Читать книгу Matis Reise in den Bauch der Erde - Jens Poschadel - Страница 6
Ein Tag in Rio
ОглавлениеDer Rest der Mannschaft war zu beschäftigt mit dem Löschen der wissenschaftlichen Ausrüstung, um mich gebührend zu verabschieden. Gut so. Ich kletterte von Bord und machte meine ersten Brasilien-Fotos. Es war ziemlich warm, aber die Wärme empfand ich nicht als unangenehm. Dank der frischen Meeresbrise war die Luft frisch und nicht sonderlich schwül. Es roch nach Schiffsdiesel, Fisch, Salzwasser, Früchten und auf jeden Fall ordentlich fremd. Nach Abenteuer eben.
Ich sah mich um. Der Hafen war quirlig und betriebsam. Dunkelhäutige Menschen trugen Lasten umher, saßen auf Kisten, beäugten uns kritisch und machten offenbar Witze über die Neuankömmlinge. Sie entblößten weiße Zähne, tranken klare Flüssigkeiten aus Glasflaschen oder spuckten in die Gegend. Unser Schiff legte ab, nachdem es uns abgesetzt und Proviant aufgenommen hatte. Heinz stand an der Reling und streckte den rechten Daumen in die Höhe. Ich fühlte mich ein wenig verlassen, doch das gab sich, als Karl mir über den Kopf strich und mir seinen Arm auf die Schultern legte. „So, Mati, wir sind angekommen. Morgen sehen wir uns Rio an, übermorgen reisen wir weiter nach São Paulo. Wenn ich meinen Vortrag gehalten habe, werden wir Leute und Material auf zwei bis drei Autos verladen und zur Feldstation nach Posse fahren. Die Reise wird dir gefallen. Sie dauert etwa zwei Tage und man sieht schon einiges von Brasilien. Zum Ende der Fahrt wird zwar alles in roten Staub gehüllt sein, aber ich werde zusehen, dass wir vorn fahren. Du bekommst schon einen Eindruck vom Land, wenn wir durch die Dörfer brettern.“
Karl benutzte Worte wie „brettern“, weil er vermutete, so würden sich junge Leute unterhalten. Das ließ ihn älter wirken, doch irgendwie auch fürsorglich und es passte zu seiner mitunter tollpatschigen Art, mir seine Zuneigung zu bekunden. Wir fuhren zu unserem Hotel im Stadtteil Ipanema, stellten unsere Taschen in ein Zimmer mit Blick auf einen wuseligen Marktplatz und entschieden uns, den Abend am Strand zu verbringen. Auf dem kurzen Weg ans Wasser erteilte mir Karl Instruktionen, wie ich mich in brasilianischen Großstädten zu verhalten hatte. Es sei gefährlich dort, ich solle keinen Schmuck tragen, meine teure Kamera nur am Tage und nicht für jedermann sichtbar bei mir führen. Manchmal behandelte er mich echt wie ein kleines Kind. Naja, so müssen Väter wohl sein. Ich würde also ihm zuliebe schweren Herzens ein paar Tage lang auf mein Brillantdiadem verzichten.
Unser Strandspaziergang war cool. Wir aßen gegrillten Fisch und ein paar andere leckere Sachen an einer Imbissbude. Während ich den Surfern in der Dünung zuschaute, hatte Karl irgendein Problem mit seinem Hals. Vielleicht trainierte er bereits für unsere Höhlentouren. Jedenfalls bemühte er sich alle paar Minuten, den Kopf wie eine Eule um 180 Grad zu verdrehen. Natürlich klappte das nicht und er musste mit dem Oberkörper nachhelfen. Bei seinem ungefähr fünften Versuch bemerkte ich, dass sein Blick einem auf drei kaffeebraune Hautfleckchen verteilten, atemberaubend minimalistisch gehaltenen Bikini folgte. „Seit wann interessierst du dich denn für Mode?“ Karl fand meine Frage offenbar keiner Antwort für würdig. Anstatt etwas zu erwidern, schlürfte er von dem Moment an still seinen Caipirinha und blickte stur aufs Meer hinaus, als hätte man ihm Scheuklappen angelegt. Ich dachte an Heinz´ Abschiedsworte, dann an einen alten Song, in dem die Zeile „she´s a maneater“ vorkam und mit einem Male war mir sehr bewusst, dass ich mich erst ganz am Anfang meiner Reise in die Welt der Erwachsenen befand. Musste ich mir um Karl etwa ernsthafte Sorgen machen? Wollte Lu mich trotz ihrer alles andere als schwarzen Augen eigentlich nur aufessen? Ich nahm mir vor, an diesem Abend darum zu beten, dass die überhand nehmende Verwirrung bald wieder nachließ.
