Читать книгу P.E.M. Projekt Evolution Mensch - Jennifer Scheil - Страница 3
Überschrift 1
ОглавлениеHüterin der Gabe
Entdecke dein Innerstes Selbst!
Entdecke deine Fähigkeiten!
Akzeptiere deine Einzigartigkeit!
Lerne dich zu lieben und du wirst die Liebe finden!
2021 in Amerika.
Dunkel. Dumpf und irgendwie verzerrt drangen Laute in ihr Bewusstsein. Ihr Kopf war leer. Die junge Frau wusste weder wo sie sich befand, noch seit wann sie in diesem Albtraum gefangen war. Selbst ihr Name floh vor ihr und ließ sich nicht fassen. So sehr sie sich auch bemühte, er schlüpfte immer wieder durch die Maschen des Wahnsinns, die sich immer enger zuzogen. Die aus der Verzweiflung geborene Idee, dass sich das alles nur in ihrer Fantasie abspielte, wurde immer dann zerschlagen, wenn sie von den Schmerzen überrannt wurde.
Ein innerliches Verbrennen, das Zerren und Ziehen wurde von dem Gefühl des `Auseinanderbrechens` abgelöst. Dass es einmal eine Zeit ohne Schmerzen gegeben haben konnte, war für sie wie eine Rettungsleine aus Stacheldraht, nach der man griff, um sie sofort wieder loszulassen, damit man dem Schmerz entging.
Doch wurden die Schmerzen von ihrer Angst noch übertroffen. Die Angst vor dem was geschah, wenn die Tür zu ihrem Gefängnis geöffnet und sie wieder in einen neuen Sog aus Folter und Pein geworfen wurde. Jedes Mal lief ihr die Angst in kalten Schauern über den Rücken und klärte für einen Bruchteil von Sekunden ihren Geist. Dann konnte sie Bilder aus ihrer Vergangenheit sehen. Bilder, die sie an ein anderes Leben erinnerten. Dabei wurden Gefühle hervorgerufen die, in ihrer Wärme, in all dem Schmerz und der Kälte irreal erschienen. Diese Erinnerungen waren jedoch noch schmerzhafter als ihre körperliche Pein. Sie kamen einem Schock gleich und schienen sie zu verhöhnen. Der Wahnsinn zog tiefer in ihren Geist ein und lachte sie aus. Aus Angst und dank ihres Überlebenswillens, verschloss sie diese Bilder tief in ihrem Inneren und verwehrte sich den Zugang. Sie wollte nicht noch mehr leiden. Sie wollte überleben!
Ihr Körper ergab sich den Schmerzen, krümmte sich zusammen. Jeder Muskel verkrampfte sich. Als sich die Zähne in die Unterlippe gruben ließ sie der Blutgeschmack würgen. Doch wollte sie nicht schreien. Eine erneute Schmerzwelle riss ihre Lippen dann doch auseinander. Ihr Schrei vermischte sich mit dem anderen, immer gegenwärtigen, Geschrei und bildete für kurze Zeit eine grausige Einheit.
Jäh vernahm sie wieder die schweren Schritte, die sich ihrer Zelle näherten. Das
Klingen von Metall und ein Schaben, als die Tür geöffnet wurde. Ein großer dunkler Schatten schob sich vor das Loch aus grellem Licht. Der Schrei, der sich nun einen Weg über ihre Lippen bahnte, war ein Schrei der Angst. Panisch zog sie sich, auf dem Po rutschend, bis zur Wand zurück. Grobe Hände packten sie und hoben sie hoch. Da sie wusste, dass nun alles was sie tat von diesen Bestien als Gegenwehr aufgefasst werden würde, ließ sie sich in eine Starre fallen. Sie hatte einfach nicht genug Kraft, um zusätzliche Misshandlungen zu ertragen. Ihr Körper war nun nicht mehr als ein atmendes schmutziges Bündel, das auf einer Trage abgelegt wurde. Auf der auf einem magnetischen Kraftfeld schwebenden, Trage wurde sie hinaus in ein Chaos an Eindrücken geschoben. Mit geschlossenen Lidern lauschte sie den Geräuschen die von allen Seiten auf sie eindrangen. Der Gestank, der von einigen Geräuschen zu ihr getragen wurde, verursachte ein stechendes Gefühl in ihrem Magen. Ihr gepeinigter Verstand versuchte alles zu ordnen, versagte jedoch.
Sie traute sich nicht, die Augen zu öffnen, denn das helle Licht war schon mit geschlossenen Lidern kaum zu ertragen. Es wurde ihr aber keine Wahl gelassen. Denn als sie abermals hochgehoben wurde, um gleich darauf auf einem wärmeren Untergrund an Hand - sowie den Fußgelenken fixiert zu werden, wurden die Lider gewaltsam auseinander gezogen. Ein kleines grelles Licht löste eine Explosion an Schmerzen in ihrem Kopf aus.
„Professor Markes, kommen sie her! Sehn sie sich das an.“ Der angesprochene Mann löste sich von einer digitalen Aufzeichnung, die ihn bis eben zu fesseln schien, und trat zum Untersuchungstisch. „Was gibt’s so Wichtiges?“
„Sehen sie!“ Aufgeregt deutete Dr. Blei auf das vom Licht beschiene Auge. „Es ist eigentlich unmöglich!“ Der Professor beugte sich vor, um besser sehen zu können. „Was soll ich mir ansehen?“ Fragte er etwas gereizt, doch gereizt war er ständig, für seine Mitarbeiter also nichts, was ihnen Sorgen bereitete.
Dr. Blei bewegte die kleine Lampe über dem Auge, um somit deutlich zu zeigen, was er meinte. Nun sah es auch Markes - das Auge hatte sich verändert. Die Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichen Lichtverhältnisse war um mehr als das Doppelte gestiegen. Wenn das Licht das Auge traf, verengte sich die Pupille so stark, dass nur noch ein kleiner schwarzer Punkt zu sehen war. Wie sich das Auge dann an die Dunkelheit anpasste, war nur allzu leicht zu erraten.
Einfach fantastisch! Besser als ich es mir erhofft hatte. Innerlich jubelte Markes,
doch nach außen hin bewahrte er seine Ruhe. Diese Laborratten brauchen noch
nicht wissen, dass ich dieses Mal mehr als zufrieden bin. Wie es scheint, ist dieser Versuch von Erfolg gekrönt. Markes wandte sich wieder Dr. Blei zu.
„Das ist wahrscheinlich auf ihre besondere Regenbogenhaut zurückzuführen. Der Umstand, dass in ihr alle möglichen Augenfarben zu finden sind, begünstigen diese Entwicklung!“
Dr. Blei schien sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben, denn er brummte nur und setzte seine Untersuchungen fort. Seine Ergebnisse gab er in eine Akte ein, die auf dem Display neben ihm erschien.
Vom anderen Ende des Labors wurde das Geschehen genau beobachtet. Dr. Mays Gesicht verzog sich vor unverhohlenem Abscheu.
Dieses Monster kann sagen was es will, aber dieses Mal scheint er überzeugt zu sein, dass sein widerlicher Plan aufgeht. Für die Kleine wäre es schon schön, wenn sie diese DNA – Spritzen auch weiterhin verträgt, und nicht so wie die armen Kreaturen endet, die vor ihr da waren.
