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3.2.2. Verbreitung des entstehenden Niederländischen

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Sprachformen, die zu den oben skizzierten Entwicklungen zu rechnen sind und aus heutiger Sicht zu den wesentlichen Merkmalen des entstehenden Niederländischen gehören, drängten in der zweiten Hälfte des ersten Millenniums vom Westen aus in die östlichen wie auch in die südwestlichen Sprachvarietäten durch oder überlagerten sie. In der Folge entstand ein niederländisches Sprachgebiet, das vom Altsächsischen im Osten, vom Ripuarischen im Südosten, von entstehenden romanischen Dialekten im Süden, vom Altenglischen mit der natürlichen Grenze der Nordsee im Südwesten und Westen sowie von altfriesischen Dialekten in den weiter nördlich beziehungsweise nordöstlich gelegenen Küstengegenden eingekreist wurde, vgl. Abb. 5.


Abb. 5: Altniederländisch zwischen Altsächsisch, Ripuarisch, Altfranzösisch, Altenglisch und Altfriesisch vgl. Bosatlas 87.

Nach Osten vollzogen sich die spezifisch niederländischen Sprachentwicklungen von der Nordseeküste über die volle Breite des Deltagebietes. Je nach Zeitalter und gesellschaftlichen sowie politischen Umständen ist das Gebiet, in dem sich dieses überregionale Niederländische durchsetzte, im Osten des Deltas unterschiedlich abzugrenzen (vgl. 5.1.3.2.). Anders als bei einer Beschreibung der Grenze zwischen germanischen und romanischen Sprachvarietäten lassen sich benachbarte Dialekte im Osten des Deltas in einem früheren Zeitalter auf Anhieb schwierig als ‚niederländisch‘ beziehungsweise ‚deutsch‘ einstufen. Nicht nur fehlt es an genügend primären Quellen, die aus den Grenzregionen stammen, auch die Auswahl der zu berücksichtigenden Merkmale, die eine derartige Unterscheidung rechtfertigt, scheint eher willkürlich. Zwar kann man einen Plural des finiten Verbs im Präsens wie wi maakt (‚wir machen‘) als altsächsisch, die Form wi maken als altniederländisch deuten, die benachbarten Sprachvarietäten ähneln sich dennoch in so vielen Hinsichten, dass von einem Dialektkontinuum auszugehen ist. Da im vorliegenden Buch die Entwicklung früherer Stufen des überregionalen Niederländischen als überdachende Sprache der dialektischen Varietäten im Mittelpunkt steht, ist allerdings auf eine Darstellung möglicher Übereinkünfte zwischen lokalen ‚niederländischen‘ und ‚deutschen‘ Sprachvarietäten zu verzichten. Innere Grössen des entstehenden Niederländischen, wie in 3.2.1. beschrieben, sowie äussere Grössen, so die oben erwähnte altniederländische Übersetzung einer deutschen Vorlage, begründen diese Beschreibungsperspektive.

In südwestlicher Richtung reicht die Verbreitung des Niederländischen bis in den Norden Frankreichs, allerdings markiert die gesetzlich festgelegte niederländisch-französische Sprachgrenze in der Gegenwart den südlichen Rand des Gebietes der niederländischen Standardsprache. Als Voraussetzung der mittelalterlichen Ausdehnung des Niederländischen bis nach Nordfrankreich ist die Germanisierung des Schelde-Deltas sowie des flämischen und französischen Küstengebietes zu nennen, die in spätantiker Zeit durch die Einfälle der Germanen in Gallien (vgl. 2.1.2.), die Entstehung fränkischer Niederlassungen und die Einwanderung von Friesen und Sachsen erfolgt war. Die südliche Grenze dieses Gebietes, wo Vorläufer des Niederländischen entstehen sollten, verlief wahrscheinlich von Lille nach Béthune in Richtung des Canche- oder Kwinte-Flusses südlich von Boulogne. Detaillierte Beschreibungen dieser Entwicklungen, die in der Vergangenheit gelegentlich zu spekulativen, manchmal politisch motivierten Diskussionen über die südliche Grenze des germanisierten Gebietes in Frankreich führten, wie u.a. H. Ryckeboer festhält, haben komplex zusammenhängenden Befunden verschiedener Fachbereiche wie Geschichte, Archäologie oder historische Sprachwissenschaft Rechnung zu tragen. So zeugen Ortsnamen im heutigen Nordwesten Frankreichs und im Südwesten Belgiens auf -iaca(s), soweit dies nicht keltisch ist, gefolgt von -curtis (heute -cort) oder -villa (heute -ville) von fränkischen Niederlassungen in der Gegend von Atrecht. Ortsnamen auf -inga (heute -gem) und -haim (heute -hem) belegen, dass Germanen in der Umgebung von Boulogne und an den Ufern der Schelde Wohnsitz genommen hatten, vgl. frz. Audinghen oder ndl. Oudingem und frz. Merville oder ndl. Meregem. Solche Ortsbezeichnungen setzten sich aus einem Personennamen mit Genitivform des Kollektivsuffixes -inga zur Andeutung der Zugehörigkeit zu Clan und haim (‚Wohnsitz‘) zusammen. So ist Evergehem laut Van der Bauwhede als ‚Wohnsitz des Clans der Person Ever‘ zu verstehen. Sodann zeigen archäologische Befunde, dass Germanen, die namentlich aus Gebieten nördlich des Rheins und aus norddeutschen Küstengegenden stammten, die von den Franken verlassenen Gebiete in Nord-Brabant und in den Kempen, wo noch Reste der spätrömischen Armee zurückgeblieben waren, im 6. Jh. besiedelten. Zudem liessen sich an der nordfranzösischen Küste angelsächsische Einwanderer aus Nord-Deutschland und Süd-England nieder, wie Ortsnamen, die auf -tun enden, vgl. Audincthun, im Departement Pas-de-Calais belegen.

