Читать книгу P.E.M. Projekt Evolution Mensch - Jennifer Scheil - Страница 6

Überschrift 4

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Samantha sprang, kaum dass das Auto angehalten hatte heraus. Ihrer Mutter voran eilte sie die Stufen zum Polizeipräsidium hinauf. Am Wachmann, der ihr verdutzt nachblickte, vorbeirauschend lief sie die Korridore entlang. Das kannte er bei ihr gar nicht. Sonst blieb sie immer stehen und unterhielt sich kurz mit ihm bevor sie nach oben ging. Anna blieb kurz stehen und lächelte ihn an. „Guten Morgen Manfred, wie geht’s dir heute?“

„Danke gut. Samantha hat es heute ja verdammt eilig! Ist was passiert?“

„Gestern kam Mark zu uns und hat ihren Liebsten verhaftet. Er ist Opfer eines Irrtums, da sind wir uns ganz sicher! Sammy hofft, mit ihm reden zu können.“

„Anna, ich glaube, dafür kommt ihr zu spät.“ Erschrocken sah ihm Anna ins Gesicht. „Wie meinst du das?“

„Nun wenn der, den ihr meint, ein dunkelblonder Hüne mit grauen Augen ist, dann wurde er heute in der Früh abtransportiert!“ Anna sah zur Treppe, die kurz zuvor Samantha hinauf gehastet war. „Oh, Sammy! Es tut mir so leid.“ Dem zerknirscht dreinblickenden Wachmann eine Hand auf die Schulter legend schritt sie auf die Treppe zu. „Danke Manfred!“

Samantha stieß die Tür zum Büro auf und trat, ohne anzuklopfen, ein. Der junge Kollege ihres Onkels war allein im Büro und sah irritiert zu ihr auf. „Sie können nicht so einfach hier hereinplatzen, Frau Brand! Das geht nun wirklich nicht.“

„Ist mein Onkel nicht da?“

„Er kommt heute etwas später!“ Etwas milder fügte er mit einer einladenden Geste hinzu. „Sie können gerne auf ihn warten!“ Sie nickte nervös, setzte sich auf einen Stuhl und schob ihre Hände unter den Po. Sich nähernde Stimmen ließen sie auffahren. Sie erkannte die Stimme ihrer Mutter und den tiefen Bass ihres Onkels. Als dieser plötzlich anschwoll und durch sämtliche Räume dröhnte, erschrak sie. Mit einem unguten Gefühl im Magen stand sie da und starrte zur Tür.

Wutschnaubend betrat Kommissar Hartmann das Büro und steuerte auf seinen erschrockenen Kollegen zu. „Was in Gottes Namen, haben sie sich dabei gedacht? Verdammt Jens! Waren die zwei Jahre gemeinsamer Dienst nur ein nettes Spiel, bei dem man ruhig ein Nickerchen halten kann, während entscheidende Dinge

passieren?“ Verstört sah jung Kommissar Grass zum zornesroten Gesicht seines

Vorgesetzten, auf. „Nein, aber ich verstehe nicht?“ Auflachend hob der Alte die

Arme. Das Lachen klang hart und mit einem Hauch Unglauben versetzt. „Er versteht nicht! Dann hörn sie mir jetzt aufmerksam zu! John Heart hat heute Morgen das Präsidium verlassen!“ Samantha wollte schon jubilieren, als ihr bei den weiteren Worten das Herz gefror. „Dies tat er in Begleitung von Mr. Smith und vier anderen Männern, deren Identität außerhalb meiner Kenntnisse liegt. Diesen Abtransport habe und hätte ich nicht genehmigt! Haben sie etwas dazu zu sagen?“ Grass fühlte sich unter dem bohrenden Blick von Hartmann sehr unwohl und wandte seinen Blick ab. „Smith kam sehr früh und knallte mir Ausweisungspapiere auf den Tisch. Er verlangte die sofortige Auslieferung. Die Papiere schienen in Ordnung zu sein. Und da er nicht warten konnte, bis sie kamen, habe ich diese Sache erledigt.“

„Na klasse. Gut gemacht!“ Hartmanns Stimme troff vor Spott. „Da kommt dieser Möchtegernbeamte und braucht nur etwas mit Klopapier vor ihrer Nase herum zu wedeln und sie liefern einen Unschuldigen aus!“

„Aber die Beweise!“ Grass klang auf einmal sehr kleinlaut.

„Die sind Betrug!“ Alle Augen richteten sich auf die Tür. Samantha stockte der Atem.

Den gesamten Türrahmen ausfüllend, stand dort ein Hüne. Im ersten Moment glaubte Samantha, John wäre zurück gekehrt. Doch dieser Mann war breiter und mit Sicherheit auch größer. Sein Gesicht wurde von einem blonden Vollbart umrahmt. Das lange, strohblonde Haar war zu einem Zopf geflochten und in seinem rechten Ohr blinkten zwei silberne Ringe. Er betrat das Büro und schritt auf sie zu. In sein Gesicht blickend versuchte sie sein Alter zu schätzen. Es gelang ihr nicht, da der Bart den größten Teil des Gesichts verbarg und sie ja die Gesichtszüge nicht erkennen konnte. Doch musste er mindestens zehn Jahre älter sein als John.

Hartmann trat auf ihn zu und schüttelte seine Hand. „Mr. Fontaine, nehme ich an!? Kommissar Hartmann. Was hier vorgefallen ist, kann ich nicht entschuldigen! Ich habe gehofft, dass sich dieser Smith etwas mehr Zeit lässt. Und zu meinem

Bedauern ist mein Kollege unfähiger als ich dachte!“ Der Blick, der dabei seinen unglücklichen Kollegen traf, stampfte diesen in den Boden.

