Читать книгу Kurdische Märchen und Volkserzählungen - Jemal Nebez - Страница 5
Direkt zu manchen der ausgewählten kurdischen Märchen
ОглавлениеIn den kurdischen Märchen stehen wie bei den Märchen anderer Völker übernatürliche Wesen und ihre Kräfte im Mittelpunkt, wie Elfen "Parî", Geister "Ğinoka", Teufel "Šaytân", Dämonen "Dêw", oder mit ungewöhnlichen Fähigkeiten und Kräften begabte Menschen, die imstande sind, Übermenschliches zu vollbringen.
Die meisten kurdischen Märchen befassen sich mit der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, wobei es einem Erlöser in Gestalt eines Menschen, eines Geists oder in Gestalt von Dämonen gelingt, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Als Beispiel sei hierfür "Die rote Braut" genannt: Neid und Bosheit (die Stiefmutter) unterdrücken das Gute und Menschliche und wollen Âskol gar vernichten. Hier schaltet sich die rettende Dämonin ein. Sie zieht Âskol gleichsam "am Faden" zu sich. Nach einem Begrüßungsritus, der vielleicht einen Zusammenhang mit der Verehrung von Fruchtbarkeitsgöttinnen hat, soll Âskol eine Höflichkeitsgeste zeigen. Dann wird ihr aufgetragen, wachsam zu sein. Als sie dies erfüllt hat, verleiht ihr die Dämonin unübertreffliche Schönheit. Obwohl die böse Stiefmutter Âskol verstecken will, erblickt sie der Sohn des Schahs und verliebt sich unsterblich in sie. Sie heiraten, und als die böse Stiefmutter Âskol endgültig vernichten will, wird sie von ihrem Gatten gerächt. Der Segen der Dämonin zieht sich durch das ganze Märchen. Bemerkenswert ist das sanfte Eingreifen der Dämonin und die Klugheit, mit der sie straft. Hier, wie in anderen kurdischen Märchen, ist der Dämon (Dêw) kein boshaftes Wesen, sondern wird positiv gesehen. Zu bedenken ist, daß die Kurden vor der Islamisierung Kurdistans vorwiegend Zoroastrier gewesen waren. Der Prophet Zarathustra(6) hat den "Dêw/v", den man früher als "Gott" betrachtete, verflucht und ihn als einen boshaften Teufel bezeichnet. Diese gute Eigenschaft des Dämonen, die in den kurdischen Märchen klar zu sehen ist, trotz seines boshaften Wesens, ist m.E. ein Rest aus altindoiranischer, vorzoroastrischer Zeit und nicht dem Zufall zu verdanken.
Das Märchen "Wie man böse Geister los wird" ist ein anderes Beispiel. Hier wird einem Schafhirten das Leben von seiner Frau Rose "Gulê" schwer gemacht. Der Wirt sucht sich ihrer zu entledigen und bringt sie dabei versehentlich bei einem Dämonen an. Der Dämon wird nun seinerseits unterdrückt, verspürt aber keine Rachegelüste gegenüber dem Schafhirten, sondern nur Mitleid. Er gibt ihm sogar einen - allerdings mit einer Bedingung verknüpften - freundschaftlichen Rat. Das Märchen parodiert die Bosheit und Herrschsucht mancher Frauen in Kurdistan.
In manchen Märchen wird das "Gute" nicht durch einen Dämon, sondern durch einen "Heiligen" verkörpert. Solche Märchen handeln oft von "Xidir-î Zindû", dem unsterblichen Xidir(7), der ungewöhnlich mächtig und mitfühlend ist. Er bleibt meist unsichtbar und zeigt sich nur manchmal den Armen und Unterjochten, die seiner Hilfe bedürfen. Nach vollbrachter Tat verschwindet er so plötzlich, wie er erschienen ist.
