Читать книгу P.E.M. Projekt Evolution Mensch - Jennifer Scheil - Страница 4

Überschrift 2

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Aufmerksam sah sich John um. Das Dorf war recht klein und schien um alte Bauernhäuser herum gebaut worden zu sein. Die Hauptverkehrsstraße, auf der sie fuhren, schien die einzig große und gut asphaltierte Straße zu sein. Sie zog sich durch den ganzen Ort. Es bestand zum Großteil aus alten Fachwerkhäusern, die in großen Gärten von alten Obstbäumen beschattet wurden. Ein paar neuere Häuser mit kleineren Gärten standen dicht zusammen und machten den Eindruck einer kleinen separaten Gruppe in einem großen Ganzen. Ein kleiner Lebensmittelladen, ein Metzger, eine kleine Bäckerei, sowie eine Post waren der einzige Luxus, den er zu sehen bekam.

Einem Linienbus ausweichend fuhr Jonas aus dem Dorf hinaus und bog in einen Feldweg. Der alte Kadett klapperte und ächzte, als er sich über den vom Regen teilweise ausgewaschenen Weg plagte. John bemühte sich die holpernden Bewegungen des Autos mit zu machen, um seinen noch immer schmerzenden Kopf zu entlasten.

Jonas, der das verkrampfte Gesicht sowie die Bemühungen von John bemerkte, quittierte dies mit einem Grinsen, fuhr deshalb aber nicht langsamer. Im Gegenteil. Er fuhr nun durch jedes Schlagloch, das sich in Reichweite der Reifen befand.

„So, da wären wir!“ Jonas bog in die nächste Kurve und John bekam das Haus zu Gesicht. Es war ein kleines Fachwerkhaus, das geschützt zwischen großen Fichten stand.

Hier musste man schön und in Ruhe leben können. Nach dem was John alles wusste, freute er sich darüber, dass diese netten Menschen hier ihre Zuflucht hatten und etwas geschützt vor den Gemeinheiten waren. Laut hupend, fuhr Jonas den Wagen in einen grob zusammengezimmerten Unterstand. Als sie ausstiegen, kam ihnen mit lautem Gebell Domino entgegen. Die Hündin stoppte ihren schnellen Lauf kurz bevor sie die Männer erreicht hatte und kam nun langsam und vorsichtig näher. John ging in die Hocke und legte seine Unterarme locker auf die Oberschenkel.

Lockend streckte er die rechte Hand aus. „Ja, hallo du. Du bist aber eine Schöne. Komm ruhig her zu mir! Na komm, das is schon okay!“

Geduckt und leise fiepend, kam die Hündin auf ihn zu. Vor ihm angekommen leckte

sie ihm die Hände und drückte ihre Schnauze, in seine hohle Hand. Jonas trat neben die Beiden. „Sie war es die sie gefunden und Samantha zu ihnen geführt hatte. Doch so ein Verhalten habe ich noch nie bei ihr gesehen!“ Domino sanft und doch mit fester Hand streichelnd lächelte John. „Bis jetzt wollte jedes Tier mit mir gut Freund sein. Und du, thank you. Das war sehr nett von dir. Wie heißt sie?“

„Domino!“

„Das ist wirklich ein schöner und sehr passender Name. Also, Domino, wie wär’s, wollen wir Freunde sein?“ Domino schob sich noch dichter an John heran und wedelte so stark mit ihrem Schwanz, dass ihr ganzer Körper bebte.

„Gut, das freut mich.“ Sich aufrichtend, ließ John seinen Blick über das Haus und das Grundstück schweifen. „Schön haben sie es. Wer lebt alles hier?“

„Das sind Domino, meine Tochter Anna, sowie meine Enkel Samantha und der kleine Tom. Ja, und meine Wenigkeit natürlich.“ Jonas schritt auf das Haus zu. In der Erwartung Domino neben sich zu haben, klopfte er kurz gegen seinen Oberschenkel. So, wie er es immer tat, um sie an seine Seite zu rufen. Doch sie war nicht da. Verwundert hielt er an und wandte sich um.

Da saß sie neben diesem Fremden und hielt ihren Blick auf ihn gerichtet.

Dieser Hund verhält sich anders als sonst. Ganz anders. Das ist doch nicht normal, dass sie sich so anbiedert. Sie kennt diesen Menschen gar nicht. Das eine Mal im Wald zählt nicht. Auch die Reaktionen von Samantha auf diesen Mann, kann man schon fast mit dem von Domino vergleichen. Fehlt nur noch, dass Anna genauso auf ihn reagiert. Aber irgendwie hat er was an sich. Ich weiß nicht, ich kann es nicht in Worte fassen. Aber, verdammt noch eins, ich mag diesen sturen Hund ebenfalls.

„Wollt ihr zwei da Wurzeln schlagen oder doch lieber ins Haus kommen?“ Sich abwendend betrat er das Haus. Die Tür ließ er offen.

Tief in sich selbst versunken, stand John da. Einiges kam an die Oberfläche. Es war wenig, im Bezug auf das Ganze, was noch verschüttet, irgendwo in seinem Kopf darauf wartete, ausgegraben zu werden. Jedoch war er für jeden noch so kleinen Fetzen dankbar. Ja, er gierte regelrecht danach, auch nur die kleinsten Krumen zu erhaschen. Er wusste aber auch, dass er es nicht erzwingen durfte. Das hatte er in der

Vergangenheit schon versucht und das Einzige, was er erreicht hatte, war, dass er selbst schlechte Laune bekommen und den Menschen in seinem Umfeld Unrecht getan hatte. Das sollte nicht noch einmal passieren. Ich werde Samantha bitten, mich

an die Stelle zu führen, an der sie mich gefunden hat. Das wird mir vielleicht helfen, mich daran zu erinnern, was passiert ist. Und dann weiß ich auch ganz genau wer oder was ich bin. Mein Name allein reicht nicht aus!

Seufzend setzte er sich in Bewegung und schritt auf das Haus zu. Domino lief neben ihm her. Sie war so dicht, dass sie ihn am Bein streifte und die Nähe des Hundes beruhigte ihn auf eine ganz eigene Art und Weise. Locker legte er seine Fingerspitzen auf ihren Kopf.

****

Samantha saß an ihrem Tisch und sah aus dem Fenster auf den Pausenhof. Das, was dort draußen war, sah sie genauso wenig, wie sie die Worte der Lehrerin wahrnahm, die vor der Tafel stand und ihnen ein Fallbeispiel zu den verschiedenen Erziehungsstilen anschrieb und es dabei erläuterte. Sie war mit ihren Gedanken bei einem spöttisch verzogenen Mund und kalt blitzenden, stahlgrauen Augen. Ein Seufzen hob ihre Brust, sie würde alles dafür geben, damit diese Augen sie freundlich anlächelten. Und sollte es nur für den Bruchteil einer Sekunde sein, es wäre für sie der Himmel auf Erden. Doch das zu erhoffen war töricht. Wie sollte sich ein so gut aussehender Mann auch nur die Mühe machen, ein so mittelmäßiges Mädchen wie sie zu bemerken? Nein, es war einfach dumm, zu glauben, sie sei es wert. Von allen Seiten bekam sie doch ständig Prügel zu spüren. Nur zu Hause hatte sie das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Ihr Opa nannte sie oft seinen Schmetterling.

