Читать книгу Akzeptanz - Jeff VanderMeer - Страница 8

0003: DIE DIREKTORIN

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An den Wochenenden heißt dein Refugium Chipper’s Star Lanes, wo du nicht die Direktorin von Southern Reach bist, sondern einfach nur ein weiterer Gast am Tresen. Chipper’s liegt jenseits des Highways, ein ganzes Stück außerhalb von Bleakersville, kurz vor dem Ende einer Schotterstraße. Jim Lowrys Leute in Central kennen den Laden vielleicht, haben vielleicht sogar ihre Augen und Ohren hier, aber man trifft nie jemanden von Southern Reach. Auch Grace Stevenson, deine Stellvertreterin, weiß nichts davon. Um nicht aufzufallen, trägst du T-Shirts einer örtlichen Baufirma oder einer Wohltätigkeitsveranstaltung sowie alte Jeans aus der Zeit, als du noch dicker warst, und manchmal zur Krönung eine Baseballkappe, die Reklame für deinen Lieblingsgrillimbiss macht.

Du gehst dort auch bowlen, wie früher mit deinem Vater, als du noch ein Kind warst, aber meistens legst du erst mal eine Solorunde auf dem vergammelten »Abenteuer Safari«-Minigolfplatz ein. Die Löwen an Loch neun sind ein schläfriger Haufen aus Plastik, der an den Ecken von irgendeiner weit zurückliegenden Katastrophe geschwärzt und angeschmolzen ist. Das riesige Nilpferd, das Loch 18 am Ende des Parcours überspannt, hat zarte Fesseln, und schuppige Kleckse enthüllen die darunterliegende rote Farbe, als wäre der Hersteller davon besessen gewesen, es so real wie möglich zu machen.

Anschließend gehst du hinein und spielst ein paar Runden mit allen, die einen vierten Mitspieler brauchen, unter einem verblassenden Universum an der Decke – hier die Erde, da Jupiter und dort ein violetter Sternnebel mit rotem Kern, und all das von einer kitschigen Lasershow erhellt. Das läuft so vier oder fünf Spiele, du bietest aber selten über zweihundert. Wenn du damit durch bist, setzt du dich an die dunkle, bequeme Theke. Sie steht weit hinten in einer Ecke, so weit weg wie möglich von dem Raum mit den stinkenden Schuhen, und irgendwie dämpft die Akustik das Quietschen, Bollern und Rumpeln des Bowling. Alles hier ist immer noch zu nah an Area X, aber solange das keiner weiß, kann das Wissen darum die Gäste so langsam umbringen wie in den vergangenen Dekaden.

In die Chipper’s-Bar verirren sich hauptsächlich handfeste Stammgäste, denn das hier ist wirklich eine Spelunke; an die Decke hat man dunklen Filz getackert, der so aussehen soll, als wäre er mit Sternen gesprenkelt. Aber welches Metall man auch immer da oben angebracht hat, es wirkt eher wie eine endlose Ansammlung von Sheriffsternen aus einem alten Western, die schon eine halbe Ewigkeit vor sich hin rosten; inzwischen ist da nur noch ein fades Schwarz, das von winziges rotbraunen Seesternen durchbrochen wird. In der Ecke weist ein Schild auf die Star Lanes Lounge hin. Die Lounge besteht aus einem halben Dutzend runder Holztische und Stühle, die mit schwarzen Kunstlederpolstern bezogen sind und so aussehen, als wären sie vor langer Zeit aus einem Familienrestaurant gestohlen worden.

Die meisten deiner Kameraden an der Bar sind völlig mit dem Sport beschäftigt, der aus dem stumm geschalteten Fernseher rieselt; der alte grüne Teppich, der sich die Wände hinaufzieht, saugt das Gemurmel der Unterhaltungen auf. Die Stammgäste sind harmlos und werden nur selten laut; auch eine Immobilienmaklerin zählt dazu, die glaubt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, aber immerhin gute Geschichten erzählen kann. Und dann der alte Mann mit dem silbernen Bart, der fast immer am Ende der Theke steht und Light-Bier trinkt. Er ist Veteran irgendeines Krieges, manchmal lakonisch und dann wieder fast zutraulich.

Deine Psychologin-Tarnung fühlt sich hier abwegig an und du möchtest sie nicht verwenden. Stattdessen sagst du jedem, der fragt, dass du Fernfahrerin bist und gerade zwischen zwei Touren steckst, und dann nimmst du einen Schluck aus der Bierflasche, um diesen Teil der Unterhaltung zu beenden. Die Leute hier finden dieses Metier ganz plausibel; vielleicht liegt es an deiner Größe und Statur, dass sie es dir abnehmen. Aber die meisten Abende glaubst du fast selber, dass du eine Fernfahrerin bist, und diese Leute gewissermaßen deine Freunde sind.

Die Immobilienmaklerin sagt, dass der Mann kein Veteran ist, sondern nur »ein Alkoholiker, der auf Mitleid macht«, aber es ist offensichtlich, dass sie durchaus Verständnis dafür hat. »Ich klink mich jetzt einfach aus«, ist ein Lieblingsspruch des Veteranen, ebenso wie: »Das glaubst du doch selbst nicht.« Der Rest ist eine Mischung aus Notaufnahme-Schwestern, ein paar Mechanikern, einem Friseur, einigen Empfangsdamen und Büroleitern, die dein Dad »Leute, die nie hinter den Vorhang schauen dürfen« genannt hätte. Du hast dir keine Mühe gegeben, sie zu überprüfen oder die häufig wechselnden Barkeeper, denn das spielt keine Rolle. Bei Chipper’s gibst du nie etwas Staatsgefährdendes oder streng Geheimes von dir.

