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0002: GHOSTBIRD

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In Begleitung des mürrischen Controls stieß Ghostbird am dritten Tag in Area X auf das Skelett im Röhricht. Inzwischen war es Winter in Area X, und je weiter sie sich auf dem mäandernden Pfad von der Küste, wo sie angekommen waren, entfernten, umso spürbarer wurde das. Der Wind war kalt und wehte ihnen ins Gesicht, zerrte an ihren Jacken, und der Himmel schien ein graublaues Auge auf sie zu haben, hinter dem sich irgendwelche lebenswichtigen Geheimnisse verbargen. Die Alligatoren, Otter und Bisamratten hatten sich in den Schlamm zurückgezogen, Geister irgendwo im Glucksen und Gurgeln des trüben Wassers.

Hoch oben, wo der Himmel von einem tieferen Blau war, sah sie etwas aufblitzen und erkannte einen Schwarm Störche, der seine Kreise zog; die Sonne glitzerte silbern auf ihren weißen und grauen Federn, während sie sich weit weg immer höher in den Himmel schraubten und mit unerschütterlichem Nachdruck … ja wohin eigentlich unterwegs waren? Sie konnte nicht sagen, ob sie die Grenzen ihres Gefängnisses auszumessen versuchten, ob sie fähig waren, die unsichtbare Grenze zu spüren, bevor sie darauf stießen, oder einfach ihren immer noch funktionierenden Instinkten folgten.

Ghostbird blieb stehen, und mit ihr Control. Ein Mann mit hervortretenden Wangenknochen, großen Augen, einer breiten Nase, die einem Boxer alle Ehre gemacht hätte, und hellbrauner Haut. Er trug Jeans und ein rotes Flanellhemd, dazu eine schwarze Jacke und Stiefel, die für eine Wanderung durch die Wildnis nicht ihre erste Wahl gewesen wären. Der Direktor von Southern Reach. Der Mann, der sie verhört hatte. Vielleicht von athletischer Gestalt, aber seitdem sie in Area X unterwegs waren, ging er vornübergebeugt und murmelte vor sich hin, während er ständig in ein paar wasserfleckigen, zerknitterten Seiten blätterte, die er aus einem alten Southern-Reach-Bericht gerettet hatte. Relikte der alten Welt.

Er schien kaum wahrzunehmen, dass sie stehen geblieben waren.

»Was ist?«, fragte er.

»Vögel.«

»Vögel?« Als sei dies ein Fremdwort für ihn, ohne Bedeutung. Oder Sinn. Aber wer wusste schon, was hier Bedeutung hatte.

»Ja. Vögel.« Genauere Erklärungen waren wohl Verschwendung.

Sie hob das Fernglas und folgte dem Weg der Störche, der sich hierhin und dorthin wand, auf dem sie aber nie ihre Flugformation aufgaben: eine Art lebender, gleitender Wirbel am Himmel. Das Muster erinnerte sie an den Schwarm Fische, in dem sie bei ihrem schockierenden Eintritt in Area X vom Meeresboden aus aufgetaucht waren.

Verstanden die Störche, die von oben auf sie herabschauten, was sie sahen? Erstatteten sie irgendetwas oder irgendjemandem Bericht? Während der vergangenen zwei Nächte hatte sie gespürt, wie sich Tiere am Saum ihres Lagerfeuers sammelten, düstere und unnahbare Sensoren von Area X. Control drängte zur Eile, als ob es etwas bedeutete, ein Ziel zu haben, während sie Fakten sammeln wollte.

Es hatte bereits ein paar Missverständnisse gegeben, was sie beide betraf, seit sie am Strand an Land gekommen waren – besonders bezüglich der Frage, wer hier das Kommando hatte; in der Folge hatte er den alten Namen wieder angenommen, sie gebeten, ihn nicht John, sondern Control zu nennen, was sie respektierte. Für einige Tiere war es lebenswichtig, einen Panzer zu haben. Ohne ihn würden sie nicht lange überleben.