Dieses Gefühl tat gut und löschte das bedrückende Gefühl der Schlechtigkeit für einen Augenblick aus. Sie wusste um ihre Fähigkeiten, doch war es ihr nicht immer möglich, sie auch selbstbewusst zu zeigen. Immer die Angst vor Erniedrigungen im Nacken tat sie soviel wie sie konnte, um nicht übermäßig aufzufallen.

Aufzufallen kam für sie einem Todesurteil gleich. Und im Moment hatte sie sowieso keine Kraft, dem Lästern und Neid ihrer Mitschüler Kontra zu bieten. Somit hielt sie sich sehr zurück um den verbalen Konfrontationen zu entgehen.

In ihrem Inneren war etwas im Begriff zu zerreißen und wenn sie an die Gehässigkeiten dachte, die aus diesem spöttischen Mund hervorkamen, riss es immer tiefer ein. Sie seufzte leise und eine Träne lief unbemerkt über ihre Wange. Wenn ich doch nur auf ein Lächeln hoffen könnte. Aber nachdem ich ihn so heruntergeputzt habe, werde ich wohl nie diese Augen strahlen sehen. Oh, Sam was bist du doch

dumm!

„Samantha Brand, wie lautet die Antwort auf meine Frage?“ Der herrische Ton der Lehrerin katapultierte Samantha zurück in die Wirklichkeit.

Hochschreckend sah sie sich irritiert um. „Was? Entschuldigen sie bitte, Frau Schulz, aber ich habe eben nicht zugehört.“

„Offensichtlich. Das war auch nicht zu übersehen!“

Ein allgemeines Murmeln und Kichern ging durch die Klasse.

Wieder versagt! Wieder einmal aufgefallen!

Verzweifelt strich sich Samantha eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Könnten sie die Frage, bitte wiederholen?“

„Hört euch das an wie sie wieder extra behandelt werden will. Unverschämt! Aber was will man auch von so einer wie ihr erwarten!?“ Diese Hänselei wurde zwar geflüstert, war aber noch laut genug, sodass Samantha sie hören musste. Schmerzhaft zog sich ihre Brust zusammen und die Tränen ließen sich kaum unterdrücken. Aber sie würde nicht weinen! Sie würde diesen Lästermäulern nicht diese Genugtuung geben. Niemals!

Frau Schulz wusste um die Klassensituation und sie würde alles tun, um sie für Samantha zu erleichtern. Doch fiel das bei dieser Klasse nicht leicht. Als Lehrer musste man Acht geben, dass man nicht selbst Gegenstand des Lästerns wurde, selbst in so einem sozialen Beruf.

Es erschreckt mich jedes Mal aufs Neue, zu sehen und zu hören, wie diese jungen Menschen, weder erwachsen noch jugendlich, diese Art von Zusammenleben führen. Es graust mich, wenn ich daran denke, dass das die Erzieher von Morgen sein sollen.

Mit ruhiger und freundlicher Stimme wiederholte sie noch einmal ihre Frage. „Um welchen Erziehungsstil handelt es sich bei diesem Beispiel und woran machen sie das fest?“ Samantha lächelte, die Antwort darauf war nicht schwer. Diese Fragen

waren nie schwer für sie. In Psychologie und Pädagogik hatte sie, genau wie in künstlerischen Gestalten und musikalischer Erziehung, die besten Noten. Doch bevor sie überhaupt dazu kam, etwas zu sagen, ergriff Babette, die Klassenschönheit, das Wort. Natürlich ohne sich gemeldet zu haben. „Es handelt sich hierbei um den demokratisch / partnerschaftlichen Erziehungsstil. Das ist daran ersichtlich, dass die Erzieherin dem Kind das Spielen an diesem Platz nicht nur verbietet, sondern das Verbot auch erklärt und so dem Kind verständlich macht!“ Mit einem

selbstzufriedenen Lächeln lehnte sich Babette zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr abfälliger Blick, streifte dabei Samantha.

„Nun, diese Antwort war korrekt. Jedoch würde ich es begrüßen, wenn sie sich ebenfalls demokratisch / partnerschaftlich gezeigt hätten. Denn die Frage hatte ich Samantha gestellt und nicht ihnen, Babette!“

Das Lächeln verschwand und ein giftiger Blick schoss zu Samantha hinüber.

Beim ersten Ton der Schulglocke hasteten schon die ersten aus dem Klassenraum. Wieder einmal, ohne ihre Stühle hoch zu stellen. Sie wollten alle nur so schnell wie möglich aus der Schule raus. Als Babette an Samantha vorbeirauschte, beugte sie sich etwas vor und zischte leise. „Wir sehen uns draußen!“

Innerlich sackte Samantha zusammen. Wenn sie doch nur nicht alle ihre psychische Kraft dazu verwandt hätte, diesem sturen, gefühllosen Klotz zu helfen. Wäre sie dabei nicht so geschwächt worden, dann würde sie der kommenden Auseinandersetzung gelassener gegenüberstehen. Aber so? Es war aussichtslos!

Traurig erhob sie sich, schloss ihre Tasche und machte sich, wie jeden Tag, daran, die Stühle hoch zu stellen und den Müll aufzusammeln. Während der letzte ihrer Mitschüler die Klasse verließ, reinigte sie die Tafel. Sie würde sich dann zwar wieder beeilen müssen, um den Bus noch zu bekommen, doch das machte ihr wenig aus. Sie wusste, wie hart das Reinigungspersonal arbeiten musste, damit sie die Schule wieder sauber bekamen. Diese kleinen Handgriffe würden ihnen die Arbeit erleichtern, nur das war wichtig!

Am Ende waren nur noch sie und die Lehrerin im Klassenzimmer. Frau Schulz sortierte noch ihre Unterlagen, um sie fein säuberlich in ihre Tasche zu stecken. Als sie ihren Laptop zuklappte und die Unterlagen der Schüler in Stapel geschichtet hatte, war auch Samantha fertig. Sie war im Begriff das Klassenzimmer zu verlassen als sie von Frau Schulz zurückgerufen wurde. „Samantha, warten sie doch bitte einen Moment. Ich habe den gleichen Weg, da könnten wir doch zusammen gehen.“ Der skeptische Blick aus diesen unergründlichen Augen entging ihr nicht, weshalb sie anknüpfend erklärte: „Ich habe heute so viele Unterlagen mitzunehmen. Es würde mich freuen, wenn ich dabei Hilfe bekommen könnte.“

Samantha entspannte sich. Das Angebot von Frau Schulz war nicht ganz eigennützig. Das spürte sie und war ihr dankbar. Es bedeutete zwar einen Umweg, durch die Schülerfreien Zonen und über den Lehrerparkplatz zu gehen, doch würde es sie vor

der Konfrontation mit Babette bewahren. Lächelnd trat sie an den Pult und hob den größten Stapel Unterlagen auf.