Aber an manchen Abenden, wenn du lange bleibst und kaum noch jemand in der Bar sitzt, dann kritzelst du ein oder zwei Sachen, die dich einfach nicht in Ruhe lassen, auf eine Serviette oder einen Bierfilz – zu dem ständigen Fragenpuzzle, mit dem Whitby Allen dich eindeckt, ein holistischer Umweltexperte, der direkt Mike Cheney unterstellt ist, dem ewig jovialen Chef der Wissenschaftsabteilung. Du hast nie um diese Fragen gebeten, aber das hält Whitby nicht davon ab, sie zu stellen; sein Kopf scheint ständig überhitzt zu sein, und der einzige Weg, dieses Feuer zu stoppen, sind die Fragen, die er permanent produziert. »Was ist außerhalb der Grenze, wenn man selbst innerhalb ist?« »Was ist die Grenze, wenn man innerhalb ist?« »Was ist die Grenze, wenn jemand außerhalb ist?« »Warum kann derjenige drinnen den anderen draußen nicht sehen?«

»Meine Erklärungen sind auch nicht besser als meine Fragen«, hat er einmal zu dir gesagt, »aber wenn Sie’s etwas einfacher haben wollen, dann schauen Sie doch mal, was sie einem bei Cheney’s Science Shack so auftischen.«

Ein eindrucksvolles Schriftstück untermauert Whitbys Ideen, abgelegt in einer funkelnagelneuen Heftmappe, sauber gelocht und ohne einen einzigen Rechtschreibfehler leuchtet die makellose Titelseite unter einer durchsichtigen und fast unsichtbaren Plastikfolie hervor: »Kombinierte Theorien: Ein umfassender Versuch.«

Der Bericht ist so glänzend, clever und schlagfertig wie Whitby selbst. Mit den Fragen, die er aufwirft, und den Vorschlägen, die er macht, wird überdeutlich, dass seiner Meinung nach in Southern Reach einiges besser laufen könnte, wenn man ihm nur mal eine Chance geben würde. Das muss man erst mal verdauen, zumal die Wissenschaftsabteilung zurückschlägt und in Memos, die nur an dich gehen, nicht mit Seitenhieben spart: »Vermutungen auf der Suche nach Beweisen, von vorne, von hinten oder von der Seite.« Vielleicht wachsen sie auch aus seinem Arsch.

Aber für dich ist das todernst, besonders eine Liste über die »Voraussetzungen zur Existenz von Area X«, als da wären:

– ein isolierter Ort

– ein inaktiver, aber volatiler Auslöser

– ein Katalysator, um den Auslöser zu betätigen

– ein bisschen Glück oder Zufall beim Einsatz des Auslösers

– ein Kontext, den wir nicht verstehen

– ein Umgang mit Energien, den wir nicht verstehen

– ein Zugriff auf Sprache, den wir nicht verstehen

»Sonst noch was?«, fragt Cheney bei einem der wöchentlichen Meetings. »Eine gewissenhafte Untersuchung aller von Heiligen gewirkten Wunder, unerklärlichen Vorfällen, wie sie im Buche stehen, zweiköpfige Kälber, die die Apokalypse predigen, nur um zu sehen, ob irgendwas davon hinhaut?«

Zu der Zeit ist Whitby noch ein streitlustiger Debattierer, der keine Auseinandersetzung scheut, der mit einer Erwiderung zurückschlägt, von der er nicht nur weiß, dass sie Cheney auf die Palme bringt, sondern ihn in die Enge treibt, niedermacht und durch den Kakao zieht: »Es verhält sich ein bisschen wie ein Organismus, wie Haut mit Tausenden von gierigen kleinen Mäulern anstelle von Poren oder Zellen. Und die Frage ist nicht, was das ist, sondern welche Motive es hat. Wir müssen uns Area X wie einen Mörder vorstellen, den wir zu fassen versuchen.«

»Na großartig, einfach großartig, jetzt haben wir auch noch einen Detektiv als Kollegen«, brummelt Cheney, während du ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen bringst und Grace mit ihrem schönsten gequälten Lächeln in die Bresche springt. Denn die Wahrheit ist: Du selbst hast Whitby aufgefordert, wie ein Detektiv vorzugehen, der versucht, die Sache »nicht aus der Perspektive von Southern Reach zu betrachten«.

Eine Weile sieht es auch so aus, als ob alles, was du unternimmst, mit Whitbys Hilfe ein Erfolg wird. Denn du bist beileibe nicht erfolglos. Unter deiner Führung gibt es einen Durchbruch beim Expeditions-Equipment, etwa verbesserte Feldmikroskope sowie Waffen, die keine Verteidigungsmechanismen bei Area X auslösen. Mehr Expeditionen kommen unversehrt zurück, und die Verfeinerungen der Methoden, Menschen auf ihre Funktionen zu reduzieren – die Tricks, die du bei deiner eigenen Tarngeschichte gelernt hast –, scheinen zu wirken.