Die raue und dunkle Stimme des Hünen füllte den Raum. „John war klar, dass ich nicht mehr rechtzeitig hier eintreffen würde. Diese Hoffnung hegte ich ebenfalls

nicht, da wir beide wussten, dass sich dieser Smith, wie sie ihn nannten, beeilen würde, John aus dem Weg zu räumen!“ Als er den entsetzten Blick von Samantha auffing, setzte er schnell hinzu. „Er wird es nicht wagen, ihn zu töten, dazu ist die Situation zu brisant. Jedoch wird er dafür sorgen, dass er eine Zeit lang keine Schwierigkeiten macht.“ Er wandte sich Samantha und ihrer Mutter zu. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Entschuldigen sie!“ Hastig trat Hartmann vor. „Dies sind Anna Brand und ihre Tochter Samantha! Das ist Nick Fontaine, der Partner …“

„Ich weiß. Er ist der Partner und Freund von John!“ Erstaunt wandte sich Fontaine Samantha zu. „Woher kennen sie mich?“

„John hat mir einen Brief hinterlassen. In ihm erklärte er mir, dass er seine Identität jetzt endlich kenne. Unter anderem erwähnte er dort auch ihren Namen.“ Sichtlich interessiert sah er ihr in die Augen. In ihrer Stimme schwang etwas mit. In ihren Augen, bemerkte er einen Funken und er sah die Traurigkeit, die sie beherrschte. Was für seltsame Augen sie hat. Man bekommt das Gefühl, in ihnen zu versinken. Sie sind unglaublich schön!

Samantha senkte ihren Blick und verwehrte ihm somit eine weitere Betrachtung. „Er hat ihnen einen Brief geschrieben? Warum hat er es ihnen dann nicht gesagt?“

„Er hatte es vor. Gestern machte er schon diesbezüglich Andeutungen. Wir waren am Morgen spazieren gegangen. Er wollte gern den Wald sehen und meine Freunde kennen lernen.“ Fontaines Augenbraue ging fragend nach oben, er schwieg jedoch und hörte nur zu. Langsam geleitete er sie zu einem Stuhl und bedeutete ihr sich zu setzten. Er zog sich darauf hin einen weiteren Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Samantha hatte die stumme Frage bemerkt und seufzte innerlich. Sie erzählte es nicht gern, noch dazu vor so vielen Menschen. Doch hatte sie das Gefühl, in Johns Freund ebenfalls einen Freund zu finden. „Die Tiere! Die Tiere des Waldes, zumindest ein Teil von ihnen. Das sind meine Freunde. Wir pflegen öfters welche gesund und sie halten dann immer noch Kontakt zu mir. Während des Spaziergangs - passierte etwas, dass ihn davon überzeugte, dass er es mir sagen musste und konnte. An der Stelle, wo ich ihn gefunden hatte, machte er Andeutungen, die seine Erinnerungen betrafen. Er meinte, er habe Angst. Angst davor, dass es Menschenleben koste, wenn er sich nicht erinnern könnte, warum er hier gewesen ist.“ Samanthas Stimme brach und sie sackte den Tränen nahe in sich zusammen.

Nick schwieg. Es war ihm nicht entgangen, mit welcher Liebe sie von John sprach. Dass sie dabei den Anhänger ihrer Kette umfasste, war nur ein weiteres Indiz dafür, dass diese junge und wunderschöne Frau John innig liebte. Dass sie ihm etwas verschwieg, spürte er, doch er ging nicht darauf ein. Es würde nichts bringen, da war

er sich sicher.

„Mit seiner Vermutung hatte er nicht Unrecht! Der Auftrag, der ihn hierher führte, hatte durch aus etwas mit gefährdeten Menschenleben zutun. Seit längerem beobachtet unsere Organisation die Aktivitäten eines äußerst gefährlichen Mannes. Leider bin ich nicht befugt ihnen weitere Auskünfte darüber zu geben. Ich kann nur soviel sagen: John ist diesem Mann bis hier nach Deutschland gefolgt und kam ihm etwas zu nahe.

Kurz bevor wir den Kontakt zu ihm verloren, teilte er uns mit, dass unsere Befürchtungen weit untertrieben waren!“ Samantha sah in seinen Augen Wut und Angst und sie wusste, wem diese Angst galt. Sie ahnte woher dieses Wissen kam, doch erschreckte es sie nicht mehr. Nicht seitdem John ihre Gabe als Segen bezeichnet hatte.

„Als wir dann den Kontakt nicht wieder herstellen konnten, befürchteten wir das Schlimmste und begaben uns sofort auf die Suche. Allerdings gestaltete sich diese als sehr schwierig. Erst vor drei Tagen erfuhr ich, dass er im hiesigen Krankenhaus aufgetaucht war. Zu meinem Bedauern bin ich erst heute Morgen hier eingetroffen. Als John gestern mit mir telefonierte, hatten wir beide die Befürchtung, dass diese Leute das Risiko entdeckt zu werden, so gering wie möglich halten wollen und John aus dem Verkehr ziehen würden!“

Kommissar Grass wand sich. „Aber das Foto und die erdrückenden Beweise!?“ Nicks Blick wurde hart und eisig als er den jungen Mann taxierte. „Zeigen sie mir doch bitte einmal dieses ominöse Foto!“ Grass entnahm es einer Akte und schob es über den Tisch. Nachdem Nick das Foto eine längere Zeit von beiden Seiten betrachtet hatte, verfinsterte sich sein Gesicht und seine Kiefermuskeln spannten sich. „Das ist nicht ihr Ernst! Dieses Foto ist gerade mal drei Tage alt!“ Ungläubig starrte Grass ihn an. „Das ist nicht möglich, Smith hat es aus den USA mitgebracht.“

„Das sagte dieses Windei und sie hielten es nicht für nötig, das zu überprüfen?“ Donnerte Nick los.

Neugierig geworden, reckte Samantha den Hals, um das Bild besser sehen zu

können. Die Augen weiteten sich, als sie John darauf erkannte. Doch als sie sah vor welchen Hintergrund er stand, wurde ihr schlecht. Ihr Körper fing an zu zittern und ihre Hand, die die Kette hielt, verkrampfte sich. Der Anhänger drückte sich schmerzhaft in die Handinnenfläche. Die Tränen flossen, ohne dass sie sie daran hindern konnte.