Gemeinsam und unbehelligt verließen sie das Schulgebäude. Am Auto angelangt

übergab Samantha die Unterlagen, verabschiedete sich und eilte los, um ihren Bus vielleicht doch noch zu erwischen.

Heute würde sie nicht ins Krankenhaus fahren. Sie könnte es nicht ertragen, ihn zu sehen.

Sollte er doch darauf warten, Besuch zu bekommen. Wie egal ihr das doch war! Nie würde sie sich diesem kalten Blick wieder aussetzen. Er würde es sowieso nicht bemerken, wenn sie nicht mehr kam. Da war sie sich ganz sicher!

Der Bus war schon im Begriff anzufahren, als sie endlich, nach Luft ringend, an der Bushaltestelle ankam. Wild mit den Armen winkend, machte sie sich bemerkbar und der Bus hielt, um sie einsteigen zu lassen. Keuchend fiel sie auf den erstbesten Platz, nachdem sie ihren Fahrschein durch das elektronische Lesegerät gezogen hatte, und sah aus dem Fenster. Als sie am Krankenhaus vorbei die Stadt verließen, suchten ihre Augen die Fenster ab, auf der Suche nach – ja, nach was eigentlich? Samantha, was tust du da eigentlich? Was erhoffst du zu sehen? Sich selbst zur Ordnung rufend wandte sie den Blick ab, um die vorbeirauschenden Bäume zu beobachten.

****

Klappernd machte sich Jonas daran, das Mittagessen zuzubereiten, während John sich, mit Domino bei Fuß, das Haus ansah. Jonas hatte ihn mit ausholenden Bewegungen aus der Küche hinaus komplimentiert. John war sich sicher, dass er ihn sogar geschoben hätte, wenn er nicht freiwillig gegangen wäre. Jonas konnte, nach eigener Aussage, es nicht leiden, wenn ihm beim Kochen über die Schulter geschaut wurde. Somit hatte er John ans Herz gelegt, sich doch etwas im Haus umzusehen.

John verweilte in jedem Raum, um sich alles einprägen zu können. Es war auch ein wenig die Hoffnung dabei, etwas zu finden, was Erinnerungen hervorrufen könnte. Im hellen und mit Eichenmöbeln ausgestatteten Wohnzimmer, fühlte er sich gleich geborgen. An den Wänden zogen sich Regale entlang. Diese waren zum Großteil mit Büchern vollgestopft. Er fand darin sowohl Liebesromane als auch Bücher mit esoterischem Inhalt, Lexika und vieles mehr. Vorm Kamin lag ein flauschiger Teppich.

Als er zur Treppe ging, kam er am Badezimmer und einer Abstellkammer vorbei.

Das Bad war klein und in den Tönen Weiß und Blau gehalten. In der Abstellkammer fand er eine Waschmaschine und die verschiedensten Werkzeuge und Gegenstände, die eine Hausfrau dazu benötigte, das Haus zu reinigen. Die Wände des Flurs und entlang der Treppe waren mit den unterschiedlichsten Bildern behangen. Die meisten davon waren Fotos der Familie Brand. Auf einem sah er Samantha und einen kleinen Jungen, höchstwahrscheinlich war es Tom, dick eingemummelt neben einem riesigen Schneemann stehen. Ein weiteres zeigte Jonas, der hinter Domino her rannte und ihr offensichtlich die erbeutete Wurst abzujagen versuchte.

Am oberen Treppenabsatz blieb John plötzlich, wie vom Donner gerührt, stehen.

Das Bild, das dort hing, fesselte seinen Blick. Es zeigte eine in Öl festgehaltene Szene. Ein Einhorn und ein Drache verbeugten sich, einträchtig nebeneinander stehend, vor einem feenähnlichen Wesen, das auf dem Rücken eines riesigen Wolfes saß. Die Wesen wirkten so lebendig, dass er fast enttäuscht war, dass sie sich nicht bewegten.

Als er die Frau auf dem Bild näher in Augenschein nahm, bemerkte er etwas für ihn Sonderbares. Sie zeigte deutliche Ähnlichkeiten mit Samantha.

Der Maler hatte sie in einer poetischen Weise betrachtet und im Bild festgehalten. Doch als seine Augen die Initialen suchten und fanden, glaubte er erst nicht, was er da sah. – Die Initialen lauteten, S.B. Samantha hatte dieses Bild selbst geschaffen! Die Gefühle, die diese Erkenntnis in ihm auslösten, ließen sein Herz schneller schlagen.

Wenn ein Mensch etwas so Schönes, ja Erhabenes, erschaffen konnte, musste er über ein besonderes Maß an Einfühlungsvermögen verfügen. Die Liebe, die dieses Bild verströmte, war fast greifbar. Durch die Farbwahl und die feinen Konturen, sowie des in Öl

eingefangenen Lichts, strahle es eine Wärme aus, die seine Haut kribbeln ließ.

Als er sich endlich von dem Bild zu lösen im Stande war, bemerkte er noch weitere Kunstwerke. Sie alle strahlten ähnliche Gefühle aus und sie alle wiesen die Initialen S.B. auf. Eines der Bilder erschlug ihn beinahe. Als er beim Herumdrehen die Wand mit der Schulter streifte, löste es sich von seinem Platz und glitt an der Wand herab, bevor es kippte.

John fing es auf und wollte es gerade an seinem Haken wieder fest machen, als er in der Bewegung innehielt. Das Bild zeigte eine Gruppe Delphine, die im

Sonnenuntergang, aus dem Wasser sprangen. Eingefasst wurde dieses Schauspiel von Palmen, die sich im Wind zu bewegen schienen.

Wie ein Blitz fuhr es durch ihn hindurch. Eine Erinnerung war plötzlich zum Greifen nah. Mit aller Macht hielt er sie fest, um sie ja nicht wieder zu verlieren. Um aus den verschwommenen Umrissen ein klares Bild werden zu lassen, richtete er seinen

Blick wieder auf das Gemälde.

Palmen, Strand, Delphine, Meer. Da war doch was? Woran erinnert mich dieses Bild nur?

Ohne Vorwarnung stürzten Bilder auf ihn ein. Die Erinnerungen glichen bunten Fetzen. Bilder von Menschen: Frauen in Bikinis, eine kleine Cocktailbar, ein kleines Mädchen mit blondem gelockten Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, lief lachend in die Arme eines großen Mannes mit strohblonden, längeren Haaren und Vollbart. Beide drehten sich um und das Mädchen streckte die kleinen Ärmchen aus. Ihre Lippen formten Worte. Dann konnte er sie hören, wie sie flehend nach ihm rief. „Onkel John, komm zu uns zurück. Bitte!“ Der Mann blickte ihn nur stumm an.

Meine süße Jessica, Nick, ja ich komme wieder. Ich komme zurück nach `Little Paradise`. Aber warum war ich hier, was sollte ich hier? Weshalb war ich im Wald und wer hat mich verletzt? Das muss ich erst herausfinden. Danach komme ich zu euch zurück, das verspreche ich!