Er sehnte sich offenbar nach etwas Vertrautem, an das er sich klammern konnte, das ihm Schutz versprach, und so glaubte sie zu verstehen, warum er sich in etwas, das er »meine Terroir-Seiten« nannte, vertiefte, warum er nicht die Wahrheit gesagt hatte, als sie über die Suche nach Lösungen gesprochen hatten.

Irgendwann im Laufe des ersten Tages hatte sie ihn gefragt: »Was wäre ich für dich in der anderen Welt – du in einem deiner alten Jobs, und ich in meinem?« Er hatte ihr nicht geantwortet, aber sie glaubte die Antwort auch so zu kennen: Sie wäre eine Verdächtige, eine Feindin des Wahren und Richtigen. Aber was waren sie hier füreinander? Irgendwann demnächst mussten sie ein ernsthaftes Gespräch führen, musste sie ihn aus der Reserve locken.

Doch im Augenblick interessierte mehr das, was da links von ihnen im Röhricht aufgeblitzt war, etwas Oranges. Eine Fahne?

Sie musste sich wohl verkrampft haben, oder etwas anderes an ihrem Verhalten hatte sie verraten, denn Control fragte: »Was ist los? Stimmt etwas nicht?«

»Nichts Schlimmes, wahrscheinlich.«

Einen Augenblick später sah sie das Orange wieder – einen Fetzen, einen ausgefransten Lumpen, der an ein Schilfrohr gebunden war und im Wind hin und her flatterte. Etwa hundert Meter entfernt in einem Ozean von Schilfrohr, auf diesem trügerischen Marschland aus alles verschlingendem Schlick. Gleich dahinter schien ein Schatten oder eine Mulde zu liegen, das Schilfrohr war niedergedrückt und gab den Blick auf etwas frei, das sie von ihrem Standpunkt aus nicht genau erkennen konnten.

Sie reichte ihm das Fernglas. »Siehst du das?«

»Ja. Ist die … Markierung eines Vermessers«, sagte er unbeeindruckt.

»Weil das so wahrscheinlich ist«, sagte sie und bereute es sofort.

»Okay. Dann ›scheint‹ es die Markierung eines Vermessers zu sein.« Er gab ihr das Fernglas zurück. »Wir sollten auf dem Weg bleiben und zusehen, dass wir zur Insel kommen.« Ausnahmsweise sprach er das Wort Insel mal offen aus, aber sein Unwille, gemeinsam den Fetzen zu untersuchen, war nicht weniger deutlich herauszuhören.

»Du kannst hierbleiben«, sagte sie und wusste, dass er nicht bleiben würde. Wusste, dass sie ihn lieber hiergelassen hätte, um mal ein paar Augenblicke lang in Area X wirklich alleine zu sein.

Dabei: Wer war hier schon wirklich alleine?


Noch lange nachdem sie auf dem leeren Grundstück aufgewacht und dann für die Verhöre nach Southern Reach gebracht worden war, glaubte Ghostbird, tot und im Fegefeuer zu sein, obwohl sie nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte. Das Gefühl hatte auch mit der Einsicht nicht nachgelassen, dass sie auf unbekannte Weise über die Grenze zurück in die reale Welt gekommen war … ja, dass sie nicht einmal die echte Biologin der zwölften Expedition war, sondern eine Kopie.

Sie hatte das bei einem der Verhöre durch Control auch zugegeben: »Ich war still und so leer … Ich wartete da, hatte Angst zu gehen, hatte Angst, es würde einen Grund geben, dass ich genau dort sein sollte.«

