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1. Einführung 1.1. Zur geschichtlichen Beschreibung jüngerer niederländischer Sprache und Sprachkultur

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Wie verbreitete und entwickelte sich das Allgemeine Niederländisch (AN) in der neuesten Zeit? Und inwiefern kam es zu einer Vereinheitlichung der drittgrössten germanischen Sprache? Zur Erörterung solcher und ähnlicher Fragestellungen werden im vorliegenden Buch unter Berücksichtigung der einschlägigen Fachliteratur bedeutsame Erneuerungen des modernen Niederländischen in seinem politischen, sozialökonomischen und kulturellen Kontext seit 1800 dargestellt.

In dieser Betrachtungsweise des sozio- und dialektfreien Niederländischen steht die allgemeine Sprache, welche die Sprecher in sekundärer Kommunikation (vgl. 1.2.) verwenden, im Mittelpunkt. Erneuerungen der Schriftsprache, die sich bereits in der frühen Neuzeit etabliert hatte, sowie die Ausprägung und zunehmende Verwendung des gesprochenen AN erhalten dabei besondere Aufmerksamkeit. Dieses kultivierte Niederländisch, das sich als gesprochene Form im 19. Jh. zuerst zögerlich durchsetzte, festigte sich im 20. Jh. als dominierende Varietät in den Niederlanden, Belgien, Surinam und auf den ehemaligen niederländischen Antillen.

Sprachliche Varietäten, die man als die Soziolekte und Dialekte des Niederländischen zusammenfassen kann, kommen im Folgenden somit nur unmittelbar zur Sprache. So wird zum Beispiel bei einer Besprechung der Bedeutung der Bühnenkunst für die Verbreitung des AN wohl festgehalten, dass eine Mehrheit der Schauspieler im 19. Jh. hemmungslos sowohl Mundarten als auch Gassensprache verwendete. Auf eine systematische Beschreibung solcher Varietäten wird in diesem Kontext aber verzichtet. Ein dazu notwendiger Versuch, die ‚sprachliche Wirklichkeit‘ der unterschiedlichen sozialen Schichten in den verschiedenen Regionen historisch umfassend darzustellen, würde über die oben formulierten Fragestellungen hinausgehen.

Zwar legt die hier gewählte Arbeitsweise, die in der Geschichtsschreibung europäischer Sprachen eine längere Tradition kennt (vgl. u.a. Elspass 2007), somit das Hauptgewicht auf das Niederländische einer zuerst kleinen Gruppe von gebildeten Sprachteilnehmern, das sich später zur dominanten Sprachvarietät herausbilden sollte. Trotzdem ist ein solches Vorgehen in diesem Rahmen nicht zwangsläufig als einseitig (vgl. Watts et al. 2002) einzustufen, da das vorliegende Buch die Herausbildung und Kultivierung der allgemeinen Sprache des niederländischen Sprachgebietes zum Gegenstand hat. Neuere Forschung anderer Sprachvarietäten des Niederländischen der vergangenen Jahrhunderte, so beispielsweise zu Ego-Dokumenten aus dem 17. und 18. Jh. (vgl. Van der Wal et al. 2010), zur Geschichte von Dialekten (Van Bree [2014]) oder zu Texten lokaler Behörden in den südlichen Niederlanden (Willemyns et al. 2000) ergänzt zunehmend das Bild der ‚sprachlichen Wirklichkeit‘ in früheren Zeiten. Sie wäre für deutschsprachige Leser separat in einem Handbuch zu einer soziolinguistischen Geschichte der niederländischen Sprachlandschaften darzustellen.

Private und staatliche Bemühungen begünstigten im 19. Jh. die Vereinheitlichung des überregionalen Niederländischen, das sich in der frühen Neuzeit herausgebildet hatte (vgl. 1.2.). Gesellschaftliche Erneuerungen wie Bildungsreformen, die Entstehung von Massenmedien, das Aufkommen des Personenverkehrs, die Erfindung und Anwendung neuer Kommunikationsmittel sowie die zunehmende Binnenmigration beschleunigten die Verbreitung des AN während den letzten zwei Jahrhunderten. Daher erhalten die Umstände, welche die Ausdehnung des AN förderten, in der vorliegenden Monografie besondere Aufmerksamkeit. Neben solchen äusseren Grössen der sprachlichen Entwicklung des AN stehen sprachimmanente Erneuerungen des Niederländischen zur Diskussion. Diese internen Grössen umfassen namentlich Änderungen der Laute, der Syntax und der Morphologie sowie die Erweiterung des Lexikons.

Änderungen der niederländischen Sprache und Sprachkultur des 19. Jh. werden im 2. und 3. Kapitel in Einzelheiten dargestellt. Dazu werden einige eingreifende gesellschaftliche Erneuerungen, die in dieser Zeit die Verbreitung des überregionalen Niederländischen förderten, näher beleuchtet. Wie das AN im 20. Jh. zur dominanten Sprachvarietät heranwuchs, kommt im 4. Kapitel zur Sprache. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern das AN als Standardsprache im gesamten niederländischen Sprachgebiet einzustufen ist.

Die Festigung und Ausdehnung des AN beruht auf komplexen Vorgängen, die sich durch eine weitere Kodifizierung und Kultivierung der vorhandenen Schriftsprache seit napoleonischer Zeit und eine zuerst langsame, dann immer schneller fortschreitende Vereinheitlichung gesprochener Formen des sozio- und dialektfreien Niederländischen kennzeichnen. Für eine Erörterung dieser sprachgeschichtlichen Entwicklungen ist das moderne Niederländische zuerst begrifflich näher zu bestimmen, vgl. 1.1.1. Sodann sind die sprachimmanenten Erneuerungen sowie die externen Bedingungen der sprachlichen Änderungen als konstante und inkonstante Grössen zu definieren, vgl. 1.1.2.

Die Ursprünge des modernen Niederländischen sind in einer altniederländischen Schreibtradition zu finden, die in der zweiten Hälfte des ersten Millenniums entstand. Sie bildete eine der Voraussetzungen für die Etablierung der mittelniederländischen Verkehrs-, Literatur- und Verwaltungssprache im Maas-Schelde-Rhein-Delta (vgl. 1.2.1.). Daraus bildete sich in der frühen Neuzeit das Neuniederländisch als Kultursprache heraus, die im Handel, im Verkehr, in der Verwaltung, in der Literatur und sogar in der Religion und der Wissenschaft ihre Anwendung fand (vgl. 1.2.2.). Diese zunehmend kodifizierte und reglementierte niederländische Schriftsprache sollte mit der gesprochenen Sprache der gebildeten Bürger der holländischen Städte das AN prägen.

Handbuch Niederländisch

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