Seufzend hing er das Bild, fast ehrfürchtig, zurück an seinen angestammten Platz. Nun wusste er wieder mehr. Er wusste, dass er John Heart hieß und aus New Palm Beach stammte. Dort lebte er zusammen mit seinem Freund und Kriegskameraden Nick Fontaine und dessen sechsjähriger Tochter Jessica in einer großen Villa am Strand. Sie besaßen einen kleinen Strandabschnitt mit einer Cocktailbar, deren Name `Little Paradise` war.

Er erinnerte sich auch an zwei Frauen. Eine schwarze, ältere und eine weiße, jüngere Frau. Beide lösten in ihm Gefühle der Freude und Liebe aus. Ihre Namen hingegen entzogen sich ihm hartnäckig. Der Anfang war getan. Jetzt konnte es nur noch aufwärts gehen. Johns Augen waren noch immer auf das Bild gerichtet, als er Jonas von unten rufen hörte. „Hey, Jungchen. Kommen sie doch bitte runter, ich könnte ihre Hilfe gebrauchen!“ Als John die Treppe herunterging, sah er, wie sich Jonas in seine Jacke zwängte und gleichzeitig nach seinen Schuhen angelte. „Was gibt’s?“

„Anna hat eben angerufen. Sie muss heute eine Arbeitskollegin mitnehmen. Deshalb

muss ich den Kleinen vom Kindergarten abholen!“

Während er sich die Schuhe band, sah Jonas zu John auf. „Wären Sie …“

John grinste. „Du“

„Was? Na, meinetwegen. Wärst du bitte so freundlich und kümmerst dich um das Essen. Du musst nur darauf achten, dass es nicht anbrennt. Wenn die Schaltuhr piept, bitte ausschalten und die Spaghetti abgießen.“ Bevor John überhaupt die Gelegenheit hatte, etwas darauf zu erwidern, war Jonas schon aus dem Haus und zum Auto geeilt. Achselzuckend wandte sich John Domino zu. „Ja dann wollen wir mal.“

John war mit dem Tischdecken fast fertig, als er hörte, wie der alte Kadett rumpelnd in den Unterstand fuhr. Kurz darauf vernahm er das Klappen der Türen und ein helles Kinderlachen, das eine freudig bellende Domino begrüßte. Das Bild der strahlenden Jessica schlich sich wieder in seinen Kopf. Fahrig wischte John sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, er musste sie endlich schneiden, und schritt zur Verbindungstür. Nach draußen blickend, gewahrte er einen kleinen Jungen. Unter der dunkelblauen Schirmmütze lugten dunkelblonde Haarsträhnen hervor. So wie er da breitbeinig, mit blauer Latzhose und weißem T-Shirt bekleidet, stand, machte er den Eindruck eines kleinen aufgeweckten Kerlchens, der die Welt für sich entdecken wollte. Lächelnd öffnete John die Tür und trat auf die, das ganze Haus umschließende, Veranda hinaus.

Tom, der mit Domino auf das Haus zugerannt kam, stockte und sah den Fremden mit großen Augen an. Aus seiner Sicht war John ein Riese und das plötzliche Auftauchen tat sein Übriges. Dann ging eine Veränderung mit dem Jungen vor. Der Körper straffte sich und, den Rücken durchdrückend, stelzte Tom auf John zu. Dicht

vor ihm baute er sich breitbeinig mit in die Hüften gestemmten Fäusten auf. Den Blick herausfordernd, warf Tom den Kopf in den Nacken.

„Du dummer, großer Kloß. Sammy hat dir geholfen, sie war oft so müde und hat wegen dir viel geweint. Wenn sie wieder weinen muss und du ihr weh tust…“ Tom neigte den Kopf vor und verengte seine Augen, während er eine dramatische Pause einlegte. „… haue ich dich zu Mus. Dass du es weißt!“ John, der versuchte seine Belustigung nicht zu zeigen, ließ sich in die Hocke nieder. Ernst sah er dem Kind in die Augen. „Ich verspreche dir, dass ich Samantha nicht mehr wehtun werde. Sie soll wegen mir nicht weinen. Das möchte ich nicht!“ John reichte dem Jungen lächelnd seine rechte Hand. „Partner?“ Grinsend legte Tom seine kleine Hand in die große

Pranke und fasste so fest zu, wie er konnte. „Partner!“

„Ich weiß ja nicht, wie das mit Euch ist, aber ich habe Hunger!“ Jonas, der durch die Eingangstür das Haus betreten hatte, stand mit einem dampfenden Topf mitten in der Küche. Mit dem Fuß stieß er die Verbindungstür auf.

John sah Tom in die Augen. „Also ich sterbe fast vor Hunger, und du?“ Tom strahlte. Mit heftigem Nicken bekundete er, dass er ebenfalls Hunger verspürte.

Sich aufrichtend fasste John die Hand des Jungen. Gemeinsam gingen sie in die

Küche und nahmen am Tisch Platz. Jonas begann augenblicklich zu schnauben. „Also, was sind das denn für Manieren?! Zum Hände waschen, alle Beide und keine Widerrede! Mit dreckigen Fingern kommt mir niemand an den Tisch. Ab, Marsch, Marsch!“ Wild gestikulierend trieb er die Beiden aus der Küche ins Bad, aus dem er dann lautes Lachen und Quietschen hörte. Jetzt spielen die da herum. Also so was! Als Tom ihn so anschnauzte, befürchtete ich schon das Schlimmste. Aber er hat sich ja ganz gut verhalten. Seine korrekte Aussprache scheint der Kerl auch wieder gefunden zu haben. Wenn man ihn jetzt hört, würde man ihn nicht für einen Ausländer halten. Bemerkenswert!

John kam lachend in die Küche. Bäuchlings, hing Tom über seiner rechten Schulter und versuchte John an allen nur erdenklichen Stellen zu kitzeln. Dabei konnte er sich selbst kaum halten vor Lachen. Als sie sich dann endlich setzten, häufte Jonas ihnen das Essen auf die Teller. Dabei beobachtete er John genau.

Da benötigte dieser Mann nur ein paar Minuten und schon frisst ihm Tom regelrecht aus der Hand. Es ist einfach unglaublich!

In dem Moment kam Anna, von den Dreien völlig unbemerkt, dazu. Was sie zu

sehen bekam, erstaunte und amüsierte sie zu gleich. Da saß ihr sonst zurückhaltender Sohn mit einem ihm fremden Mann am Tisch und alberte mit diesem herum. Fasziniert schüttelte sie den Kopf, als sie sah, mit welcher Hingabe auch Domino an dem Mann hing. Doch sie konnte nicht leugnen, dass dieser Mann durchaus etwas Anziehendes an sich hatte, so wie er da am Tisch saß und sich lachend, der spielerischen Bockshiebe von Tom zu erwehren versuchte.

Durch ein Räuspern machte sie sich schließlich bemerkbar. Wie ein Mann drehten sich die drei Köpfe in ihre Richtung, während Domino ihr zur Begrüßung mit der Schnauze gegen die Hand stieß.

