Читать книгу "Die Stunde des Jaguars" - Jens Petersen - Страница 5
Der Auftrag
ОглавлениеDie schneebedeckten Gipfel des Ixtaccihuatl und des Popocatepetl glitzerten im Sonnenlicht über der Hochebene von Anahuac. In der dünnen Luft wirkten sie näher, als schwebten sie über der Stadt. In Wahrheit bildeten sie den Abschluss dieses weiträumigen Tales, seit jeher Zentrum des Landes. Dessen Mitte und Höhepunkt war einst der türkisfunkelnde Texcoco-See, umgeben von etlichen Städten, Residenzen der verschiedensten Völker. Mitten im See und durchzogen von Kanälen die größte und prächtigste dieser Städte, Tenochtitlan. Auch in Umfang und Einwohnerzahl entsprach sie in etwa Venedig. Bernal Diaz del Castillo, der Chronist der Eroberung, schrieb:
„Als wir diesen wunderbaren Anblick gewahrten, standen wir völlig sprachlos da und wussten nicht, ob das, was wir schauten Wirklichkeit war. Auf der einen Seite waren auf dem Lande große Paläste und noch mehr draußen auf dem See zu sehen, es war da ein breiter Damm, unterbrochen von vielen Brücken, und vor uns lag die prächtige Stadt Tenochtitlan, gleich der verzauberten Stadt, von der die Sage von Amadis erzählt, die aufsteigt aus dem Wasser mit mächtigen Türmen und Steinpalästen. Große Boote konnten vom See in die Gärten fahren. Alles war aus Stein und prachtvoll geschmückt mit Wandbildern, viele Monumente waren da, und ich dachte, dass nirgends auf der Welt ein schöneres Land wie dieses entdeckt werden würde. Von all diesen Wundern, die ich damals schaute, ist heute nichts mehr geblieben, alles ist vernichtet und verschwunden.“
Zerstört war dieses Juwel, ausgetrocknet der See und die ganze Fläche überwuchert von der Megametropole. Immer noch wuchs sie weiter, hinaus über die ehemaligen Städte an den Ufern des Sees, heute nur mehr Namen von Vororten oder von Metrostationen.
Cuevas schlenderte den achtspurigen Paseo de la Reforma entlang. Ein sonniger Tag war es, und er genoss das Erkunden dieser riesigen Stadtlandschaft. Schon immer wollte er sich einmal die Hauptstadt ansehen. Aus diesem Grunde war er auch einige Tage früher gefahren.
Ein dubioses Schreiben seiner obersten Behörde, der Zentrale aller Polizei im Lande, gab ihm die überraschende Gelegenheit. In diesem Brief wurde er aufgefordert, sich an dem besagten Tage um 15 Uhr im Regierungspalast zu melden. Eine Begründung war nicht angegeben, aber in der Anlage ein regierungsamtliches Freifahrtpermit, gültig für alle öffentlichen Verkehrsmittel in Mexiko, sowie die Reservierung in einem kleinen, aber wie sich herausstellte, sehr properen Mittelklassehotel im Zentrum, nahe dem Alameda Park.
Natürlich fragte er sich, was die von ihm wollten. Je mehr er darüber grübelte, und schon während der langen Busfahrt, einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag, hatte er reichlich Gelegenheit dazu, es ergab einfach keinen Sinn. Er, ein unbedeutender Polizist, Comisario einer kleinen Station im Grenzgebiet des äußersten Nordens der Republik, er musste für die in der Zentrale ein absolutes Nichts sein. Einziger Anhaltspunkt wäre dieser Fall Gonzalves. Er hatte schon gleich den Verdacht, dass es damit mehr auf sich hätte, als der erste Anschein erkennen ließ. Aber, dass es solche Kreise zog? Es könnte nur damit zu tun haben, nichts anderes wollte ihm einfallen.
Der Reichtum und die Vielfalt indianischer Kulturen hatten Cuevas schon immer fasziniert, und er hatte so manches darüber gelesen. Was er aber im Museo Anthropologico, der weltweit größten Sammlung präkolumbianischer Kulturen zu sehen bekam, war weit mehr als seine Vorstellung ihn vermuteten ließ.