Anstelle von Klarheit bescherte mir die folgende Nacht wirre Träume. Ich reiste über staubige Waschbrettpisten, durch Wellblechdörfer mit unscharfen Konturen. Auf baumbeschatteten Steinbänken am Rande hitzeflirrender Marktplätze saßen beängstigend dicke, mit schwarzen Augen hungrig nach Frischfleisch ausschauende Frauen. Kleine, dunkelhäutige Männer standen in einer Schlange vor einem großen holzfeuerbeheizten Kochtopf an. Es roch verführerisch nach Rindereintopf oder so. Lu saß neben mir im Auto, streichelte meinen Kopf und sagte, alles würde gut werden. Ganz nebenbei überprüfte sie den Fleischgehalt meiner Oberarme. Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter und gestand ihr, dass ich den Durchblick verloren hatte. Gestern erst hatte meine Welt noch aus Volleyball, Baumhaus und Spaß mit den Jungs bestanden. Ok, ein bisschen Schule kam auch darin vor. Aber plötzlich, mit einer kleinen Reise, sollte diese Beschaulichkeit von schwarzen Bohnen, männerfressenden Frauen und möglicherweise beängstigenden Höhlenlebewesen aus den Angeln gehoben werden. Ich bat Lu, mir das alles zu erklären. Doch Lu antwortete mir nicht, sie war offenbar zu sehr in ein Kochbuch mit Bratenrezepten vertieft. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie froh ich war, als am Morgen Karls Handy klingelte.
Wir verabredeten uns mit Ralfii zu einer Sight-Seeing-Tour nach dem Frühstück. Die übrigen Wissenschaftler waren an Bord des Schiffes geblieben, leider. „Warum ist denn Ralfii in einem anderen Hotel abgestiegen?“ Hoppla, nun war mir sein Spitzname doch rausgeflutscht. „Ralfii?“ Karls knapp formulierte Frage bestand zu ungefähr gleichen Teilen aus Neugier und Vorwurf. „Ist Ralf eigentlich ein guter Kollege von dir? Ich meine seid ihr so ein bisschen befreundet?“ „Du magst ihn nicht, oder? Um es mal freundlich zu formulieren: ich bin froh, dass jemand von der Uni mitgekommen ist. Fachlich wie menschlich hätte ich mir eine andere Begleitung gewünscht. Ralf stapft auf beiden Ebenen gern in das eine oder andere Fettnäpfchen. Aber ich möchte, dass ihr beide miteinander auskommt. Spätestens in den Höhlen werden wir alle vollkommen aufeinander angewiesen sein.“
War es wirklich so offensichtlich, dass mir Ralfii auf den Senkel ging? Oder hatte Karl feinere Antennen für Zwischenmenschliches als ich es diesem manchmal leicht verpeilten Vollblutwissenschaftler zugetraut hatte? Mir gefielen seine Loyalität und Ehrlichkeit. Bei Karl wusste ich immer, woran ich war. „Erinnerst du dich daran, dass Ralf sich auf dem Schiff gewünscht hat, eine der neuen Welsarten würde nach ihm benannt? Irgendetwas mit A... ralfii. Und da Ralf ja eher klein und unscheinbar geraten ist, dachte ich, diese dolle verniedlichende Form seines Namens passte ganz gut als Spitzname. Seitdem heißt er für mich Ralfii.“
„Das ist wirklich gut.“ Zu meiner großen Erleichterung musste Karl herzhaft lachen. Wie Verschwörer kamen wir überein, den Namen unter uns beiden zu verwenden. Wer von uns ihn – auch aus Versehen – ausplauderte, musste zehn Euro in die Reisekasse einzahlen. Wir besiegelten unseren Deal mit einem männlichen Handschlag inklusive Augenzwinkern und schlurften einem ausgesprochen leckeren Frühstück entgegen. Inmitten der üblichen Frühstücksbuffetverdächtigen thronte eine gigantische Obstplatte, die von einer in mundgerechte Stücke zerteilten und anschließend akribisch rekonstruierten Ananas gekrönt wurde. Karl organisierte uns zwei nicht zu toppende Obstsalatmitjoghurtundmüsliteller und ich entdeckte ein zufriedenes Funkeln in seinen Augen. Nach seinem ersten Schluck des gleichzeitig sehr vertraut und doch fremdartig duftenden Kaffees entschlüpfte seinem Mund ein deutlich anerkennendes „Wow!“. Spätestens in diesem Moment war ich sicher, dass Karl und mir ein toller Tag und weit darüber hinaus sehr wahrscheinlich vier legendäre Wochen bevorstanden.
Der Tag in Rio brachte uns einen Besuch auf dem Zuckerhut mit dem Ausblick auf alle Strände, die Stadt und ihre zum Teil an steile Berghänge geklebten Slums mittendrin. Man hatte uns davor gewarnt, die Slums zu besuchen und es fiel uns nicht schwer, diesem Rat zu folgen. Stattdessen besichtigten wir den gigantischen Christus, verdösten die heiße Mittagszeit in irgendeinem klimatisierten Museum und schlenderten gegen Abend die belebten Strände entlang. Ich schaute den ziemlich gut Fußball und Volleyball spielenden Leuten zu, während neben Karl nun auch Ralfii den eulenartigen Höhlentourvorbereitungen nachging. Ich hoffte sehr, dass nicht mindestens einer der beiden mit verrenktem Hals im Krankenhaus landen würde, bevor die Reise eigentlich los ging. Vor dem Abendessen gingen wir zurück ins Hotel, um zu duschen. Während Karl unter dem dampfenden Wasserstrahl fröhlich trällerte, schaute ich hinaus auf den noch immer belebten Marktplatz.