Du zeichnest die Fortschritte auf, die Area X bei der Zurückgewinnung der Umwelt macht, fängst langsam an, ein Gefühl für deren Parameter zu bekommen, schaffst es sogar, Expeditionen mit gemeinsamen Maßgaben loszuschicken. Du schaffst es nicht immer, alle Kriterien zu beeinflussen, aber eine Zeit lang sind sich alle einig, dass die Lage sich stabilisiert hat, dass die neuen Erkenntnisse vielversprechend sind. Das silbern gleißende Ei, das du dir vorstellst, wenn du an Central denkst – diese makellosen, hochfliegenden Gedanken, die deine Vorgesetzten dort nur unvollkommen ausdrücken können –, summt und surrt und pocht, überschüttet dich mit Anerkennung … selbst wenn es auch das Gefühl verströmt, dass Southern Reach eine Art mental-fleischlicher Erreger ist, der den wunderbaren und eleganten Algorithmus, den Central so tief in sich verborgen hat, zerstört.

Aber die Jahre vergehen, Lowrys Einfluss schwindet mehr und mehr, und noch immer ist keine Lösung in Sicht. Die in Area X gewonnenen Daten wiederholen sich nur noch, werden weniger, oder sind »zu wenig, um interpretiert werden zu können«, meint Whitby; Theorien schießen ins Kraut, aber nichts kann bewiesen werden. »Uns fehlen die Analogien«, sagen die Linguisten immer wieder.

Grace fängt an, sie nur noch die »Analogisten« zu nennen, je mehr sie schwächeln und den Anschluss verlieren, während Area X alles nur immer verworrener macht. Allerdings liegt es weder an der Wirrnis von Area X noch dem langsamen Absturz oder irgendetwas anderem, wirr oder nicht. »Uns fehlen die Analogien« ist an sich eine irgendwie unzureichende Diagnose – es ist eher so, als würden die Linguisten beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühen, nachdem sie einmal auf Area X gestoßen sind. Worauf dir all die toten und sterbenden Satelliten einfallen, die man über dem Landstrich hat abstürzen lassen, der Area X genannt wird; weil es so einfach war, weil es eine perverse Art von Sinn machte, Weltraumschrott derart im Handumdrehen zu entsorgen, selbst wenn man es als einen Akt von mangelndem Respekt sehen kann, Area X in einen Müllhaufen zu verwandeln, der eine Gottheit mit mangelndem Selbstbewusstsein vielleicht erzürnt. Mal davon abgesehen, dass Area X nie reagiert hat, nicht einmal auf diese Beleidigung.

Die Linguisten sind nicht das eigentliche Problem, nicht einmal Central. Das Problem heißt Lowry, denn Lowry kennt dein Geheimnis – dass du in der Gegend aufgewachsen bist, die dann zu Area X wurde –, und deshalb musst du in angemessenem Rahmen versuchen, ihm das zu geben, was er haben will. Lowry hat Schweiß und Blut anderer Menschen in das Konzept der Expeditionen investiert, und das impliziert die Vorstellung von der Grenze als einer wahrhaft undurchdringlichen Barriere; was bedeutet, dass er sicher und auf der richtigen Seite der Wasserscheide ist. Während Whitby immer wieder seinen unkonventionellen Standpunkt ins Spiel bringt: »Was auch immer wir von der Grenze halten, es ist wichtig, sie als eine Eingrenzung von Area X zu sehen.« Ist das wichtig?

Was dir wichtiger erscheint: Stimmt es, dass Lowry skrupellos geworden ist, seitdem er bei Central Fuß gefasst hat? Dass er sich dort völlig eingeigelt und abgeschottet hat? Diese Gerüchte haben dich im Laufe der Jahre immer wieder und regelmäßig erreicht – als würdest du in einem düsteren, schweigenden Wald wandern und den fernen Klang eines Windspiels hören. Der wie ein Lockruf klingt und alle Annehmlichkeiten der Zivilisation verspricht, aber wenn der Suchende am Ende dieses speziellen Pfades ankommt, findet er nichts als einen Schlachthof, in dem sich die Leichen bis zur Decke stapeln. Und was wäre ein besserer Beweis dafür als die Leichtigkeit, mit dem er Pitman, deinen eigentlichen Boss bei Central, ausgestochen hat und immer mehr Druck macht, was Ergebnisse betrifft?

Mitten im elften Zyklus der Expeditionen spürst du, dass deine Erschöpfung zunimmt, und Central setzt inzwischen andere Prioritäten. Der breite Zustrom von neuen Mitarbeitern, Geld und Equipment ist zu einem Tröpfeln geworden, da Central inzwischen den größten Teil der Zeit darauf verwendet, den Inlandsterrorismus zu bekämpfen und alle Anzeichen, die auf eine um sich greifende Zerstörung der Umwelt deuten, zu verheimlichen.

Nach langen Arbeitstagen kehrst du nach Bleakersville zurück, aber das ist längst kein Refugium mehr. Die Gespenster folgen dir, sitzen auf der Couch oder glotzen durchs Fenster. Gedanken, die dir alles andere als willkommen sind, schleichen sich in den unmöglichsten Augenblicken ein – in eine Lagebesprechung, zum Lunch mit Grace in der Cafeteria, auf der müßigen Suche nach den neuesten Wanzen, die Central in deinem Büro installiert hat: Vielleicht ist es das alles nicht wert, vielleicht erreichst du überhaupt nichts. Jede Expedition fügt weiteres Gewicht zu der Last hinzu, die du trägst.