Als im Jahre 1492 Cristobal Colon, ein genuesischer Seefahrer im Dienste der spanischen Krone, glaubte diesen Kontinent entdeckt zu haben, war er bereits seit 15.000 Jahren besiedelt. Von Auswanderern aus Asien, die über die damals noch intakte Landbrücke der Aleuten kamen, ebenso wie von Flüchtlingen aus dem Südpazifik, die an den Küsten Perus landeten. Entdeckt hatten ihn auch schon 500 Jahre vor ihm Wikinger unter der Führung von Leif Erikson, und möglicherweise noch früher Phönizier, Ägypter sowie von der pazifischen Seite her die Expedition des Chinesen Zheng He.
Das heißt genau genommen glaubte Cristobal Colon oder Kolumbus, wie er genannt wurde, zeit seines Lebens, bei seiner Landung an einer der Bahamasinseln und später in Kuba die östlichen Ausleger Indiens erreicht zu haben, weshalb er die Bewohner Indianer nannte.
Erst dem italienischen Forschungsreisenden Amerigo Vespucci ging bei seinen ausgiebigen Fahrten entlang den Küsten Südamerikas ein Licht auf, dass es sich hier offenbar um einen Kontinent handelte.
Als der deutsche Kartograf Waldseemüller all die von verschiedenen Reisenden erforschten Gebiete erstmals zusammenfasste, gab er diesem neuen Gebilde den Namen Amerika, im Gedenken an den Vornamen dieses Forschers.
Auf Kuba etablierte sich zuerst eine spanische Besiedelung mit entsprechender Verwaltung.
Von hier aus brach auch Hernan Cortez auf zu weiteren Eroberungen nach Westen, angelockt durch Gerüchte über große Reiche und vor allem große Reichtümer. Seine Mannschaft bestand keineswegs nur aus edlen Rittern. Vornehmlich übles Gesindel bis hin zu Kriminellen, erhoffte sich hier neben einem Abenteuer den Gewinn schnellen Reichtums.
Als sie 1519 an dem Küstenabschnitt Mexikos landeten, den heute die Stadt Vera Cruz einnimmt, ließ Cortez, um jede Abtrünnigkeit zu verhindern und seine Mitstreiter zu einem bedingungslosen Alles oder Nichts zu zwingen, die Schiffe verbrennen.
Das zentrale Mexiko bestand zu dieser Zeit aus mehreren Königreichen verschiedener Völker, überwiegend kultiviert, geordnet und wohlhabend, aber der Hegemonialmacht der Azteken untertan. Deren reiche Hauptstadt Tenochtitlan, auf den Inseln des Texcoco-Sees gelegen, wäre auch in Europa eine der prächtigsten gewesen.
Die Indianer kamen den europäischen Fremden freundlich und mit Geschenken entgegen. Natürlich waren auch Kundschafter unter ihnen, die in Tenochtitlan über alles Bericht erstatteten. Wie Außerirdische mussten ihnen diese unbekannten Ankömmlinge erschienen sein.
Drei Faktoren sollten sich verhängnisvoll auswirken für Tenochtitlan:
Einmal die alte Weissagung, der langersehnte Gott Quetzalcoatl würde zurückkehren und mit ihm glücklichere Zeiten. Von Osten her über das Meer kommend und ausgerechnet in diesem Jahr wurde er erwartet.
Zum anderen: Die rechtmäßige Thronfolge war an den ängstlichen, feigen Moctezuma II. gefallen. Dessen Appeasement gegenüber den immer unverschämter sich gebärdenden Spaniern wurde so unerträglich, das schließlich seine eigenen Bürger ihn erschlugen. Sein unvergleichlich entschlossenerer Neffe Cuautemoc führte zwar noch einen letzten, verzweifelten Widerstand an. Jedoch war es in diesem Moment schon zu spät.
Vor allem aber: Die Azteken hatten die unterworfenen Reiche mit immer höheren Steuern belegt und diese erbarmungslos aufs Brutalste eingetrieben. Als dann Tenochtitlan selbst ernsthaft in Bedrängnis geriet, war keines zur Hilfe bereit. Vor allem die Tlaxcalteken, zu erbittertsten Feinden geworden, schlossen sich mit Tausenden ihrer Krieger den Spaniern an. Nach langer Belagerung konnte die Hauptstadt der Azteken 1521 erobert werden.
Damit nicht genug ging es weiter mit verheerenden Eroberungszügen über ganz Mexiko.
