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0004: DER LEUCHTTURMWÄRTER
ОглавлениеGürteltiere verwüsten den Garten, aber ich will eigentlich kein Gift auslegen. Die Meertraubenbäume müssen zurückgeschnitten werden. Werde eine Liste der morgigen Wartungsarbeiten machen. Feuer auf Failure Island, aber schon gemeldet und nichts Großes. Gesichtet: Albatrosse, nicht identifizierte Seeschwalben, Rotfuchs (der aus einer Höhle im östlichen Palmenhain lugt und einen Wanderer fixiert, der ihn aber nicht bemerkt), irgendeine Art Fliegenschnäpper, eine Herde Delfine, die Richtung Osten rast, als würden sie einen Schwarm Meerbarben durch das Seegras der Untiefen jagen.
Saul wusste, dass auch Körper Leuchtfeuer sein konnten. Ein Leuchtturm war ein stationäres Leuchtfeuer für einen bestimmten Zweck; ein Mensch war ein bewegliches Leuchtfeuer. Denn auch Menschen strahlten Licht aus, auf ihre eigene Art, das meilenweit als Warnung leuchtete, als Einladung, oder einfach als ruhendes Signal. Menschen öffneten sich, sodass sie zu leuchten anfingen, oder sie erloschen. Manchmal kehrten sie ihr Licht nach innen, sodass man es nicht sehen konnte, weil sie keine andere Wahl hatten.
»Das ist Schwachsinn«, sagte Charlie; es war Nacht, sie hatten Sex gehabt und Saul hatte ihm das etwa so erklärt. »Werd bloß kein Spökenkieker.« Saul hatte Charlie überredet, ausnahmsweise mal mit zum Leuchtturm zu kommen; ein ungewöhnliches Ereignis, denn Charlie hatte für ihn immer noch etwas Scheues, Kapriziöses. Sein Vater hatte ihn geschlagen und die Familie vor die Tür gesetzt, und in den seither vergangenen zwanzig Jahren hatte Charlie sein Schneckenhaus nie richtig verlassen. Es war ein kleiner, zögerlicher Schritt vorwärts – es machte Saul glücklich, dass er ein klein wenig Sicherheit geben konnte.
»Mein Vater hat das in einer Predigt gesagt. Die beste, die er je gehalten hat.« Er spannte die Hand an, um zu sehen, ob der Zwischenfall mit der Pflanze noch Beschwerden verursachte. Nichts zu spüren.
»Vermisst du es manchmal? Kein Prediger mehr zu sein?«
»Nein, ich mache mir nur so meine Gedanken über die Fliegen-Brigade«, sagte er. Noch immer löste alles, was sich um sie drehte, Unwohlsein in ihm aus. Sie hatten eine Aura, die er nicht verstand – aber was steckte dahinter?
»Ach die«, sagte Charlie mit einem gespielten Gähnen und drehte sich auf den Rücken. »Sie lassen dir einfach keine Ruhe, was? Ein Haufen Verrückter – wie du.« Der Nachsatz klang zärtlich.
Später, als er schon wegdämmerte, murmelte Charlie: »Ist nicht verrückt. Diese Leuchtfeuersache. Ist ein schöner Gedanke irgendwie. Vielleicht.«
Vielleicht. Saul wusste immer noch nicht genau, ob Charlie in diesen Dingen ehrlich war. Manchmal war ihm ihr Leben zwischen den Laken ein Rätsel, das keinen Bezug zur Realität da draußen hatte.
Aber es kam auch vor, dass andere Menschen dir ihr Licht schenkten, das nur noch zu flackern schien, kaum noch sichtbar, da niemand sich darum kümmerte. Weil sie zu viel gegeben und nichts für sich selbst zurückbehalten hatten.
