Читать книгу Matis Reise in den Bauch der Erde - Jens Poschadel - Страница 5
Die Taufe
ОглавлениеEs folgte ein Abschnitt der Reise, den ich gern verschwiegen oder noch lieber vergessen hätte. Ich werde ihn jedoch, der Vollständigkeit halber, kurz erwähnen.
Sobald ein Reisender erstmals in seinem Leben den Äquator überquert, wird er in aller Regel einer Taufzeremonie unterzogen. Zu meiner Bestürzung legte die Besatzung unseres Schiffes allergrößten Wert auf diese Tradition. Ich schaute mich unter meinen Mitreisenden um, doch hatte ich auch kurz vor Erreichen der magischen Linie keinen Schimmer, mit wem gemeinsam ich die kleine Zeremonie anzugehen haben würde. Eine akribische Durchsicht der Lebensläufe aller offiziell an Bord Anwesenden ergab dann leider, dass ich der einzige Kandidat war. Das hatte ich nicht erwartet. Wenigstens Ralfii oder einer der vielen wissenschaftlichen Helfer hätte doch mein Schicksal teilen können. Aber nein, alle ließen mich allein mit dieser unschönen Angelegenheit und schlimmer noch: sie bereiteten mich mit vielen kleinen Anekdoten geradezu liebevoll auf mein bevorstehendes Martyrium vor. Immer wieder streute man zum Beispiel beim Abendessen ein paar Geschichten darüber ein, für wie viel Freude und gute Laune doch der Brauch auf den vorangegangenen Forschungsfahrten gesorgt hatte. Außer bei den Täuflingen, nahm ich an.
In den Träumen jener Nächte wurde ich nicht selten kielgeholt. Aber so weit würden sie doch nicht gehen. Oder? Die Sache selbst ertrug ich wie ein Mann. Schon beim Anblick der beschwingten Gesichter meiner lieben Mitreisenden in der morgendlichen Messe war mir klar, dass es an diesem Tag geschehen würde. Ich schlüpfte also in meine ältesten Klamotten, setzte mich wie meditierend im Schneidersitz auf das Sonnendeck und hoffte insgeheim, dass ich mich nicht allzusehr blamieren würde. Irgendwie musste ich dabei auch an Karl denken, um dessen Willen ich mich wie ein Mann in mein Schicksal fügen wollte. Um ihn nicht dem Spott seiner Kollegen auszusetzen. Weil er ein Weichei großgezogen hatte. So ein Unsinn!
Jedenfalls saß ich wie beschrieben auf Deck, kehrte mein Äußeres nach innen und ließ mich von der Sonne brutzeln. Meine Augen hielt ich geschlossen: einerseits um sie vor der gleißenden Äquatorsonne zu schützen, andererseits damit ich dem Verderben nicht auch noch ins Gesicht sehen musste. Dann ging alles ganz schnell. Zwei Paar Gummisohlen näherten sich mir von hinten, leise quietschend wie die Gelenke hoch betagter Scharfrichter. Heimliches Gewisper, unterdrücktes Kichern. Der Himmel verdunkelte sich, es roch nach staubiger Erde und Schiffslagerraum. Sie hatten etwas über meinen Kopf gezogen, einen Kartoffelsack vermutlich. Schon jetzt war ich froh, nicht meine guten Sachen angezogen zu haben.
Man hatte also zwei von ihnen geschickt. Gut so, denn den kleinwüchsigen Kerl, der mich mit seinen dünnen Armen umklammert hielt, hätte ich locker über Bord befördern können. Das verhinderten leider zwei schraubstockartige Pranken, die meine Hände auf den Rücken bogen, um sie dort zu fesseln. Ich war auf das Schlimmste gefasst. Doch was wäre, wenn meine Vorstellungskraft gar nicht ausreichte, die anstehenden Gemeinheiten zu erahnen? Es half nichts, ich musste da durch. Ich war sicher, Karl oder wenigstens Heinz würden schon dafür sorgen, dass die Taufe nicht wirklich gefährlich geriet. Aber nun weiter mit den beklagenswerten Ereignissen jenes wunderbar windstillen Sonnentages.
Werner packte mich, verschnürt und grunzend wie ein angehendes Spanferkel, auf seine breiten Schultern. Ralfii folgte uns, sein höhnisches Gackern erinnerte mich an ein schadenfrohes Hühnchen. Während ich noch darüber grübelte, ob Geflügel wohl in der Lage war, Schadenfreude zu empfinden, schafften sie mich auf das Fischereideck, auf dem zu anderen Zeiten tonnenweise Fisch zappelte. Im Namen der Forschung sein Leben aushauchte. Jetzt zappelte ich in meinem Kartoffelsack, während in einer sicher seit Stunden der prallen Sonne ausgesetzten Blechtonne Fischinnereien und andere sorgsam für diesen Anlass zurückgelegte Küchenabfällen beschaulich vor sich hin gärten. Ein messerscharfer Gestank ließ mich Konsistenz und Reifegrad der blubbernden Masse ahnen, bevor mich Ralfii von meiner Kopfbedeckung befreite.
Nachdem er dies getan hatte, schauten meine im grellen Sonnenschein blinzelnden Augen in die Gesichter von 15 grunzenden Männern der Besatzung und zehn johlenden Wissenschaftlern. Von der Sichtblende befreit und dementsprechend natürlich ahnend, was in Kürze geschehen würde, spürte ich, dass sie ein Tau um meine Füße banden. Karls Stimme murmelte derweil eine allzu leise und absolut unbefriedigende Entschuldigung. Man hätte ihn dazu genötigt oder so. Blödsinn. Ich war entsetzt. Beinahe noch härter traf mich, während ich mit den Füßen am Beladungskran und mit dem Kopf über der unbeschreiblich stinkenden Abfallbrühe baumelte, der Anblick des in eine Art Talar gehüllten Smutjes. Er hatte also nicht nur für die Füllung des Taufbeckens gesorgt, er würde auch noch selbst den Zeremonienmeister geben. Und ich hatte gedacht, Heinz sei mein Freund!
Eine Viertelstunde und drei schön gemütliche Eintauchungen in die gärende Ausgeburt menschlicher Schadenfreude später befand mich eine salbungsvoll daherplaudernde Schiffskochstimme für äquatorgetauft. Ich versuchte verzweifelt, durch den in meine Nase und den Mund eindringenden Schleim hindurch ein wenig möglichst unverbrauchten Sauerstoff in die Lungen zu pumpen, als ich durch die Fischlebern in meinen Ohren hindurch etwas vernahm, das sich anhörte wie: „Man möge den Täufling nun für sein weiteres Leben wappnen!“
Kurzfristig war ich völlig ahnungslos, was das nun schon wieder bedeuten mochte, doch bald entleerten zwei mir nicht namentlich bekannte Matrosen den Inhalt eines wunderbar flauschigen Daunenkopfkissens mitten in den atemberaubend frischen Luftschwall hinein, der sich auf den Weg in meine Atmungsorgane begeben hatte. Diese äußerliche Daunenschutzschicht sollte sich wie eine Rüstung um meinen verwundbaren Knabenleib schmiegen. So jedenfalls sah es der Brauch vor. Die letzte der kleinen, hauchzarten Federn hustete ich kurz vor unserer Ankunft auf der Feldstation im Hochland Zentralbrasiliens aus. Ich kann gar nicht beschreiben, wie wohltuend es sich anfühlte, als mich der harte aber immerhin lauwarme Strahl des Deckreinigungsschlauches traf, während ich noch immer über dem Tor zur Hölle baumelte. Schon kurze Zeit später fühlte ich mich wie neu geboren. Die komplette Schiffsbesatzung (sogar der selten sichtbare Kapitän) wie auch alle Wissenschaftler hatten mir anerkennend auf die Schultern geklopft. Werner hatte mich angestrahlt und mir, nicht ohne Schadenfreude und mit einem hämischen Blick auf den betreten zu Boden sehenden Ralfii berichtet, dass schon gestandene Männer während der Zeremonie um Gnade gewinselt hätten.
Meine Brust schwoll richtig an, als mein Vater auf mich zu trat und mir kräftig die Hand schüttelte, während er mir wortlos anerkennend auf die Schulter klopfte. Als letzter Mann in der Prozession kam Heinz an die Reihe. Er zerquetschte meine Hand beinahe, während er bekundete: „Ich mache das nicht für jeden. Kannst stolz drauf sein, mien Jung. Ich bin jedenfalls saumäßig stolz darauf, dein Kumpel zu sein. So, und jetzt lass uns was essen gehen, bevor wir noch vom Fleisch fallen oder hier das Flennen anfangen. Die Nummer hat mich bannich hungrig gemacht. Und wie steht es mit dir? Isst du einen Happen mit, Kerl? Oder haste in der Tonne da schon zu viel genascht? Ich hab die Leckerbissen übrigens extra für dich zurückgelegt.“ Das allgemeine Gelächter tat jetzt gar nicht mehr weh. Heinz und ich schlenderten nebeneinander her unserer wohl verdienten Currywurst entgegen, während Werner mein Taufbecken komplett über die Reling beförderte.
Während der letzten Tage unserer Überfahrt erfuhr ich, dass das Schiff die Strecke viel schneller hätte zurücklegen können. Wir waren jedoch in einem leichten Zickzack-Kurs geschippert, um unterwegs (vor allem bei Nacht, deshalb hatte ich es gar nicht mitbekommen) an vorher festgelegten Punkten Planktonproben zu fangen. Ich wollte mich ein wenig nützlich machen und half den Wissenschaftlern, die Proben grob zu sortieren und einzulagern. Die Fischereibiologen Klaus und Christian zeigten mir, wie ich Fischlarven und die einzelnen Krebschenarten voneinander unterscheiden konnte. Ich verbrachte viel Zeit mit den Jungs und lernte eine ganze Menge sinnvolles Zeug. Das machte richtig Spaß und war damit irgendwie vollkommen anders als in der Schule.
Während ich immer neue Krebsfamilien zu unterscheiden lernte, dachte ich oft daran, was von alledem ich wohl Lu erzählen würde. Ob sie sich das Leben hier an Bord und meine wissenschaftliche Arbeit überhaupt vorstellen konnte? Sie war gut in Bio, aber was hatten wir da bisher schon gelernt? Den Kreislauf des Regens. Toll. Den kannte ich doch bereits seit dem Kindergarten....Als ich eines Vormittags während unserer Kaffeepause mit Christian und Klaus an Deck ging, entdeckte ich auffällig viele Möwen am westlichen Horizont. Ich holte mein Fernglas aus der Kajüte um zu überprüfen, ob da vielleicht ein weißer Pottwal blies. Ich konnte nichts dergleichen ausmachen. Bei ganz genauem Hinsehen aber sah ich einen dunklen Streifen, der in der Ferne das Wasser zu begrenzen schien.
War es möglich...niemand hatte mich darauf vorbereitet, mir angekündigt, wann es soweit sein würde. Unruhe brodelte in mir auf, ich hastete die schmale, weiß gestrichene Eisentreppe zur Brücke hinauf. Wieder blickte ich durch mein Glas Richtung Westen und meinte, eine deutliche Linie zu erkennen. So ähnlich müssen sich Kolumbus und seine Leute gefühlt haben. Sie hatten sich zwar ein wenig mit ihrem Ziel geirrt (und ich hoffte, dass wir das nicht getan hatten), aber dieses durch den ganzen Körper krabbelnde Entdeckergefühl muss doch ganz ähnlich gewesen sein. Ich umarmte meinen Vater, der zufällig auch auf der Brücke stand und rannte zur Kombüse, um Heinz und allen anderen Seeleute, denen ich auf meinem Weg zu ihm begegnen würde, von dem baldigen Erreichen unseres vor ein paar Tagen noch unvorstellbar fernen Zieles zu berichten.
Als echter Hamburger konnte ich von Rios Hafen nur enttäuscht sein. Ich hatte mit Tausenden riesiger Containerkräne gerechnet, dem Glanz der Metropole angemessen. Pustekuchen. Den Abschied von der Mannschaft brachte ich rasch und voller Reiselust hinter mich. Als es jedoch galt, mich von Heinz zu verabschieden, blubberte es doch ganz ordentlich in meinen Augen. Der letzte Rat des Weltmannes Heinz an den Jungspund Mati lautete ungefähr so: „Du machst das schon! Ganz sicher treffen wir uns irgendwann mal wieder, wirst schon sehen. Dann erzählst du mir deine Abenteuer, abgemacht? Also, gute Reise und allzeit ne handbreit Wasser unterm Kiel! Pass gut auf dich auf. Und denk an meine Worte: Finger weg von Frauen mit schwarzen Augen und zu vielen schwarzen Bohnen. Die einen fressen dich von innen her auf, die anderen verspeisen dich mit Haut und Haaren.“