Angelockt durch Berichte von sagenhaften Reichtümern machten sich immer weitere Horden von Conquistadoren (Eroberern), wie sie sich nannten, auf die weite, nicht ungefährliche Reise über den Atlantik. Sie kamen jetzt aus den verschiedensten Ländern Europas, nicht nur aus Spanien. In ihrer Beutegier fielen sie mit hemmungsloser Brutalität über Mittel- und Südamerika her. Eisenrüstungen, Pferde, Schusswaffen, Artillerie und große sog. Kriegshunde verschafften ihnen die nötige militärische Überlegenheit.
Nur ein Bruchteil der geschätzten 50 Millionen Indianer überlebte die nächsten 300 Jahre spanischer Herrschaft. Da, nach international anerkannter rechtlicher Definition als Genozid nur gilt, wenn die Ausrottung dieser Ethnie beabsichtigt war, wurde hier einer der umfangreichsten Völkermorde der Geschichte weniger beachtet. Den Conquistadoren ging es ja vornehmlich um Eroberung und Bereicherung. Folglich darf man die Millionen von gemordeten und durch eingeführte Seuchen dahingerafften Indianer nur als Kollateralschaden betrachten.
Nicht aus dem Sinn wollten Cuevas diese Eindrücke gehen. Noch viel weniger die Tragödie des historischen Ablaufs. Die Gründe für den Untergang lagen tiefer, als nur in der Person des Moctezuma. Aber die Zeugnisse dieser Kulturen waren noch da, trotz eifriger Zerstörung durch die Conquistadoren. Unentwegt werden noch immer neue entdeckt. Wie kaum irgendwo in der Welt wuchs eine Symbiose heran aus indianischer und abendländischer Kultur. Architektur, Literatur und Malerei zeugten davon. Als einige der schönsten Beispiele waren ihm die Bilder von Rufino Tamayo erschienen, die er im gleichnamigen Museum, ebenfalls im Park von Chapultepec gesehen hatte.
Diese Gedankengänge wurden jäh unterbrochen.
(Da ist doch tatsächlich so ein Dilettant, der glaubt, mich zu observieren, während ich hier am frühen Nachmittag die 5 de Mayo in Richtung Zocalo hinunter schlendere. Den Typ hatte ich doch schon heute Vormittag im Mercado Salto de Agua gesehen. Als der an dem Ess-Tresen mir gegenüber Platz nahm und mich so anglotzte, dachte ich mir noch nichts dabei. Aber nun ist es wohl an der Zeit, sich etwas dabei zu denken. Um sicher zu gehen, überquere ich mal die Straße.)
Auf der anderen Seite angelangt, betrachtete er, nicht ohne erwachendes Interesse die Auslagen im Fenster von Dulces de Celaya, das Feinste an Zuckergebäck.
(Dieser Typ ist tatsächlich auch übergewechselt auf diese Seite. Glaubt der wirklich, das merkt keiner? Gut, dann gehen wir an der nächsten Kreuzung wieder zurück.)
Nachdem er die Straße wieder überquert hatte, blieb er vor einem Schaufenster stehen. Er betrachtete nicht die Auslagen, die ihn diesmal herzlich wenig interessierten, aber dafür umso mehr, was der Typ da ca. 20 Schritte hinter ihm nun machen würde. Der war auch, nachdem er abermals die 5 de Mayo überquert hatte, stehen geblieben.
(Für wen hält der mich eigentlich?)
(Aber davon mal abgesehen, interessanter wird jetzt die Frage, für wen arbeitet der? Kein Schwein kennt mich hier in der Hauptstadt. Sollten die Offiziellen, die mich hierher bestellt haben, mir vorher auf den Zahn fühlen wollen? Unwahrscheinlich. Egal, ob ich nun ins Museo de Anthropologia gehe, auf der Reforma spaziere oder den Mercado aufsuche, das alles brächte für die keine verwertbaren Erkenntnisse. Es sei denn, sie wollen wissen, ob ich mich hier mit irgendjemandem treffe. Ich wüsste zwar selbst nicht mit wem und in welcher Angelegenheit. Aber man weiß ja nie, was in Bürokratenköpfen so alles herumspukt an Befürchtungen.)