In den eroberten Gebieten entstand zuerst eine germanisch-romanische Gesellschaft, Eroberer und Besiegte lernten gegenseitig ihre Sprachen kennen. Teile der Bevölkerung, die sich hier aus den ursprünglichen gallisch-römischen Bewohnern und den fränkischen Neuankömmlingen zusammensetzte, sind wohl mehrsprachig gewesen, wie Gysseling annimmt. Man vermutet, dass feudale Herrscher, Krieger und freie Bauern Formen des Altniederfränkischen sprachen, die als Vorläufer des Niederländischen gelten dürfen, während aus dem Vulgärlatein entstehende Vorläufer des Französischen in den Städten vorherrschten. So ist hier in merowingischer Zeit von einem zweisprachigen Gebiet mit Diglossie auszugehen. In der Folge haben diverse Orte, so in Hennegau, Namur und Lüttich in diesem mehrsprachigen Gürtel doppelte, romanische wie germanische Namen, so Lüttich mit Liège und Luik.


Abb. 6: Gebiet der niederländisch-französischen Sprachgrenze im Westen nach Ryckeboer 2006.

In den südlich davon liegenden Gebieten Galliens kam es zu einer romanischen Einsprachigkeit, die übrigens von germanischem Einfluss zeugt. So übernahmen die ansässigen Bewohner bis ins 8. Jh. nicht nur Personennamen von den Franken, sondern auch Lehnwörter namentlich in Bereichen wie Landwirtschaft, Häuserbau, Flora, Fauna, Verwaltung, Armee, Jurisprudenz und Gefühlsleben, 15 % des französischen Wortschatzes dürfte germanischen Ursprunges sein. Wie weit südlich der germanische Einfluss reichte, zeigen Beispiele von dem Substantiv vorangehenden Adjektiven wie Neuchâtel, vgl. Châteauneuf, Ortsbezeichnungen auf -court oder -ville mit vorangehenden germanischen Personennamen kommen bis zu einer Linie von Bayeau bis Genf vor.

Landstriche mit einer dünneren germanischen Besiedlung im Nordwesten Frankreichs romanisierten gegen Ende des Millenniums dann schrittweise, im 10. Jh. reichte die Romanisierung des Nordwestens Frankreichs bis zur Leie, westlich von Aire. Die Romanisierung von Gebieten zwischen Boulogne und Sint-Omaars erfolgte wahrscheinlich im 11. Jh., was aus dem Ersatz des Suffixes -eke durch -y in Namen und den Bezeichnungen neuer Niederlassungen auf -ville und -mes hervorgeht. Boulogne war allerdings bis ins 12. Jh. zweisprachig, niederländischsprachige Toponyme in Gegenden nördlich der Stadt finden noch im13. Jh. ihre Verwendung. Inzwischen hatte sich, wohl im 9. Jh., eine romanisch-germanische Sprachgrenze herausgebildet, die sich weiter östlich des Küstengebietes über Jahrhunderte halten sollte (vgl. Abb. 7).