Das durfte nicht sein! Sie erkannte das Geschäft wieder. Es hieß `Juwelentraum`, ein hoch angesehenes Geschäft in der Innenstadt. Oft hatte sie davor gestanden und die Auslagen angesehen. Dabei hatte sie immer davon geträumt, einmal solche Schmuckstücke zu tragen. Woher ihr die Kette, die sie trug, so bekannt vorkam, wusste sie jetzt. Es war die, die sie jedes Mal sehnsüchtig betrachtet hatte. Der Mann der sie von ganzem Herzen liebte, sollte ihr diese Kette als Treueversprechen schenken. Das war ihr Wunsch gewesen. Denn hatte sie auch dem alten Inhaber und Verkäufer erzählt. Er kannte sie gut und hatte sie oft zu einer Tasse Tee hereingebeten. Er hatte ihr versprochen, diese Kette für sie aufzuheben. Das konnte nur bedeuten, dass John ihm erzählt hatte, für wenn er diese Kette haben wollte. Das bedeutete auch, dass John um die Bedeutung dieser Kette wusste! Liebe für ihn durchströmte sie heiß und der Schmerz zog ihr Herz zusammen, entriss ihr einen gequälten Aufschrei. Schluchzend hob sie ihren Blick, als ihr eine große Hand auf die Schulter gelegt wurde. Ihre Augen trafen die blauen Augen von Nick und ein Gefühl der Qual ließ sie in seine Arme sinken. Nick war zutiefst erschüttert über den Ausdruck in ihrem Gesicht.

Besorgt trat Anna an ihre Tochter heran und ging neben ihr in die Knie. „Sammy, was ist los? Sag doch was!“ Die Augen noch immer auf Nicks Gesicht gerichtet antwortete Samantha, doch war ihre Stimme kaum hörbar und traurig. „Das Geschäft, vor dem er auf dem Foto steht, ist `Juwelentraum`! Es liegt in der Fußgängerzone in der Innenstadt. Ich kenne den Inhaber sehr gut. John muss an diesem Tag die Kette gekauft haben! Er hat da erfahren, was sie mir bedeutet.“ Die letzten Worte waren nur ein Hauch.

Sanft nahm Nick Samanthas verkrampfte Hand in seine. Vorsichtig löste er ihre

Finger. Als das Licht auf das Rubinherz traf, erstrahlte dieses und schlug alle Anwesenden in seinen Bann. Es betrachtend drehte Nick es um und lass die Widmung. Der Entschluss John zu finden bekam neue Nahrung. „Es ist gut Kleines! Ich bring ihn dir zurück!“ Sich an die beiden betreten dreinblickenden Beamten

wendend, hielt er das Foto wie eine stumme Anklage in die Höhe. „Es ist ihnen also nicht aufgefallen, dass dieses Foto niemals in den Staaten aufgenommen sein konnte?“ Verächtlich schnaubend zog er Samantha schützend in seine

Arme. „Wenn John etwas passiert oder auch andere Menschen aufgrund ihrer Nachlässigkeit zu Schaden kommen, ziehe ich sie zur Rechenschaft!“

Hartmann fröstelte, als er in diese kalten, blauen Augen sah. Das Bild, das sich hier

bot, erinnerte ihn an den vergangenen Tag. Nur war es hier ein anderer Hüne, der

seine Patentochter in den Armen hielt. Er wurde wütend. Wütend auf sich und auch wütend auf den jungen Grass. Seinem Übereifer und seiner Nachlässigkeit an diesem Morgen war es zu verdanken, dass er die Situation nicht mehr retten konnte.

Er fuhr zu Grass herum und donnerte ihn an. „Was sitzen sie da untätig rum? Sie waren doch heute Morgen so übereifrig! Rufen sie gefälligst bei den Flughäfen, Bahnhöfen und Schnellboothäfen an und erkundigen sie sich nach ihnen. Wenn sie außer Landes wollen, bleiben ihnen nur diese Möglichkeiten!“

„Jawohl, Chef!“ Heftig nickend begann Grass sofort an zu wählen, als ihn Hartmann noch einmal anfuhr. „Vergessen sie ja nicht, auch bei den Privatjets nach zu fragen!“

„Nein, Chef!“ Sich Samantha zuwendend wurde Marks Stimme sanfter. „Sammy. Ich weiß, dass es keine Entschuldigung dafür gibt!“ In seinen Augen lag die Bitte um Verzeihung und Trauer über die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte. Samantha erkannte diese Emotionen. Sie konnte in seinen Augen lesen wie in einem Buch! Diese Fähigkeit verbesserte sich immer mehr. Seit sie akzeptiert hatte, dass sie die Gabe besaß, lernte sie stetig dazu.

Steif stand Samantha auf und schritt zur Tür. Im Türrahmen blieb sie stehen und drehte den Kopf leicht in den Raum.

„Mr. Fontaine?“ Er sah auf und begegnete dieser traurigen Gestalt. „Ja?“

„Danke! Wenn sie John finden bringen sie ihn in Sicherheit und passen sie auf sich auf! Ich möchte nicht noch einen Freund verlieren!“ Damit wandte sie sich ab und verließ endgültig das Büro.

Anna eilte ihrer Tochter nach.

„Nun,“ Nick wandte sich Hartmann zu. „sollten wir keine unnötige Zeit mehr verschwenden!“

****

Die nächsten Tage verlebte Samantha wie in einem Alptraum. Jonas schüttelte oft

unglücklich den Kopf, wenn er seinen Schmetterling beobachtete. Sie verrichtete alltägliche Dinge mechanisch und ohne erkennbare Emotionen. Essen verweigerte sie fast vollständig. Wenn Anna oder Jonas sie dazu bekamen, wenigstens ein paar Bissen zu sich zu nehmen, geschah dies ohne Appetit.

Tom kümmerte sich rührend um seine Schwester. Trotz, oder gerade wegen, seiner fünf Jahre spürte er mit seinen feinen und unverbrauchten Antennen genau die jeweilige Gefühlslage. Er vermochte sich anzupassen und entsprechend zu reagieren. Meist war er der Einzige, bei dem Samantha sich zwang, etwas zu essen. Tom löste so sein Versprechen an John ein und fühlte sich mit einemmal sehr erwachsen. Anna missfiel es sehr zu sehen, wie ihr Sohn, der noch Kind sein sollte, die Rolle des großen Bruders übernahm. Doch konnte sie nicht eingreifen, aus der Angst heraus, dass Samantha dann das Essen endgültig einstellen würde.

Jeden Tag stand Samantha neben dem Telefon und starrte den kleinen Bildschirm an. Ganz so als könnte sie es zum klingeln zwingen. Mit einem herzzerreißenden Seufzen wendete sie sich jedes Mal nach einer geraumen Zeit ab und ging in Johns Zimmer. Dort hielt sie sich die meiste Zeit auf.

