenblick lang durch den Kopf gehen und sagte dann: »Aber nicht vor meinen.«

»Macht das was?« Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, ein paar Stellen des Bootes zu kalfatern.

Das Kind runzelte die Stirn; es war ein sehr kräftiges Stirnrunzeln, und er spürte, wie sich sein Nacken zusammenzog. »Ich weiß nicht.« Er schaute ihr zu, wie sie aufhörte, von Stein zu Stein zu hüpfen, und offenbar beschlossen hatte, auf einem der scharfkantigen Felsblöcke hin und her zu wippen. Bei diesem Anblick krampfte sich sein Magen zusammen, aber er wusste, dass sie niemals abrutschte, obwohl sie immer mal kurz davor schien; und jedes Mal, wenn er sie darauf ansprach, ignorierte sie ihn.

»Ich glaube schon«, sagte sie, um das Gespräch fortzusetzen. »Ich glaube, es macht was.«

»Ich bin zu einem Achtel Indianer«, sagte er. »Ich war auch hier. Ein Teil jedenfalls.« Wozu auch immer das gut gewesen sein mochte. Ein entfernter Verwandter hatte ihm von diesem Leuchtturmwärter-Job erzählt, das stimmte schon, aber keiner hatte sich darum gerissen.

»Was soll’s«, sagte sie, sprang zum nächsten scharfkantigen Brocken und balancierte armschwingend darüber hinweg, während Saul aus Sorge um sie ein paar Schritte auf sie zu machte.

Den größten Teil der Zeit nervte sie ihn einfach, aber er hatte es noch nicht geschafft, sie loszuwerden. Ihr Vater lebte irgendwo im Landesinneren; die Mutter hatte zwei Jobs und wohnte in einem Bungalow ein Stück die Küste hinauf. Die Mutter musste mindestens einmal pro Woche in das weit entfernte Bleakersville fahren und war wohl der Meinung, ihr Kind könne ab und an auch mal alleine klarkommen. Besonders, wenn der Leuchtturmwärter auf es aufpasste. Und der Leuchtturm strahlte eine Faszination für Gloria aus, die er auch mit seinen langweiligen Wartungsarbeiten am Schuppen und den Schubkarrentouren zum Komposthaufen nicht hatte brechen können.

Auch im Winter war sie die meiste Zeit alleine – draußen im Watt, das sich nach Westen erstreckte –, stocherte in den Löchern der Winterkrabben herum, jagte einem halb zahmen Hasen hinterher oder starrte Kojoten- oder Bärenkot an, als ob der ihr ein Geheimnis verraten würde. Was gerade so im Angebot war.

»Was sind das für merkwürdige Leute, die sich hier rumtreiben?«, fragte sie jetzt.

Das brachte ihn fast zum Lachen. Es gab eine Menge merkwürdige Leute, die hier an der vergessenen Küste Unterschlupf gefunden hatten, inklusive ihm selbst. Ein paar versteckten sich vor der Regierung, einige vor sich selbst und andere vor ihren Ehepartnern. Ein paar wähnten sich dabei, einen souveränen Staat zu gründen. Manche waren wahrscheinlich illegal hier. Die Leute hier draußen stellten Fragen, aber sie erwarteten keine ehrliche Antwort. Nur eine fantasievolle.

»Wen genau meinst du?«

»Die mit den Pfeifen.«

Saul brauchte einen Augenblick, und so lange hielt sich ein Bild vor seinen Augen, auf dem Henry und Suzanne am Strand herumsprangen und wie verrückt an ihren Pfeifen sogen.

»Pfeifen. Nein, das waren keine Pfeifen. Das war etwas anderes.« Eher so wie große Moskitospiralen. Er hatte der Fliegen-Brigade im letzten Sommer erlaubt, die Spiralen für ein paar Monate im Hinterzimmer des Erdgeschosses unterzustellen. Doch wie zum Kuckuck hatte sie das überhaupt mitbekommen?

»Aber wer ist das?«, bohrte sie nach und balancierte wieder auf zwei Felsblöcken; was hieß, dass Saul durchatmen konnte.

»Sie kommen von der Insel weiter oben an der Küste.« Was stimmte – sie hatten ihre Basis auf Failure Island; dort gab es Dutzende von ihnen, ein richtiger Karnickelstall. »Ein Testgelände«, wie in der Gerüchteküche der Bar im Dorf gemunkelt wurde, und dort wusste man eine gute Geschichte wirklich zu schätzen. Privatforscher, die mit Billigung der Regierung Messungen vornahmen. Aber Teil der Gerüchte war auch, dass die S&S-Brigade noch andere Aufgaben hatte, düsterere. Waren es Ordnungsliebe und Präzision einiger ihrer Mitglieder, oder die Desorganisation anderer, die zu diesen Gerüchten führten? Oder war das nur ein Haufen gelangweilter, betrunkener Rentner, die aus ihren Wohnwagen krochen und Geschichten spannen?

Er wusste einfach nicht, was sie da draußen auf der Insel trieben, oder was sie mit der Ausrüstung im Erdgeschoss vorhatten, ja nicht einmal, was Henry und Suzanne jetzt gerade auf der Spitze des Leuchtturms trieben.

»Sie mögen mich nicht«, sagte Gloria. »Und ich mag sie nicht.«

Er musste schmunzeln, und besonders darüber, wie sie das sagte – so unverfroren und mit verschränkten Armen, als hätte sie gerade beschlossen, dass die beiden ihr unsterblicher Feind seien.

»Lachst du über mich

»Nein«, sagte er. »Nein, tu ich nicht. Aber du bist eine neugierige Person. Du stellst Fragen. Darum können sie dich nicht leiden. Das ist alles.« Leute, die Fragen stellen, waren nicht zwangsläufig davon begeistert, wenn andere ihnen Fragen stellten.