Ein Beispiel haben wir in dem Märchen "Firr und Tirr": Xidir-î Zîndû, hier in Gestalt eines Bärtigen, setzt sich für einen armen, hungrigen Mann ein und bewirkt ein Wunder, als sein Appell an die Menschlichkeit eines in der Gunst des Schicksals Stehenden nichts fruchtete. Die Menschen folgen ihm und er erprobt die Standfestigkeit ihres Glaubens. Um ihnen ihre Schwächen drastisch vor Augen zu führen, erteilt er ihnen schließlich eine Lehre und verschwindet dann auf Nimmerwiedersehen.
Dieser Xidir-î Zîndû, der auch manchmal bedürftigen Reisenden erscheint, ihnen den Weg zeigt und sie vor Gefahren schützt, soll als "Erlöser" eines Tages die Welt vom "Bösen" reinigen. Obwohl manche Moslime (z.B. die Schiiten) ebenfalls an einen solchen "Erlöser" glauben, ist der Begriff des Erlösers unter den Kurden älter als der des Islam. Er ist eine uralte Gestalt im Glauben der Kurden und anderer Iraner und hat seinen Ursprung in der zoroastrischen Religion. Diese lehrt, dass Ahriman(8) alles Böse auf Erden verursacht, aber dass eines Tages ein Mann mit Namen "Saoshyant" aus dem Geschlecht des Propheten Zarathustra erscheinen wird, um die Welt zu befreien. Der Glaube an einen Erlöser hat Parallelen in vielen Religionen, wie der Glaube an den Messias bei den Juden, an Christus bei den Christen und an Mahdî(9) bei den schiitischen Moslims, um nur einige zu nennen.
Zu den Märchen mit Anlehnung an Religiöses gehört auch "Bargird und Fargird": Über die reiche, angesehene Familie eines Stammesführers kommt plötzlich großes Unheil, das von manchen als Strafe des Himmels angesehen wird. Alle Menschen wenden sich ab, und Fargid hört im Traum eine geheimnisvolle Stimme, die ihm sagt, er solle sieben Jahre lang in sieben Paaren eiserner Schuhe umherwandern, sieben Sachen wechseln und sieben gute Taten vollbringen. Fargird befolgt diesen Rat und nimmt alle erdenklichen Strapazen auf sich, um das Unglück von seiner Familie abzuwenden. Endlich, als er am Ende seiner Kräfte angelangt ist, kommen einige Ritter, die von seinem inzwischen geheilten Bruder, dem Stammesführer Bargird, ausgesandt wurden, um ihn zu suchen. Fargird übernimmt wieder die Regentschaft, und Bargird steht ihm zur Seite.
In diesem Märchen klingen viele Motive an: unverbrüchliche Treue zur Familie, der Glaube an geheimnisvolle Zauberkräfte, symbolisiert durch magische Zahlen und Taten, und die Bereitschaft, das "Kreuz" für die anderen auf sich zu nehmen, um sie zu retten.
In dem Märchen "Der Korbverkäufer" tritt ein König nach naiven Überlegungen über sein Amt zurück, als er sieht, dass seine Macht beschränkt ist. Er begibt sich aus der gesicherten, beherrschenden Stellung in die ungesicherte, ausgelieferte eines Korbverkäufers. Eine Königin will ihm Liebe und Reichtum schenken, aber er lehnt beides ab. Dann geschehen einige Wunder, die viele Menschen an seine göttliche Sendung glauben lassen, und sie bekehren sich zum "Islam". In diesem Märchen sind ethische Prinzipien der zoroastrischen Religion mit islamischen Prinzipien vermischt. Wahrscheinlich ist der Stoff des ersten Teiles wesentlich älter als der folgende mit islamischen Tendenzen, der vielleicht später hinzugefügt wurde. Zu Ende des Märchens betet der alte Korbverkäufer, dass er und seine zweite Frau wieder jung werden mögen. Gott erhört sein Gebet, und beide werden in das Alter von 14 Jahren zurückversetzt. Solche erhörten Gebete findet man ebenfalls in einem anderen in Nordkurdistan bekannten Märchen "Wêsif û Zilêxâ"(10).