Aber das war nur ein Teil ihrer Gedanken, ihrer Analyse der Situation. Es ging nicht nur um die Frage, ob sie denn tatsächlich lebte, sondern – falls sie lebte – wer sie war, die da in diesem Zimmer in Southern Reach von allem abgeschottet wurde. Sodann, dass ihre Erinnerungen nicht ihre eigenen waren; dass sie von irgendwoher kamen und sie nicht sicher sein konnte, ob ein Experiment von Southern Reach dahintersteckte oder etwas, das Area X verursacht hatte. Sogar bei ihrer Flucht auf dem Weg nach Central hatte sie das Gefühl, eine Projektion zu sein, dass dies alles jemand anderem passierte, sie nur eine Zwischenlösung war; dass diese Kluft sie vielleicht vor einer erneuten Verhaftung bewahrt hatte, ihr geholfen hatte, völlig ruhig bei allem zu bleiben, was sie tat. Als sie in Rock Bay angekommen war, das die Biologin so gut von früher her kannte, hatte sie, weit weg von allem, eine Weile Ruhe gehabt und die Landschaft auf eine andere Weise auf sich wirken lassen – sie war in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt worden.

Aber erst als sie es geschafft hatten, sich nach Area X durchzuschlagen, hatte sie ihr Unbehagen, ihre Ziellosigkeit tatsächlich überwunden. Als das Wasser sie von allen Seiten umschloss, kam die Erinnerung an ein früheres Erleben hoch und sie war panisch geworden. Doch dann wurde irgendwo ein Schalter umgelegt, oder etwas war zurückgekommen, und ihr Aufbegehren gegen den Tod hatte zu einer hymnischen Erfahrung des Meers geführt, sie hatte den Kampf um den Weg zur Oberfläche angenommen, als eine Art Beweis, dass sie nicht die Biologin, dass sie etwas anderes war, das in seinem Überlebenskampf die Angst vor dem Ertrinken vertreiben konnte, denn es war nicht ihre eigene Angst.

In der Folge war ihr sogar die erfolgreiche Wiederbelebung von Control am Strand als unwiderlegbarer Beweis ihrer Souveränität erschienen. Ebenso wie ihr Beharren darauf, die Insel anzusteuern, und nicht den Leuchtturm. »Wo auch immer die Biologin hingegangen wäre, dahin werde ich gehen.« Die Wahrhaftigkeit, die Richtigkeit dessen hatte ihr Hoffnung gegeben, trotz des Gefühls, dass alles, woran sie sich erinnerte, wie der Blick durch ein offenes Fenster auf das Leben eines anderen Menschen war. Nicht wirklich erlebt, oder noch nicht erlebt. »Du willst ein bereits geregeltes Leben haben, weil du kein eigenes hast«, hatte Control es auf eine ziemlich geschmacklose Art ausgedrückt.

Seitdem waren sie auf kaum etwas gestoßen, das zu untersuchen sich gelohnt hätte. In den fast drei Tagen, die sie jetzt zu Fuß unterwegs waren, war nichts Monströses oder Ungewöhnliches am Horizont aufgetaucht. Nichts Widernatürliches, wenn man von den hyperrealen Aspekten der Landschaft einmal absah, den Prozessen, die sich unter der Oberfläche abspielten. In der Abenddämmerung stieg auch manchmal das Bild des Seesterns der Biologin in ihr auf, leuchtete spärlich wie ein Kompass in ihrem Kopf, schien sie anzuziehen, und dann merkte sie wieder, dass sie hier Dinge spürte, die Control verschlossen blieben. Sie konnte die Gefahren orten, Gelegenheiten wahrnehmen. Das Leuchten hatte sie verlassen, aber etwas anderes war an seine Stelle getreten.

»Konterschattierung«, sagte sie, als er ihr seine Verwirrung gestand, dass Area X so normal wirkte: »Du siehst etwas, und erkennst es doch nicht. Von oben ist die Federzeichnung eines Lappentauchers nicht zu übersehen. Von unten ist er, wenn er durchs Wasser gleitet, praktisch unsichtbar.«

»Lappentaucher?«

»Ein Vogel.« Schon wieder ein Vogel.

»Und all das ist eine Tarnung?« Er sagte das mit einem Unglauben, als wäre ihm die Wirklichkeit schon sonderbar genug.