Für eine Einschätzung des Zeitraumes, in dem die niederländischen Sprachmerkmale sich ausbreiteten, ist von einer zeitlichen Staffelung auszugehen. Die Datierung der entsprechenden sprachlichen Erscheinungen lässt sich je nach Quantität und Qualität der überlieferten alt-, mittel- und frühneuniederländischen Quellen einmal genau, dann wieder weniger zuverlässig aufstellen. Aus Belegen literarischer Texte ohne Angaben zur Zeit und zum Ort des Entstehens kann beispielsweise die Verbreitungsgeschichte überregionaler Merkmale weniger eindeutig abgeleitet werden als aus Urkunden, die, allerdings von örtlichen Sprachvarietäten geprägt, naturgemäss genau zu datieren und zu lokalisieren sind. So enthält der Schepenbrief van Bochoute (vgl. 4.3.5.1.) 1249 zum Beispiel die Form selen (‚werden‘) im Satz Descepenen van bochouta quedden alle degene die dese lettren sien selen in onsen here. (‚Die Schöffen von Bochoute grüssen all diejenigen, die diesen Briefen lesen werden im Namen Gottes.‘), die belegt, dass im 13. Jh. auch in Boechaute, Ostflandern, wie in Brabant und Limburg palatale neben nicht-palatalen Varianten von sullen entstanden waren. Übrigens hatten sich in grossen Teilen des kontinentalen Südgermanischen unter Einfluss der Konjunktivformen palatale Varianten der Präteritopräsentia neben nicht-palatalen Formen herausgebildet, so im Mhd. seit Mitte des 11. Jh. und im Mnl. seit dem 12. Jh. in Brabant und Limburg, vgl. mnl. connen neben cunnen (‚können‘), mhd. kunnen neben künnen. Dagegen weisen die westlichen Sprachvarietäten in Flandern und Holland lediglich palatale Varianten auf, in der Folge setzte sich sullen als überregionale Variante durch, Seeland kennt die Form sillen.

Auch wenn die Datierung vereinzelter Erneuerungen im Niederländischen folglich problematisch ist, so lässt sich feststellen, dass ihre Verbreitung sich zeitlich unterschiedlich vollzog. So sind Bildungen wie maakte (‚machte‘) mit t in der Präteritum-Flexion im Zeitalter des Mittelniederländischen belegt, die sogenannte holländische Expansion der ui-Diphthongierung fand erst in der frühen Neuzeit statt und verbreitete sich je nach Wort unterschiedlich. Verallgemeinernd ist festzuhalten, dass der Anstoss zu sprachlicher Erneuerung zuerst sowohl von Holland, Seeland als auch von Flandern aus erfolgte, später stammten Änderungen, die sich überregional durchsetzten, vor allem aus Holland, der dann sprachlich eher erhaltende Südwesten übernahm sie nur noch teilweise. Die folgenden ausgewählten Beispiele, die vor allem aus der dialektgeografischen Forschung stammen, dürften diese Verbreitung niederländischer Sprachmerkmale stichprobenweise ersichtlich machen. Da es sich dabei lediglich um die Aufzeichnung einiger entscheidender Tendenzen handelt, wird hier auf eine Besprechung komplexer Zusammenhänge der Einzelheiten verzichtet. So steht beispielsweise ein möglicher Zusammenhang zwischen spontaner Palatalisierung des sgm. û, Pluralbildungen durch Umlaut oder Flexion und Genussystemen der Substantive wie in Ausführungen von u.a. G. Postma oder P.T. van Reenen nicht zur Diskussion. In diesem Rahmen erübrigt sich zudem eine ausführliche Besprechung der Folgen der Verbreitung des entstehenden Niederländischen für die Dialekte.


Abb. 7: Grenzen des Niederländischen in Europa nach Vandeputte 1997a.

Unter der zunehmenden Einwirkung der westlichen Sprachvarietäten wurde die morphologische Funktion des Umlautes in den östlichen Dialekten angetastet, nur im Osten Nordbrabants, in Limburg, in der Region der Liemers, in der Achterhoek und Twenthe hat er sich zum Teil gehalten. Eine spontane Palatalisierung des ū, die sich in östlicher Richtung verbreitete, bewirkte beispielsweise, dass Alternanzen vom Typus Sing. moes (‚Maus‘), Plur. muze (‚Mäuse‘) in Teilen Brabants und Utrechts verschwanden. Entwicklungen dieser Art vollzogen sich langsam, wie Goossens u.a. mit Beispielen aus Südwestbrabant zeigt, das bis ins 16. Jh. morphologische Umlaute kannte, u.a. in der Bildung des Diminutivs, so in vuesken (‚Füchslein‘) neben vos (‚Fuchs‘) oder in der Pluralbildung meeghden (‚Mägde‘) neben maaghd (‚Magd‘). Vereinzelte Beispiele einer Zunahme des funktionalen Umlautes in östlichen Dialekten, so bei Pluralbildungen, sind übrigens für die Verbreitung des überregionalen Niederländischen nicht von Bedeutung.