Am Ende fühlte er sich in seiner Kirche wie ein Leuchtfeuer, dessen Licht erschöpft war, von einem Flackern und Flimmern tief in ihm mal abgesehen – das von seinen Worten ausging, den Worten aus seinem Mund, und es machte keinen Unterschied, welches Licht sie schufen, nicht für seine Gemeinde, denn die hörte ihm nicht zu, sondern schaute auf ihn. So oder so war seine Botschaft bestenfalls eine merkwürdige Mischung gewesen, die gleichermaßen Hippies wie Puritaner anzog, weil er sich sowohl auf das Alte Testament als auch den Deismus bezog und auf die esoterischen Bücher, die ihm im Haus seines Vaters zur Verfügung standen. Damit hatte sein Vater wohl kaum gerechnet: Seine Bibliothek eröffnete dem Sohn Welten, die der alte Herr niemals betreten hätte, sie war viel liberaler gewesen als der Mann selbst.
Die gewaltige Umstellung machte Saul zuweilen noch zu schaffen – gerade noch im Zentrum aller Aufmerksamkeit zu stehen, und dann ein Niemand zu sein. Aber es hatte kein Drama um seine aufgegebene Gemeinde im Norden gegeben, keine erschütternde Offenbarung, mal abgesehen davon, dass seine Predigten und Gedanken nicht immer deckungsgleich waren und er diese Diskrepanz zumeist als Manifestation einer Buße für sowohl eingebildete als auch wirkliche Sünden verstand. Und er an einem schrecklichen Tag begriff, dass seine Leidenschaft ihn getrogen hatte, dass er zur Botschaft zu werden drohte.
Als Saul aufwachte, war Charlie gegangen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Aber so etwas hätte sentimental gewirkt, und Charlie war ein Leuchtfeuer, das sich diese Art Licht nicht gestattete.
Am Nachmittag sah er Gloria am Strand spazieren gehen, winkte ihr zu, war sich nicht sicher, ob sie ihn gesehen hatte, bis sie den Kurs änderte und langsam auf ihn zusteuerte. Sie würde sich hüten, zu offensichtlich ein Gespräch mit ihm zu suchen, das war ihm klar. Ging ihr wahrscheinlich gegen die Ehre.
Er war dabei, die Löcher aufzufüllen, die die Gürteltiere im Garten bis zu den Wurzeln hinab gebuddelt hatten. Die Löcher hatten in etwa die Form ihrer Rüssel und amüsierten ihn. Er wusste nicht genau, warum, aber diese Arbeit machte ihn auf eine unbestimmte Art glücklich. Und dass die Zwillinge, Henry und Suzanne, viel später als sonst dran waren, verstärkte das Gefühl noch.
Nach einem wolkenverhangenen Morgen war es ein fantastischer Tag geworden. Das Meer schimmerte aquamarin über den düsteren Schatten des Seegrases. Am äußersten Rand eines tiefblauen Himmels war der Kondensstreifen eines Flugzeugs ein Symbol für die Verachtung, der die Bewohner der vergessenen Küste ausgesetzt waren. Er versuchte die Felsen zu ignorieren, die vom weißen Kot der Kormorane glitschig waren.
»Warum tust du nichts gegen diese Gürteltiere?«, fragte Gloria, als sie schließlich den Leuchtturm erreicht hatte. Sie musste in Schlangenlinie über den Strand gegangen sein, abgelenkt von den Schätzen, die das Meer angespült haben mochte.
»Ich mag Gürteltiere«, verkündete er.
»Old Jim sagt, sie sind Schädlinge.«
Old Jim. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie Old Jim ins Feld führte, wenn sie recht behalten wollte. Old Jim lebte irgendwo am Ende des Kreuz-und-Quers von Schotterstraßen in einer besseren Bretterbude, die neben einer illegalen Deponie für chemische Abfälle stand. Niemand wusste etwas über sein früheres Leben, bevor es ihn an die vergessene Küste verschlagen hatte, aber jetzt fungierte er gelegentlich als Wirt der Bar im Dorf.
»Soso, das sagt also Jim?« Er achtete darauf, die Erde ordentlich festzustampfen, obwohl er sich schon merkwürdig erschöpft fühlte. Ein weiterer Sturm, und er würde die ganze Grasnabe ausbessern müssen.