Ghostbird wurde weich, denn es war wirklich nicht sein Fehler. »Du hast noch nie ein Ökosystem erlebt, das nicht beeinträchtigt oder umgekippt ist, nicht wahr? Du glaubst das vielleicht, aber es stimmt nicht. Du kannst vielleicht gar nicht anders, als Richtig und Falsch miteinander zu verwechseln.«

Vielleicht stimmte das so nicht, aber sie wollte keine neue Diskussion über ihr Ziel führen, wollte ihre Zuständigkeit nicht infrage gestellt sehen. Indem sie darauf bestand, dass sie zur Insel unterwegs waren, schützte sie nicht nur ihr Leben, sondern auch seins – zumindest war das ihre Überzeugung. Sie hatte kein Interesse daran, noch einmal und auf den letzten Drücker den Waffen ihrer Gegner zu entkommen, und Controls Verhalten weckte den Verdacht, dass er es vielleicht auf eine solche Lösung ankommen lassen wollte. Während sie nur ein einziges Ziel vor Augen hatte – herauszufinden, wer sie war, und was Area X war.


Dem Licht hier konnte man sich nicht entziehen, so strahlend und doch unnahbar war es. Es ließ das Röhricht und den Schlick und das Wasser der Kanäle, in dem sie sich spiegelten, in einer seltenen Klarheit erscheinen. Das Licht gab ihr das Gefühl, einfach dahinzugleiten, denn es schien ihre Spuren zu verwischen. Es war das Licht, das ihr einen unerschöpflichen Vorrat an Gelassenheit zur Verfügung stellte. Das Licht hinterfragte und untersuchte alles auf eine Art, von der sie nicht sicher war, ob Control sie verstand, zog sich dann wieder von allem, was es berührt hatte, zurück, und überließ es sich selbst.

Vielleicht war es in gewisser Weise auch das Licht, das ihnen im Wege stand, denn sie kamen nur sehr mühsam voran, benutzten einen Stock, um das vor ihnen liegende Gelände auf heimtückische Stellen abzutasten; manchmal war das Röhricht zu unpassierbaren Büscheln zusammengewachsen. Einmal stieg ein graubrauner Rallenkranich, zwischen dem Schilfrohr praktisch unsichtbar, so nah und lautlos auf, dass sie sich fast mehr erschreckte als Control.

Aber schließlich erreichten sie den Stofffetzen und sahen eine vergilbte Kuppel dahinter, die im Schlamm steckte und schon halb versunken war.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Control.

»Es ist tot«, sagte sie. »Es kann uns nicht mehr gefährlich werden.« Weil Control immer wieder auf Dinge überreagierte, die für sie die Aufregung nicht wert waren. Er war schreckhaft, vielleicht durch seine Erlebnisse traumatisiert.

Aber sie wusste ganz genau, was das war. Halb im Schlamm versunken waren die Reste eines grässlichen Schädels und die gebleichte und verhärtete Maske eines Gesichts, das sie blind anstarrte und von Moder und Flechten eingerahmt wurde.

»Das Wehklagen«, sagte sie. »Das stöhnende Monster, das wir immer in der Abenddämmerung gehört haben.« Das die Biologin durch das Röhricht gejagt hatte.

Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst, war an den Seiten hinabgerutscht und im Schlick versunken. Übrig geblieben war ein Skelett, das wie eine unheimliche Mischung aus Mensch und Schwein wirkte; die Rippen verzweigten sich zu einem makabren Kronleuchter kleinerer Knochen, und die Schienbeine endeten in merkwürdigen, knorpelartigen Noppen, die Vögel und Kojoten und Ratten sauber genagt hatten.

»Das liegt schon ziemlich lange hier«, sagte Control.

»Ja, allerdings.« Zu lange. Alarmiert suchten ihre Augen den Horizont nach einem Eindringling ab, als sei das Skelett eine Falle. Vor achtzehn Monaten noch lebendig, und jetzt in einem Stadium des Zerfalls, dass nur noch die Gesichtsmaske eine Identifizierung ermöglichte. Selbst wenn dieses Wesen, diese Transformation des Psychologen der, wie Control es nannte, »letzten elften Expedition«, sofort nach dem Zusammentreffen mit der Biologin gestorben war … die Geschwindigkeit der Verwesung war alles andere als natürlich.