Dr. May beobachtete nun schon seit zwei Jahren Professor Markes und seine `Frankenstein – Ambitionen.’ Am Anfang, ja da war er begeistert, geblendet von der Idee, dem Menschen neue Lebensmöglichkeiten zu bieten. Im Hinblick auf die explosionsartige Vermehrung der menschlichen Rasse in den letzten zehn Jahren und den klimatischen Veränderungen war es nur recht und billig nach Möglichkeiten zu forschen, wie sich der Mensch dem Leben unter dem Meeresspiegel anpassen könnte. Vor allem da sie dort vor den Monsterstürmen und Todesfluten sicher waren, die in den letzten Jahren Amerikas Ostküste komplett umgestaltet hatten. Er selbst sah schon die schönsten Unterwasserplantagen vor seinem inneren Auge entstehen. Als Kind war er in einer Großstadt aufgewachsen, und er hatte es gehasst, überall auf Berge aus Beton zu starren und nur Smoggeschwängerte Luft zu atmen. Wie war es da weiter verwunderlich, dass er dem Professor gefolgt war?
Aber jetzt trug er Markes nicht mehr auf Händen. Er bereute es mit jedem Tag mehr, diesem Verrückten gefolgt zu sein. Seine Seele war seit dem ersten Toten, nein, seit der ersten Begegnung mit Markes, verloren. Ja, er wusste, dass er für das, was er getan hatte, eines Tages Rechenschaft ablegen musste und er würde dabei miserabel abschneiden.
Wenn ich das alles nur beenden könnte. Ich würde alles tun, ja selbst töten, wenn es
sein muss. Aber dieser Verrückte muss gestoppt werden. Koste es, was es wolle!
May sah wieder zu der jungen Frau hinüber, die da auf dem Untersuchungstisch lag und von Krämpfen geschüttelt wurde. Sie wusste nicht, was mit ihr passierte. Was sie kannte, waren nur die Qualen.
Wenn ich ihr doch nur helfen könnte! Ja aber wer sagt denn, dass ich das nicht kann? Ich werde dafür sorgen, dass die Schmerzen aufhören. Ich werde ihr Halt in dieser Hölle sein!
Dr. May durchquerte das Labor und trat an den Untersuchungstisch. Das Gesicht dem einer Wachspuppe gleich, warf sie den Kopf hin und her. Sanft legte May ihr eine Hand auf die kalte schweißige Stirn. Er erinnerte sich, dass sie hier die Bezeichnung P.E.M. ONE trug.
Es ist schon gut Kleines, du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin bei dir! Es schien ihm fast so, als ob sie seine Absichten spüren konnte. Denn sie beruhigte sich und lag nun entspannter in den Fixierungen. Das änderte sich jedoch in dem Augenblick, in dem Dr. Blei mit einer großen Spritze, gefüllt mit einer weiteren DNA - Dosis, neben sie trat und den linken Arm für die Injektion vorzubereiten begann.
P.E.M. ONE riss die Augen auf und starrte auf die Spritze. Nein! Nein! Bitte nicht! Keine Schmerzen mehr, bittttee!! Sie wollte schreien, doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Sich aufbäumend riss sie an ihren Fesseln. Die Hand, die sich so gut angefühlt hatte, war auch nicht mehr da. Nun war sie wieder mit diesen weißen Monstern allein. Oder doch nicht?
Sie vernahm eine Stimme, eine die sie nicht kannte. Jedoch spürte sie instinktiv, dass die Hand und die Stimme ein und derselben Person gehörten.
„Nein! Keine weiteren Spritzen mehr. Das bringt sie um!“
Erstaunen machte sich auf Bleis Gesicht breit. Der stille und eher unauffällige Dr. May wagte es, in diesem Ton zu sprechen? Noch dazu jetzt? Das war neu und nicht sehr klug. Gar nicht klug!
Die Reaktion folgte auch prompt. Die Stimme des Professors übertönte alles, selbst das immer gegenwärtige Stöhnen und Schreien, der anderen ´Freiwilligen`. „Haben sie ein Problem, Dr. May? Oder wie soll ich diesen Ausbruch werten?“ Victor Markes durchmaß den Raum mit großen Schritten und sah Dr. May aus verengten Augen an.
May schluckte seine Angst hinunter und sah dem Professor in die Augen. Wenn ich ihm meine Angst zeige, ist alles aus! „Nun“, begann May stockend, „mir fiel nur auf, dass P.E.M. ONE bis jetzt alle Tests und Spritzen besser vertragen hatte, als die anderen. Sie ist jedoch jetzt in einer der schwereren Phasen. Da dachte ich, dass es vielleicht besser wäre, wenn die nächsten Injektionen ausfielen, damit ihr nicht das gleiche widerfährt, wie den ersten Testpersonen. Das wäre doch mehr als ärgerlich, vor allem für sie, Professor. Schließlich müssten sie dann wieder von vorn anfangen.“ Innerlich hielt May die Luft an. Fast ängstlich wartete er auf die Reaktion des Professors.
Markes legte May eine Hand auf die Schulter und sah diesen mit mitleidigem Lächeln an. „Über die weitere Behandlung habe ich allein zu entscheiden, mein guter Carl. Ich weiß es zu schätzen, dass sie mir weitere Misserfolge ersparen wollen. Doch glauben sie mir, ihre Sorgen sind unbegründet. Und nun, “ wandte er sich an Blei, „fahren sie fort!“
Mit einem Nicken hob Blei die Spritze und überprüfte sie auf Luftblasen, um sie dann ihrem Zweck zuzuführen.
In dem Moment, als der Inhalt der Spritze in ihren Körper strömte, verspürte P.E.M. ONE wieder diesen stechenden Schmerz. Das Stechen wurde intensiver, wurde zu einem Brennen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Arm in Flammen stehen, die sich langsam und unaufhaltsam über ihren ganzen Körper ausbreiteten. - Dieses Mal schrie sie.
Dr. May stand neben ihr und sah in ihr von Schmerzen verzerrtes Gesicht. Seine Hände ballten sich in seinen Kitteltaschen zu Fäusten und als ihr Schrei durch das Labor hallte, durchschnitt er sein Herz. Er hatte versagt. Er wollte ihr helfen und hatte ihr Leiden nur hinausgezögert. Oh, wie ich mich dafür hasse! Es tut mir so unendlich Leid. Bitte, verzeih mir!
****
P.E.M. ONE wusste nicht mehr, wie sie wieder in ihre Zelle gekommen war. Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war der furchtbare Schmerz und etwas anderes, etwas was sie erst nicht als real gelten lassen wollte. Es war einfach zu schön gewesen. Es konnte nicht wahr sein und doch ließ es sich nicht vertreiben. Genauso wenig wie das Bild, das sie immer häufiger zu sehen glaubte.
Habe ich nun völlig den Verstand verloren, oder ist das wieder so ein Trick, um mich
weiter in den Wahnsinn zu treiben? Aber es ist doch wirklich passiert!
Da war die Stimme gewesen und auch die Hand, die so gut getan hatte. Wie hatte ihn doch gleich dieses alte Monster genannt? Dr. May und – Carl? Aber wenn er mir helfen wollte, dann ist er sicher noch irgendwo da draußen. Und - ich bin nicht mehr allein! Allein dieses Wissen brachte ihr die Ruhe, die sie jetzt so dringend brauchte.
Der Raum war völlig Dunkel. Nur durch die kleine vergitterte Öffnung in der Tür, die sich nur von ihren Peinigern öffnen ließ, kam ein wenig Licht. Dennoch konnte sie so gut sehen, als wäre es hier taghell. Sie kroch zu der Ecke, wo eine zerrissene Decke lag, rollte sich darauf zusammen und schloss die Augen. Danke! Ich weiß, dass es dich dort draußen gibt und dass du mir helfen willst. Ich hoffe, dass sie dir nicht auch wehtun. - Mein Schutzengel!