»Das sind gepanzerte Ratten.«
»So wie Möwen die Ratten der Lüfte sind?«
»Wie bitte? Weißt du, du könntest Fallen aufstellen.«
»Dafür sind die viel zu clever.«
Sie sah ihn von der Seite an und sagte langsam: »Ich glaube, Saul, das stimmt nicht.«
Als sie Saul sagte, wusste er, dass er vielleicht in der Klemme steckte. Warum dann nicht gleich das ganze Programm? Davon abgesehen brauchte er eine Pause, er schwitzte bereits stark.
»Eines Tages«, sagte er und stützte sich auf den Spaten, »werden sie durch das Küchenfenster reinkommen. Einer stellt sich auf den anderen, und dann knacken sie den Riegel.«
»Eine Gürteltier-Pyramide!« Aber dann kam ihre kindliche Umsicht zurück. »Das stimmt, glaube ich, auch nicht.«
Die Wahrheit war, er mochte die Gürteltiere. Er fand sie lustig – linkisch, aber aufrichtig. In einem Naturführer hatte er gelesen, dass Gürteltiere »schwammen«, indem sie auf dem Grund der Flüsse entlanggingen und dabei den Atem anhielten, ein Detail, das ihn gefesselt hatte.
»Sie können zur Plage werden«, gab er zu. »Also vielleicht hast du recht.« Wenn er nicht ein kleines Zugeständnis machte, das wusste er, würde sie beinhart auf ihrem Standpunkt bestehen.
»Old Jim sagt, du bist verrückt, weil du ein Känguru hier in der Gegend gesehen hast.«
»Vielleicht solltest du mal aufhören, dich bei Old Jim herumzutreiben.«
»Habe ich nicht. Er wohnt auf einer Deponie. Er wollte meine Mutter sehen.«
Aha – ein Termin beim Doktor. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, oder vielleicht war es auch nur der kalte Schweiß der Strapazen. Er hatte nichts an Jim auszusetzen, aber der Gedanke, dass sie so weit und verwegen umherstreifte, beunruhigte ihn. Obwohl Charlie ihm mehr als einmal klargemacht hatte, dass Gloria die Gegend besser kannte als er.
»Also hast du nun ein Känguru gesehen?«
Mein Güte, so war das also, wenn man Kinder hatte!
»Na ja, nicht wirklich. Ich habe etwas gesehen, das wie ein Känguru aussah.«
Die Ortsansässigen machten immer noch Witze darüber, aber er hätte schwören können, dass er eins gesehen hatte, wenn auch nur flüchtig in der Hochstimmung des ersten Jahres, als er hier so viele ihm neue Wanderwege erkundete.
»Ach, hätte ich fast vergessen. Ich bin aus einem Grund hierhergekommen«, sagte sie.
»Ja?«
»Old Jim sagte, er hätte im Radio gehört, dass die Insel brennt, ich wollte schauen, ob ich das besser vom Leuchtturm aus sehen kann. Durch das Teleskop?«
»Wie bitte?« Er ließ den Spaten fallen. »Was heißt das, die Insel brennt?« Soweit er wusste, war da drüben niemand, nur die Mitglieder der Fliegen-Brigade, aber zu seinem Job gehörte es auch, Zwischenfälle wie ein Feuer zu melden.
»Nicht die ganze Insel«, sagte sie. »Nur ein Teil davon. Bitte lass mich gucken. Es gibt Rauch und so.«
Also gingen sie nach oben. Saul bestand darauf, sie an die Hand zu nehmen. Ihr Griff war stark und klebrig. Er sagte ihr, sie solle auf die Stufen achten, während er sich gleichzeitig fragte, ob er wegen des Feuers hätte jemanden anrufen sollen, ohne sich vorher davon zu überzeugen.
Oben angekommen zog er die Vorhänge zurück und schaute durch das Teleskop, das eigentlich zur Beobachtung der Sterne diente. Saul konnte sehen, dass sie recht hatte: auf der Insel brannte es. Besser gesagt: Die Spitze des zerstörten Leuchtturms brannte – etliche Meilen entfernt, aber durch das Teleskop deutlich zu sehen. Ein Anflug von Rot, aber sonst nur dunkler Rauch. Wie ein Scheiterhaufen.