„Na, das ist ja eine nette Gesellschaft. Ist es erlaubt, sich dazu zu setzten?“ John

erhob sich, trat zum noch freien Stuhl und bot ihn Anna mit einer galanten Handbewegung an.

Sichtlich geschmeichelt lächelte sie und setzte sich, um sich von John an den Tisch schieben zu lassen. Nun, Manieren scheint er zu haben. Noch dazu von der besten Sorte. Anscheinend hat er sich besonnen. Sammy, ich glaube du hast dir umsonst Sorgen gemacht! „Das riecht wieder mal vorzüglich. Was hast du heute für uns gezaubert, Dad?“

„Spaghetti mit Soße, alla Brand“ Anna nahm eine Gabel voll und verzog

genießerisch das Gesicht, als sie sich die Soße auf der Zunge zergehen ließ. „Einfach köstlich! Wie hast du sie zubereitet?“ Jonas grinste und hob einen Zeigefinger. „Das meine Liebe, ist mein kleines Geheimnis. Du darfst zwar alles Essen, aber nicht alles wissen!“ Anna wand sich John zu. „Sie waren doch hier, als er sie zubereitete, können sie mir sagen, wie er es gemacht hat?“ John schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir leid. Ich weiß es wirklich nicht. Er hatte mich ja regelrecht aus der Küche raus geworfen!“

„Schade!“

Das weitere Essen verlief still, von kleinen Neckereien zwischen John und Tom abgesehen. Danach bot sich John an, das Geschirr zu spülen. Nachdem Jonas, mit Tom und Domino im Schlepptau, die Küche verlassen hatte, griff sich Anna ein Geschirrtuch und machte sich daran, das Geschirr ab zu trocknen. Die Reste hatte sie extra abgefüllt und in die Mikrowelle gestellt.

John verfolgte ihr tun aufmerksam. „Wann kommt Samantha nach Hause?“

„Sie müsste eigentlich in einer Stunde hier sein.“ Anna sah zur großen Küchenuhr.

„Ja, heute ist Dienstag. Dann müsste sie mit dem 15 Uhr Bus ankommen!“ Sie sah John in die Augen. „Es sei den, sie ist erst ins Krankenhaus gefahren.“

„Willst du damit sagen, dass sie nicht weiß, dass ich hier bin? Nun, da kommt dann ja Einiges auf mich zu. Ich kann es ihr ja nicht einmal verübeln. So wie ich sie behandelt habe, ist es ein Wunder, dass sie mich überhaupt hat leben lassen.“ Seufzend, strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, mich bei ihr zu entschuldigen, ohne dass sie mir die Augen auskratzt!“ Sein Blick glitt Hilfe suchend zu Anna. Abwehrend hob diese die Arme. „Tut mir Leid. Mehr als wir bereits getan haben, ist nicht drin. Das Weitere ist dir und auch Samantha überlassen.“ Anna drehte sich noch einmal um, bevor sie die

Küche verließ. „Einen Tipp kann ich dir jedoch geben. Lass deinen Charme spielen und lass ihr ihren Schutzraum.“

„Ich verstehe! Danke!“

„Nichts zu danken. Im Grunde, bist du kein schlechter Kerl. Zeig das Sammy und das Weitere wird leicht!“

In dieser Familie muss man sich einfach geborgen fühlen. Sie strahlt so eine Herzlichkeit aus, wie ich es noch nie gesehen habe.

Doch, bei Nick und Jessica. Es ist alles noch viel zu verworren. Wenn ich daran

denke, was diesen Menschen angetan wird, bekomme ich eine stink Wut! Doch erst

einmal muss ich diese vermaledeiten Haare loswerden.

Sich auf die Suche nach Jonas begebend, ging er von Raum zu Raum. Vor einer Tür im Obergeschoss blieb er stehen. Er vernahm lautes Kinderlachen und Jonas rauen Bass. Auf Johns Klopfen, wurde die Tür von Innen geöffnet und Tom lugte heraus. „Was willst du?“

„Nur deinem Opa eine Frage stellen. Wenn du es erlaubst?!“ Mit einem Stoß, öffnete der Junge die Tür weiter und ließ einen Blick ins Innere des Zimmer zu. Jonas saß auf dem Boden und stellte die Figuren auf das Spielbrett zurück, bevor er ächzend versuchte, sich zu erheben. John hob abwehrend die Hände. „Nicht doch Jonas, bleib sitzen! Ich wollte doch nur wissen, ob du einen Haarschneider besitzt. Mein Erscheinungsbild ist nicht besonders zivilisiert.“ Jonas streckte John die Hand entgegen. „So etwas besitze ich allerding. Ich hol ihn dir. Er ist in meinem Zimmer.“ John ergriff die Hand und zog den Alten ohne sichtliche Anstrengung auf die Füße.

John war gerade damit beschäftigt sich zu rasieren, als Jonas grinsend ins Bad herein sah. „Wenn du etwas zu tun haben möchtest, habe ich da was für dich. Vorausgesetzt, du kennst dich mit Autos aus. Der alte Kadett macht nicht mehr so gut mit, wie er sollte.“

„Kein Problem. Autos sind auch nur Maschinen. Übrigens“ John legte Jonas lächelnd, eine Hand auf die Schulter. „Mein Name ist John!“ Jonas mit dieser Neuigkeit stehen lassend, verließ John das Bad und ging in den Garten. Jonas stand noch immer am selben Fleck, nicht fähig sich zu rühren.

Dann brach es wie eine Sturmgewalt aus ihm heraus. „Anna, Anna! Hör doch! Anna, er weiß seinen Namen! Der Junge, weiß seinen Namen!“

****

Samantha kam die Auffahrt herauf, als sie die Geräusche von Stahl auf Stahl vernahm. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie ihr Opa wieder einmal versuchte, den alten Kadett zu reparieren. Ihrer Meinung nach, war das vergebliche Liebesmüh. Der Wagen war fast genauso alt wie Jonas und das war für ein Auto Rentenalter.

Da sah sie ihn, wie er unter dem Auto lag und sichtlich bemüht war, ihm noch einige Kilometer ab zu ringen. Neben dem kleinen Fiat ihrer Mutter sah der Kadett einfach schäbig aus. Lächelnd trat Samantha durch die Gartenpforte und schritt auf das Haus zu. Sie würde Jonas helfen, doch erst musste sie etwas essen.

Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatte, wusch sie ihr Geschirr ab und war dabei, es in die Schränke ein zu räumen, als die Tür zum Garten hin aufschwang. Mit der Überzeugung ihr Großvater käme herein, um sich etwas zu trinken zu holen, griff sie nach einem Glas und der Teekanne. „Na Opa, will er wieder nicht. Hier hast du etwas zur Erfrischung.“ Sich zur Tür umdrehend, erstarrte sie in der Bewegung.