Mit diesem Gedanken schlief sie ein. Und das erste Mal seit langer Zeit ließen sie die Bilder aus ihrer Vergangenheit in Ruhe.
Etwa ein Jahr zuvor in Deutschland.
„Mama, ich bin heute Mittag wieder zurück!“
„Ist gut mein Schatz, sei aber pünktlich!“
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Einen lauten Pfiff ausstoßend, sprang Samantha die Stufen hinunter. Als sie zur Gartenpforte ging sah sie einen schwarz-weißen Schatten auf sich zu flitzen. Lachend ging sie in die Knie. „Hallo Domino, nah willst du mich begleiten?“
Freudig bellend sprang die junge Dalmatinerhündin an ihr hoch und wedelte mit dem Schwanz. Sie begleitete ihre junge Herrin fast überall hin. Nur die Schule war tabu. Mit dem Hund bei Fuß lief sie über die Felder in den Wald. Hier draußen war Samantha glücklich. Sie lebte hier in diesem Dorf schon seit ihrer Geburt. Am liebsten hielt sie sich im Wald und auf den Feldern, der ansäßigen Bauern auf.
Seitdem ihre Mutter nun von ihrem Vater geschieden war, war es auch zu Hause wieder schön. Davor war es die reinste Hölle gewesen. Der ständige Krach riss an ihren Nerven.
Sie liebte ihre Mutter sehr und es hatte ihr jedes Mal in der Seele weh getan, wenn sie mit ansehen musste, wie sie von ihrem Mann gequält wurde. Es reichte doch schon, dass sie ständig Schläge bekam. Als dann Tom unterwegs war, hatte
Samantha gehofft, dass sich ihr Vater ändern würde. Doch wie sich herausstellte, war
Diese Hoffnung vergeblich.
Tom litt am meisten unter dem Psychoterror, dem sie alle durch ihren Vater ausgesetzt waren. Er konnte nicht verstehen, warum ihn sein Vater ablehnte.
Jetzt war das vorbei, und sie waren endlich eine glückliche Familie. Ihre Mutter musste jetzt zwar wieder arbeiten, um ihre Kinder zu ernähren, doch das würde bald Samantha übernehmen. Sobald die Ausbildung abgeschlossen war.
Domino sprang vor und hob einen großen Stock auf, den sie Samantha vor die Füße warf. „Na, möchtest du spielen? Na dann hol ihn dir!“ Sie holte weit aus und warf den Stock dem die Hündin freudig hinterher rannte. Während sie so den Waldweg entlanggingen und sie von Zeit zu Zeit Domino den Stock zuwarf, hing Samantha ihren Gedanken nach. Sommerferien. Das war neben den Winter- und Herbstferien die schönste Zeit im Jahr. Dass am nächsten Tag die Schule wieder anfing ignorierte Samantha völlig. So hatte sie den ganzen Tag Zeit und brauchte keine Magenschmerzen zu bekommen, wenn es hieß, in die Berufsschule gehen zu müssen. Nicht dass sie so schlechte Noten bekommen würde, jedoch hatte sie dort keine echten Freunde. Niemand wollte sich mit ihr einlassen. Da war da unteranderem die Sache mit ihrem Vater, der in ihren Gedanken nur ihr Erzeuger war. Alle aus dem Dorf schnitten sie und ihre Mutter, weil ihnen die Schuld für das Scheitern der Ehe gegeben wurde.
Niemandem kam auch nur im Entferntesten der Gedanke, dass ihr Vater nicht der nette Kerl war, für den ihn alle hielten. Und wenn ein paar dann doch zu Samantha und ihrer Mutter hielten, sprachen sie es nicht öffentlich aus, da sie um ihren Stand in der Dorfgemeinschaft fürchteten.
Samantha schnaubte angewidert. Es war nur ein Glück, dass sie etwas außerhalb des Dorfes lebten und somit nicht ständig in näherem Kontakt zu den Dorfbewohnern standen. Das Häuschen, das ihrem Großvater gehörte, lag am Waldrand, eingebettet zwischen großen Fichten.
Ihr Großvater hatte sie aufgenommen und sie während der ganzen Scheidung
unterstützt. Er war der gute Geist des Hauses. Wenn ihre Mutter in der Stadt zum Arbeiten war, kümmerte er sich um das Haus, kochte und machte mit Tom so einigen Unfug. Ihre Mutter meinte öfters, dass sie nicht zwei sondern drei Kinder zu versorgen hatte.
Ein lautes und lang anhaltendes Bellen, riss Samantha aus ihren Gedanken. Domino
war nirgends zu sehen. Laut nach ihrer Hündin rufend lief sie los. Es war gar nicht Dominos Art, so einfach weg zu laufen, das machte sie nie. Irgendetwas musste passiert sein. Dem Bellen folgend rannte sie immer tiefer in den Wald hinein. Als sie sich schon die größten Schwierigkeiten ausmalte, in denen Domino stecken konnte, sah sie den Dalmatiner auf sich zulaufen. Erleichtert und völlig außer Atem, ging Samantha vor ihrem Hund in die Knie.
„Domino, wo warst du? Was sollte das Gebell?“ Freudig mit dem Schwanz wedelnd, leckte Domino ihre Hand. Sie wollte ihrem Frauchen etwas mitteilen und musste sie dazu bewegen, ihr zu folgen. Das war nicht leicht, Samantha verstand ja nicht so viel von der Hundesprache wie sie sollte und - vor allem- könnte.
Domino fasste mit ihren Zähnen das T-Shirt und zog leicht daran. Als sie sah, dass Samantha reagierte, sprang sie auf und rannte ein Stück vor.
Sie blieb stehen, kam ein Stück zurück, bellte und lief wieder vor. „Möchtest du mir etwas zeigen?“ Samantha stand auf und rannte auf den Hund zu. „Dann los, zeig es mir!“
Freudig bellend, weil ihr Frauchen sie verstanden hatte, sprang Domino voraus und führte Samantha zu einer kleinen Lichtung. Zielstrebig lief sie auf eine umgestürzte Kastanie zu, vor der sie kratzend und fiepend stehen blieb. Als Samantha dort ankam, erschrak sie. Im Schatten des mächtigen Baumes, das Gesicht in den Waldboden gedrückt, lag ein Mann. Im ersten Moment glaubte Samantha, er sei tot. Zum einen war da das ganze Blut, das aus einer Kopfwunde in den Boden sickerte. Zum anderen lag er reglos da und zeigte keinerlei Reaktion auf Dominos Drängen. Vorsichtig näher tretend ging Samantha neben dem Mann in die Hocke und drehte ihn mit einiger Kraftanstrengung auf den Rücken.
Was sie dann sah, ließ ihr den Atem stocken. Das Gesicht war dermaßen mit Blut und Dreck beschmiert, das seine Züge nicht zu erkennen waren. Die Wunde an der Stirn war groß und klaffte stark auseinander.
Der gesamte Körper war mit Schrammen, Schnitten und Prellungen übersät, die
durch die zerrissene Kleidung zu sehen waren. Ein leichtes Heben und Senken der Brust, nahm ihr jedoch die Angst, es mit einem Toten zu tun zu haben. Vorsichtig tastete sie den Mann ab. Oh Mann, so wie sie aussehen, ist ihnen was Schlimmeres zugestoßen. Aber gebrochen scheint nichts zu sein. Dieser Körper sieht aus wie der
eines Bodybuilders. Sanft strich sie ihm eine blutverklebte Strähne aus dem Gesicht. Wer sind sie?