»Ich hätte Direktor werden können«, hat Lowry mal geprahlt, »aber dann ging im Cockpit eine Warnleuchte an und ich habe den Wink verstanden.« Die Warnleuchte ist die Angst, die Lowry mit sich herumschleppt, aber das würde er niemals zugeben. Die grausame Heiterkeit, die ihn antreibt, als wüsste er, dass er Unmögliches verlangt.

Immer in Sorge, wie ein ständiges leichtes Fieber, dass irgendjemand in Southern Reach hinter dein Geheimnis kommt, dass Lowry nicht dazu in der Lage ist, diese Information für immer geheim zu halten – oder er das Geheimnis selbst enthüllt, weil er beschlossen hat, dass du austauschbar bist. Ein Sicherheitsrisiko. Eine Lügnerin. Gefühlsmäßig zu involviert. Dabei traust du nichts weniger als Mitgefühl, das weist du weit von dir und ziehst es vor, für alle außer Grace, kühl, abweisend, sogar schroff zu erscheinen, sodass du einen klaren Kopf haben und objektiv sein kannst … obwohl dieses Vorgehen dich auch ein wenig kühl, abweisend und schroff gemacht hat.

Und du kannst es zwar nicht quantifizieren, aber du glaubst, dass Lowrys Herangehensweise Southern Reach weiter von den Antworten forttreibt. Und schlimmer noch, deiner Ansicht nach, und in Erinnerung, aber ohne Nostalgie, an deine Zeit als Psychologin: Lowry hat sich selbst dazu verdammt, auf zahllosen Wegen seine eigenen schrecklichen Erfahrungen in Area X immer wieder zu durchleben, sodass er sich nie davon befreien kann und der oberflächliche Versuch, Distanz zu entwickeln, sich in ein permanentes Klammern verkehrt hat.


Dein anderer Zufluchtsort ist das Dach von Southern Reach – das der verrückte, gewundene First, der einmal um das Dach herumläuft, vor Blicken schützt. Außer Reichweite, kurz AR, im Winter auch mal »Argh« und im Sommer dann »Ahmm« oder »Aha« oder »Ahoi!«. Und wenn es um ein paar Drinks nach der Arbeit geht, immer B-A-R.

Du teilst diesen geheiligten Platz mit nur einem Menschen: Grace. Ihr diskutiert die Ideen, die dir im Star Lanes kommen, kaut alles durch, und keiner kann euch stören, denn außer dir, Grace und dem Hausmeister hat niemand einen Schlüssel. Es passiert häufig, dass die anderen versuchen, dich aufzustöbern, aber du verschwindest einfach und keiner weiß, dass du auf dem Dach wiederauftauchst, außer Reichweite, AR.

Dort oben, mit Blick auf den prähistorischen Sumpf und die sich meilenweit erstreckenden Kiefernwälder, erfindet ihr all die Spitznamen: Die Grenze ist »der Graben« und der Weg hinein »die Vordertür«, obwohl ihr beide wie immer hofft, noch einen »Nebeneingang« oder eine »Falltür« zu finden. Die topografische Anomalie, auch Tunnel genannt, heißt bei euch nur »El Topo«, nach einem merkwürdigen Film, den Grace mal mit ihrer Freundin gesehen hat.

Ein Großteil davon ist einfach albern, aber im jeweiligen Augenblick lustig, besonders wenn du eine Flasche Brandy dabeihast, oder sie Zigaretten mit Kirschgeschmack mitbringt und ihr euch in die Liegestühle fläzt und brainstormt oder über die kommende Woche redet. Grace weiß über Chipper’s Bescheid, genauso wie du über ihre Kanutouren mit Freunden, ihre »Paddelsucht«. Du brauchst ihr auch nicht zu sagen, dass sie nicht bei Chipper’s auftauchen soll, und ebenso wenig würdest du dich aufdrängen und an einer Kanutour teilnehmen wollen. Eure Freundschaft ist so breit und so tief wie Southern Reach.

Auf dem Dach redest du mit Grace auch zum ersten Mal über deine Idee, Area X einen Besuch abzustatten. Mit der Zeit ist daraus mehr geworden als nur ein beiläufiger Gedanke – als Code, der Metastasen gebildet hat, als »Geschäftsreise mit Whitby«, denn die Expeditionen der zehnten und elften Runde sind gut gelaufen, obwohl es immer noch keine Antworten gibt.

Du brauchst ihren Rat, kannst Grace aber nicht mitnehmen. Denn das hieße, beide Köpfe auf einmal abzuschlagen, falls etwas schiefläuft, und du glaubst auch nicht, dass sie die Richtige dafür ist; zu viele Verbindungen zum Leben. Kinder. Schwestern. Einen Exmann. Eine Geliebte. Du witzelst, dass Grace dein »externer moralischer Kompass« ist und besser als du weißt, wo es Grenzen gibt. »Zu normal«. Hast du mal auf eine Serviette gekritzelt.

»Warum lässt du zu, dass Lowry dir Vorschriften macht?«, fragt Grace eines Nachmittags, nachdem du das Gespräch in diese Richtung gelenkt hast. Du wiegelst ab und denkst nach. Lowry ist nicht ein direkter Vorgesetzter, mehr wie ein indirekter, steht nicht am Ende der Befehlskette, hat aber trotzdem das Heft in der Hand. Grace sollte wissen, wie Lowry es geschafft hat, sich in Central festzusetzen, und wie er es geschafft hat, dich unter Kontrolle zu bringen, und du hast es geschafft, diese Informationen vor Grace zu verbergen.

