Читать книгу Jule und Luca - Der Schwarze Fürst - Jens O. Löcher - Страница 5
Das Buch der Träume
ОглавлениеAls Jule wieder zurück in der Therme war, hielt Herr Fleischmann das braune Buch auf seinem Schoß und blätterte es aufgeregt durch. Er schlug so schnell die jeweils nächste Seite auf, dass er nicht mehr als die Überschrift der einzelnen Seiten lesen konnte. Er lächelte.
„Warum kommst Du erst jetzt? Ist etwas dazwischengekommen?“
„Es ist Ihre Mutter, oder? Es ist Ihr eigener Traum und es ein Traum über Ihre Mutter.“
Herr Fleischmann wurde blass und nickte.
„Wie hast Du das herausgefunden?“
„Der Schaukelstuhl. Er trägt dieselben Schnitzereien wie Ihr Krückstock. Er musste von Ihnen stammen.“
„Du kombinierst gut, das muss ich wirklich sagen. Ich habe bereits in meiner Kindheit geschnitzt. Ich war immer recht geschickt mit dem Messer.“
Er schaute lange auf einen Punkt an der Wand, bevor er fortfuhr.
„Nun, jedenfalls seht Ihr daran, zu welch perfiden Gemeinheiten Herr Adamek imstande ist. Er hat einen Zugang zu einem Traum gesucht, in dem ich nicht einfach losgehen und nach dem Buch suchen konnte. Ich habe hundertmal am Fenster der Hütte gestanden und habe tausendmal die Türe aufgemacht und mich neben meine Mutter gesetzt. Ich habe mit ihr gesprochen und habe versucht, sie zu trösten. Aber sie weinte immer weiter. Und immer bin ich darüber verzweifelt und wieder zurück hier in mein Haus gegangen, anstatt das Buch zu suchen. Irgendwann war ich stark genug, an der Hütte vorbeizugehen und in das Uhrengehäuse zu springen. Aber ich war unkonzentriert, weil ich an meine Mutter dachte. Ihr müsst wissen, dass sie schon lange nicht mehr lebt. Und wie es dann für mich mit der Uhr ausgegangen ist, wisst Ihr ja. Genau das hatte Adamek vorhergesehen und so blieb das Buch dort, wo er es hingeworfen hatte.“
„Oh, wie gemein“, sagte Luca betroffen. Luca wusste so genau, wie es war, wenn man ein Elternteil vermisste. „Aber warum haben Sie uns das nicht gesagt?“
„Es war für Eure Mission nicht wichtig. Und außerdem: Hättest Du es mir erzählt, wenn es Deine Geschichte gewesen wäre?“
Nein, Luca hätte es sicher niemandem auf der Welt erzählt und schwieg verlegen. Herr Fleischmann schaute erneut auf seine Uhr.
„Lasst uns wieder nach oben gehen, es ist schon spät.“
Die Kinder folgten ihm, als er Schritt für Schritt, das verletzte Bein hinter sich herschleppend, die Treppe hinaufstieg. Als sie gerade die schwere Türe durchschritten hatten, hörten sie aus der Therme ein Geräusch. Zuerst ein Brausen, als ob ein starker Wind durch die Hallen wehte, dann ein Schlurfen. Herr Fleischmann schlug die Türe mit Gewalt zu und suchte hastig nach dem Schlüsselbund.
„Hektor, hierhin“, rief er und der große Hund, der sich gerade im Esszimmer auf den Boden gelegt hatte, richtete sich auf und trottete in den Vorraum.
„Was war das für ein Geräusch?“, fragte Jule, während Herr Fleischmann hektisch die Schlüssel ausprobierte. Endlich fand er den ersten passenden Schlüssel, das Schloss klackte und verriegelte die Türe.
„Welches Geräusch? Ich habe nichts gehört.“
„Ich habe das auch gehört. Zuerst Wind und dann schlurfte etwas über den Boden.“
„Ach Kinder, das habt Ihr Euch eingebildet. Vielleicht ist ja auch einer der hinteren Räume der Therme weiter eingebrochen. Geht wieder. Ich habe keine Zeit mehr, ich muss mich jetzt um Herrn Adamek kümmern. Am besten geht Ihr jetzt.“
Die Kinder waren irritiert, als sie so unvermittelt vor die Tür gesetzt wurden.