Am achten Tag, platzte Anna der Kragen. So konnte es nicht weiter gehen! Das konnte doch kein Dauerzustand werden. Es wurde Zeit, dass sie abgelenkt wurde! So kam es, dass Samantha, am darauf folgenden Tag, wieder in die Schule ging.

Als sie die Klasse betrat, herrschte eine unnatürliche Stille. Zwanzig Augenpaare verfolgten sie dabei, wie sie am Lehrerpult vorbei zu ihrem Platz ging. Sie setzte sich in dem Moment, als die Glocke läutete und das Nahen der Lehrerin ankündigte. So wurden ihr die lästigen Fragen fürs erste erspart. Den Verlauf des Unterrichts nahm sie nur undeutlich wahr. Sie zeigte kaum Reaktionen, wenn sie von den Lehrern gefragt wurde. Die neugierigen abschätzenden Blicke ihrer Mitschüler sah sie ebenso wenig, wie sie das ständige Flüstern nicht wahrnahm. Den Lehrern entging das abwesende Verhalten Samanthas nicht, jedoch sahen sie es nicht als notwendig an, sie darauf anzusprechen. Entweder die Schüler waren von sich aus bereit zu lernen und dem Unterricht zu folgen oder sie würden bei den Prüfungen versagen und ausscheiden. So einfach war das! So funktionierte das System. Es gab genügend junge Leute, die einen Ausbildungsplatz wollten und keinen bekamen.

In den Pausen, blieb Samantha auf ihrem Platz sitzen. Sie aß und trank nichts, sprach kaum und wehrte sich nicht gegen die Angriffe von Babette und ihren Freundinnen.

In den letzten beiden Stunden jedoch änderte sich das. Sie hatte endlich Erfolg. Sie konnte John endlich spüren! Leise und wie ein Hauch war seine Aura. Doch konnte Samantha spüren, dass es John gut ging. Dass er in Sicherheit war. Dieses Wissen gab ihr wieder Mut.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es ging ihm gut und er würde bald wieder bei ihr sein! Die dunkle Wolkendecke riss auf und ließen die Sonne wieder in ihr Herz. Es war gut gewesen, dass sie sich mit ihrer Gabe beschäftigt hatte.

So kam es, dass sie in den letzten Stunden wieder am Unterricht teilnahm. Auch

wenn sich diese Teilnahme nur auf ein paar vereinzelte Wortmeldungen beschränkte. Nach dem Unterricht verrichtete sie wieder die selbst gewählten Aufgaben und verließ als letzte den Klassenraum. Auf dem Weg durch das Schulgebäude stellte sich ihr Babette in Begleitung ihrer Freundinnen in den Weg.

Das gehässige Grinsen in ihrem Gesicht verzog dieses zu einer Fratze. „Da sieh einer an, wenn das nicht unser Trauerkloß ist? Was ist denn passiert? Hat man dir etwa wehgetan? Oh, das tut mir aber leid.“ Kichernd, bildeten sie einen Kreis um Samantha. Babette war arrogant und von sich selbst völlig eingenommen. Wer neben ihr bestehen wollte, musste sich ducken und alles gutheißen, was sie tat. Sie fand, dass das ihr gutes Recht war, schließlich war ihr Vater einer der mächtigsten Männer in dieser Stadt. Wahrscheinlich sogar bald der Außenminister.

Diesen dämlichen Beruf erlernte sie auch nur, damit die Öffentlichkeit ihre Nächstenliebe zu sehen bekam und sie schätzte. Dass Samantha um einiges besser aussah gefiel ihr nicht. Es war nicht unbedingt das sichtbare Äußere sondern vielmehr ihre Ausstrahlung. Deshalb nutzte Babette jede sich ihr bietende Gelegenheit, um Samantha klein zu halten und noch mehr zu erniedrigen. So wie Samantha jetzt vor ihr stand, gefiel sie ihr am Besten: gebeugte Haltung und gesenkter Blick.

Doch Babettes selbstgefälliges Grinsen erstarb. Ihre Augen weiteten sich, als Samantha langsam ihren Kopf hob und ihren Körper straffte. In Samanthas Augen sehend überfiel Babette eine unerklärliche Angst. Ein Glühen durchdrang die Oberfläche und bohrte sich in ihre Augen.

Babette wand sich. Sie konnte den Blick nicht von diesen unergründlichen Augen lösen. Samantha hielt sie unerbittlich fest. Eiskalte Schauer durchliefen ihren Körper als Samantha mit einer unheimlich leisen Stimme zu ihr sprach. Es lag keine

Abscheu, Hass oder Angst in ihr. Sie war völlig ausdruckslos! „Lass mich vorbei!“ Unfähig etwas dagegen zu tun, setzte Babette ihre Füße rückwärts und machte den Weg frei. Samantha schritt steif aufgerichtet an ihr vorbei und verließ das Gebäude. Verständnislos scharrten sich Babettes Freundinnen um sie und wollten von ihr wissen, warum sie Samantha hatte gehen lassen. Unfähig zu antworten starrte Babette nur zur Tür und eine kalte Leere breitete sich in ihr aus.

Von diesem Tag an aß Samantha wieder regelmäßig, wenn auch wenig, und ihre Körperhaltung entspannte sich. Sie gewann wieder ihren alten Ausdruck zurück. Anna sowie auch Jonas wunderte sich über den plötzlichen Wandel, war darüber aber auch sehr froh. Samantha schien sich wieder gefangen zu haben. Sie zog sich jetzt zwar verstärkt zum Malen zurück, war aber ansprechbar und gab Antworten wenn sie gefragt oder um etwas gebeten wurde. Das Telefon wurde jedoch noch immer von ihr regelrecht hypnotisiert. Dieses machte ihr aber nie die Freude zu klingeln. Das Schicksal von John hing weiterhin im Nebel.

In der Schule war sie vor Babettes Nachstellungen sicher. Diese hatte immer noch das Gefühl von Samanthas Augen verbrannt zu werden und vermied es, in diese zu sehen. Soweit es möglich war, ging Babette ihr aus dem Weg, was Samantha völlig kalt ließ. Samantha war ihre Umgebung inzwischen so egal, das sie kaum etwas um sich herum bemerkte.

Ihren aufmerksamen Schatten nahm sie somit ebenfalls nicht war!