Die Buden waren verschwunden, dafür bot sich meinen staunenden Augen eine fremdländische, ja exotische Szenerie dar. Um eine Art Arena hatten sich kreisförmig Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in weißen Baumwollanzügen auf den Boden gesetzt. Manche von ihnen hielten Stöcke in den Händen, einige standen um den Kreis der Sitzenden herum. Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass die freie Fläche in der Mitte eher oval als kreisförmig war. An einer Stirnseite des Ovals geschah, was meine Aufmerksamkeit überhaupt auf den Marktplatz gelenkt hatte: ein paar der jungen Leute trommelten. Wenn ich die Augen schloss und nur dem hypnotisierenden Rhythmus lauschte, sah ich einige um ein Lagerfeuer tanzende Buschleute inmitten der Kalahari.
Alsbald beschleunigte sich der Rhythmus der Trommeln. Ein junges Mädchen und ein etwa gleichaltriger Junge traten in den Ring. Sie führten erst langsame, mit dem Beat der Trommeln schneller und akrobatischer werdende Kampfbewegungen gegeneinander aus. Dabei waren die Schläge und Tritte jedoch nur angedeutet, keiner der beiden traf seinen Gegner tatsächlich. Vielmehr wirkten ihre anmutigen Bewegungen, die Kreisel und Drehungen, wie ein aggressiver und doch harmonischer Tanz zweier grundsätzlich übereinstimmender Kinder. Es schien, als hätten die Gegner verabredet, sich nicht zu verletzen. Der sich stetig wiederholende und dabei immer weiter beschleunigende Klang der Trommeln und die Harmonie des kampfartigen Tanzes verzauberten mich. Ich hatte das Gefühl, wie ein deutscher Adler über jenem Marktplatz in Ipanema zu kreisen.
So unvermittelt wie der Tanz begonnen hatte, endete er. Beide Akteure sprangen aus der Arena. Zwei ältere Mädchen mit etwa zwei Meter langen Bambusrohren in den Händen ersetzten sie sogleich. Sie nahmen den bereits wilden Rhythmus in ihre drahtigen Körper auf und übertrugen ihn auf ihre Füße, auf den staubigen Boden. Wilde Drehungen, Angriffe, eingesprungene Seitenwechsel, angedeutete Bambushiebe, spektakuläre Ausweichmanöver und Angriffsfinten folgten. Beinahe unvorstellbar aber Tatsache, dass der Trommelschlag sich immer noch weiter beschleunigte. Die Hände mussten den Trommlern bereits glühen, doch sie wurden schneller, immer schneller. Und mit ihnen beschleunigte sich der Tanz, der Kampf, das wilde Leben in den Körpern der jungen Menschen auf einem staubigen Marktplatz hinter unserem Hotel an einer kleinen Gasse mitten in Rio de Janeiro.
Der Anblick meines denkerstirnigen, ansatzweise bierbäuchigen Vaters riss mich schlagartig aus meiner Verzauberungsstarre. „Was schaust du dir da an?“ Karl richtete das um seine Hüften geschlungene Handtuch und trat ans Fenster. „Oh, Capoeira. Das ist so eine Art Kampftanz und stammt ursprünglich aus Angola oder so. Nennt sich dort Zebratanz. Der wurde mit den afrikanischen Sklaven nach Brasilien eingeführt. Das ist krass, oder?“ Wieder so ein Wort, das, aus dem Mund meines Vaters perlend, jegliche Jugendlichkeit verlor. „Komm, wir haben noch Zeit bis zum Abendessen, das sehen wir uns draußen weiter an.“ Ich verzichtete auf meine Dusche und wir beide beeilten uns trotz der noch immer zwischen den Häusern hängenden Tageshitze, auf den Marktplatz zu gelangen. In sicherer Entfernung (Karl hatte panische Angst davor, bei irgendwelchen Veranstaltungen mitmachen zu müssen) setzten wir uns auf die Lehne einer Parkbank.
Mittlerweile kampftanzten zwei junge Männer; die Geschwindigkeit des Trommelrhythmus wie die Bewegungen der Kontrahenten waren für meine Begriffe nicht mehr steigerbar. Als die inzwischen sämtlich stehenden Zuschauer ganz unvermittelt in einen dröhnenden, die Musik begleitenden Singsang ausbrachen, vereinigten sich die zahllosen, seit dem Beginn der Veranstaltung auf meinem Körper umherkriechenden Gänsehäute zu einem kompletten Federkleid. Kein Zweifel: Rio de Janeiro ähnelte Hamburg entgegen meiner anfänglichen Vermutung doch nur sehr oberflächlich.