»Glaubst du, dass jemand gestorben ist?«
»Da drüben ist doch niemand.« Außer den »merkwürdigen Leuten«, wie sie das ausgedrückt hatte.
»Aber wer hat dann das Feuer gelegt?«
»Das braucht niemand gelegt zu haben. Vielleicht ist das einfach so passiert.« Aber das glaubte er nicht. War das ein kontrolliertes Abbrennen?
»Kann ich auch noch mal gucken?«
»Na klar.«
Selbst nachdem er Gloria seinen Platz am Teleskop überlassen hatte, glaubte Saul, noch immer verwehte Fragmente der dünnen Rauchfäden am Horizont zu sehen, aber das musste einfach eine Sinnestäuschung sein.
Auf Failure Island war Merkwürdiges nicht ungewöhnlich. Wenn man Old Jim oder den Einheimischen zuhörte, dann war die Insel immer Gegenstand der geheimnisvollen Geschichten um die vergessene Küste, sogar schon bevor der letzte in einer ganzen Reihe von Besiedlungsversuchen scheiterte. Die rohen, unbehauenen Steine und das Holz der Gebäude der Siedlung, die Isolation der Insel, die Veränderung der Schifffahrtsrouten, noch während der Leuchtturm in Bau war – all das schien ihr endgültiges Schicksal schon angekündigt zu haben.
Die Linse in diesem Leuchtturm hatte früher den ramponierten Turm auf der Insel geschmückt. Manche Leute glaubten daher, das Missgeschick sei der Linse aufs Festland gefolgt, vielleicht aufgrund der unglaublichen Geschichte um die Überführung des immerhin vier Tonnen schweren Apparats, zu der ein plötzlich aufkommender Sturm mit Blitz und Donner gehörte, der das Transportschiff auf Grund laufen und so das Licht fast im Wasser versinken ließ.
Während Gloria noch immer am Teleskop klebte, fiel Saul etwas Merkwürdiges auf dem Boden direkt am Sockel der Linse auf, an der Seite, die zum Land zeigte. Ein winziges Häufchen Glassplitter glitzerte auf den dunklen Holzbohlen. Was zum Teufel? Hatte die Fliegen-Brigade hier oben eine Glühbirne zerbrochen oder so was? Dann kam ihm ein anderer Gedanke, er beugte sich leicht vor und zog die Hülle direkt über den Splittern von der Linse. Und tatsächlich fand er an der Stelle, wo das Glas an das Gewinde stieß, einen Riss. Es sah fast so aus wie ein Loch, das eine Gewehrkugel hinterließ, nur kleiner, jedenfalls stellte er sich das so vor. Er untersuchte die »Austrittswunde«, während er grübelte. Die feinen Haarrisse erinnerten ihn an die Wurzeln einer Pflanze. Einen anderen Schaden konnte er auf der glatten Oberfläche des Fraktals nicht entdecken.
Er wusste nicht, ob er sich ärgern oder die Liste seiner Reparaturarbeiten einfach um einen Punkt erweitern sollte, denn die Funktion der Linse war dadurch nicht beeinträchtigt. Hatten Henry und Suzanne das getan, absichtlich oder durch eine Unachtsamkeit oder einen Fehler? Er schaffte es nicht, die irrationale Empfindung abzuschütteln, dass es verborgene Bezüge gab, das Gefühl, an dieser Stelle sei irgendetwas ausgebrochen.
Die nachhallenden Schritte unter ihm, das Geräusch von Stimmen – zwei unterschiedliche Schrittfolgen, zwei Stimmen. Die Fliegen-Brigade, Henry und Suzanne. Spontan zog er die Hülle wieder über die Linse und zerrieb die Glassplitter mit dem Schuh, wobei er ein merkwürdiges Gefühl der Mittäterschaft empfand.
Als sie schließlich auf den letzten Stufen auftauchten, starrte Gloria die beiden vom Teleskop aus an – wie eine Wildkatze mit gesträubtem Nackenfell. Er konnte es ihr nicht verübeln.