****

Gähnend streckte Samuel seine Glieder. Er war seit vier Tagen dazu verdammt, in diesem Auto zu sitzen. Der Mangel an Bewegung machte sich langsam in seinen schmerzenden Muskeln bemerkbar. Was diesen Professor geritten haben könnte, ihn hierzu zu nötigen, wusste er nicht. Was es für Konsequenzen nach sich ziehen würde, sollte er sich weigern, war ihm jedoch nur allzu bewusst. Nein! Er würde sich nicht den Zorn dieses Victor Markes zuziehen. Er erinnerte sich an Georg Hammer. Dieser war, kurz nach dem er aufgeregt ins Lager gestürzt und Markes eine Aufzeichnung gegeben hatte, Spurlos verschwunden. Niemand wusste, wo er war, doch Samuel ahnte, dass da Markes seine Finger im Spiel hatte. Er wollte gern noch etwas leben und nicht ermordet und verscharrt werden. Hinter vorgehaltener Hand munkelten einige seiner Kameraden, dass Georg nach `Gene Hope` gebracht worden war. Ein Schütteln überkam ihn, als er an die Gerüchte über Gene Hope dachte. Es hieß, dass

Victor Markes in seinem geheimen Labor, das irgendwo innerhalb des Institutes lag, Versuche an Menschen durchführte. Mit abscheulichen Ergebnissen.

Ob diese Gerüchte der Wahrheit entsprachen, wusste er nicht. Samuel traute dem Professor einiges zu, aber so etwas? Das Gesicht von Markes vor Augen, zog er unwillkürlich den Kopf ein. Nein, der Ausdruck in diesen Augen war zu Furcht einflößend. Markes machte auf ihn immer den Eindruck eines wahnsinnigen Genies. Eine Mischung, die bei unsachgemäßer Handhabung explodieren konnte. Und dann wollte Samuel nicht in seiner Nähe sein!

Etwas vor dem großen Gebäude zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Eben waren die letzten jungen Studenten herausgekommen. Sie war immer die letzte! Als sie vor das Gebäude trat und Richtung Haltestelle lief, bewunderte er ihre schlanke Gestalt und die anmutigen Bewegungen. Es lag etwas in ihrem Auftreten, das ihn immer wieder an Engel oder Feen denken ließ. Der Gedanke, welches Interesse Markes mit der Beschattung dieses Mädchens verfolgen könnte, machte ihm Angst.

Am liebsten hätte er den Motor angemacht und den Wagen gewendet, um in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden. Er wagte es nicht! In dem Moment, in dem er sich des Headsets entledigen und seinen Posten verlassen würde, wäre er dem Tod geweiht.

Niemals würde Markes dieses Verhalten durchgehen lassen! Er mochte zwar nur ein Zivilist sein und Soldaten gegenüber nicht Befehlsbefugt, aber Samuel kannte die Macht dieses Mannes zu gut, um diese Gefahr zu ignorieren.

Somit folgte er langsam und so unauffällig wie möglich der jungen Frau. Das lange kastanienbraune Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern bis zu den Hüften herab. Ein weißer Reif hielt es aus dem lieblichen Gesicht. Ihr himmelblaues Kleid umschmeichelte ihre schlanken Fesseln. Sie verzauberte ihn wieder einmal!

Zusammenzuckend hörte er das unmissverständliche Quietschen von Autoreifen und ein schwarzer Kleintransporter schoss auf die Haltestelle zu. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah er, dass der Wagen neben der jungen Frau zum Stehen kam. Die Seitentür sprang auf und sie wurde in das Innere des Transporters gezogen. Kaum hatten ihre Füße den Bodenkontakt verloren, als sich der Wagen wieder in Bewegung setzte und im dichten Verkehr untertauchte. Immer noch auf die Stelle starrend, wo sie bis eben gestanden hatte, vernahm er ein Brummen und Sirren in seinem Ohr. „Auftrag beendet, Soldat! Begeben sie sich unverzüglich zu ihrem

Ausgangspunkt! Sie haben nichts gesehen und nichts gehört! Verstanden?“ Samuel nickte. Sich bewusstwerdend, dass sie das nicht sehen konnten, antwortete er. „Ja! Werde zum Ausgangspunkt zurückkehren!“ Nur nach und nach realisierte er das Vorgefallenen. Sie haben ihn benutzt! In dem Headset musste ein Sender eingebaut sein. Ein Sender, der nicht nur seinen Standort sondern auch die Bilder, die er sah, direkt übertrug.

Die ganze Zeit hatten sie genaue Kenntnisse über sein Handeln und seine Worte. Fieberhaft versuchte er sich an alles Gesagte und an jede Handlung zu erinnern. War da etwas Verfängliches bei? Konnten sie seine widerstreitenden Gefühle sehen? Nein, wenn er sich recht erinnerte, war nichts geschehen, was ihm angelastet werden konnte. Er war jetzt richtig erleichtert, dass er seinem Impuls, das Headset weg zu

werfen oder auch nur den Visualschirm zu deaktivieren, nicht nachgegeben hatte.

Markes musste die Aktion schon längere Zeit geplant haben. Sie war so präzise und schnell ausgeführt worden, dass der Streifenpolizist, der in einiger Entfernung Strafzettel ausschrieb, nichts davon mitbekommen hatte.

Er wird sie sicher nach Gene Hope bringen lassen! Das arme Ding tut mir echt leid! Traurig und einen Entschluss gefasst, begab sich Leutnant Samuel Khan auf den Weg zum Basislager.

An diesem Tag warteten die Brands vergeblich auf Samantha!

Am nächsten Morgen fuhr Anna zur Schule, bekam dort allerdings nichts heraus, was ihr weiterhelfen konnte. Als Samantha zu Mittag nicht nach Hause kam, fuhren die Brands zum Polizeipräsidium, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.

Mark Hartmann tobte an diesem Tag durch sämtliche Abteilungen und scheuchte alle greifbaren Polizisten mit einem Foto von Samantha auf die Straßen. Nick Fontaine war leider nicht mehr zugegen. Ihnen wurde berichtet, er sei am Vortag nach Amerika geflogen, um die Spur zu verfolgen, die sie gefunden hätten. Ihn bei der Suche dabei zu haben, hätte Anna sehr beruhigt. Ihr war aufgefallen, dass er hartnäckig war und nicht mit Scheuklappen durch die Gegend lief.