Wir kommen jetzt zu den bekannten Märchen, worin den Tieren Menschensprache in den Mund gelegt wird und ihre Erlebnisse zum Schluss in einem Weisheitsspruch zusammengefaßt sind. Solche heißen in Kurdistan "Çîrok-î bamânâ" oder "Çîrok-î batökil" (symbolische Märchen). Sie wurden besonders dann häufig erzählt, wenn das Land unter dem Druck fremder Gewaltherrschaft stand und eine freie Meinungsäußerung nicht möglich war. Fabeln heißen auch "Kindermärchen". Der verstorbene kurdische Kinderlehrer Nacim (Nağim) ad-dîn Malâ aus Sulaimânî war ein guter Erzähler von Kindermärchen. Er veröffentlichte in den Jahren 1953-56 in der kurdischen Wochenzeitung "Jîn" (Das Leben) eine Reihe solcher Fabeln, die nationale Empfindung ausdrückten. Ein Beispiel dieser Art ist "Glaube nicht alles, was du hörst", das die Leichtgläubigkeit darstellt.
Das Märchen "Bakhtyar und Badbakht" handelt von der Gesellschaft bzw. dem hierarchisch geordneten Leben der Tiere. Sie betrachten den Menschen als ihren offensichtlichen Feind, und ihr Oberhaupt lässt sich vom Fuchs einen Rapport über die Neuigkeiten vorlegen. Baxtiyâr, der ein gutes Herz hat, nimmt einer Maus behutsam Goldstücke ab, mit denen sie spielt, gelangt dadurch zu großem Reichtum und bewirtet davon in seinem Haus alle Bedürftigen. Obwohl sich sein Bruder sehr niederträchtig gegen ihn verhalten hat, bewahrt er ihm noch immer einen Platz in seinem Herzen und in seinem Haus. Als dieser endlich ganz verarmt und heruntergekommen seinen Palast betritt, will Bakhtiyâr mit ihm sein Vermögen teilen. Badbakhts Gier aber ist groß, und er schleicht zu dem Versammlungsort der Tiere, um dort zu Geld zu gelangen. Die Tiere sind empört über den schon begangenen Raub. Sie suchen nach einem weiteren mutmaßlichen Lauscher, finden dabei den habgierigen Badbakht und zerreißen ihn.
Viele Märchen und Fabeln sind mit kurdischen Sprichwörtern und Gedanken verbunden. Den Sinn eines Sprichwortes illustriert die Geschichte von "Scheich Homars Schlange". "Şêx Homar"(11), der sehr liebevoll zu allen Lebewesen ist, rettet die Schlange mit seinem Stock vor dem Verbrennungstod. Die Schlange jedoch greift ihn an und will ihn töten. Homar kann sie dazu bewegen, einige Tiere über d e n Fall entscheiden zu lassen. Alle verurteilen das Benehmen der Schlange, sie aber will sich nicht fügen. Zuletzt kann der schlaue Fuchs die Schlange überlisten und sie mit dem Stock Homars töten. Er sagt zu dem Scheich: "Sei zu Schlangen niemals freundlich, richte Schlangen immer mit dem Stock!"(12).
"Mâraka-y Şêx Homar" (Scheich Homars Schlange) zitiert man in Kurdistan als Beispiel für Undankbarkeit. Dieses Märchen hat eine Ähnlichkeit mit einem indischen Märchen: Ein mitfühlender Brahmane befreit einen Tiger aus seinem eisernen Käfig. Dieser, kaum in Freiheit, will den Menschen fressen. Man ernennt fünf Tiere zum Richter über ihn, vier davon wollen den Mann töten, weil die Menschen sehr grausam gegen die Tiere sind. Zuletzt befreit der Fuchs den Inder und bringt den Tiger wieder in den Käfig. Die Ähnlichkeit, die man einerseits bei kurdischen und andererseits bei indischen Märchen findet, ist kein Zufall und stellt m.E. auch keine Übernahme dar, sondern hat ihre Wurzeln in der indoiranischen Gemeinsamkeit.