Du weist Grace darauf hin, dass es eine Provinz dieses Königreichs gibt, die du kontrollierst, in der Lowry keinen Einfluss hat: All das, was die Expeditionen aus Area X zurückbringen. All das geht durch die Hände von Southern Reach, und als die letzte elfte Expedition mit nichts anderem als ein paar verschwommenen Fotografien zurückkommt, die die vorherige oder noch eine frühere Expedition im Basislager zurückgelassen hat, nimmst du dir die Bilder vor und starrst sie stundenlang an. Eine Ansammlung von Schatten vor einem schwarzen Hintergrund. Aber ist das eine Mauer? Ist dies eine Struktur, die dich an Fotos anderer Expeditionen erinnert? Also suchst du alle Fotos heraus, die in »El Topo« aufgenommen worden sind. Es sind dreizehn, und ja, auch die neuen könnten im Tunnel gemacht worden sein. Dieser Schatten, diese schwachen Umrisse eines Gesichts … kennst du das? Machst du einen Fehler, wenn du annimmst, dass es etwas bedeutet?

Du beichtest Grace deinen schlichten Plan, zeigst ihr einige der Hinweise und würdest darauf wetten, dass sie dich nicht bei Central verpfeift – weißt aber, dass sie es aus Respekt vor den Vorschriften vielleicht doch tun würde. Denn du befürchtest, dass alles, trotz der guten Gründe, der Fakten, auf eins hinausläuft: das tiefe Gefühl, es leid zu sein, wenn wieder eine Expedition nicht zurückkommt, oder nur die Hälfte der Leute zurückkommen, oder mit leeren Händen zurückkommen. Es ist an der Zeit für einen Paradigmenwechsel.

»Nur eine kurze Spritztour nach El Topo und zurück. Wird keiner je erfahren.« Aber Lowry könnte es herausbekommen. Was wird er tun, wenn er herausfindet, dass sie die Grenze ohne seine Genehmigung überquert hat? Wird er seine Wut nur an dir auslassen?

Grace schweigt eine Weile und sagt dann: »Was kann ich dazu beitragen?« Denn sie versteht, dass es wichtig ist und dass du es so oder so machst, ob mit ihrer Hilfe oder ohne. »Und glaubst du, dass du Whitby überzeugen kannst?«

»Das kann ich bestimmt«, sagst du, und Grace schaut skeptisch drein.

Aber Whitby ist kein Problem. Whitby ist gierig, er jault wie ein Terrier, der auf einen langen, langen Spaziergang lauert. Whitby will schon seit einer Weile raus aus der Wissenschaftsabteilung. Whitby ist derjenige, der dir den Rücken stärkt, indem er auf die Überlebensquote der letzten Expeditionen verweist. Whitby ist von dieser Chance so animiert, dass du fast vergessen könntest, wie gefährlich das Ganze ist.

Es ist eine große Erleichterung, denn am folgenden Wochenende begreifst du beim Small Talk mit der Immobilienmaklerin, dass die Vorstellung, alleine zu gehen, dir Angst gemacht hat. Begreifst, während du dem Footballspiel im Fernseher unter dem löchrigen und rostenden Firmament der Bar folgst, dass du das ganze Unternehmen vielleicht abgesagt hättest, wenn Whitby nicht Ja gesagt hätte.


Nachdem du das Tor durchschritten hast, fühlst du eine Art Druck, der dich niederpresst, siehst einen schwarzen Horizont voller Sternschnuppen, deren Schweife so voll und weit über den Nicht-Himmel leuchten, dass du beim Anblick dieser Fackeln eines himmlischen Brandstifters blinzeln musst. Ein Schwanken, ein Schwindel, aber jedes Mal, wenn du zu sehr nach der einen oder anderen Seite taumelst, stupst dich etwas zurück in die Mitte, als würden die Ränder näher sein, als es scheint, sich zu einem steilen Winkel aufrollen. Deine Gedanken schwirren hin und her, und zwischen ihnen blitzt etwas Unbekanntes auf, das du nicht identifizieren kannst. Du willst aufhören, zu gehen, einfach nur dort stehen bleiben, in diesem Korridor zwischen der realen Welt und Area X, für immer.

Derweil schlurft der hypnotisierte Whitby mit geschlossenen Augen weiter, über sein Gesicht zucken Ticks wie ein Gewitter, als hätte er intensive Träume. Was immer ihm im Kopf herumspukt, du hast dafür gesorgt, dass er nicht verloren geht, nicht einfach während des Transits stehen bleibt. Du hast ihm eine Nylonschnur um die Handgelenke und diese an dich gebunden, und so stolpert er hinter dir her.

Dass Whitby lahm wie eine Schnecke ist, bereitet dich auf das vor, was als Nächstes kommt, das Gefühl, durch hüfthohes Wasser zu waten, der Widerstand, der bedeutet, dass es nicht mehr lange dauert, ein Hinweis auf das intensive, wirbelnde Lichttor weit vor dir, und es wird auch Zeit, denn bei all deinem stoischen Schreiten beginnt Whitbys Traumzeit auch auf dich überzugreifen, macht dich glauben, dass Dinge in dich hineinsehen. Du verlierst jedes Gefühl dafür, wo du bist, egal in Bezug worauf, sogar in Bezug auf deinen Körper … Bewegst du dich wirklich vorwärts, oder stehst du still und nur dein Gehirn glaubt, dass du die Füße hebst, sie wieder senkst, und wieder hebst?