Wieder zu Hause, konnte sich keiner von ihnen entspannen. Jonas lief immer auf und ab. Domino lag vor der Tür und grollte. Anna lief durch jeden Raum und räumte auf. Tom hingegen wurde verschont, er schlief am Abend auf Samanthas Bett ein und wurde so in das sanfte Vergessen gezogen.

Auf dem Weg ihrer Aufräumtour gelangte Anna auch in den Keller. Dort blieb sie zögernd vor der Tür zum Atelier stehen. Sie wusste, dass Samantha es hasste, wenn jemand dort hineinging, ohne dass sie ihn eingeladen hatte. Doch konnte Anna diesen Wunsch heute nicht respektieren. Vorsichtig öffnete sie die Tür und tastete sich zum Lichtschalter vor. Das Licht durchflutete den Raum, in dessen Mitte eine Staffelei stand. Näher tretend starrte sie gebannt auf das darauf stehende Gemälde. Ihre Augen weiteten sich, das Herz schlug ihr bis zum Hals und Tränen verschleierten ihren Blick. Schluchzend brach sie vor dem letzten Bild ihrer

Tochter in die Knie.

****

Dunkelheit umfing sie. Ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf sowie die Tatsache, dass sie nichts sehen konnte, obwohl ihre Augen geöffnet sein mussten, machten ihr deutlich, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Vorsichtig versuchte sie sich an den Kopf zu fassen, um zu überprüfen ob sie ernstlich verletzt war. Mitten in der Bewegung erstarrte sie.

Ihre Hand hatte sich nicht bewegt! Das war nicht möglich! Mit voller Konzentration startete sie einen neuen Versuch. Sie spürte, wie sich die Muskeln anspannten, um ihren Befehl auszuführen, doch es tat sich nichts! Sie war noch nicht einmal in der Lage einen Finger zu bewegen! Da wurde sie sich bewusst, dass auch ihre Augen nicht offen waren. Die Lider lagen noch immer über den Augäpfeln. Sie konnte sie deutlich spüren!

Panik drohte sie zu übermannen. Der Atem beschleunigte sich. Die Lunge, nicht in der Lage die erhöhten Atemstöße auf zu fangen, schrie. Selbst ihr Herz war von dieser Lähmung betroffen. Mit erschreckend langsamen Stößen pumpte es Blut durch den gelähmten Körper. Durch die erhöhte Atmung und die handlungsunfähigen Lungenflügel, drohte ihr der Tod durch Ersticken. Samantha beruhige dich! Höre auf dein Herz und das gleichmäßigen Klopfen. Sich selbst zur Ruhe mahnend, lauscht Samantha auf das Klopfen ihres Herzens. Bumm,….. bumm,…….bumm,…… Bei jedem Klopfen beruhigte sich ihre Atmung mehr und sie war nach einer Weile in der Lage, ihre angespannten Muskeln zu lockern. Die Geräusche rund um sie herum wurden jetzt deutlicher und sie spürte ein anhaltendes Vibrieren im Boden. Fremde Stimmen drangen durch den dichten Nebel in ihrem Kopf. Sie sprachen in einer anderen Sprache, so dass sie sie nicht verstehen konnte. Einige Wortfetzen konnte sie

jedoch erhaschen und dadurch die Sprache identifizieren. Sie sprachen in einer verwaschenen Form des Englischen, das ihr bekannt war. Laut den Akzenten konnten es eigentlich nur Amerikaner sein!

Reflexartig wollte sie nach ihrer Kette fassen, konnte den Arm aber immer noch nicht bewegen. Wenn das Amerikaner sind und sie mich entführt haben, könnte das doch was mit John zu tun haben. Vielleicht wollen sie mich dazu verwenden, an seine Informationen heran zu kommen. Möglich wäre es. Was sollten sie sonst für Gründe haben, mich zu entführen?

Konzentriert versuchte sie heraus zu finden, was sie sprachen. Es fiel ihr schwer, da sie nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte und der englischen Sprache, nur bedingt mächtig war. Die Bruchstücke, die sie übersetzten konnte, machten ihr nur noch mehr Angst, sodass sie versucht war, mit dem Übersetzten aufzuhören. Doch die Angst vor der Ungewissheit trieb sie weiter an.

Frank Blei saß auf einem Sitz des Privatjets von `Gene Hope` und hatte schlechte Laune. Diese Idioten waren zu gar nichts in der Lage. Besorgt warf er einen Blick über die Schulter. Sie lag immer noch steif ausgestreckt auf der Trage und rührte sich nicht. Als sich ihre Atmung beschleunigt hatte, befürchtete er schon, dass sie ersticken würde. Zu seiner Beruhigung hatte sie sich jedoch schnell wieder verlangsamt.

Die Dosis des Nervengiftes war zu hoch gewesen! Doch hatte er erst etwas dagegen tun können, als sie zu ihm gebracht worden war. Seine einzige Hoffnung bestand nun darin, dass das Antiserum ausreichend und rechtzeitig gespritzt worden war. Er war sich bewusst, dass Viktor Markes toben würde, wenn er sie so zu sehen bekam. Eindringlich hatte er Frank eingeschärft, wie wichtig und wertvoll dieses Mädchen war. Was genau so wertvoll an ihr sein sollte, konnte er nicht ersehen und wollte es auch nicht! In den Jahren, in denen er für und mit Markes gearbeitet hatte, wusste er genau, wann er etwas vergessen oder überhören sollte, um sein weiteres Leben zu sichern. Ja, es würden Köpfe rollen! Da war sich Doktor Blei sicher. Seiner sollte nicht dabei sein!

„Was hätten wir denn tun sollen? Sie wehrte sich so stark, dass es ernste Probleme gab. Wenn die Aktion nicht gefährdet werden sollte, musste ich eine Entscheidung treffen.“ Dem Soldaten war es sichtlich zu eng in seiner Uniform. Er schwitzte und seine nur allzu berechtigte Angst stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Blei

grinste angewidert. Was Markes dazu bewog, sich mit solchen Soldaten abzugeben, konnte er trotz der vielen Vorteile nicht verstehen. „Leutnant Daniels, ich verstehe durchaus ihr Problem! Sie sind einfach unfähig, klar strukturierte Befehle zu befolgen und richtig auszuführen! Sie wissen, dass das Konsequenzen nach sich zieht!“

„Sir, ich…“ Erschrocken fuhr der Leutnant zusammen, als sich die Tür zum Privatabteil öffnete und Markes den Raum betrat. Die kalten, braunen Augen streiften durch den Raum. Krampfhaft schluckend verfolgte Daniels wie der Professor an ihnen vorbei zur Trage ging und sich neben ihr in die Knie sinken ließ. Mit raschen und routinierten Bewegungen untersuchte er die junge Frau, bevor er

sich erhob und sich zu ihnen umdrehte.