Vor ihr stand der Fremde aus dem Wald. Seine Haare waren jetzt zwar kürzer und der Oberkörper nackt und mit Öl beschmiert, aber er war es. So wie er da vor ihr stand, stockte ihr der Atem und nur unbewusst nahm sie war, wie Glas und Kanne ihren Händen entglitten und auf den Küchenfliesen zerschellten. Auch, dass sich der Tee über ihre Füße ergoss, bemerkte sie kaum. Endlich wieder Herr ihre Sinne, verließ sie fluchtartig die Küche und eilte an ihrer Mutter vorbei in ihr Zimmer.

John stand noch immer in der Küche und sah zur Tür als Anna herein kam. Mit einem Blick die Situation erfassend, holte sie Eimer, Wischtuch, sowie den

Staubsauger. Die anklagenden Reste aufsammelnd, wandte sie sich John zu. „Jetzt weiß sie es!“ John konnte nur nicken. Er hatte gehofft, dass sie nicht so auf ihn reagieren würde. Ja, wenn sie ihn Beschimpft oder schlicht und ergreifend ignoriert hätte, wäre er damit leichter klar gekommen. Er hätte es sogar verstanden. Aber nicht mit dieser Panik in den Augen. Das Entsetzen in diesen schönen Augen zu sehen, schnitt ihm tief ins Herz. Die Angst galt nicht irgendjemandem sondern ihm.

Anna erhob sich. Als sie den Ausdruck in seinen Augen bemerkte, durchfuhr es sie heiß. John, du scheinst dir über deine Gefühle vielleicht noch nicht im Klaren zu sein, aber ich weis das du mehr als nur bloße Sympathie für Samantha empfindest.

„John, Kopf hoch, sie wird sich daran gewöhnen, dass du hier bist. Glaub mir, das wird schon werden!“ Sie griff nach einem neuen Glas und einer Flasche Malzbier, die sie John in die Hand drückte. „Danke, Anna. Du bist einfach Gold wert!“

„Schmeichler. Und jetzt raus mit dir, bevor meine Küche vollends in ein Schlachtfeld verwandelt wird.“

Samantha lag auf ihrem Bett. Die Arme unterm Kopf verschränkt starrte sie zur Decke. Ihr Inneres war noch immer in einem heillosen Durcheinander. Wieso war er hier? Was machte er hier? Meinem Körper und meinen Gefühlen kann ich auch nicht mehr trauen. Ich könnte mich Ohrfeigen, das war Mamas beste Teekanne. Und dann steht der einfach vor mir. Oh, warte Opa du kannst was erleben. Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass ihr ihn hier her holt?

Das Klopfen an ihrer Tür, hätte sie am Liebsten ignoriert, doch wusste sie aus Erfahrung, dass das nichts brachte. Im Gegenteil. In Punkto Hartnäckigkeit, war ihre Familie einsame Spitze. Somit erhob sie sich und öffnete die Tür. Der vorwurfsvolle Blick ihrer Mutter traf sie tief. „Was ist los mit dir? Das da in der Küche war ja nicht unbedingt eine Glanzleistung!“

„Oh, Mama bitte! Es tut mir Leid, dass deine Kanne kaputt gegangen ist, es war doch keine Absicht.“ Samantha ging zurück zu ihrem Bett und setzte sich, mit angezogenen Beinen darauf. Als sie ihre Arme um die Knie schlang, setzt sich Anna neben ihre Tochter. „Das weiß ich doch! Das beantwortet aber noch nicht meine Frage!“

„Ihr hättet es mir sagen sollen!“

„Was hätten wir dir sagen sollen? Dass John zu uns kommt, war doch schon am ersten Tag klar gewesen. Du hattest es doch sogar selber vorgeschlagen!“ Samantha

sah ihre Mutter völlig entgeistert an. „Wie, war das John? Soll das heißen, er weiß seinen Namen?“ Ein Gefühl der Freude, durchfuhr sie.

„Ja er weiß seinen Namen, das ist aber auch schon alles. An andere Ereignisse seiner Vergangenheit erinnert er sich noch nicht!“

„Das sagt er!?“ Samantha hatte das unbestimmte Gefühl, dass da mehr war, als er sie glauben machen wollte. Aber vielleicht war es auch nur Einbildung.

In den darauffolgenden Tagen ging sie ihm, so gut es ihr möglich war, aus dem Weg. Wenn er im Garten war und dort arbeitete oder mit Tom und Domino spielte, beobachtete sie ihn immer durchs Fenster. Abends wenn die ganze Familie im

Wohnzimmer saß und Fern sah oder spielte, versuchte sie Blickkontakt zu vermeiden und sich in Schweigen zu hüllen. In ihrem Inneren tobte ein Kampf, für den sie all ihre Kräfte brauchte. Doch wider Erwarten akzeptierte John das und ging, sollten sie sich zu nahe gekommen sein und ihr unwohl werden, einen Schritt zurück. Er gab ihr so den Abstand, den sie brauchte. Was sie noch mehr verwirrte. Wenn er sie ansprach, war seine Stimme immer ruhig und so sanft, dass sie Innerlich erbebte. Hatte ihre Mutter Recht? Liebte sie diesen Mann, von dem sie nichts wusste, wirklich? Das würde das leere Gefühl erklären, wenn er nicht in ihrer Nähe war. Sobald sie ihn erblickte, schlug ihr Herz schneller und sie konnte jubeln vor Glück. Der harte Glanz in seinen Augen war vollständig einem freundlichen Strahlen gewichen.

Es war schön und doch irritierend, mit an zu sehen, wie ihre Familie auf ihn reagierte. Tom, der Fremden, vor allem Männern gegenüber, sehr verschlossen und zurück haltend war, vergötterte John regelrecht. Selbst Domino, war kaum von seiner Seite zu bekommen. Das machte Samantha wütend und glücklich zugleich. Als sie an diesem Abend neben ihrer Mutter auf dem Sofa saß, schweifte ihr Blick, ohne das sie darauf Einfluss hatte, zu John hinüber. Er war nun schon knapp zwei Wochen hier und sie konnte sich ein Leben ohne ihn schon nicht mehr vorstellen.

Plötzlich war ihr Blick gefangen.

Ohne dass sie es registriert hatte, hatte John den Kopf gehoben. Seine Augen hielten die ihren fest. Samantha verlor sich in ihnen und nichts war mehr wichtig. Sie vergaß alles um sich herum, selbst dass sie ihm nie so tief die Augen hatte sehen wollen. Es faszinierte sie der Gedanke, in diesen Augen Gefühle zu finden, die sie nie zu hoffen gewagt hatte.

John hielt ihrem Blick stand. Diese großen, unergründlichen Augen, von einer Farbe, die hätte alles sein können, weiteten sich. In ihnen zu versinken kam einem Ertrinken gleich und doch stürzte er sich mit Freude, immer tiefer in sie hinein. Was ihn faszinierte, war die Tatsache, dass sich ihre Augen, ihrer jeweiligen Gefühlslage, anzupassen schienen. War sie wütend, leuchteten sie in einem giftigen Grün. Wenn sie lachte, funkelten ihre Augen bläulich. Doch wie sie aussahen, wenn sie Schmerzen hatte, wollte er nie herausfinden. Es tat schon weh zu wissen, dass sie bräunlich schimmerten, wenn sie Angst hatte. John legte stumme Versprechen in seine Augen und hoffte, dass Samantha sie sehen und verstehen würde.