»Was ist falsch daran, Fragen zu stellen?«

»Nichts.« Alles. War die Frage erst einmal gestellt, wurde aus Gewissheit Zweifel. Fragen öffneten das Tor für Unsicherheit. Sein Vater hatte ihm das verraten: »Lass sie keine Fragen stellen. Du hast ihnen doch schon die Antworten gegeben, auch wenn sie es nicht wissen.«

»Aber du bist doch auch neugierig«, sagte sie.

»Wie kommst du darauf?«

»Du bist der Hüter des Lichts. Und Licht sieht alles.«

Vielleicht sah das Licht alles, aber er hatte vergessen, ein paar Dinge zu erledigen, Dinge, die ihn länger vom Leuchtturm fernhalten würden, als ihm lieb war. Er schob die Schubkarre über den Schotter und stellte sie neben den Kombi. Er hatte ein vages, aber dringendes Gefühl, nachschauen zu sollen, was Henry und Suzanne machten. Was, wenn sie die Falltür gefunden und etwas Dummes angestellt hatten, zum Beispiel hinunterfallen und sich ihre merkwürdigen kleinen Hälse brechen? In diesem Augenblick sah er nach oben und sah Henry von dem Geländer hoch über ihm herunterschauen, woraufhin er sich albern vorkam. Als wäre er paranoid. Henry winkte, oder war das eine andere Geste? Benommen vom Gleißen der Sonne und orientierungslos wandte Saul sich ab und senkte den Kopf.

Und da sah er es. Etwas glitzerte ihm vom Rasen entgegen – halb verdeckt von einer Pflanze, die zwischen ein paar Grasbüscheln wuchs, da, wo er vor ein paar Tagen ein totes Eichhörnchen gefunden hatte. Glas? Ein Schlüssel? Die dunkelgrünen Blätter bildeten annähernd einen Kreis, der das, was darunter lag, verbarg. Er kniete nieder, schirmte die Augen mit der Hand ab, aber das glitzernde Ding blieb unter den Blättern verborgen, oder war es Teil eines Blatts? Was immer das sein mochte, es war unermesslich zart, obwohl es ihn widersinnigerweise an die vier Tonnen schwere Linse hoch über seinem Kopf erinnerte.

Die Sonne war eine flüsternde Scheibe in seinem Rücken. Es war wärmer geworden, aber es ging eine leichte Brise, die die Wedel der kleinen Palmen rasseln ließ. Irgendwo hinter ihm war das Mädchen und sang ein albernes Lied; es war schneller von den Felsen heruntergekommen, als er erwartet hatte.

In diesem Augenblick existierte für ihn nichts anderes als die Pflanze und dieses Glitzern, das er nicht genauer bestimmen konnte.

Er trug immer noch die Handschuhe und streckte die Hand nach dem Glitzerding aus, strich über die Blätter. War das eine kleine Lichtspirale, die sich bewegte? Es erinnerte ihn an den Blick in ein Kaleidoskop, mal abgesehen von diesem intensiven Weiß. Aber was auch immer da waberte und glitzerte, es wich seinem Zugriff aus, und er schien kurz davor, ohnmächtig zu werden.

Erschrocken zuckte er zurück.

Aber es war zu spät. Er spürte, wie eine Art Splitter in seinen Daumen eindrang. Es tat nicht weh, nur ein kurzer Druck und dann Taubheit, aber trotzdem sprang er überrascht auf, jaulte und wedelte mit der Hand hin und her. Fieberhaft riss er sich den Handschuh herunter und untersuchte seinen Daumen. Wohl wissend, dass Gloria ihn beobachtete, unsicher, was sie davon halten sollte.

Jetzt glitzerte nichts mehr auf dem Boden vor ihm. Kein Licht am Fuß der Pflanze. Kein schmerzender Daumen.

Langsam beruhigte sich Saul. Kein klopfender Schmerz im Daumen. Kein Einstich, keine Wunde. Er hob den Handschuh auf, untersuchte ihn, fand keine Spuren.

»Stimmt was nicht?«, fragte Gloria. »Bist du gestochen worden?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er.

Dann spürte er ein weiteres Augenpaar auf sich ruhen, drehte sich um, und da stand Henry. Wie war der bloß so schnell die Treppe heruntergekommen? War mehr Zeit vergangen, als er glaubte?

»Ja – was Schlimmes passiert, Saul?«, fragte Henry, aber Saul sah sich außerstande, die geäußerte Besorgnis im Tonfall der Frage wiederzufinden. Sie klang völlig nüchtern. Von einem merkwürdigen Eifer abgesehen.

»Nichts Schlimmes passiert«, sagte er beklommen, obwohl er keinen Grund für seine Unruhe sah. »Hab mich nur in den Daumen gestochen.«

»Durch den Handschuh? Das muss aber ein Dorn gewesen sein.« Henry suchte den Boden mit den Augen ab wie jemand, der seine Lieblingsuhr oder ein Portemonnaie voller Geld verloren hatte.

»Mir geht’s gut, Henry. Mach dir um mich keine Sorgen.« Ärgerlich, weil er sich wegen nichts albern aufzuführen schien, aber er wollte auch, dass Henry ihm glaubte. »Vielleicht war es ein elektrischer Schlag.«

»Vielleicht …« Der Schimmer in den Augen des Mannes war wie ein kaltes Leuchtfeuer, das Saul von sehr weit anstrahlte, als würde Henry eine komplett andere Botschaft übermitteln.

»Nichts Schlimmes passiert«, sagte er wieder.

Nichts Schlimmes.

Tatsächlich?

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