Blei erschauerte beim Anblick des Gesichtsausdrucks. Markes erdolchte den Leutnant mit seinen Augen, so dass dieser sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte. Die schneidend kalte Stimme des Professors ließ Blei frösteln. Er hoffte, dass sich

das Gewitter über dem Soldaten entlud und ihn in Ruhe ließ.

„Was hat das zu bedeuten?“ Reflexartig drehte Daniels den Kopf in die angegebene Richtung, bevor ihm der Fehler bewusst wurde. „Sir, ich…“

„Ist das etwa eine sauber durchgeführte Aktion?“ Daniels verspürte das dringende Bedürfnis, sich die Haare zu raufen. Doch war er sich bewusst, dass er die sowieso schon angekratzte Fassung nicht verlieren durfte. „Nein! Da stimme ich ihnen zu, aber ich konnte das nicht verhindern!“ Markes Augen bohrten sich in Daniels‘. „So? Und warum nicht?“

„Nun, … weil sie sich stärker zur Wehr gesetzt hat, als erwartet. Sie war stärker, als sie hätte sein sollen. Die Hälfte der Dosis war geplant gewesen. Die andere Hälfte sollte sie bekommen, wenn sie hier ankommt und die erste nicht ausreichen sollte. Das ist mir durchaus bewusst.“

„Reden sie ruhig weiter!“

„Nun, als ich ihr die Spritze setzte, schlug sie derartig um sich, dass sie anstatt der vereinbarten Menge, die gesamte Dosis bekam. Es war ein Unfall!“ Gebannt erwiderte Daniels den stechenden Blick, aus diesen kalten, braunen Augen. Bitte glaub mir! Bitte, bitte glaub mir!

Alexander Daniels war sich bewusst, dass sein Leben verwirkt war, sollte der Professor auch nur den leisesten Zweifel an seinem Bericht haben. Er hatte ihm die

Wahrheit erzählt, doch hatte er ein paar Aspekte verschwiegen. Der Ausdruck in ihren unergründlichen, schönen Augen zum Beispiel. Als sie ihn mit diesen Augen angesehen hatte, war ihm als würde er in einen Strudel gesogen werden und in ihren Augen versinken. Die Trauer und Wut in ihnen, hatten ihn verwirrt. Es hatte keine Angst in ihnen gelegen.

Er fühlte sich schuldig. Schuldig, sie diesem wahnsinnigen Mann ausgeliefert zu haben. Ein Mädchen wie sie war einzigartig und der Gedanke an `Gene Hope` erschreckte ihn. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, was dort mit ihr geschehen würde. Das Bild von George Hammer schlich sich in seine Gedanken.

George war sein Freund gewesen und er hatte ihn seit seinem letzten Auftrag nicht

wieder gesehen. Der Gedanke, wo er jetzt wahrscheinlich war, erschreckte und lähmte ihn.

Die Stimme von Victor Markes riss ihn wieder aus seinen Gedanken. „Leutnant, es war höchst wahrscheinlich nicht ihre Schuld. Ihre Stärke hätte ich besser berücksichtigen sollen. Doch sollten sie sich das nächste Mal keine Fehler mehr erlauben!“ Erleichtert und innerlich durchatmend, salutierte Daniels vor Markes. „Danke, Professor! Es werden keine Fehler mehr passieren!“

„Das will ich hoffen! Übrigens.“ Er wandte sich an Blei. „Die Dosis hätten sie besser einteilen müssen. Ich hoffe, dass sie in Bezug auf das Antiserum bessere Berechnungen angestellt haben!“ Schluckend nickte Blei und sein Blick hastete zur Trage hinüber. Markes setzte sich neben diese und sah auf Samantha herab. Sie war so bezaubernd. Und nun gehörte sie ihm!

„Professor, verzeihen sie die Frage, aber was haben sie mit ihr vor?“

„Nun Leutnant Daniels, sie wird zu einem Geschöpf, das vollkommen ist. Sie wird über Fähigkeiten verfügen, die sie sich mit ihrem beschränkten Geist nicht vorstellen können. Sie wird mir die Macht verleihen, über die gesamte Welt zu herrschen!“

„Die ganze Welt?“

„Ja! Wobei ich nicht größenwahnsinnig bin. Zuerst werde ich Amerika in Besitz nehmen und der neue Präsident werden!“

Über das Maß der Größenwahnsinnigkeit ließ sich streiten, fand Daniels. Und der Gedanke, was Markes mit dieser Frau zu tun beabsichtigte, um die Weltherrschaft zu erlangen, war zu erschreckend, als dass er ihn zu Ende denken konnte.

****

Es waren zwei Tage vergangen seitdem sie überall gesucht wurde. Jonas machte sich schon keine großen Hoffnungen mehr. Er fühlte, dass sie sich nicht mehr im Land befinden konnte. Dazu hatten ihre Entführer zu viel Zeit gehabt und die Informationen, die sie bis jetzt gesammelt hatten, waren mehr als spärlich.

Er fuhr sich durch sein zerzaustes, graues Haar. Sein Blick wanderte zu Anna hinüber, die zusammengesunken in ihrem Sessel saß und lustlos an ihrer Stickerei

arbeitete. Tom war im Garten und spielte dort mit Domino. Wie er das Kind doch beneidete! Toms Optimismus war nicht zu trüben. Er glaubte noch fest daran, dass Samantha zurückkommen und dass John sie finden würde. Jonas würde diese Einstellung nur zu gerne teilen, doch wusste John noch nicht mal, dass Samantha verschwunden war.

Seufzend wandte er sich vom Fenster ab und stemmte sich aus seinem Lehnstuhl. Das Gemüse ernte sich nicht von alleine und es brachte nichts, es vergammeln zu lassen. So ging er brummend in den Garten und arbeitete verbissen. Versuchte seinen Gedanken zu entkommen. Er hatte bereits drei Kübel voll Bohnen und Gurken, als er aufhorchte. Deutlich waren Motorengeräusche zu hören.