(Dennoch, naheliegender erscheint mir etwas Anderes. Ich hatte schon gleich den Eindruck, dass die Anwesenden auf der Grenzstation von Sonoyta alles andere als zufällig dort waren, und nicht nur der Mörder, welcher von ihnen es auch gewesen sein mag, etwas mit Gonzalves zu tun hatte. So weit so gut. Aber wenn mich hier schon jemand auf Schritt und Tritt beschattet, dann heißt das doch, dass mehr als ein Einzelner dahinter steckte. Dann frage ich mich doch: Was war so bedeutend an Gonzalves Entdeckungen?)
(Nur, wenn ich den Typ jetzt zur Rede stelle, erfahre ich gar nichts, habe ihn höchstens gewarnt. Auf jeden Fall fängt es jetzt an richtig interessant zu werden.)
Dann kam ihm die passende Idee. Er ging auf einen dieser überall herumlungernden Gassenjungen zu, der an der Eimündung der Allende stand.
„Möchtest du dir 10 Pesos verdienen?“
„Claro que si, Señor.“
„Siehst du den Mann mit dem weißen Hemd und den Strohhut, der da 20 Schritte zurück gerade so interessiert das Schaufenster betrachtet?“
„Si Señor.“
„Hier hast du 10 Pesos. Geh‘ zu dem Polizisten dort drüben und erzähle ihm, dieser Mann hätte dich überreden wollen, mit ihm zu kommen und dir dafür einen großen Eisbecher versprochen.“
Hinter einem Zeitungsstand stehend in einiger Entfernung konnte Cuevas beobachten, was sich nun abspielte. Der Betreffende war etwas erschrocken über die barsche Ansprache des Polizisten. Soviel war klar, wäre er ein von den Offiziellen Beauftragter, so hätte er irgendeinen Ausweis präsentiert. Woraufhin der Polizist salutiert und sich entschuldigt hätte. Aber nein, der Mann redete nervös auf den Polizisten ein, musste seine Papiere hervorkramen und eine längere Debatte war zu erwarten. Cuevas wusste, was er erfahren wollte.
(Hatte ich also richtig vermutet. Da steckt noch mehr dahinter. Wenn die mich hier in der weit entfernten Hauptstadt observieren, sogar erheblich mehr. Das verrät mir außerdem, dass der Mörder kein Einzeltäter war, vermutlich ein Auftragskiller.)
Was er ebenfalls wusste war, dass er von nun an unbeschattet weiter die 5 de Mayo entlang flanieren konnte. Jedenfalls glaubte er das.
Diese mündete in die Nordostecke des Zocalo, jenes großen, zentralen Platzes, Zentrum dieser Riesenstadt und des Landes überhaupt. In dessen Mitte stand, folgerichtig ein mehrere Stockwerke hoher Mast mit einer gigantischen Fahne. Direkt vor sich stieß Cuevas auf die Seitenwand der Kathedrale. Vor dem hohen Eisengitter der Umzäunung saßen etliche Männer auf dem Boden, die auf Pappschildern ihre Dienste anboten als Maurer, Installateur, Zimmermann oder Tapezierer. Hier und entlang der Vorderseite des umfangreichen Kirchenbaus wimmelte es noch mehr von Menschen. Verkaufsstände mit den verschiedensten Angeboten bewirkten, dass diese Ansammlung immer dichter wurde. Genug der Ablenkung auch, dass er das Grübeln aufgab, wer ihn denn da und aus welchem Grunde observieren wollte.
(Was immer der, oder dessen Hintermänner über mich wissen wollten, sie hätten nichts von Interesse erfahren. Höchstens, dass ich am Ende in den Regierungspalast gehe. Na und? Von da ab könnte es vielleicht interessant für sie werden. Wer weiß, vielleicht auch für mich. Aber an der Wache am Eingang kommt niemand vorbei, der nicht einen offiziellen Auftrag vorweisen kann.)