„Was sollte das denn?“, fragte Jule ihren Bruder, als sie durch den Garten zur Straße gingen. „Zuerst ist er wahnsinnig nett und überredet uns dazu, ihm das Buch zu holen. Und jetzt schmeißt er uns raus.“
„Es hat etwas mit dem Geräusch im Keller zu tun. Erst, als wir gefragt haben, was das ist, hat er sich so seltsam verhalten. Und hast Du bemerkt, dass er Angst hatte? Er hat ja fast den Schlüssel nicht gefunden und Hektor gerufen, als ob er Schutz bräuchte. Außerdem hat er ständig auf die Uhr geschaut.“
In diesem Moment öffnete sich eines der Fenster des benachbarten Hauses. Frau Buglett hatte die Kinder gesehen und rief nach ihnen.
„Guten Morgen, Kinder. Na, wieder unterwegs in Sachen der Gerechtigkeit? Wartet mal, ich komme herunter.“
„Es hat sich nichts verändert, oder?“, raunte Luca zu seiner Schwester, „sie weiß immer noch, was wir den ganzen Tag machen.“
Beide lachten.
Wenige Augenblicke später öffnete sich die Haustür und Frau Buglett kam heraus. Sie winkte den Kindern zu.
„Ihr wart bei Herrn Fleischmann? So früh? Ich dachte, Ihr geht erst später hin und wir treffen uns dort.“
„Unsere Eltern sind mit Dr. Maiwald in die Stadt gegangen. Und da wussten wir nichts mit unserer Zeit anzufangen und haben gedacht, wir gehen schon heute Morgen zu ihm.“
„Er hat Euch sicher noch viel mehr über das Traumwandern erzählt.“
„Nein, überhaupt nichts. Aber es war trotzdem furchtbar spannend. Wir sollten ein Buch für ihn aus einem Traum holen?“
„Ein Buch? Was für ein Buch?“
„Ja, es war irrsinnig schwer und lag in einer Uhr. So ein alter, brauner Schmöker.“
„Oh, das hätte nicht geschehen dürfen. Kommt bitte schnell herein, wir müssen etwas besprechen. Ich möchte nicht, dass Herr Fleischmann uns sieht.“
„Aber Herr Adamek…“, begann Luca.
„Der macht Besorgungen und ist in der Stadt. Kommt schnell herein“, unterbrach Frau Buglett.
Frau Buglett führte die Kinder in eine kleine Küche. Es roch nach Kuchen, eine Herdplatte erwärmte gerade einen Topf mit Wasser. Auf dem kleinen Küchentisch stand eine Teekanne, daneben ein Filter, in den bereits Teeblätter gefüllt waren.
„Kinder, setzt Euch und wartet einen Augenblick. Ich möchte Euch etwas zeigen. Möchtet Ihr in der Zwischenzeit ein Stück Kuchen?“
Sie öffnete die Türe eines altertümlichen Küchenschrankes, der die Hälfte des Raumes ausfüllte, und nahm einen großen, runden Kuchenteller heraus, auf dem der frisch gebackene Grund für den herrlichen Geruch im Haus stand. Schokoladenkuchen mit Mandeln, Lucas Lieblingskuchen.
„Oh ja, gerne“.
Luca freute sich, als Frau Buglett mit einem großen Messer zwei Stücke aus dem Kuchen schnitt. Sie war sehr großzügig, die einzelnen Stücke hätte man noch in der Mitte teilen können und es wäre immer noch genug für jeden von ihnen gewesen, um sie bis zum Abend satt zu machen.
„Einen Moment. Ich bin gleich wieder da.“, verabschiedete sie sich und ging aus der Küche. Man hörte, wie sie die Treppenstufen in das obere Stockwerk ging, die Holzdielen knarrten bei jedem Schritt. Die Kinder hatten die Hälfte ihrer Kuchenstücke noch nicht gegessen, da hörten sie erneut das Knarren der Treppenstufen, nun aber begann es oben und senkte sich von Schritt zu Schritt. Nun drang kein Geräusch mehr in die Küche, Frau Buglett musste stehen geblieben sein. Dann plötzlich ein kurzes Rumpeln, nun herrschte wieder Stille.
„Meinst Du, ich darf mir noch ein Stück Kuchen abschneiden?“. Luca schaute verschmitzt zu seiner Schwester und führte die letzten Krümel, die er auf seinem Teller hatte, mit der kleinen Tortengabel in seinen Mund.
„So dick, wie Frau Buglett die Stücke geschnitten hat, fällt das doch überhaupt nicht auf. Da klafft doch jetzt schon eine riesige Lücke.“
Offenbar erwartete Luca keine Antwort, denn er hatte bereits das Kuchenmesser in der Hand und ritzte langsam eine Rille in den Kuchen, die die Schnittstelle zu einer schmalen Scheibe des herrlichen Kuchens markieren sollte.
Als sich unvermittelt die Türe öffnete, fiel Luca das Messer klirrend auf den Kuchenteller. Herr Adamek stand vor ihnen.