Aber Control hatte nichts begriffen und sie beschloss, es für sich zu behalten. Er lief weiterhin um das Skelett herum und starrte es an.

»Also das war einmal ein Mensch«, sagte er, und dann noch einmal, als sie nicht antwortete.

»Möglich. Vielleicht auch einfach der Fehlversuch eines Replikanten.« Sie hielt sich nicht für einen Fehlversuch. Sie hatte einen freien Willen, eine Aufgabe.

Vielleicht konnte eine Kopie besser als das Original sein, eine neue Wirklichkeit schaffen, die alte Fehler vermied.


»Ich kenne deine Vergangenheit in- und auswendig«, hatte er ihr gesagt, sobald sie den Strand hinter sich gelassen hatten; offenbar wollte er Informationen austauschen. »Ich kann dir deine Vergangenheit zurückgeben.« Aber das war inzwischen Schnee von gestern, und seiner und ihrer unwürdig.

Ihr Schweigen hatte ihn dazu getrieben, anzufangen, und obwohl sie immer noch glaubte, dass er ihr Dinge verschwieg, klangen seine Worte drängend und irgendwie leidenschaftlich, aber vor allem ehrlich. Manchmal allerdings schien in ihnen ein verzweifelter Subtext durch, den sie recht gut verstand, aber zu ignorieren beschlossen hatte. Sie hatte das schon einmal so gehört, damals, als er sie in ihrem Zimmer auf Southern Reach besuchte.

Die Nachricht, dass die Psychologin der zwölften Expedition die vormalige Leiterin von Southern Reach und gerade die Biologin ihr großer Hoffnungsträger gewesen war, brachte Ghostbird zum Lachen. Sie empfand eine plötzliche Zuneigung zur Psychologin und erinnerte sich an ihre Geplänkel während der Einführungsgespräche. Diese unaufrichtige Psychologin und Direktorin wollte etwas Umfassendes und Tiefgründiges wie Area X mit jemandem bekämpfen, der so engstirnig und geradeheraus war wie die Biologin. Wie sie. Ein Zaunkönig, der plötzlich aus einem Gestrüpp auf und außer Sicht flog, schien ganz ihrer Meinung zu sein.

Als sie an der Reihe war, gab sie zu, sich inzwischen an alles wieder zu erinnern, bis sie in den Tiefen des Tunnels oder Turms vom Crawler gescannt oder atomisiert oder reproduziert worden war – der Augenblick ihrer Geburt, der vielleicht mit dem Tod der Biologin identisch war. Der Crawler und das Gesicht des Leuchtturmwärters, das durch die vielen geheimnisvollen Schichten seines Gefängnisses loderte, ließen Controls Unglauben so deutlich hervortreten wie die Innereien eines durchscheinenden Tiefseefischs. Dabei war er doch bereits Zeuge so vieler anderer Unmöglichkeiten geworden – was machte da eine mehr aus?

Er stellte keine Frage, die nicht auf andere Art schon die Biologin, die Vermesserin, die Anthropologin und die Psychologin während der zwölften Expedition gestellt hatten.

Fast beiläufig entstand dadurch ein unangenehmer Déjà-vu-Effekt, über den sie in einen lautlosen Streit mit sich selbst geriet. Denn sie war durchaus mit einigen ihrer Entscheidungen nicht einverstanden, damals – Entscheidungen der Biologin. Warum war ihr anderes Ich so leichtsinnig mit den Worten an der Wand umgegangen? Zum Beispiel. Warum hatte sie die Psychologin nicht sofort zur Rede gestellt, als ihr klar wurde, was es mit der Hypnose auf sich hatte? Was hatte sie zu finden gehofft, als sie hinab zum Crawler gestiegen war? Ein paar Sachen fand Ghostbird verzeihlich, während andere weiter an ihr nagten und ein Karussell von hätte und könnte lostraten, das sie wütend machte.