Ein Gefühl durchströmte ihn heiß und ließ ein Feuerwerk in seinem Magen hochgehen. Ja, er liebte sie. Diese Erkenntnis, durch fuhr ihn wie ein Blitz. Der Gedanke, sie zu verlieren, schnürte ihm den Hals zu.

Durch lautes Poltern wurde die Faszination, die Magie des Augenblicks, zerstört und beide wurden in die Wirklichkeit zurück geschleudert. Das abrupte Auseinanderreißen, trieb ihnen Tränen in die Augen.

Tom stürzte ins Wohnzimmer und sprang John auf den Schoß. „John, bitte, bitte. Liest du mir eine gute Nachtgeschichte vor?“ John sah noch einmal zu Samantha hinüber und musste enttäuscht feststellen, dass sie ihren Blick abgewandt hatte. „Hey, natürlich lese ich dir noch was vor. Wer als Erstes, oben ist?“ Lachend sprang Tom von seinem Schoß und lief zur Treppe. John folgte ihm und ließ eine aufgelöste Samantha zurück.

Anna lächelte über ihrer Handarbeit gebeugt still in sich hinein. Sie hatte bemerkt, wie sich die Beiden in die Augen gesehen hatten und sich nicht von einander lösen konnten. Die Luft, hatte ja regelrecht geknistert. So etwas Magisches, hatte sie selbst noch nie erlebt und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieses Glück für diese jungen Menschen in Erfüllung ginge. Dass sie über ihren Schatten, über ihren Starrsinn, hinwegkommen würden. Ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass ihr dieses einmalige, viel zu seltene Glück in vollen Zügen genießen könnt. Meine Angst ist nur, dass John etwas mit sich führt, was Unheil in sich birgt. Etwas, das euch auseinander reißt und euer Glück in Stücke schlägt!

Samantha war in sich zusammen gesunken. In ihr spielten ihre Gefühle Achterbahn. Das, was sie eben erlebt und empfunden hatte, war etwas, wofür sie keine Worte fand. Was sie in Johns Augen gesehen hatte, war fremd und doch so sehr vertraut, dass das Fehlen schmerzte, wie der Verlust eines guten Freundes. Sie spürte eine tiefe Verbundenheit mit John und wünschte sich nichts sehnlicher, als ihm auch körperlich nahe zu sein. Für einen Moment hatte sie geglaubt seine Stimme in ihrem Kopf zu hören. Machte sich hier wieder ihre Gabe bemerkbar? Die Gabe, Dinge wahr zu nehmen, die für andere Menschen nicht zu erschließen waren? Dass sie nicht normal war, wusste Samantha schon, seit sie die Begegnung im Delphinarium hatte. Damals war sie gerade acht Jahre alt gewesen.

Ihr Vater war mit ihr und ihrer Mutter im Tierpark gewesen, in dem es auch ein relativ großes Delphinarium gab. Als sie der Vorführung zugesehen hatten, war ein Delphin aus dem Becken gesprungen und hatte laut und anhaltend geschrieen. Daraufhin war die Vorführung abgebrochen und der Delphin wieder ins Becken gehoben worden.

Als sie sich dann zu den Becken herunter geschlichen hatte, weil sie wissen wollte, wie es dem Tier ging, hatte sie eine Erfahrung die sie von da an alle Delphinarien zu hassen lehrte. Sie hatte vor diesem Becken gestanden und ihre kleine Hand gegen die Plexiglasscheibe gelegt.

Sie wusste noch ganz genau, was sie dann gesagt und gehört hatte. Es schauderte sie noch heute.

Der Delphin, ein großes dunkelgraues Tier mit einer großen Narbe über dem rechten

Auge, hatte ihr in die Augen gesehen. Und es war genauso wie heute gewesen. Sie

hatte sich in diesem großen Auge verloren und geglaubt eine Stimme zu hören.

Du bist anders, als die anderen, ohne Wasser Schwimmer! Hilf uns hier heraus. Es ist eng. Kein Platz zum Schwimmen. Können nicht Leben!“

Sie wusste, dass sie ihm geantwortet hatte.

Ich kann das nicht. Bin noch zu klein. Muss noch lernen. Sie würden mir wehtun, wenn ich es versuchen wollte. Wo wollt ihr hin?“ Der Delphin, hatte sie traurig angesehen. „Wir wollen nach Hause. In gutes Wasser. Schwimmen und Jagen, Lieben!“

In der Erinnerung versunken liefen ihr genau wie damals Tränen übers Gesicht.

Ich kann euch nicht helfen. Ich will, aber ich kann nicht. Was passiert mit euch, wenn ihr hier bleibt?“ Daraufhin hatten die Tümmler angefangen laut zu schreien. Nicht einer, nein alle, antworteten ihr, wie eine Stimme. „Dunkel! Wissen klein! Sterben! Sterben!“ Samantha war damals in heller Panik davongerannt und von dem Tag an hatte sie niemand mehr in ein Delphinarium hinein bekommen.

Sie wollte nie wieder einen Ort von Folter, Schmerz und Tod betreten. Ihr wurde jedes Mal schlecht, wenn sie Berichte von gefangenen Delphinen hörte. Es wurde ihr heiß und kalt zu gleich, wenn man sie zwingen wollte, diesen Tierpark wieder zu betreten.

Mit niemand hatte sie darüber gesprochen. Nur ihrem Großvater hatte sie sich anvertraut. Dieser hatte sie da einfach in die Arme genommen und ihr unter Tränen

gesagt, dass er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als dass diese Gabe in der Familie erhalten bleibt. Er tat es nicht als Spinnerei ab. Nein, er war richtig glücklich gewesen über das Erlebnis.

Von dem Verhalten ihres Großvaters bestärkt wollte sie ihrem Vater erklären, warum sie nicht mehr in diesen Tierpark wollte. Es war die schrecklichste Erfahrung gewesen, die sie je in ihrer Kindheit, in Bezug auf ihren Vater, gehabt hatte. Er hatte sie angestarrt und von sich gestoßen, als sei sie hochgradig ansteckend. Er hatte sie dann aufs Schlimmste verprügelt und immer wieder das Wort Hexe geschrien.

Ab da war ihr Leben bergab gegangen. Ihrem Vater konnte sie nichts mehr recht machen. Wenn sich ihre Mutter dazwischen schaltete, um sie zu schützen, wurde auch sie verprügelt und aufs Übelste beschimpft. Nie hatte Samantha ihrer Mutter erzählt, was sie im Park erlebt hatte. Immer in der Angst, dass auch sie sich von ihr abwenden könnte. Ab da hatte sie es nicht mehr als Gabe bezeichnet, sondern als Fluch. Nie hatte sie wieder versucht diese Verbindung mit einem Wesen einzugehen. Bei Domino hatte sie zwar mit dem Gedanken gespielt, doch sehr schnell wieder verworfen.