Henry war mal wieder wie für einen Stadtbummel angezogen. Suzanne wirkte angespannt, vielleicht, weil dieses Mal sie den Großteil der Ausrüstung trug.
»Ihr seid spät dran«, sagte er und schaffte es nicht, den Unterton von Missfallen in seiner Stimme zu verbergen. Henry umklammerte den Griff eines Werkzeugkastens aus Metall und schwenkte ihn langsam vor und zurück. »Und was ist das?« Der Kasten war Saul neu.
»Ach, nichts, Saul«, sagte Henry mit einem breiten Grinsen wie immer. »Nur ein paar Werkzeuge. Schraubenzieher, so Sachen. Wie ein Heimwerker.« Oder wie einer, der Proben aus einer Linse erster Ordnung entnimmt, die es geschafft hat, hundert Jahre lang jeder Form von Vandalismus aus dem Weg zu gehen.
Offensichtlich bemerkte Suzanne Glorias Feindseligkeit; sie stellte Koffer und Karton ab, beugte sich über das Teleskop und sagte: »Du bist so eine süße Kleine, möchtest du einen Lolli?« Und mit der übertriebenen Gestik eines Amateurzauberers zog sie einen Lolli hinter Glorias Ohr hervor.
Gloria starrte sie abschätzig und feindselig an. »Nein. Wir beobachten, wie die Insel brennt.« Herablassend wandte sie sich wieder dem Teleskop zu.
»Ja, ja, da brennt es«, sagte Henry unbeeindruckt, während Suzanne sich wieder an seine Seite gesellte. Etwas klapperte in dem Werkzeugkasten, als er ihn neben die übrige Ausrüstung stellte.
»Was wisst ihr darüber?«, fragte Saul, obwohl sich inzwischen so viele andere Fragen aufdrängten.
»Was soll ich schon darüber wissen? Eine Verknüpfung unglücklicher Umstände. Vermutlich haben wir bei den Pfadfindern nicht richtig aufgepasst, oder? Aber glücklicherweise ist niemand verletzt worden an diesem gloriosen Tag, und in Kürze sind wir sowieso da weg.«
»Weg?« Saul klang hoffnungsvoll. »Macht ihr Schluss?«
Henrys Ausdruck war jetzt weniger freundlich als zuvor. »Nur auf der Insel. Was wir suchen, ist dort nicht.«
Überheblich, als würde er es genießen, ein Geheimnis zu kennen, das er nicht mit Saul teilen wollte. Aber dessen Geduld war inzwischen erschöpft, und er wurde wütend.
»Wonach sucht ihr denn? Etwas, mit dem ihr die Linse kaputt machen könnt?« Seine Direktheit ließ Suzanne zusammenzucken. Sie wich Sauls Blick aus.
»Wir haben die Linse nicht angerührt«, sagte Henry. »Du doch auch nicht, oder doch, Suzanne?«
»Nein, wir haben die Linse nicht angerührt«, sagte Suzanne und klang ziemlich erschrocken. Ihr Protest schien etwas zu heftig.
Saul zögerte. Sollte er ihnen die beschädigte Stelle auf der Linse zeigen? Im Grunde wollte er das nicht. Wenn sie dafür verantwortlich waren, dann würden sie einfach weiterlügen. Und wenn nicht, dann hatte er sie darauf aufmerksam gemacht. Außerdem wollte er sich nicht streiten, solange Gloria hier war. Also gab er nach und zog Gloria, die die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, mit Mühe vom Teleskop weg.
Aus seiner Küche im Erdgeschoss rief er bei der Feuerwehr in Bleakersville an, wo man ihm mitteilte, über das Feuer auf der Insel bereits Bescheid zu wissen und dass für nichts und niemanden Gefahr bestand; am Ende des Gesprächs kam er sich regelrecht dumm vor, aber so behandelten sie nun mal die Menschen an der vergessenen Küste. Oder sie waren einfach tödlich gelangweilt.