Den Ehemann der Biologin lehnte sie völlig ab, ohne Zweifel, denn er war ein Symbol der Trostlosigkeit des Stadtlebens. Die Biologin war verheiratet gewesen, aber Ghostbird war es nicht, war in dieser Hinsicht keinerlei Verantwortlichkeiten unterworfen. Sie verstand wirklich nicht, wie ihr Double so etwas ausgehalten hatte. Auch dies gehörte zu den Missverständnissen zwischen ihr und Control: ihm klarzumachen, dass die Notwendigkeit, Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren, durch gelebte Erfahrungen zu ersetzen, sich nicht auf ihrer beider Beziehung übertragen ließ, welches Bild von ihr er auch immer mit sich herumschleppte. Sie konnte sich nicht einfach auf etwas Körperliches mit ihm einlassen und das Irreale durch etwas Alltägliches, Mechanisches ersetzen; nicht mit diesen Erinnerungen an einen Ehemann, der völlig ohne Erinnerungen nach Hause gekommen war. Jeder Kompromiss würde sie beide verletzen und gehörte irgendwie nicht zur Sache.

Als er vor dem Skelett des klagenden Monsters stand, sagte Control: »Dann ende ich vielleicht auch so? Irgendeine Version von mir?«

»Wir enden alle so, Control. Letztendlich.«

Aber nicht genau so, denn von den Augenhöhlen, von den zerfallenden Knochen ging immer noch eine Art Leuchten aus, eine Art Leben – etwas Forschendes, das sie nicht an sich heranließ und das Control nicht spüren konnte. Area X schaute sie aus toten Augen an. Area X analysierte sie von allen Seiten. Sie fühlte sich wie ein Versuchskaninchen, das dieser bohrende Blick geschaffen hatte, das sich nur bewegte, weil dieser Blick sich mit ihm bewegte, die sie konstituierenden Atome zusammenhielt. Und trotzdem fühlten sich die Augen, die sie so fixierten, nicht fremd an.

»Die Direktorin hat sich vielleicht geirrt, was die Biologin betrifft, aber vielleicht bist du die Antwort.« Sie sagte das nur mit einem Anflug von Sarkasmus, als wüsste er, was auf sie einströmte.

»Ich bin keine Antwort«, entgegnete sie, »ich bin eine Frage.« Vielleicht war sie auch eine fleischgewordene Botschaft, ein leibhaftiges Signal, auch wenn sie noch nicht herausgefunden hatte, worin ihre Geschichte bestand.

Außerdem dachte sie darüber nach, was sie alles auf dem Transfer nach Area X gesehen hatte; es schien so, als lägen links und rechts des Wegs nichts als schwarze Ruinen riesiger Städte und gigantische gestrandete Schiffe, die vom Feuersturm rot erleuchtet wurden und Schatten warfen, den Blick verschleierten auf weit entfernte wimmernde Wesen, die durch die Asche krochen und sprangen. Wie sie versucht hatte, Controls weitschweifige Bekenntnisse auszublenden, die schockierenden Dinge, die er völlig gedankenlos von sich gab, sodass sie schließlich glaubte, alle seine Geheimnisse zu kennen. Nimm die PistoleErzähl mir einen WitzIch habe sie getötet, es war mein Fehler … Hatte hypnotische Beschwörungen in sein Ohr geflüstert, nicht nur, um ihn zum Schweigen zu bringen, sondern auch den Horror, der sie umgab.

Das Skelett vor ihnen war sauber abgenagt. Die gebleichten Knochen waren am Zerfallen, die Rippenspitzen bereits weich und feucht, die meisten abgebrochen und im Schlick versunken.

Über ihnen zogen die Störche noch immer ihre kreisförmigen Bahnen, ein komplizierter, synchroner Tanz in den Lüften, schöner als alles, was der menschliche Geist jemals erschaffen hatte.

Akzeptanz

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