Vor der Frontseite der Kathedrale waren jetzt immer mehr Männer zu sehen in aztekischer Kostümierung, überragt von riesigem Federschmuck, die trommelten und tanzten. Selbstverständlich klickten vor ihnen unentwegt die Kameraverschlüsse. Abgesehen von einigen wenigen, die an leichtgläubige Touristen allerlei Tütchen mit wunderwirkenden Pulvern verkauften, nahmen die wenigsten Notiz davon. Ihre Aufmerksamkeit hatte der Anfertigung überlieferter Kostüme gegolten und vor allem diesen farbenprächtigen Federgebilden, die sie ihre Köpfe weit überragend mit bloßem Oberkörper trugen. Gründlich missverstanden wurde es als Darbietung für Sightseeing suchende Fremde. Nachkommen der verdrängten Azteken wollten diese Tänzer sein, empfanden sich so, wollten das am eigenen Leibe spüren. Cuevas merkte, wie dieses Gefühl ihm selbst auf einmal gar nicht so fremd war. Die Identifikation mit der vergangenen, verlorenen Kultur wurde ihm plötzlich deutlich. Eroberung, nachfolgende Unterdrückung und Zerstörung hatten auch bei ihm eine empfindliche Lücke hinterlassen.
Dieses Gefühl nahm noch zu, ebenso wie auch die kostümierten Tänzer und Trommler, je mehr er sich am Baptisterium vorbei, den Überresten des Templo Mayor näherte, dem ehemaligen Mittelpunkt des alten Tenochtitlan.
(Welch eine wundersame Stadt musste das einst gewesen sein. Schon daheim hatte mich diese Abbildung von Diego Riveras Gemälde ungemein fasziniert. Jetzt sehe ich hier vor mir das Fundament des von den Spaniern zerstörten Haupttempels.)
Doch dahin waren bei dessen Anblick auf einmal Faszination und Stolz. Etwas ganz Anderes verdrängte mit Macht dieses Bild. All die auf seiner obersten Plattform, einem religiösem Wahn dienend sinnlos geschlachteten Menschen. Da erschienen vor seinem Auge die gewaltigen Ströme von Blut, die Stufen des Tempels herunter rinnend und die Fassaden einfärbend. Die riesigen Berge von viel zu schnell verwesenden Leichen. Das war keine Gabe für die Götter, das stank zum Himmel.
Zwar gab es die Menschenopfer erst in den letzten 200 Jahren vor der Eroberung. Aber sie waren rapide angewachsen und wurden zu dem großen Schandfleck. Man opferte vor allem Kriegsgefangene aus den Nachbarvölkern. Deren brutale Unterdrückung verbunden mit maßloser Steuereintreibung erzeugte immer mehr Hass. So opferte man am Ende nicht nur Gefangene, sondern ohne sich darüber im Klaren zu sein, auch sich selbst, seine Stadt, seine Kultur. Ohne die Tausende von ihm folgenden Kriegern aus den unterdrückten Völkern wäre es Cortéz nie gelungen Tenochtitlan zu erobern.
Es hieß Ahuizotl, der Vorgänger Moctezumas, ließ zur Einweihung dieser Hauptpyramide 20.000 Menschen opfern, zur Einweihung des großen Tempels von Huitzilopochtli, des Kriegsgottes sogar 70.000. Das Blut dieser Opfer wäre nötig, um den Durst der Sonne zu stillen, wurden die Priester nicht müde zu verkünden. Erst so könnte man sich deren segensreiche Strahlen erhalten.
(Blödsinn! Religiöser Wahn! Nur wieder so ein Vorwand für Unterdrückung. Vermutlich wird man, wie bei den meisten Übeln, als wirkliche Ursache wieder Macht- und Habgier finden. Es sieht so aus, als hätten wir die spanischen Eroberer verdient, als wäre die Conquista und Vernichtung Tenochtitlans die notwendige Lösung gewesen.)
Nur dabei blieb es nicht. Die Spanier brachten neues Leid und neue Unterdrückung. Nicht allein das Herrschaftsgebiet der Azteken, auch die zahlreichen anderen Völker und Kulturen wurden unterjocht, unzählige ihrer Einwohner von den überlegenen Eisenwaffen gemetzelt, mit den Pferden niedergeritten oder von den mitgebrachten großen Hunden gejagt und zerfleischt.
Cortez verhüllte beim Anblick der aztekischen Menschenopfer voller Abscheu sein Gesicht und betrachtete den indianischen Glauben als Teufelswerk. Er fand aber nichts dabei, wenn seine spanische Soldateska die Indianer hemmungslos folterte und mordete. Die grausamsten Übergriffe spielten sich noch nach der Eroberung ab, ohne militärische Notwendigkeit.