Bis dann der Widerstand plötzlich wegfällt und ihr beide durch das Tor und hinaus nach Area X taumelt. Whitby fällt vornüber, umarmt den Boden, zittert in Krämpfen und du ziehst ihn hoch und vom Tor weg, damit er nicht versehentlich in die falsche Richtung taumelt und für immer verschwindet. Er schnappt nach Luft, ihr beide schnappt nach Luft, die so frisch ist, dass ihr euch erst daran gewöhnen müsst.

Und was für ein blauer, wolkenloser Himmel. Ein Weg, den du kennen müsstest, aber es ist schon Jahrzehnte her, dass du zuletzt an der vergessenen Küste warst. Es wird noch eine Weile dauern, bis du dich wieder wie zu Hause fühlst. Du kennst den Weg mehr von Fotos und den Berichten der Expeditionsteilnehmer, weißt, dass er schon vor den ersten Eindringlingen hier entlangführte, und er hat sogar überlebt, wenn auch überwachsen, als Teil von Area X.

»Kannst du gehen?«, fragst du Whitby, nachdem du ihn wieder zur Besinnung gebracht hast.

»Natürlich kann ich gehen.« Voller Begeisterung, die doch ein wenig brüchig klingt, als hätte unterschwellig bereits etwas daran genagt.

Du fragst ihn nicht, was er geträumt, was er gesehen hat. Du willst es nicht wissen, bis ihr wieder zurück und auf der anderen Seite seid.

Du hast dir die unter Verschluss gehaltenen Videoclips der zum Untergang verurteilten ersten Expedition noch einmal angesehen, nicht um Antworten zu finden, sondern um nach einer Verbindung mit der Wildnis zu suchen, die du als Kind gekannt hast. Um deinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, dich an etwas zu erinnern, was verschüttet war – ohne auf die Schreie zu achten, die Verwirrung, die Verständnislosigkeit, auf Lowrys Tränen und die Dunkelheit.

Dort drüben kannst du die Reihen der Felsblöcke am Leuchtturm erkennen, bereits leicht verändert, als ließe sich Whitbys Terroir schon an den Mustern festmachen, die die Brandung in den Sand schreibt. Als ob dort unten, zwischen all den Sandkrebslöchern und winzigen Muscheln, die sich gleich wieder eingraben, wenn eine Welle sie freigespült hat, irgendeine Probe sämtliche Antworten bereithalten würde.

Und auch die Wege: eine düstere Stille zwischen den Kiefern und im dichten Unterholz, das von wenigen Flecken blassen Lichts marmoriert wird. Deine eigene Erinnerung, im Alter von sechs Jahren durch einen Sturm orientierungslos und verloren aus dem Wald zu kommen und nicht zu wissen, wo du bist – wieder hochgeholt durch die behutsame, stille Art, mit der der Expeditionsleiter auf drohend heraufziehende Wolken hinweist, als würden die mehr ankündigen als die Notwendigkeit, einen Unterschlupf zu suchen.

Nach dem Sturm sind Sonne und Landschaft wie eine Offenbarung, und dann siehst du dich einem riesigen Alligator gegenüber, der den engen Weg versperrt, der rechts und links von Wasser gesäumt ist. Du nimmst Anlauf und springst einfach darüber hinweg. Du hast deiner Mutter nie von diesem Hochgefühl erzählt, und wie du es mitten im Sprung gewagt hast, nach unten zu sehen und in das gelbe Auge zu starren, die dunkle vertikale Pupille, ein abschätzender Blick, der dich verschlingt, so wie Area X die erste Expedition verschlungen hat, und dann bist du drüber und weg und läufst und läufst aus purer Freude – pures Adrenalin, als hättest du gerade die ganze Welt erobert.

In den Videos laufen sie zum Ende hin vor etwas weg, nicht auf etwas zu, und die Schreie verkünden keinen Triumph, sondern eine Niederlage – müde Schreie, die vom Überdruss eines Kampfes mit einem Gegner künden, der sich nicht richtig zeigt. In deinen zynischeren Momenten hast du gedacht, dass es routinemäßige Schreie sind: die eines Individuums, das weiß, dass es keinen Sinn macht zu kämpfen, der Körper kapituliert und der Kopf lässt das zu. Sie waren anders verloren als du an diesem Tag; sie hatten kein Haus am Meer, in das sie zurückkehren konnten, keine Mutter, die außer sich vor Sorge auf der Veranda hin und her tigerte und glücklich war, als du nass bis auf die Knochen und verdreckt wiederaufgetaucht bist.

Etwas auf deinem Gesicht muss das Hochgefühl noch widergespiegelt haben, denn sie hat nicht mir dir geschimpft, hat dich nur in trockene Sachen gesteckt und dir Essen gemacht und keine Fragen gestellt.