Sie musste Hilfe holen, doch durfte sie ihn auch nicht allein lassen. Hastig griff sie in ihre Hosentasche. Gut, es war da. Das Handy herausziehend gab sie schon die Nummer ein.
„Hallo Opa? Ich bin’s, Sammy. Ich brauche deine Hilfe. Du kennst doch die kleine Lichtung mit der großen Kastanie? Ja genau, die, die vom Blitz gefällt wurde. Du musst mit dem Auto herkommen und Decken und dem Erste-Hilfe-Kasten mitbringen. Nein, nicht für mich.
Hier liegt ein Mann, er ist bewusstlos und hat einige Schrammen und Schnitte. Bis auf eine übel aussehende Wunde am Kopf scheint er nicht schwerer verletzt zu sein. Du weißt doch, wie lange die Krankenwagen immer brauchen und er muss so schnell wie möglich versorgt werden! Oh, er scheint zu sich zu kommen.“
„Sei vorsichtig Sammy, ich bin in fünf Minuten da.“
Während Samantha das Handy zurücksteckte beobachtete sie die Bemühungen des Mannes, wieder zu Bewusstsein zu kommen.
Stöhnend schlug er die Augen auf. Er konnte nicht viel erkennen. Nur ein paar verschwommene Umrisse. Als er sich aufrichten wollte, stieß er auf Widerstand. Langsam wurde er wieder zurückgedrückt. Wie er es hasste, so hilflos zu sein.
„Sie dürfen sich nicht aufsetzen, geschweige denn aufstehen. Sie haben einiges abgekriegt und eine üble Wunde am Kopf.“
Während er dieser sanften Stimme lauschte, spürte er, wie eine warme kleine Hand sich auf sein Gesicht legte und Haare beiseite strich.
„Hilfe ist schon unterwegs. Wie heißen sie? Was ist passiert?“
Wie heißen sie? Was ist passiert? Ja wie heiße ich? Angestrengt dachte er nach, doch er konnte sich einfach nicht an seinen Namen erinnern. Je mehr er es versuchte, desto zäher wurde die schwarze Masse in seinem Kopf. Er konnte sie nicht durchdringen. Das machte ihn wütend und verzweifelt zugleich. Ich muss mich doch erinnern! „Ich- ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern!“ Verzweifelt fasste er
sich an den Kopf und spürte einen Stoffstreifen und etwas Feuchtes. Sie musste ihn verbunden haben. Doch schien das nicht zu reichen.
„Es ist schon gut! Das wird schon wieder, sie werden sehen, sobald es ihnen wieder besser geht, kommt auch ihre Erinnerung wieder zurück. Und so lange werde ich für
sie da sein, versprochen!“
Bevor er etwas darauf erwidern konnte, wurde alles um ihn herum schwarz und er glitt wieder hinab in die Bewusstlosigkeit.
****
Es herrschte die übliche Hektik, die in einer Krankenhausnotaufnahme zu erwarten war. Während Samantha nun hier saß und wartete, war schon ein dutzend Ärzte an
ihr vorbeigehastet. Es war aber nie Dr. Schmidt dabei, auf den sie warteten.
Als ihr Großvater auf der Lichtung eingetroffen war, war der Mann schon wieder bewusstlos gewesen und auch nicht wieder zu sich gekommen, während ihr Opa ihn versorgt hatte. Dieser war nicht gerade sanft gewesen! Wie schwer ein kräftiger Mann, noch dazu im bewusstlosen Zustand, sein konnte, wusste sie jetzt.
Zusammen mit Großvater hatte sie ihn auf die Rückbank des alten Kadetts gewuchtet. Ihr taten noch immer alle Muskeln weh.
Langsam machte sie sich schon Sorgen. Das dauerte ihr alles einfach viel zu lange. Auch ihr Großvater lief auf dem Gang der Notaufnahme schon so lange auf und ab, dass sie jede Minute damit rechnete, eine Rinne im Boden vorzufinden. Als dann endlich der Arzt kam, sprang sie diesem fast in die Arme. „Doktor, wie geht es ihm?“
„Nun“, dabei sah er von Samantha zum Alten und wieder zurück. Den Blick wieder auf den alten Mann gerichtet, fuhr er fort. „Nun, er hat mehrere Prellungen und diverse Abschürfungen. Die meisten Schnitte sind nur oberflächlich und werden sicher gut verheilen. Was den hohen Blutverlust und die Wunde am Kopf betrifft, sowie die daraus resultierende Bewusstlosigkeit, das wiederum ist eine ernstere Angelegenheit!“
„Wird er es schaffen?“ Fast ängstlich hing Samanthas Blick an den Lippen des Arztes.
„Ja, das einzige was er braucht, ist Ruhe, sowie die entsprechende medizinische Versorgung. Wir werden ihn einige Zeit hier behalten müssen.“
„Er weiß nicht mehr, wer er ist!“
„Das wird sich mit der Zeit legen. Eine Amnesie ist bei solch einer Verletzung nichts Ungewöhnliches und sie vergeht meist nach kurzer Zeit auch wieder.“
Dr. Schmidt klopfte mit seinem Stift auf die digitale Akte. Er kannte Jonas Brand und seine Enkeltochter recht gut und wusste, das sie herzensgute Menschen waren.
Immer hilfsbereit und nie nach eigenen Profiten gierend. Er
mochte den Alten sehr und Samantha war zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen. Es tat ihm Leid, wie einige über die Brands sprachen und wünschte ihnen nur das Beste.
„Jonas, ich weiß, dass sie sich um diesen Mann kümmern würden, doch will ich das nicht voraussetzten. Darum werde ich die Polizei benachrichtigen, damit sie sich um ihn kümmern können.“ Jonas winkte ab. „Ach was, das ist nicht nötig. Sammy hat ihn gefunden, und ihr Gesicht hat er schon gesehen. Das würde ihm sicher helfen sich wieder zurecht zu finden und sein Gedächtnis wieder zu erlangen. Und sollte das dann nicht funktionieren, können wir immer noch die Polizei um Hilfe bitten!“
„Wie sie wollen. Obwohl das für mich einige Schwierigkeiten bedeuten kann, tue ich es gerne für sie und ihre reizende Enkelin. Sollte er jedoch innerhalb der nächsten sechs Wochen keine Fortschritte machen, werde ich es melden müssen!“
„Ich verspreche ihnen, dass er in einem Monat zu ihnen kommt und ihnen seinen Namen, sowie Adresse und, wenn sie es wünschen, auch sein Leibgericht nennen wird.“ Jonas zwinkerte Schmidt zu. „Sie werden schon sehen.“
„Jonas, ich nehme sie beim Wort. Und nun können sie zu ihm gehen.“
Samantha ging durch das endlos erscheinende Labyrinth aus Krankenhausfluren, auf der Suche nach der Station M6, Zimmer 23. Als sie es fand, traute sie sich aus einer unerklärlichen Scheu heraus nicht einzutreten. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass, wenn sie dieses Zimmer betrat, sich ihr Leben von Grund auf ändern würde.
Wie sehr sie damit Recht hatte, konnte sie zu dem Zeitpunkt nicht einmal erahnen.
Vorsichtig und so leise wie irgend möglich betrat Samantha das Krankenzimmer. Es war hell und die Wände ockerfarben. Zwei Betten befanden sich an der der Tür gegenüberliegenden Seite. Nur eins davon war belegt.
Bewusstlos zwischen denn vielen blinkenden und piependen Geräten und den weißen Lacken liegend sah er richtig verloren aus. Ein großer weißer Verband umschloss seinen Kopf. Aus einem Infusionsbeutel tropfte langsam eine klare Flüssigkeit und gelangte über einen Schlauch in seinen Körper.