Es nahm derartige Ausmaße an, dass am Ende sogar Cortez an seinen Kaiser schrieb: „Der Jammer und das Elend waren ungeheuerlich. Es ist mir unmöglich zu ermessen, wie das Volk die Belagerung hat aushalten können. Mehr als 50.000 waren in der Stadt gestorben. Die Zustände waren in der ersten Zeit nach der Eroberung so entsetzlich, dass man Neugeborene mit den Worten empfing:
„Du wirst Leid, Missgeschick und Ekel sehen, kennen und kosten lernen. An die Stätte fortwährender Trauer und Trübsal bist du gekommen, wo sich der Schmerz erhebt, wo es zum Erbarmen ist.“
Religiöse Menschenopfer gab es nun nicht mehr, dafür die Inquisition. Darüber hinaus einen Klerus, der sich noch über Generationen derart anmaßend und raffgierig gebar, dass er zur Seuche für das Land wurde. Bis unter Präsident Juarez, Mexico das einzige christliche Land war, in dem die Kirche verboten wurde. Mittlerweile ist sie wieder erlaubt, aber mit einer Reihe von Einschränkungen, vor allem was das Auftreten ihrer Statthalter in der Öffentlichkeit und in der Politik betrifft. Zug um Zug hatten eine Revolution nach der anderen erst die Befreiung von der Spanischen Krone und dann allmählich bessere Verhältnisse für die Bevölkerung erstritten.
Kulturell bildete sich diese einmalige Symbiose zwischen den hier gewachsenen indianischen Kulturen und der importierten abendländisch–spanischen.
In derlei Gedanken versunken stand Cuevas immer noch vor dem Gelände des einstigen Templo Mayor, als eine Gruppe nordamerikanischer Touristinnen dieses verließ. Er bekam gerade noch mit, wie der einheimische Reiseführer versuchte, den empörten Gringas die einst zelebrierten Menschenopfer zu verdeutlichen.
„Sie müssen verstehen, meine Damen, die Götter verlangten so etwas.“
Das ging Cueveas denn doch gewaltig gegen den Strich.
(Da ist er also schon wieder, dieser selbstzerstörerische, religiöse Wahn. Das sollte man nicht unwidersprochen so stehen lassen.)
„Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische“,
redete er sie auf Englisch an.
„Ich glaube, ich kann es den Damen besser verdeutlichen. Gewiss werden einige von Ihnen eine Katze haben?“
„Oh, ja“,
beteuerten mehrere.
„Und gewiss haben Sie schon erlebt, wie ihre Katze Ihnen manchmal einen erlegten Singvogel, sozusagen als Morgengabe, auf die Fußmatte legt?“
„Ja, leider, wir sind jedes Mal ganz unglücklich und wissen gar nicht, wie wir es dem Tier abgewöhnen können.“
„Am liebsten würde ich ihr in diesem Moment den armen Vogel um die Ohren hauen“,
entrüstete sich Eine.
„Sehen Sie, meine Damen, jetzt wissen Sie in etwa, wie sich Götter über Opfer freuen!“
Er drehte sich um und ließ die Touristinnen samt Reiseführer mit offenem Mund zurück.
Der Regierungspalast nahm die ganze östliche Längsseite des Zocalo ein. Er hatte aber nur einen Eingang, genau in der Mitte. Zu um 15 Uhr war Cuevas geordert, stellte sich aber lieber eine Viertelstunde früher ein. Die Wache am Eingang prüfte seinen Ausweis und suchte in dem dicken Buch mit den Terminen.
„Cuevas, Cuevas, Alfonso Cuevas?“
„Ja.“
„Da steht es, Sie sollen Sich um 15 Uhr bei Comandante Ibañez einstellen. Ich schreib’ ihnen auf diesem Zettel die Zimmernummer auf.”
Im weiten Innenhof blieb er wie elektrisiert stehen. Hier war es vor ihm, im Original. Der kleine Ausschnitt auf einem Druck hatte ihn bereits so fasziniert. Das große Wandgemälde, auf dem Diego Rivera in leuchtenden Farben die Geschichte seines Landes erzählte, eindringlicher als Worte es vermögen. Als Cuevas die üppige Darstellung des alten Tenochtitlan betrachtete, spürte er es stärker denn zuvor, den indianischen Teil seiner Herkunft, und eine schwere Traurigkeit senkte sich auf ihn. (Ich darf nicht zu spät kommen),
sagte er, um sich davon loszureißen.