Du gehst am Abzweig zum Basislager vorbei und direkt in Richtung topografische Anomalie, denn du hast das Gefühl, dass die Zeit drängt – irgendwo tickt eine Uhr. Du hast nie mit Whitby darüber gesprochen, aber je länger man sich hier aufhält, je länger man hier herumtrödelt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe. Das Alligatorauge starrt dich an, und hinter dem starren Blick scheint es mehr Bewusstsein zu geben, als du in Erinnerung hast. Irgendjemand außerhalb des Blickwinkels der Kamera sagt am zweiten Tag der ersten Expedition: »Ich will nach Hause«, und Lowry albert völlig selbstgewiss herum: »Was meinst du damit? Das hier ist jetzt unser Zuhause. Wir haben hier doch alles. Alles, was wir brauchen. Oder nicht?«

Inzwischen ist das drängende Gefühl stärker geworden, das sich in den sumpfigen Wäldern ein oder zwei Meilen hinter der Grenze eingestellt hat, dort, wo die Bäume auf die feuchten Kanäle voller schwarzem Wasser stoßen. Dort hast du früher häufig Bärenspuren gesehen, und irgendetwas raschelte im Dunkeln und wird durch die Bäume verdeckt.

Whitby schweigt meistens, aber wenn er etwas sagt, tragen seine Fragen und Befürchtungen nicht dazu bei, den Eindruck eines ewigen und unvergänglichen Plans zu vertreiben, nach dem dieser Landstrich okkupiert worden ist. Die bewegungslosen, schweigenden Gewässer, die beklemmende Schwärze eines Himmels, aus dem das Blau nur in erschreckenden Abständen durch die Bäume schimmert, nur um gleich wieder zu verschwinden, und sowieso immer von irgendwo sehr weit her zu kommen scheint. Ist das hier die Lichtung, auf der die drei Männer der fünften Expedition starben? Hat dieser Teich die Körper der Männer und Frauen der achten geschluckt? Manchmal schreckt Whitbys schreckensbleiches Flüstern dich auf, ist wie eingewoben in diese Erinnerungen, die alles zu überlagern scheinen, ein untrennbares Echo der vergangenen letzten Tage.

Schließlich erreichst du eine Landschaft, die freundlicher wirkt, an die du dich gewöhnen kannst, wo Vergangenheit und Gegenwart wieder miteinander verschmelzen. Hier trennt ein breiterer Weg die feuchten Sumpfwälder von offenem Land und gibt dir deinen Horizont zurück, den ein paar wenige hohe Kiefern zwischen dem Steppengras und Ringen aus Palmen bilden. Der Wald und die Düsternis wirken wie abgeschnitten und werfen einen scharfkantigen Schatten über die Hälfte des Weges.

Es gibt noch andere Grenzen innerhalb von Area X, andere Herausforderungen, und du hast gerade mal eine gemeistert, um zur topografischen Anomalie zu gelangen.

Dort angekommen, ist dir sofort klar, dass der Turm nicht gemauert ist – und Whitby merkt das auch. Sein Gesichtsausdruck ist undurchdringlich, aber wünschte er sich jetzt, von dir konditioniert worden zu sein, das ganze Training durchlaufen zu haben, das Central zur Verfügung stellt, nicht nur deine Halbheiten und lausige Hypnose.

Der Turm atmet. Das steht völlig außer Frage: Das Fleisch der kreisförmigen Oberseite der Anomalie hebt und senkt sich im regelmäßigen Rhythmus eines Wesens, das tief und fest schläft. In keinem der Berichte wird dieser Umstand erwähnt; darauf bist du nicht vorbereitet, gewöhnst dich aber schnell daran, kannst dir sogar schon vorstellen, hinabzusteigen, auch wenn ein Teil von dir immer noch in heller Aufregung ist und sich aufbäumt angesichts der Dummheit deiner Entscheidung.

Wird er aufwachen, während du drinnen bist?

Die Öffnung, durch die es hinab ins Dunkel geht, ähnelt mehr einem Schlund als einem Durchgang, das Gestrüpp ist beiseitegeschoben und bildet in etwa eine runde Umrahmung, als hätte sich hier irgendwann einmal eine Schlange eingeringelt, um die Öffnung zu beschützen. Die Stufen wirken wie eine Ansammlung schiefer Zähne, die Luft von unten riecht kräftig nach Verwesung.

»Ich kann da nicht runter«, sagt Whitby mit solcher Entschiedenheit, dass er sicher zu sein scheint, nicht mehr als Whitby zurückzukommen, sollte er dort hineinsteigen. Sein Gesicht wirkt völlig eingefallen, sogar in diesem leuchtenden Spätsommerlicht, als würde er bereits von einer Erinnerung an etwas heimgesucht, das ihm erst noch bevorsteht.

»Dann gehe ich eben«, erklärst du dich bereit – hinab in den Schlund der Bestie. Andere haben das auch getan, wenn auch selten, und sind zurückgekommen, warum nicht auch du? Mit einer Atemmaske, vorsichtshalber.

Erst später wird sie dir durch Mark und Bein gehen, die verstörende Panik, die Schreckhaftigkeit, die von hier an hinter jeder deiner Bewegungen lauert. Noch Monate später wirst du wund und lädiert aufwachen, als könnte dein Körper nicht vergessen, was geschehen ist, und nur auf diese Art das erlebte Trauma ausdrücken.

Drinnen ist es anders, als die bruchstückhaften Berichte früherer Expeditionen erwarten lassen. Das lebende Gewebe der Wand ist fast bewegungslos, das dürftige Irrlichtern der Ranken, die die Worte formen, so langsam, dass du einen Augenblick lang glaubst, es sei totes Gewebe. Die Worte leuchten auch nicht grün, sondern sind von einem schneidenden Blau, fast wie die Spitzen einer Herdflamme. Das Wort inaktiv kommt dir in den Sinn, und mit ihm eine wilde Hoffnung: dass alles, was weiter unten kommt, auch reglos ist, normal, wenn auch im Grenzbereich dessen, was dieses Wort bedeuten kann.