Behutsam zog sich Samantha einen Stuhl an sein Bett und setzte sich.
Mit einer Hand strich sie vorsichtig über seinen Kopf. „Es kommt alles wieder in Ordnung. Sie werden schon sehen. Sie sind nicht allein. Wir werden ihnen helfen!“
Samantha sah auf, als leise die Tür aufging.
Den zerzausten Kopf hinschiebend, lugte Jonas ins Zimmer. „Darf ich eintreten oder missfällt es der Heldin?“
„Oh, um Himmelswillen. Du sollst doch nicht immer so hemmungslos übertreiben!“ Übertrieben verärgert, drohte Samantha ihrem Opa mit dem Finger. „Hat dir das Mama nicht schon oft genug gesagt?!“
Feixend trat Jonas vollends ins Zimmer. „Oh, verzeiht bitte. Ich werde es nie wieder tun!“
Die Augen verdrehend wandte sie sich wieder dem Grund ihres hier Seins zu.
In den darauffolgenden Tagen, verbrachte Samantha viel Zeit im Krankenhaus. Sobald die Schule aus war, eilte sie dorthin und verbrachte jeweils drei Stunden damit, sich um den Mann zu kümmern und den Schwestern zu zuhören, die so einiges über sein Verhalten zu berichten hatten. Sie erwartete keine Dankbarkeit und doch verletzte sein Verhalten sie sehr. Immer wieder versuchte sie, es zu entschuldigen. Doch mit jedem Tag, der verging, fiel es ihr immer schwerer. Die Gefühle, die sie für ihn empfand, waren ihr neu und verwirrend. Das Ziehen in der Magengrube, das sie jedes Mal überkam, wenn sie ihn da blass und krank im Bett liegen sah, war genauso verwirrend wie die Magenkrämpfe, die sie verspürte, wenn er sie wieder mit seinen spitzen Bemerkungen angriff.
Als das zweite ihrer vierteljährlichen Praktika anstand, fand sie keine Zeit, ihn zu besuchen. In dieser Zeit war Jonas dann der Sandsack, gegen den die Beleidigungen prallten. Doch war Jonas nicht ganz so duldsam und konterte.
Inzwischen sind zwei Wochen seit dem Auffinden dieses Ekels vergangen, und er hat sich noch in keiner Weise gebessert. So viel schlechte Laune, wie dieser Mann verbreitet, würde für drei weitere Männer ausreichen. Es wird Zeit, dass ihm die Meinung gegeigt wird, aber mit Pauken und Trompeten, jawohl!
****
Seit Samantha das letzte Mal im Krankenhaus gewesen war, hatte sich von der Hektik her nichts verändert. Doch inzwischen kannte sie sich so gut aus, dass sie sich nicht mehr durch das ganze Gedränge schieben musste, sondern über Schleichwege ihr Ziel erreichen konnte. Vor dem Zimmer angekommen atmete sie tief durch. Das, was jetzt kam, war nicht als einfach zu bezeichnen. In den letzten Wochen
hatte sich der Zustand von Mr. X, so nannten ihn hier alle Schwestern und Pfleger, entschieden verbessert. Leider, wie sie feststellen musste. Er entpuppte sich als schwierig.
Die Schwestern stöhnten, wenn sie zu ihm ins Zimmer mussten. Einige verließen es fluchtartig und in Tränen aufgelöst. Er war unzufrieden mit allem und jedem und machte die Ärzte dafür verantwortlich, dass er immer noch nicht wusste, wer er war.
Und das, fand Samantha, entzog nun wirklich ihrem Einfluss. Sollte sich heute seine Laune immer noch nicht gebessert haben, würde sie ihm die Leviten lesen müssen. Das war sie den Schwestern, Dr. Schmidt und vor allem sich selbst schuldig.
Tief durchatmend klopfte sie an. Auf ein mürrisches „Herein!“ öffnete sie die Tür und trat entschlossen ins Zimmer. Was sie zu sehen bekam, war nun wirklich zu viel. Da saß dieser übelgelaunte Berg aus Muskeln, mit verschränkten Armen im Bett und blitzte ihr aus grauen Augen entgegen.
Wütend baute sich Samantha mit in den Hüften gestemmten Fäusten vor ihm auf. „Jetzt hören sie mir mal zu, sie eingebildeter, selbstverliebter, egozentrischer Macho. Oh nein, wagen sie es nicht, mich zu unterbrechen! Sie zerfließen hier im Selbstmitleid und gehen mit ihren Launen allen auf die Nerven. Die Hilfe, die ihnen gegeben wird, treten sie mit Füßen. Ich maße mir nicht an, zu wissen, was mit ihnen da draußen im Wald passiert ist. Doch ist das noch lange kein Grund, anderen, die nichts weiter damit zu tun haben, außer dem, dass sie ihnen helfen, das Leben zur Hölle zu machen!
Ich habe von ihnen keinen Dank erwartet, jedoch erwartete ich ein zivilisiertes Verhalten und nicht das Trotzverhalten eines Dreijährigen. Ich hätte sie dort liegen und verrotten lassen sollen. Aber nein, stattdessen nehme ich die lästigen Fragen, Blicke und Schmähungen auf mich und meine Familie, nur um von ihnen noch schlechter behandelt zu werden. Von mir aus können sie weiter den verwöhnten Jungen spielen, aber dann verzichte ich darauf, mich weiter mit ihrem Starrsinn abzugeben.
Sollten sie jedoch ihre Ansichten, wider Erwarten ändern- Dr. Schmidt weiß, wie wir zu erreichen sind. Und bis dahin, “ sie drehte sich um und schritt durch die Tür, „werden sie auf meine ihnen offensichtlich unbehagliche, Gesellschaft verzichten müssen!“ Mit einem Knall schlug sie die Tür hinter sich zu und ließ einen sichtlich
irritierten Mann zurück.
Das hatte gesessen! Ihm war, als würden ihm noch immer die Ohren klingeln. Wie es jemand schaffte, vor Wut regelrecht zu schäumen und trotzdem gut artikulierte Sätze zu bilden, war ihm schleierhaft. Noch dazu die vielen beleidigenden Ausdrücke, die sie für ihn gefunden hatte. Außerdem hatte sie nicht ein bisschen Angst gezeigt. So viel Courage war bemerkenswert, wirklich bemerkenswert.
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Dieses hübsche junge Ding gefiel ihm ausnehmend gut und er war ihr wirklich dankbar, dass sie ihn aus dem Wald rausgeschafft hatte. Aus welchem Grund auch immer er dort gewesen war. Er nahm sich vor, sich bei ihr zu entschuldigen. Ein Stöhnen entfuhr ihm, als er daran dachte, bei wem er sich noch alles entschuldigen musste. Das konnte ja heiter werden. Doch sie hatte ja mit allem Recht gehabt. Ich werde ihr zeigen, dass ich ihrer Hilfe würdig bin. Und vielleicht kann ich mich ja bei ihr irgendwann revanchieren.
Ja das würde er, doch in einem Umfang, den er nicht einmal zu träumen wagte!
****
Ein Knall ließ die Fenster erzittern. Jonas, der die Ursache herausfinden wollte, steckte seinen Kopf durch die Küchentür. Nur, um ihn gleich wieder, fluchtartig, einzuziehen.
Den Luftstoß spürend, sah er eine Tasche durch den Flur und an die gegenüberliegende Wand fliegen, wo sie krachend zu Boden ging. Unter der Tasche bildete sich langsam eine Pfütze, die sich über die Fliesen und den Läufer ungehindert ausbreitete. Der Farbe nach könnte man meinen, dass Domino sich hier erleichtert hatte, nur das, Samantha gerade eine der Saftflaschen so zugerichtet hatte, dass man für diese kein Pfand mehr bekommen würde.