Ein Wagen bog in die Auffahrt und kam kurz vor dem Tor zum Stehen. Als die Türen des BMWs aufgestoßen wurden, glaubte Jonas erst nicht, was er sah.

Zwei Hünen stiegen aus und schritten auf ihn zu. Der eine war breiter und etwas größer als der andere. Das strohblonde Haar war zu einem Zopf geflochten und in seinem rechten Ohr blinkten zwei silberne Ringe. Der dichte Vollbart verbarg das meiste des Gesichts. Der Anblick des zweiten Hünen ließ Jonas schlucken und Tränen der Trauer vermischten sich mit denen der Freude.

Als sie die Auffahrt hinauf gefahren waren, hatte John das Haus sehnsüchtig beobachtet. Er entdeckte Jonas, der mit einer Gurke in der Rechten, im Gemüsebeet stand und Tom, der mit Domino spielte. Als sich die Haustür öffnete, musste er jedoch feststellen, dass es Anna war, die heraustrat.

Samantha war nirgends zu sehen!

Mit jedem Schritt zog sich der Ring um sein Herz immer mehr zusammen. Und als er den Ausdruck in Jonas Augen sah, wurde das Gefühl zur Gewissheit. Etwas war mit Samantha!

Tom flog in Johns Arme und drückte sein Gesicht fest an seine Brust. Durch den Stoff spürte John die heißen Tränen und erstarrte. Anna trat an ihn heran und er sah

deutlich die Sorge in ihren Augen. Als er endlich sprach, erkannte er seine Stimme selber kaum. „Wo ist Samantha?“ Alarmiert legte Nick stützend, seine Hand auf Johns Rücken. Toms Stimme war so leise, dass John Mühe hatte sie zu verstehen, obwohl der Junge es dicht an seinem Ohr sagte. „Sammy ist fort!“

„Ich denke, wir sollten ins Haus gehen!“ Der dunkle Bass seines Freundes, riss John aus seiner Erstarrung und so gingen sie alle ins Haus, wo die Ereignisse der letzten Wochen, - und vor allem der letzten Tage- genau wiedergegeben wurden.

Nick kratzte sich nachdenklich am Bart. „Mit ihrer Vermutung, dass sie nicht mehr im Land sein kann, haben sie höchstwahrscheinlich Recht! Laut dem was sie uns erzählten, müssen sie noch am selben Tag einen Privatjet genommen und das Land verlassen haben. Weiß die Polizei nichts Näheres?“ Auf Jonas Kopfschütteln hin schnaubte Nick angewidert. „Das wundert mich in keiner Weise. So wie sie bei John gepfuscht haben! - doch keine Angst!“ Beruhigend legte er seine Hand auf Annas verkrampfte Finger. „Ich verspreche ihnen, dass wir sie ebenfalls suchen werden. Die Organisation, für die wir arbeiten, schuldet uns noch was! Sie werden sehen, bald halten sie Samantha wieder in den Armen.“

„Danke!“ Allein dieses Wort beanspruchte Annas letzte Kräfte.

„Hey, Kamerad!“ Nick wandte sich Tom zu. „John hat mir erzählt, wie toll du auf Bäume klettern kannst. Das kann ich fast nicht glauben! Was meinst du, zeigst du es mir mal?“ Strahlend nickte Tom und stürmte an seiner Mutter vorbei zur Tür hinaus. John legte Nick eine Hand auf den Arm als sich dieser erhob. „Danke, Nick!“ Dieser bedeckte die Hand mit seiner und drückte sie leicht. „Schon gut, ihr habt euch noch einiges zu erzählen.“ Nickend senkte John den Kopf und hob ihn erst wieder, als die Tür ins Schloss fiel.

Er begegnete dem Blick aus alten, traurigen Augen. „Sie liebt dich, mein Jung! Sie hat die Kette nicht ein einziges Mal abgenommen. Dein Verlust machte ihr schwer zu schaffen!“

„Ich wie?, dass sie lebt. Ich kann sie noch immer spüren. Hier drin.“

Dabei legte er die Faust aufs Herz. Der gequälte Ausdruck in seinem Gesicht zeigte Jonas, dass John sie genauso innig liebte, wie sie ihn. Er wünschte, er könnte sich in Bezug auf ihr Wohlergehen genau so sicher sein. „Sie hat während der ganzen Zeit gemalt!“ Annas Stimme war kaum hörbar. „Du solltest das Bild sehen!“ Damit erhob sie sich und ging schlurfenden Schrittes durch die Tür zum Keller. John folgte ihr.

Im Keller angelangt öffnete Anna eine Tür und schaltete das Licht ein. In der Mitte des Raums stand eine Staffelei. Näher tretend umrundete John sie und blieb wie vom

Donner gerührt stehen. Was er dort sah, trieb ihm die Tränen in die Augen. Zwang ihn in die Knie.

Das Bild zeigte das Meer. Das Licht des Vollmonds spiegelte sich auf den Wellen, die sich am Ufer und an den Klippen brachen. Auf einer dieser Klippen stand eine junge Frau. Das langen Haar wehte im Wind. Sie streckte wie flehend ihre linke Hand aus. Am Ufer stand ein großer Mann, der ihr seine Hand entgegenstreckte. Er wies deutliche Ähnlichkeiten mit John auf. Zwischen ihnen erhoben sich die schattenhaften Umrisse eines riesigen Monsters, das die beiden voneinander trennte. Die junge Frau hielt mit ihrer rechten Hand etwas vor ihrer Brust umschlossen. Doch zwischen ihren Fingern hindurch erstrahlte rotes Licht und in ihren Augen standen Tränen.

Samantha sah ihm aus diesem Bild entgegen und es war ihm, als riefe sie nach ihm, flehte ihn um Hilfe an. Dann war es vorbei! Die leichte Berührung einer schmalen Hand ließ ihn zusammenzucken. Anna war neben ihn getreten und sah ebenfalls auf das Bild. „So habe ich auch reagiert, als ich es zum ersten Mal sah!“ Seine Stimme gehorchte ihm kaum, als er leise fragte. „Darf ich es mitnehmen?“ Als er zu Anna sah, konnte er den veränderten Gesichtsausdruck sowie das kaum merkliche Nicken wahrnehmen. „Ja, John! Nimm es mit und lösche dieses Monster aus!“

P.E.M. Projekt Evolution Mensch

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