Diese Kindheitserlebnisse waren unter anderem auch der Grund, warum sie sich von ihren Mitschülern und den Dorfbewohnern so verspotten ließ, ohne sich ernsthaft zu wehren. Die Angst vor diesem Fluch! Die Gewissheit, nicht normal zu sein!

Und nun das! Ohne es zu wollen, war sie wieder aufgetaucht. Diese verfluchte Gabe.

Alles nur wegen dieses Mannes, dessen Aura sie einfach gefangen hielt.

Samantha erhob sich. Sich an ihre Mutter wendend, stand sie bereits an der Tür. „Mama, ich gehe in den Keller und male noch etwas!“ Anna sah alarmiert auf. „Ist gut Schatz, mach aber bitte nicht mehr so lange. Du solltest die freien Tage genießen können.“ Liebevoll lächelte Samantha ihrer Mutter zu. „Es ist schon in Ordnung!“ Das fand Anna keinesfalls und hoffte nur, sich im Hinblick auf den Gesichtsausdruck getäuscht zu haben, den sie eben bei ihrer Tochter gesehen hatte. Dieser Gesichtsausdruck in Verbindung mit dem Malen war kein gutes Zeichen. Sollte es wieder so sein, sollte Samantha wieder in diese seltsame Phase hineinrutschen… Die, in der Karlo angefangen hatte, sie und ihre Tochter zu schlagen. Als ihr Traum von einer glücklichen Ehe, in die Brüche ging? Sie musste mit Jonas reden!

Anna fand ihn in seinem Zimmer, im Schaukelstuhl sitzend ein Buch lesen. Dabei paffte er seine Pfeife. Als Jonas das aufgelöste Verhalten seiner Tochter bemerkte,

stand er sofort auf, um ihr einen Sitzplatz anzubieten. „Was ist passiert, dass du ein Gesicht, wie sieben Tage Regenwetter, machst?“

„Ach, Dad ich befürchte, es geht schon wieder los!“

„Was, bitte meinst du? Ich kann dir nicht ganz folgen!“

„Samanthas verrückte Phase. Ich weis nicht, wie ich es anders benennen soll. Damals, es war nach diesem Besuch im Tierpark, da verhielt sie sich auf einmal ganz seltsam.“

Jonas Augen, hatten plötzlich etwas von einem Adler, als er seiner Tochter die Hand auf die Schulter legte. Er vermutete zu wissen, um welchen Tag es sich handelte und worauf Anna hinaus wollte. Sollte es wirklich soweit sein? Sollte Samantha endlich ihrer Natur nachgegeben haben und ihre Gabe zu ihr zurückgekehrt sein? Es wäre mehr, als er zu hoffen wagte. „Was genau ist denn jetzt passiert?“

Anna berichtete ihm alles, was sie beobachtet hatte. Vom ersten Blickkontakt, bis hin zu diesem leeren Blick, den Samantha hatte. „Sie sagte dann, sie ginge noch Malen. Dabei hatte sie einen Blick, der mir Angst machte, dass sie wieder in dieser Phase sein könnte!“

Jonas seufzte. Er saß in der Klemme. Zum einen war da seine Tochter, die gekommen war, um einen Rat von ihm zu bekommen. Zum anderen, war da aber

auch Samantha. Diejenige, die die Gabe besaß! Die Einzige seit drei Generationen, in der sie so stark ausgeprägt war. Und dann war da das Versprechen, das ihm seine

Enkelin damals abgenommen hatte. Das Versprechen, zu schweigen. Solange zu Schweigen, bis sie ihn von diesem Gelöbnis entband!

Oh Sammy, musst du mich wieder einmal da mit hinein ziehen? Wann sagst du es deiner Mutter. Schließlich ist sie meine Tochter und somit Überträgerin dieser Gabe, auch wenn sie bei ihr nicht ausgeprägt ist. Oh ja, bei deinem Onkel; meinem geliebten Sohn Daniel, Gott sei seiner Seele gnädig, wäre das alles kein Problem. Er besaß sie auch, diese Gabe. Doch sollte sich Anna daran erinnern können. Schließlich waren Daniel und sie, bis zu seinem tragischen Tod, unzertrennlich gewesen.

„Nun Anna, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sammy ist, genau wie dein Bruder es war. Sie ist nicht verrückt und hat schon gar nicht irgendwelche verrückten Phasen! Oh, ich weiß genau, wie Karlo sie genannt hatte. Eine Hexe und geisteskrank. Das war sie in seinen Augen seit diesem Tierparkbesuch gewesen.

Nichts hätte ihn vom Gegenteil überzeugen können. Damals hattest du zu deiner Tochter gehalten. Jetzt verteufelst du sie genauso wie er. Das enttäuscht mich, Anni! Sie ist etwas Besonderes, was ganz Außergewöhnliches, Einzigartiges und als genau das solltest du sie sehen. Sammy ist ein Teil eines großen, für uns oft unerklärlichen Ganzen, genau wie es Daniel war.“

„Daniel! Was hat es Daniel gebracht, dass er diese Gabe, wie du sie nennst, hatte? Was? Er ist tot! Und das viel zu früh. Ich will nicht meine Tochter auf so eine Art und Weise verlieren. Nur weil sie Stimmen hört!“ Die letzten Worte kamen gequetscht und verbittert heraus. Für Anna war das ein Thema, das für sie nicht einfach anzusprechen war.

„Mehr kann ich nicht für dich tun, Anna. Sammy hat mir vor langer Zeit ein Versprechen abgenommen, das ich halten werde. Wenn es sein muss bis in den Tod!“

„Vater, bitte!“

„Tut mir Leid, Anni!“ In seiner Stimme schwang wirkliches Bedauern mit.

Samantha war, nachdem sie noch eine Zeitlang gemalt hatte, zu Bett gegangen. Sie war müde, doch schlafen konnte sie nicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie das lächelnde Gesicht von John und hörte noch einmal die Worte. Die, von denen sie

glaubte, nein wusste, dass sie von ihm stammten. Sein Versprechen an sie und dann dieses Gefühl, von dem sie nicht wusste wo sie es einzuordnen hatte. Warum kommt sie jetzt zurück. Wo ich doch gehofft hatte, sie sei für immer weg und ich könnte ein

normales Leben führen? Hat das was mit dir zu tun, John? Wer bist du?

Nach einer Weile übermannte sie dann aber doch die Müdigkeit und sie fiel in einen traumlosen Schlaf.

Auch John fand lange Zeit keinen Schlaf. Er rang mit sich. Sammy, dich zu verlieren, bevor ich über deine Gefühle im Klaren bin, wäre nicht zu ertragen. Doch dich zu verlieren, wenn ich einen Vorgeschmack dessen bekommen habe, was du geben kannst? Nein, das kann ich uns beiden auch nicht antun. Wenn ich doch nur endlich wüsste, warum ich verletzt im Wald gelegen hatte und wem ich dies zu verdanken habe. Dann könnte ich auch erfassen, was meine Identität für dich und deine Familie zu bedeuten hat.

Doch hüllte der Schlaf auch ihn bald ein und führte ihn in eine ruhige und erholsame Nacht.

P.E.M. Projekt Evolution Mensch

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