Den Grund für ihr nicht zu übersehen wütendes Verhalten konnte er nur erahnen. Jedoch hatte er da so eine Vermutung.
„Wie geht es heute unserem Mr. X? Geht es ihm schon besser?“ Funken sprühende, jetzt grün schimmernde Augen bedachten ihn mit einem Blick, dass er es bereute,
überhaupt den Mund aufgemacht zu haben. „Wie es diesem ´Etwas´ geht, ist so was von unwichtig. Aber wenn es dich so brennend interessiert, dann frag doch im Krankenhaus nach. Ach übrigens,“ sie war mittlerweile am oberen Treppenabsatz angekommen und öffnete ihre Zimmertür, „würde ich es begrüßen, wenn dieser Name nicht mehr in meiner Gegenwart genannt wird!“ Krachend fiel die Tür hinter
ihr ins Schloss.
Sich am Kopf kratzend, lächelte Jonas still vergnügt in sich hinein. Er kannte seine Enkeltochter ziemlich gut und hatte sie noch nie so wütend erlebt. Junge, Junge, da hast du aber einen Sturm heraufbeschworen. Ich hoffe, dass dir sehr schnell einfällt, wie du ihn wieder besänftigen kannst. Ich möchte jetzt nicht in deiner Haut stecken!
Ein leises Winseln lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Verbindungstür zum Garten. Dort stand Domino, die ihn mit eingeklemmtem Schwanz und aus traurigen, verständnislosen Augen ansah.
Jonas ging vor der Hündin in die Hocke, um ihr tröstend übers Fell zu streicheln. „Oh je, da kommt ja einiges auf uns zu, was mein Mädchen!?“
Domino leckte ihm für seinen Trost dankend die schwieligen Hände.
„Ich glaube jetzt muss der alte Knochen doch noch mal in die Schlacht ziehen. Auch wenn ich ehrlich gesagt, diesmal als Vermittler auch gehörig ins Schwitzen geraten werde!“
Am Abend war von Samantha noch immer nichts zu sehen. Zum Abendessen erschien sie ebenfalls nicht, obwohl Jonas es mit Engelsgeduld versucht hatte und sie, durch die geschlossene Tür hindurch, gebeten hatte, zum Essen zu kommen. Tom war das Verhalten seiner großen Schwester unverständlich und er machte sich so seine eigenen Gedanken. Samanthas Mutter hingegen war mehr dazu geneigt, ihre Tochter, ihrem Widerstand zum Trotz, aus ihrem Zimmer zu zehren. Domino die das Verhalten ihrer Menschen, insbesondere das ihres innig geliebten Frauchens, nicht verstand, hatte sich in ihre Ecke zurückgezogen und kam auch auf gutes Zureden hin nicht aus ihrer Zuflucht heraus.
Tom stocherte in seinem Joghurt herum und grübelte. „Opa, hat jemand Sammy wehgetan oder warum ist sie so böse?“
„Nun, “ Jonas sah seinem Enkel in die Augen. „Sammy hat jemandem geholfen und der braucht immer noch Hilfe. Doch sieht derjenige das nicht und beleidigt Sammy. Das tut ihr sehr weh!“
Tom sah seinen Großvater mit seinen klaren, blauen Augen an. „Der Mann aus dem
Wald, oder? Nun, dann werde ich einfach mit ihm reden.“ Tom drückte seinen Rücken durch und richtete sich so zu seiner vollen Größe auf. „Ich werde ihm schon zeigen, dass man Sammy nicht wehtun darf!“ Mit sich selbst zufrieden löffelte er seinen Joghurt ohne eine weitere Unterbrechung auf.
Jonas musste lächeln. Ja, seine Enkel waren doch sehr starke, selbstbewusste und oft, zum Leidwesen anderer, dickköpfige Persönlichkeiten. Wütend funkelnde, blaugraue Augen ließen das Lächeln in seinem Gesicht erfrieren. Nicht nur seine Enkel!
„Du brauchst gar nicht so zu grinsen, Vater! Ich kann nicht sagen, dass ich das Verhalten meiner Kinder gutheißen kann. Auch wenn es verständlich ist.“ Anna richtete ihren Blick auf Tom und legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Ich finde es gut, dass du zu deiner Schwester hältst. Doch sie ist schon neunzehn Jahre alt und sollte somit in der Lage sein, ihre Probleme selbst zu lösen. Und wenn dies nicht der Fall ist, “ nun sah sie wieder ihrem Vater in die Augen „dann sollte sie soviel gelernt haben, dass sie von sich aus um Hilfe bitten kann!“ Den Stuhl energisch zurückschiebend stand sie auf. „Jetzt werde ich dem ein Ende machen!“ Als sie den Raum verließ und zur Treppe schritt, wand sie sich noch einmal um. „Ach Dad, während ich ein `Mutter – Tochter – Gespräch` führe, könntest du im Krankenhaus anrufen und mal nachfragen, wann dieser Streitpunkt entlassen werden kann?“ Mit einem Auge zwinkernd lächelte sie. „Sag ihnen ruhig, dass wir ihn auch zu denn Untersuchungen ins Krankenhaus fahren würden. Wir wären jederzeit bereit, ihn abzuholen!“
Mehr als bereit, eilte Jonas zum Telefon, um die Sache in Schwung zu bringen. Es bedurfte in den ganzen neununddreißig Jahren kaum längere Erklärungen. Jonas und Anna hatten sich schon immer mit nur wenig Worten verstanden. Somit wusste er genau, was seine Tochter beabsichtigte und es gefiel ihm so gut, das er schmunzeln musste.
Vor der Tür holte Anna tief Luft. Es war nicht leicht, mit Samantha zu reden wenn sie richtig wütend war. Und dieses Mal war sie so wütend wie noch niemals zu vor. Der Instinkt einer Mutter trügt jedoch sehr selten. Somit glaubte sie zu wissen, warum ihrer Tochter das Verhalten dieses Mannes, so zu Herzen ging. Ein gequältes „Herein“ erklang als Antwort auf ihr Klopfen. Leise die Tür öffnend trat Anna ins Zimmer. Was sie da sah, bestätigte nur ihre Vermutung. Samantha weinte selten und konnte, was Beleidigungen anbelangt, einiges wegstecken. Darin hatte sie ja, leider,
viel Übung. Doch in all den Jahren hatte Anna sie noch nie so aufgelöst gesehen. Samantha lag auf ihrem Bett. Ihr tränennasses Gesicht in ihren alten Teddy gedrückt schluchzte sie so, dass sie am ganzen Körper bebte. Sich auf die Bettkante setzend strich Anna ihrer Tochter über den Rücken.
Aufschluchzend warf sich Samantha ihr in die Arme und klammerte sich fest. „Warum ist er nur so widerlich? Alle versuchen ihm zu helfen, doch er arbeitet gar nicht richtig mit. Dr. Schmidt sagte, dass es nur eine Frage der Zeit und des Willens sei. Dann wäre er wieder völlig genesen, aber dieser sture Ochse will gar nicht. Es macht ihm sichtlich Spaß, andere zu quälen.