Nach recht kurzer Wartezeit wurde er hereingebeten. Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Uniformierter.
„Comisario Cuevas, ich sehe hier, Sie Sind unverheiratet?“
„Ja.“
„Keine Kinder?“
„Nein.“
„Auch nicht aus unehelicher oder vergangener Beziehung?“
„Nein.“
„Sind Sie verlobt oder planen Sie in absehbarer Zeit eine Eheschließung?“
„Nichts dergleichen.“
(Was sollen ausgerechnet all diese familiären Fragen?)
„Wen haben Sie für die Zeit Ihrer Abwesenheit mit der Leitung Ihrer Dienststelle betraut?“
„Teniente Mantega.“
„Sie halten den Mann für fähig genug und für zuverlässig?“
„Ich denke ja.“
„Was heißt, ich denke?“
„Also eindeutig ja, er hat bewiesen, dass er beides ist.“
„Na gut, das genügt mir vorerst. Sie melden sich dann bitte umgehend auf dem Zimmer, welches ich Ihnen hier notiere.“
(Ist mir alles andere als klarer geworden, was die hier eigentlich von mir wollen.)
Im Gegensatz zu dem regen Betrieb, den er zuvor im Regierungspalast beobachten konnte, wirkte dieser Seitenflügel des riesigen Gebäudes fast ausgestorben. Nur seine eigenen Schritte hörte er von den Wänden des langen Gangs widerhallen. Was ihm gleich seltsam vorkam, auf dem Zettel stand nur eine Zahl, die Zimmernummer. Als er die so bezeichnete Tür gefunden hatte, stand auch daneben kein Name, wie sonst überall.
Eine Vorzimmerdame versicherte ihm, dass er hier richtig sei und bat ihn, auf der Sitzgelegenheit im Gang Platz zu nehmen, bis er aufgerufen würde.
Dort saß er jetzt schon zwei Stunden. So etwas wie Heiterkeit überkam ihn.
(Was immer die mit mir vorhaben, diesen Trick kenne ich ja nun selber. Den Wartenden so lange weich schmoren lassen, bis er dann leichter zu bearbeiten ist. Nun ja, was immer die sich davon versprechen, sollen sie doch, wenn es ihnen Spaß macht, oder wenn sie meinen, sie müssten das. Für mich sind das Spielereien, die mich herzlich wenig beeindrucken.)
Als er endlich hereingebeten wurde, und die Vorzimmerdame ihm die Tür zum nächsten Raum öffnete, sah er hinter dem Schreibtisch einen Mann mittleren Alters in Zivil. Nur mit einer knappen Geste deutete der auf die Sitzgelegenheit vor ihm, ohne den Blick zu heben oder ihn auch nur anzusehen. Cuevas wurde das Gefühl nicht los, dennoch beobachtet zu werden. Weder sich selbst vorgestellt noch Cuevas begrüßt hatte er. Auch das sonst übliche Namensschild war nirgends auszumachen. Endlich blickte er von den offenbar wahnsinnig spannenden Akten auf und offerierte ein joviales Lächeln.
„Señor Cuevas.“
(Ziemlich ungewöhnlich. Sonst wird man von den Offiziellen doch stets mit dem Dienstgrad angesprochen. Auch fällt mir auf, er denkt offenbar überhaupt nicht daran, sich selbst vorzustellen.)
„Sie werden hier in der Beurteilung als korrekt, intelligent und ehrgeizig beschrieben.“
Ohne eine Antwort darauf abzuwarten fuhr er fort.
„Dass es bei diesem, von Ihnen untersuchten Fall in Sonoyta, sich nicht um einen gewöhnlichen Mord handelt, ja, dass da womöglich noch ganz andere Dinge im Spiel sind, das ist Ihnen, wie ich aus Ihrem Bericht ersehe, auch schon aufgegangen.“
„Das sehen Sie absolut richtig.“
„Sie entsprechen dem, was wir brauchen. Großes Aufsehen wollen wir vermeiden. Keinen hohen Dienstgrad oder sonst eine hochkarätige Person wollen wir da in Erscheinung treten lassen. Es soll so aussehen, als wenn ein einfacher Polizist weiterhin der Aufklärung eines Mordfalles nachgeht.
Um Ihnen die erforderlichen Informationen mit auf den Weg zu geben: Der Tote, Señor Gonzalves, war bei seinen Forschungen auf eine brisante Sache gestoßen. Was, das wissen wir leider noch nicht. Dies herauszufinden soll Ihre Aufgabe sein. Es muss von ziemlicher politischer oder auch wirtschaftlicher Bedeutung sein. Sonst wären nicht die Nordamerikaner schon dahinter her. Möglich auch, dass da wer mit Geld gewinkt hatte. Wenn dem nicht so wäre, hätte er nicht ein dringendes Interview mit der Los Angeles Post versucht. Er muss wohl irgendeine empfindliche Stelle getroffen haben. Oder er hat am falschen Ort die falschen Worte fallen lassen. Sonst wäre er wohl noch am Leben. Der Mörder wird bei dem, von Ihnen geführtem Verhör, etwas Falsches angegeben haben. Nicht auszuschließen auch, dass er selber etwas anderes vermutete als das, was wirklich Gonzalves entdeckt hatte. Ach ja, und mit Sicherheit wird Gonzalves Notizen gemacht haben, die der Mörder an sich genommen hat. Auf jeden Fall möchten wir, dass Sie den Spuren von Gonzalves folgen. Wir wissen, er forschte längere Zeit über die Lacandonen im Urwald von Chiapas. Vieles spricht dafür, dass er auch jenseits der Grenze in Guatemala war, aber womöglich auch in Peru und wer weiß wo sonst noch.
Auch wenn es Ihnen noch gelingen sollte, den Mörder zu überführen, so versprechen wir uns davon keine sonderlichen Erkenntnisse. Höchstwahrscheinlich weiß der nur wenig, wenn nicht gar Falsches. Selbst Gonzalves scheint nicht das Ganze erkannt zu haben. Sie sehen, da wartet reichlich Arbeit auf Sie. Folgen sie, soweit wie möglich den Spuren Gonzalves, wohin auch immer diese Sie führen mögen, und sehen Sie zu, dass Sie noch mehr herausbekommen. Cuevas ahnte in diesem Moment noch nicht, dass es eine Idee war, die er hier aufspüren sollte. Sein Gegenüber schien eine vage Vorstellung in dieser Richtung zu haben, hatte er doch Erfahrung im Umgang mit solchen.
Und noch was, schicken Sie keine Berichte von unterwegs, egal ob schriftlich oder telefonisch. Das könnte zu leicht in die falschen Hände bzw. Ohren geraten. Es genügt, wenn Sie uns von Zeit zu Zeit wissen lassen, wo Sie Sich gerade aufhalten. Wir haben außerdem überlegt, ob wir Sie zum Schutz bei Nachforschungen im Ausland noch mit einem zweiten, einem Diplomatenpass ausstatten sollten. Davon abgesehen haben wir, weil er auch das Gegenteil bewirken könnte. Wenn es darauf ankäme, hätte man relativ leicht Ihre wahre Identität ermittelt. Die Folge wäre, man würde Sie für einen Geheimdienstler halten.“
Der Gedanke schien ihn zu belustigen.
„Nun ja“,
lächelte er,
„de facto werden Sie etwas Ähnliches sein.“
„Darüber hinaus erhalten Sie ein großzügiges Spesenkonto in Dollar. Ich weiß, eine genaue Abrechnung ist unter diesen Umständen nicht möglich. Normalerweise werden Sie damit mehr als gut auskommen. Aber denken Sie auch daran, hin und wieder sind unvorhergesehene Ausgaben sogar lebensnotwendig. Sie wissen schon, was ich meine.
Ihr Schlussbericht geht an mich, und zwar nur persönlich hier abzugeben. Zeigen Sie ihn niemandem, auch keiner Amtsperson!
Und erzählen Sie alles, so wie Sie es erleben, in Ihren Worten, auch wenn es scheinbar nichts mit dem Aufzuklärenden zu tun hat. Das Letzte, was ich sehen will, wäre eine dieser stinklangweiligen Auflistungen im Behördenjargon.
Die nötigen Unterlagen erhalten Sie nebenan im Vorzimmer. Dann kann ich Ihnen nur noch viel Glück wünschen. Enttäuschen Sie uns nicht!“
Cuevas konnte nicht ahnen, wie sehr sich sein Leben ändern und welch großartige Zeit damit für ihn beginnen sollte.