Gloria saß auf einem Stuhl am Tisch und kaute geistesabwesend auf einem Schokoriegel herum, den er ihr gegeben hatte. Vielleicht, dachte er bei sich, hätte sie ja doch gerne den Lolli gehabt.
»Geh nach Hause. Wenn du fertig bist.« Er fand die richtigen Worte nicht, aber er wollte sie jetzt so weit weg vom Leuchtturm wie möglich wissen. Charlie hätte ihn irrational genannt, gefühlsduselig, ohne einen klaren Gedanken. Aber es kam so vieles zusammen: das Feuer, der Schaden an der Linse, Suzannes merkwürdige Stimmung … er wollte Gloria einfach nicht hier haben.
»Saul, du bist ein Freund«, sagte sie, »aber du bist nicht mein Boss.« Beiläufig, wie etwas, das ihm doch klar sein, das eigentlich nicht mehr erwähnt werden musste.
Er fragte sich, ob Glorias Mutter das mal gesagt hatte – und nicht nur einmal. Dabei musste er zugeben, dass sie recht hatte. Er war auch nicht Henrys Boss, oder, unübersehbar, von irgendjemand. Das nervige, aber wahre Klischee ging ihm durch den Kopf: Kümmer dich um deinen eigenen Kram.
Also nickte er, gestand seine Niederlage ein. Sie machte einfach das, was sie wollte, was auch immer es war. Sie alle taten das, und er musste sich damit abfinden. Zumindest ging es hart aufs Wochenende zu. Er würde mit Charlie nach Bleakersville fahren, sie wollten sich einen neuen Laden ansehen, der Chipper’s Star Lanes hieß und einem Freund von Charlie sehr gefiel. Man konnte dort minigolfen, was Charlie mochte, und auch das Bowling störte ihn nicht. Aber worauf Saul sich besonders freute, war die Bar im rückwärtigen Teil des Lokals.
Nur eine Stunde später waren Henry und Suzanne schon wieder unten – erst hörte er das Knarren ihrer Schritte, und dann durch das geöffnete Küchenfenster, wie sie unablässig das Gelände um den Leuchtturm herum absuchten.
Er wäre drinnen geblieben und hätte sie sich selbst überlassen, wenn nicht ein paar Minuten später Brad Delfino, ein Freiwilliger, der ihm gelegentlich zur Hand ging, in seinem Truck die Zufahrt heraufgefahren wäre. Noch bevor er zum Stehen gekommen war, winkte Brad schon Henry zu, und irgendwie wollte Saul nicht, dass Brad ohne ihn mit der Fliegen-Brigade sprach. Brad spielte ein Instrument in einer örtlichen Band, er trank gerne und redete eine Menge mit jedem, der ihm zuhörte. Ab und an geriet er in Schwierigkeiten; seine gelegentlichen Hilfsdienste am Leuchtturm gingen an der vergessenen Küste als Sozialdienst durch.
»Schon vom Feuer gehört?«, sagte Brad, als Saul ihn auf dem Parkplatz abfing.
»Ja«, sagte Saul barsch, »habe schon davon gehört.« Natürlich wusste das Brad; warum sonst wäre er hier rausgekommen?
Inzwischen konnte er sehen, dass Henry und Suzanne ununterbrochen jeden Quadratzoll des Bodens innerhalb des Zauns fotografierten. Um das Durcheinander perfekt zu machen, hatte Gloria ihn entdeckt und kam jetzt wie ein Hund bellend auf ihn zu; das machte sie manchmal. Weil sie wusste, dass er das hasste.
»Weißt du, was los ist?«, fragte Brad.
»Nicht mehr als du auch. Wobei die Feuerwehr sagt, dass es keine Probleme gibt.« Wenn er mit Brad sprach, änderte sich etwas an seiner Stimme, eine Art näselnder Südstaaten-Tonfall schlich sich ein, was ihn ärgerte.
»Kann ich hochgehen und wieder durch das Teleskop sehen?« Gloria war ganz wild darauf, noch mal einen Blick auf das einzig Spannende zu werfen, was heute passierte. Aber bevor Saul antworten konnte, stürzten schon Henry und Suzanne auf sie zu.
»Zeit für ein Foto«, sagte Suzanne und lächelte breit. Sie hatte ein ziemlich klotziges Objektiv an der Kamera, und der lockere Gurt um den Hals ließ das Ganze nur noch kindischer wirken.
»Warum willst du ein Foto machen?«, fragte Gloria.
Saul wollte das auch fragen.
»Nur für unsere Unterlagen«, antwortete Suzanne mit einem breiten, alles verschlingenden Lächeln. »Wir arbeiten an einer Fotokarte der Gegend, und einer Dokumentation der Menschen, die hier leben. Ach und es ist einfach ein so schöner Tag.« Dabei war der Himmel inzwischen ein wenig verhangen, und ein Grau hatte sich ausgebreitet, dessen Wolken wahrscheinlich eher landeinwärts abregnen würden, nicht hier.
»Ja, wie wär’s mit einem Foto von dir und deinem Assistenten – und wohl dem Mädchen«, sagte Henry, ohne Gloria zu beachten. Er musterte Saul mit einer unbehaglichen Intensität.
»Ich weiß nicht«, sagte Saul widerwillig, dem ihre Aufdringlichkeit völlig gegen den Strich ging. Außerdem suchte er nach einem Weg, Brad aus der Sache herauszuhalten, der alles, nur nicht sein offizieller Assistent war.
Henry rückte Saul jetzt auf die Pelle. »Was wäre das Foto eines Leuchtturms ohne seinen Leuchtturmwärter?«
»Ein besseres Foto?«
»Ich weiß, dass du oben im Norden ein Prediger warst«, sagte Henry. »Aber du brauchst dir wegen der Leute, die du dort zurückgelassen hast, keine Sorgen zu machen – wir wollen das nicht veröffentlichen.«
Das brachte ihn ziemlich aus dem Gleichgewicht.
»Woher weißt du das?«, sagte Saul.
Aber Brad hatte seine helle Freude an dieser Enthüllung und stieg voll darauf ein, bevor Henry antworten konnte. »Jau, Mann, dieser Saul. Ist ein echter Schurke. Wird in zehn Staaten gesucht. Wenn du ein Foto von ihm machst, dann ist er geliefert.«
Machte ein Foto wirklich den Unterschied? Selbst wenn er nicht alles da oben im Norden hatte regeln können, so war er doch nicht auf der Flucht, auch würde dieses Foto wohl kaum in einer Zeitung landen.
Der Wind war böig geworden. Anstatt zu diskutieren, zog Saul seine Mütze aus der Gesäßtasche, nahm an, dass sie ihn vielleicht ein wenig maskieren würde, aber wofür brauchte er eine Maskerade? Ein irrationaler Gedanke. Möglicherweise nicht der erste irrationale Gedanke eines Leuchtturmwärters an der vergessenen Küste.
»Sagt Cheese. Sagt Breitmaulfrosch. Ich zähle bis drei.«
Breitmaulfrosch?
Brad hatte beschlossen, eine stoische Pose einzunehmen, von der Saul nicht sicher war, ob er sich damit über ihn lustig machte. Gloria war auf etwas Dramatischeres aus; sie schlug die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und rannte aus lauter Protest zu den Felsblöcken, sicher, dass Suzanne sie so nicht aufs Bild bekommen würde. Dort angekommen, kletterte sie hinauf, drehte sich herum und kletterte wieder herunter, kreischte vor Vergnügen und brüllte ohne ersichtlichen Grund: »Ich bin ein Monster! Ich bin ein Monster!«
Suzanne hatte sich hingekniet, angefangen, bis drei zu zählen, und war ganz ruhig geworden. Sie gab das Signal.
»Breitmaulfrosch!« Brad zeigte einen Enthusiasmus, den er angesichts seines Drogenregisters vielleicht noch einmal bereuen würde.
Dann kam der Blitz der Kamera, und als Folge drifteten schwarze Partikel durch Sauls Gesichtsfeld, rotteten sich zusammen, verweilten dort länger, als es normal zu sein schien.