Stell dir vor, die meisten Schwestern haben schon so eine Angst, dass sie Streichhölzer ziehen, um so zu entscheiden, wer zu ihm hineingeht. Viele laufen dann immer weinend raus. Er macht alle mit seiner Art fast wahnsinnig. Ich habe die ganze Zeit seine Beleidigungen geschluckt und habe immer Erklärungen gesucht. Ja, ich habe ihn vor versammelter Schwesternschaft verteidigt und ihnen gesagt, dass sie sich in seine Lage versetzen sollen. Ich habe ihnen sogar geschworen, dass er sich bessern und bei ihnen entschuldigen wird. Er hatte es aber nicht getan!“
Verständnisvoll zog Anna ihre Tochter noch fester in die Arme und strich ihr übers
Haar. „Vielleicht hat er ja Angst. Oder er ist so mit sich selbst beschäftigt, dass ihm gar nicht bewusst ist, wie er mit den Menschen umspringt.“
„Das dachte ich ja auch erst. Deshalb wollte ich ja heute mit ihm in Ruhe reden. Ich wusste, dass es nicht leicht werden würde, doch wollte ich es auf alle Fälle versuchen.“
„Das ist doch gut! Was ist dann passiert?“ Anna drückte aufmunternd Samanthas Hand.
„Als ich ins Zimmer kam saß er steif aufgerichtet im Bett. Es war als würde ich gegen eine Wand laufen. Doch das schlimmste waren seine Augen! Die Verachtung, die ich in ihnen gesehen hatte, war einfach zu viel.“ Die letzten Worte brachte Samantha nur noch flüsternd hervor, sodass sich Anna anstrengen musste, sie zu verstehen. Ein wissender Blick trat in ihre Augen. Ja, sie wusste jetzt, warum ihre Tochter von solch starken Gefühlen übermannt wurde. Es war einfach zu offensichtlich - nur nicht für Samantha. „Oh, mein Schatz. Weißt du, was ich glaube? Du hast dich in diesen Mann verliebt!“
Als Anna nach einer Weile das Zimmer wieder verließ, war ihr Entschluss nur noch
mehr bestärkt worden. Was ihre Tochter im Moment zu erleiden hatte, war zu viel, als dass sie das stillschweigend mit ansehen konnte.
Für Samantha war es das erste Mal, dass sie Gefühle dieser Intensität verspürte. Anna fühlte, dass es sehr ernst war. Aus dem fast einstündigen Gespräch konnte sie
Ersehen, dass sich ihre Tochter Hals über Kopf in diesen Mann verliebt hatte und über eine kalte Abfuhr nicht leicht hinwegkommen würde. Seufzend strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Sammy ist ein viel zu impulsiver und gefühlsbetonter Mensch. Es ist manchmal ganz schön schwer mit dir mein Kind! Aber ich werde so gut wie möglich helfen, damit du die Sache ohne ein gebrochenes Herz durch stehst. Und mit diesem Mr. X werde ich auch ein Wörtchen reden müssen. Na dann, packen wir es an!
Als sie in die Küche kam, wurde Anna schon sehnsüchtig und voller Ungeduld erwartet. Jonas saß am Küchentisch und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. „Das hat ja lange gedauert! Und wie geht es dem Schmetterling? Was hat sie erzählt. Oder fällt das unter das `Mutterschweigegesetz`?“
Anna zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihrem Vater gegenüber. „Nein ich denke, dass ich dir das erzählen kann. Sammy ist verliebt! So sehr verliebt, dass ihre Gefühle mit ihr im Moment Schlitten fahren! Sie war bereit, alle möglichen Beleidigungen und Erniedrigungen hinzunehmen, weil sie dachte, dass Mr. X im Moment überfordert sei mit seiner Situation.
Er hat dies heute in Rauch aufgehen lassen. Sie war darüber so geschockt und wütend, dass sie ihn lauthals beschimpft und ihm sein Verhalten entgegengeschleudert hatte.“
Jonas rieb sich sein stoppeliges Kinn. „Ich denke, das war das einzig Richtige. Denn ich muss sagen, mir hat sein Verhalten die letzten Male auch nicht besonders gefallen.“
„Nun sicher, da magst du Recht haben, doch sie ist jetzt der Auffassung, dass er sie jetzt erst recht verachten müsse und in ihr, ich zitiere ein hysterisches Frauenzimmer sieht. Sie ist jetzt nicht mehr wütend auf ihn. Nun, sagen wir nicht mehr hauptsächlich, sondern auf sich selbst.“ „Oje, oje, da kommt ja einiges auf uns zu!“
„Nichts, womit wir nicht fertig werden können!“
„Da magst du Recht haben. Aber, Anni, ich sag dir eins. Das wird ein Krieg und wir stehen zwischen den Fronten. Bei diesen beiden kann es sogar passieren, dass wir zwischen ihnen zerrieben werden.“
Annas Blick wurde streng, als sie mit erhobenem Zeigefinger, Jonas in die Augen
sah. „Vater, ich sag es dir jetzt zum letzten Mal …“
„… du sollst nicht immer so hemmungslos übertreiben!“ Grinsend, vollendete Jonas
den Satz.
„Wann können wir ihn abholen?“
„Morgen Vormittag, bis zwölf Uhr. Man war mir äußerst dankbar dafür.“ Jonas lächelte verschmitzt. „Sie scheinen ihn sehr schnell loswerden zu wollen.“
„Dann müsstest du ihn abholen. Ich kann schlecht von der Arbeit wegbleiben. Jedenfalls nicht so kurzfristig.“
„Ist auch nicht nötig. Lass das ruhig den alten Brand machen. Der weiß, was zu tun ist! Und bei der Gelegenheit werde ich ihn mir schon mal zur Brust nehmen.“
„Dann ist ja gut.“ Anna erhob sich. „Jetzt werde ich mir den Cowboy einfangen und ihn ins Bett stecken. Es ist schon ziemlich spät!“
Am nächsten Morgen, kam Samantha stiller als üblich die Treppe herunter, nahm eine Saftflasche und ihren Geldbeutel, steckte beides in ihre Tasche und verließ ohne ein Wort das Haus. Nur Domino bekam im Vorübergehen eine kurze Streicheleinheit. Kopfschüttelnd sah Jonas ihr hinterher. Anna hatte Recht, dieses Mal hatte es seinen Schmetterling voll erwischt.
Vorm Krankenhaus war so viel Betrieb, dass Jonas in eine seiner alten Gewohnheiten fiel. Lauthals, über diese Anfänger und Führerschein - im- Lotto - Gewinner fluchend, bahnte er sich seinen Weg zwischen den vor sich hinschleichenden Autos.
Mit einem riskanten Wendemanöver, das ihm ein lautes Hupkonzert und die Aufmerksamkeit sämtlicher Autofahrer einbrachte, zwängte er sich in eine Parklücke direkt vor dem Haupteingang.
Den Weg zur Station überwand er in kurzer Zeit, da er sich von einigen Schwestern durch die für Besucher gesperrten Bereiche schleusen ließ. Von freundlichen
Pflegern, überglücklichen Schwestern und einem grinsenden Dr. Schmidt empfangen ging Jonas zum Zimmer.
Als er es betrat, wurde ihm ein Anblick geboten, der ihm einen anerkennenden Pfiff entlockte. Vor ihm stand ein Mann, wie von einem Künstler ersonnen. Er stand mit
dem Rücken zur Tür, wodurch Jonas eine überaus imposante Rückenansicht geboten wurde. Das beherrschte Spiel der Muskeln zeugte davon, dass diese Muskelpakete natürlichen Ursprungs waren und dass der Besitzer wusste, wie er sie zu gebrauchen hatte. Der breite Oberkörper ging in schmale Hüften und kräftige Beinen über. Die Brust war unbehaart und die Bauchmuskeln zeichneten sich deutlich ab. Eine lange und ziemlich breite Narbe zog sich über die linke Körperhälfte und ihre helle
Färbung zeichnete sich deutlich von der braun gebrannten Haut ab. Das Gesicht, nun frei von sämtlichen Verbänden, war schön zu nennen. Es war frei von jeglichem Bartwuchs und wurde nur von einer frischen Narbe, über dem rechten Auge, etwas verunziert. Das kantige Kinn zeugte, genauso wie der ernste Ausdruck des Mundes, von einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit. Über den hohen Wangenknochen und unter den dichten Brauen, blitzten zwei stahlgraue Augen, die einen leicht belustigten Ausdruck annahmen. Der Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln.