Du bleibst in der Mitte, willst keine Wand berühren, versuchst, den bebenden Atem des Turms zu ignorieren. Du liest die Worte nicht, denn du betrachtest sie schon seit Langem als eine Art Falle, eine Art Ablenkung … und trotzdem verschwindet das Gefühl nicht, dass alles, was dich verwirren und destabilisieren könnte, noch vor dir liegt, und noch nicht entschieden hat, ob es sich zeigt oder doch unsichtbar bleibt – hinter einer Ecke, jenseits des Horizonts, und mit jeder weiteren leeren Laibung, jeder Treppenbiegung, die von der blauen Flamme toter Worte beleuchtet wird; auf dem Weg ins Unbekannte wirst du zaghafter, steigt der Grad deiner Verletzung, obwohl nichts zu sehen ist. Wie die Hölle, eine Hölle aus nichts, die sich anfühlt wie jeder Augenblick deines Lebens in Southern Reach – grundlos hinabsteigen, vergebens, nur um nichts zu finden. Keine Antwort, keine Lösung, kein Ende in Sicht, die Worte an den Wänden nicht frischer, nur dunkler, scheinen zu welken, wenn du dich näherst … bis, schließlich, du weit, weit unten ein Licht aufblinken siehst – so weit unten, dass es wie eine strahlende Blume in einem Loch auf dem Grund des Ozeans ist, ein flimmerndes, kaum fassbares Licht, das wie durch den Trick eines Magiers gleichzeitig direkt vor deinem Gesicht zu schweben scheint und dir die Illusion gibt, dass du nur die Hand ausstrecken musst, um es berühren zu können; falls du den Mut dazu findest.

Aber nicht das lässt deine Knie weich werden, einen Blutschwall durch dein Gehirn jagen.

An der linken Wand sitzt zur Seite gesunken eine Gestalt und starrt die Treppenstufen hinab.

Eine Gestalt mit gebeugtem und von dir abgewandtem Kopf.

Ein Prickeln zieht sich über deinen Kopf unter der Maske, als würden eine Million kalter Nadeln sanft und nahtlos, ja geradezu schmerzlos hineingesteckt werden, so ungemein beiläufig und unsichtbar, dass du dir einbilden kannst, es sei einfach ein Hitzeschauer, eine Spannung der Haut um die Nase, die Augen, das sanfte Versenken der Nadeln in ein Nadelkissen, die Rückkehr von etwas, das schon immer dort hingehört.

Du versicherst dir selbst, dass dies ebenso real oder irreal ist wie Bowling bei Chipper’s, wie das Nilpferd mit der roten Farbe unter der Haut, wie in Bleakersville zu leben und in Southern Reach zu arbeiten. Dass dieser Augenblick genau wie jeder andere ist, dass es für die Atome keinen Unterschied macht, für die Luft, für das Wesen, dessen Wände um dich herum atmen. Dass du mit dem Betreten von Area X das Recht verwirkt hast, irgendetwas als unmöglich zu bezeichnen.

Du gehst näher heran, angezogen von diesem unmöglichen Ding, und setzt dich daneben auf die Stufe.

Die Augen sind geschlossen. Das Gesicht ist von einem tiefen blauen Schimmer erhellt, der von innen kommt, als hätte etwas die Macht über seine Haut ergriffen, und er ist so porös wie Tuff. Er ist mit der Wand verschmolzen, oder ragt aus ihr heraus, wie eine Erweiterung der Wand, etwas, das hervorsteht, aber jeden Augenblick wieder hineingezogen werden könnte.

»Bist du wirklich?«, fragst du, aber er gibt keine Antwort.

Du streckst eine bebende Hand aus, von Ehrfurcht ergriffen vor seiner Erscheinung, willst wissen, wie sich diese Haut anfühlt, selbst wenn du befürchten musst, dass er unter deiner Berührung zu Staub zerfällt. Deine Finger wandern über seine Stirn, die sich rau und feucht anfühlt, wie Sandpapier unter Wasser.

»Kannst du dich an mich erinnern?«

»Du solltest nicht hier sein«, flüstert Saul Evans. Seine Augen sind geschlossen; er kann dich nicht sehen, und trotzdem weißt du, dass er dich sieht. »Du musst von den Felsen runter. Die Flut kommt.«

Du weißt nicht, was du sagen sollst. Du wirst sehr lange nicht wissen, was du sagen sollt. Es ist schon so lange her, dass du ihm geantwortet hast.

Inzwischen kannst du von unten das alles aufsaugende Summen einer gewaltigen Maschine hören, die schnellen Drehungen seltsamer Sphären, und das Licht unter dir, das unmöglich blühende Licht beginnt zu fluktuieren, verändert sich, wird zu etwas anderem.

Seine Augen schnappen auf, leuchten weiß in der Dunkelheit. Er hat sich überhaupt nicht verändert, seitdem du ihn zum letzten Mal gesehen hast, ist nicht gealtert, und du bist wieder neun und das Licht von unten kommt zu dir, jagt die Stufen hoch auf dich zu, schnell, und dann hörst du das Echo von Whitbys Schrei ganz oben im Turm, als würde er für euch beide schreien.

Akzeptanz

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