Durch Zusammenfall von a und o und Vokalisierung von l entwickelten sich lautliche Cluster wie -ald (-alt) und -old (-olt) im Westen zum einheitlichen -oud (-out). Die Verbreitung dieser Erneuerung erfolgte ebenfalls über die volle Breite des Sprachgebietes in östlicher Richtung, so kommen Wörter wie oud (‚alt‘) und goud (‚Gold‘) im Süden bis in Limburg, im Osten bis westlich der IJssel vor, weiter östlich blieben aber old und gold in den Dialekten erhalten. Als weiteres Beispiel der West-Ost-Verbreitung sprachlicher Entwicklungen erwähnt Goossens die Entstehung von ie aus sgm. eo beziehungsweise ê und oe aus sgm. ô. Bildungen wie lief (‚lieb‘) und diep (‚tief‘), voet (‚Fuss‘) und boek (‚Buch‘) sind im gesamten Sprachgebiet von der Nordseeküste in östlicher Richtung anzutreffen, nur in einigen Streifen im Osten blieben ee und oo in Dialekten, mit vereinzelten Diphthongierungen, erhalten. Ebenso verbreitete sich der Zusammenfall des sgm. â mit dem gedehnten kurzen a in offenen Silben nach Osten, nur in einigen östlichen Gegenden und in einigen Gebieten Hollands, wo beispielsweise â in slapen (‚schlafen‘) geschlossener ist als ā in haten (‚hassen‘), konnte er sich nicht durchsetzen, wie Goossens darlegt.

Sodann entwickelten Verben, die Cluster mit intervokalischen stimmlosen Konsonanten t, k, f, s, ch und p umfassten, im Westen im Präteritum Formen mit t, vergleiche anl. makon (‚machen‘) mit 3. Pers. Ind. Prät. machoda (‚machte‘), dann im mnl. neben makede auch maecte, im ndl. nur maakte. Auch diese Erscheinung unterstützt die Annahme einer Verbreitung niederländischer Sprachmerkmale in östliche Richtung, nur in einigen östlichen Sprachvarianten ist die stimmhafte Assimilation des intervokalischen Clusters erhalten, so die Bildung maagde an Stelle von maakte (‚machte‘). Weiter fand bei historischer Gemination eine Verdrängung des alten okklusiven g durch frikatives g in Richtung Osten statt, so bei Wörtern wie brug (ahd. brucka ‚Brücke‘), vergleiche dazu auch Taeldeman. Dass die sogenannte zweite niederländische Auslautverschärfung sich am Rande des niederländischen Sprachgebietes nicht voll behauptete, wie Goossens darlegt, deutet ebenfalls auf eine Ausdehnung des Niederländischen vom Westen aus. So sind in Dialekten in Limburg und Twente mehr oder weniger stimmhafte Konsonanten im Auslaut anzutreffen, die durch Wegfall des folgenden Schwas in finale Position kamen, so nözz (‚Nase‘), vergleiche ndl. neus.

Weiter brachte die Abwesenheit des funktionalen Umlauts im Westen Erneuerungen morphologischer Teilsysteme mit sich, die sich über das niederländische Sprachgebiet verbreiteten. Durch fehlenden Umlaut brauchte beispielsweise der Plural bei starker Beugung eine neue Markierung, so erhielten Substantive auf -el, -em, -en, -er(d) und -aar(d) eine, möglicherweise aus dem ingwäonischen Substrat stammende (vgl. 3.4.2.4.), -s-Endung. Diese niederländische Pluralbildung verdrängte alte Pluralmarkierungen nach Osten.

Somit zeugen die altniederländischen Quellen von einer Schreibkultur, die sich im Deltagebiet nach Osten, Süden und Südwesten verbreitete und sich durch innere wie äussere Grössen von benachbarten Sprachvarietäten abhob. Sie sollte sich zum überregionalen, je nach Quelle weniger oder mehr lokal gefärbten Mittelniederländischen heranbilden (vgl. 4.2.) und schliesslich zur Entstehung der allgemeinen niederländischen Standardsprache führen (vgl. 5.2., 6.2.).

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