„Sind sie zufrieden mit den Beobachtungen?“ Das Lächeln wurde breiter. „Den Mund sollten sie allmählich schließen, old boy. Fliegen schmeck’n nich besonders!“
Jonas hatte gar nicht registriert, dass sich sein Gegenüber inzwischen umgedreht hatte. Das war ihm äußerst unangenehm, aber jetzt nicht mehr zu ändern. Verlegen kratzte Jonas sich am Kinn. „Nun ja, sie sind eine beeindruckende Erscheinung. Äh, wie groß sind sie? Circa Einsneunzig würde ich sagen. Doch sehr beeindruckend. Da kommt so ein alter Knochen wie ich gar nicht mit.“
„Es sind genau Einszweiundneunzig. Ihre Schätzung lag nicht weit daneben. Und so ein alter Knochen sind sie doch gar nicht, Herr Brand.“ Die junge Schwester, Jonas war ihr Name entfallen, trat mit einem scheuen Lächeln ins Zimmer und überreichte ihm die Entlassungspapiere. „Meine Liebe, sie wollen einen alten Mann nur verlegen machen. Ich könnte doch schließlich euer Großvater sein!“
„Da hätte ich nichts dagegen. Dr. Schmidt lässt ausrichten, dass er es begrüßen
würde, Mr. X erst in zwei Tagen wieder sehen zu müssen.“
Neben Jonas tretend legte dieser Hüne von Mann der kleinen Schwester eine seiner Pranken auf die linke Schulter. Sie zuckte unter der Berührung leicht zusammen.
„Ich weiß, Schwester Mona, dass ich das Gesagte nicht ungeschehen machen kann.“ Seine tiefe, wohlklingende Stimme mit dem leichten Akzent wurde noch eine Spur sanfter, als er ihr in die Augen blickend fortfuhr. „Doch hoff ich, dass sie mir eines Tages verzeihen können.“
Mit einem scheuen Lächeln, sah Schwester Mona zu ihm auf. „Ich wünsche ihnen alles Gute und hoffe, dass sie ihre Erinnerung schnell wieder erlangen.“
„Thanks!“ Zur Tür gehend, streifte er sich das T-Shirt über und drehte sich noch einmal um. „Was is nun, old boy, sollten wir nicht gehen?“ Hastig schloss Jonas zu
ihm auf. „Sicher, mein Jung. Doch sollten wir auch ein Wörtchen miteinander wechseln, während wir uns auf den Heimweg machen.“
Lächelnd wand Mr. X seinen Kopf in Jonas Richtung. „All right!“ Dass dieser alte Mann etwas auf dem Herzen hat, sieht selbst ein Blinder. Nun ich glaube, dass es mir nicht schmecken wird, sollte er erst mal in Fahrt sein. Obwohl es, denk ich, meine eigene Schuld ist.
Doch musste er noch auf die Standpauke warten. Jonas hüllte sich in Schweigen. Er machte den Eindruck, als müsse er sich genau auf den Weg durch das Krankenhaus konzentrieren.
Dass der Alte diesen Weg ganz genau kannte, wusste Mr. X. Beließ es aber dabei und störte ihn nicht in seinen Gedanken Und so schritten der Alte und der Junge durch die Korridore und durch das Hauptportal hinaus ins Freie.
Erst als sie im Auto saßen und Jonas den Kadett in den fließenden Verkehr eingefädelt hatte, beendete er das Schweigen. „Nun, wie ich sehe, passen ihnen die Sachen. Es war nicht leicht etwas zu finden, was ungefähr ihrer Größe entspricht.“
„Sie pass’n gut, thanks.“
„Das freut mich, aber bedanken sollten sie sich bei Samantha. Sie war diejenige, die durch die Geschäfte gezogen ist, um etwas Passendes zu finden.“ Jonas sah zu seinem Beifahrer hinüber. „Und das ist nicht das Einzige, was sie für sie getan hat. Das Mädel hat einiges einstecken müssen seitdem bekannt geworden ist, dass sie einen Fremden gefunden hat. So was spricht sich leider sehr schnell rum und für uns
kommt das, einer ansteckenden Krankheit gleich. Die Gerüchteküche brodelt. Aufgrund von Ereignissen, die ich hier nicht wieder geben möchte, hatte sie es noch nie leicht mit ihren Mitmenschen auszukommen. Jeder Tag ist ein Kampf.“ Mit Schwung nahm Jonas die Ausfahrt und fuhr auf die Landstraße. „Dank ihnen muss sie nun jeden Tag zwei Schlachten schlagen!“
Jonas bemerkte, dass sich sein Beifahrer gar nicht mehr wohl fühlte. Er sackte sichtlich in sich zusammen und in seinem Gesicht war der innere Kampf abzulesen, denn er gerade ausfocht.
Das klappt ja besser als ich dachte. Er reimt sich alles ganz allein zusammen.
Jonas hatte ganz recht mit seiner Annahme. Sein Beifahrer fühlte sich ganz und gar nicht mehr wohl, in seiner Haut. Von Dr. Schmidt, hatte er schon einiges über die Brands und über die Geschichten, die über diese Familie erzählt werden, gehört. Das,
was er jetzt vom Oberhaupt dieser Familie gehört hatte, machte ihn wütend auf sich
selbst. Wenn er das Gehörte mit seinem Verhalten in den letzten Wochen verglich, fühlte er sich richtig mies. Und er fand, dass Samantha noch viel zu freundlich zu ihm gewesen war. Oje, John da hast du einiges wieder gut zu machen! John? Ja, so ist mein Name. John Heart und ich bin Amerikaner! Aber das sollte ich vorerst für mich behalten.
Jonas, dem das kurze Aufleuchten in den Augen von John entgangen war, fuhr für Johns Gefühl viel zu schnell durch die nächste Kurve. Doch hielt er den Mund und
versucht stattdessen, seinem verschütteten Gedächtnis weitere Informationen zu entlocken. Wenn ich schon meinen Namen weiß, muss da doch noch mehr sein!? „Als sie mich fanden, haben sie auch eine Brieftasche oder etwas ähnliches gefunden, was auf my Identität hinweist?“
„Tut mir Leid mein Jung, aber wir haben den näheren Umkreis mehrfach abgesucht.
Wir fanden nichts außer ein paar Stoffstreifen, die unweigerlich von ihrer Kleidung stammten“
„Hm, wie kamen sie auf den Namen Mr. X?“
Jonas grinste.„Tja, ganz einfach. Erst einmal ist eure Herkunft nicht bekannt, also X. Des Weiteren, ist es ihnen nicht aufgefallen, dass sie Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben? Sie sind unweigerlich ein Amerikaner, also „Mr“!“
John sah zu Jonas hinüber. „Wie kommen sie drauf? Ich könnte doch auch ein Engländer sein!“ Jonas sah ihn an, als hätte er gerade behauptet, die Sonne sei lila. „Nein, beim besten Willen nicht. Für einen Engländer sind sie viel zu kräftig gebaut!“
Die restliche Fahrt verbrachten sie schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach.