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Mitten im Nirgendwo

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Während der runzelige Indio seine Zigarette drehte, mischte er einige mäusekötelartige Krümel unter den Tabak. Der Rauch roch würzig und ein wenig nach Baumharz. Sein hellbrauner Lendenschurz baumelte dicht über der Wasseroberfläche des munter daher plätschernden Baches. Der Blick des Mannes war auf eine tiefe Stelle unter den Wurzeln eines Baumes gerichtet. Seine linke Hand führte unerträglich langsam die bald in der Abenddämmerung aufglimmende Zigarette an von der Sonnenglut gewellte Lippen. Seine rechte Hand schnellte hervor, tauchte platschend in das bis auf den sandigen Grund des Gewässers vollkommen durchsichtige Wasser ein und zog einen silbrigen, heftig um sein Leben zappelnden Fisch daraus hervor. Das Tier war nicht besonders groß, ich schätzte es auf 20 cm und vielleicht etwas mehr als 200 Gramm. Ein typisches Rotauge, würde ich meinen.

Der Indio richtete sich auf, drehte sich um und einige Worte verließen seinen Mund gemeinsam mit einem Rest Zigarettenrauch. Während er zu mir hinüber lächelte, bemerkte ich einige schwarze Lücken zwischen den ansonsten weißen Zähnen. Das überraschte mich angesichts des offensichtlich hohen Alters des Mannes nicht. Und es überraschte mich ebenfalls nicht, dass ich verstand, was der olivhäutige Mann sagte. Eine Art Babelfisch in meinem Kopf flüsterte die Bedeutung der mir eigentlich unbekannten Worte: „Ikuma wird unseren Heimweg bewachen, wenn wir ihr diesen Fisch bringen, mein Sohn.“

Nachdem er die Worte gesprochen hatte, biss mein Vater dem inzwischen ruhiger gewordenen Fisch den Kopf ab und spuckte ihn in das Wasser. Dunkelheit schwappte über uns herein, in nicht allzu großer Entfernung grollte ein offenbar hungriger Jaguar. Trotz der noch immer in den Büschen lauernden Tageshitze rollte sich eine Gänsehaut meinen nackten Rücken hinab bis zu meinem Lendenschurz. Ein Heer neongelb funkelnder Glühwürmchen half dem mondlosen Sternenhimmel, unseren Pfad zu erleuchten. Die Zigarette meines Vaters war zwischen seinen Lippen erloschen. Unvermittelt wich das Dickicht des Buschlandes auseinander und ein gigantisches schwarzes Loch trat an die Stelle der uns umgebenden Hügellandschaft. Abermals vernahm ich jenes, das Mark meiner Knochen in Schwingungen versetzende Grollen. Das klang in meinen Ohren, als grollte es direkt aus dem Loch, das sich vor uns aufgetan hatte. Ja, als grollte die Erde selbst, als dränge dieses dumpfe Grollen durch ihren Mund, den sie uns, zahnlos und weit aufgerissen, entgegenstreckte. Es hörte sich tatsächlich an, als entstünde das markerschütternde Grollen im tiefsten Inneren der Mutter Erde selbst.

Natürlich wusste ich genau, was nun zu tun war. Unser Weg führte in den Schlund der Erde hinein, durch ihn hindurch, auf die andere Seite des Berges, wo sich unser Dorf befand. Den Fisch jedoch, den Zoll für eine sichere Durchquerung Ikuma`s Reiches hatte ich in einer kleinen Nebenhöhle auf dem Opferstein abzulegen, wie es der Brauch gebot. Obwohl schlank und drahtig, war mein Vater doch zu groß, um an den Altar zu gelangen. Er half mir, mich mit Schlamm einzureiben. Anschließend wand ich mich durch die enge Felsröhre um meinen Dienst zu tun. Ich kannte mich gut in der kleinen Felskapelle aus, daher fand ich den von hellblau leuchtenden Algen überwucherten Opferstein sofort. Abermals erklang das dumpfe Grollen, diesmal so laut und alles durchdringend, als stünde das wilde Tier direkt hinter mir in der winzigen, spärlich erleuchteten Grotte. Panik ergriff mich mit knöchernen Klauen, ich bekam furchtbare Angst um mein Leben und um das meines Vaters. Ikuma hatte doch ihren Tribut erhalten, sollte nicht eigentlich alles in bester Ordnung sein?

Wieder erscholl ein Grollen, betäubend laut, nah und aus dem Rachen der Erde wiederhallend. Ich spähte durch die enge Felsröhre hindurch nach meinem Vater. Höchstens drei Armlängen hinter ihm funkelten zwei gelbgrüne Punkte. Im Licht der Sterne glaubte ich, die Konturen eines zum Sprung ansetzenden Jaguars zu erkennen. Ich meinte auch, seine dunklen Punkte auf dem orangefarbenen Fell zu sehen. Während er sich zum Jagdsprung duckte, grollte er erneut, drohend, beängstigend laut, im Flug noch hallte sein Ruf aus dem Mund der Erde tausendfach zurück, während es in seinem aufgerissenen Maul rein weiß glitzerte. „Vater, Vater, so pass doch auf!“

Benommen blickte ich mich um. Finsternis, soweit das Auge reichte. Ich spürte sanfte Vibrationen. Ich verfolgte sie durch meinen Körper, das Bettgestell entlang, über den hölzernen Fußboden, ein weiteres Bettgestell hinauf bis in den lauthals schnarchenden Leib meines Vaters. Ich war niemals zuvor so sehr beruhigt gewesen, Karl schnarchen zu hören.

„Komm schon, steh endlich auf, du Langschläfer! Es wird gleich hell und wir haben noch eine anstrengende Tagesreise vor uns. Wenn wir vor Sonnenuntergang in der Feldstation sein wollen, müssen wir in spätestens einer Stunde aufbrechen. Hast du etwas Aufregendes geträumt?“ Nicht, dass ich Karl wirklich einen Jaguar an die Backe gewünscht hätte, aber ein freundliches „guten Morgen“ hätte es nach dieser Nacht auch getan. „Ich habe geträumt, du wärest ein alter Indio, der von einem Jaguar gefressen wird.“ „Oh, für die Mutation in einen Ureinwohner bin ich vermutlich tatsächlich zu alt, aber das mit dem Jaguar liegt im Bereich des Möglichen. Ich will dir diesbezüglich aber lieber nichts versprechen. Mach´ schon, jetzt werden erst einmal wir den Jaguar verspeisen. Und zwar auf Toast. Komm in die Socken, kleiner Mogli.“

Ich musste bereits ein paar hundert Kilometer verdöst haben, da bog unsere kleine Kolonne auf eine kaum befahrene Landstraße ab. Der Asphalt war hier deutlich besser als auf der Schnellstraße zuvor. Von nun an passierten wir nur noch selten kleine Städte. Die Gegend wurde ländlicher, die Erde noch intensiver rot und die Dörfer bestanden aus garagenähnlichen Hütten mit Wellblechdächern. Sie säumten die Durchfahrtstraße in zwei Reihen. Auf staubigen Plätzen spielten Kinder Fußball. Unter den weit ausladenden Kronen der Ficus-Bäume lagen dösend unansehnliche Hunde im Schatten. Unter einem Mangobaum hatten Cowboys ihre drei Pferde an einen Holzpfahl gebunden. Die finster dreinblickenden Männer saßen auf Stühlen vor einer kleinen Bar, ihre braunen Hüte gegen die grell herab funkelnde Sonne weit in die Stirn gezogen. Auf dem Tisch vor ihnen standen angeschlagene, mit goldgelber Flüssigkeit gefüllte Gläser. Eine bemerkenswert runde Frau trug einen Wäschekorb die Straße entlang. Die krasse Mittagshitze ließ selbst die Fliegen träge umhersurren. Nur der schmale Schatten unseres Kombis flitzte forsch durch verschlafene Dörfer, entlang angrenzender Felder und durch das immer dichter wuchernde, vertrocknete Buschland.

Eine bereits tief stehende Sonne sah uns auf einen staubigen Feldweg abbiegen. Zum Glück hatte es Gustavo geschafft, sich als erster der Fahrer auf die letzte Strecke der Reise zu machen. Als ich mich umblickte, verstand ich, was Karl ein paar Tage zuvor gemeint hatte: die Insassen des Autos hinter uns bekamen außer rotem Staub nicht viel zu sehen. Die Waschbrettpiste wurde von trockener, wenige Meter hoch gewachsener Buschvegetation gesäumt. Hin und wieder entdeckte ich ein paar Zebu-Rinder zwischen den Sträuchern. Sie schienen niemandem zu gehören. Kleine, bunte Falken jagten, Telefonleitungen als Ansitz nutzend, die von unseren Autos aufgeschreckten Insekten.

Im orangeroten Licht der sich für diesen Tag verabschiedenden Sonne tauchte schließlich das gelbe Gebäude der Feldstation auf. Grüner Rasen umgab das flache, überraschend kleine Gebäude. Eine Art Veranda umrahmte das Haus von drei Seiten. Säulen aus einfachen Baumstämmen trugen das weit über das Steingebäude hinausragende Dach. An diesen Pfosten baumelten Hängematten träge im Abendwind. Vor dem Haus standen vier sonnenbraune Gestalten: das Verwalterehepaar, ihre zottelige Tochter Suvaneci und das brave Hausmädchen Magdalena. Noch bevor Gustavo den Wagen ganz gestoppt hatte, sprang ich von meinem Sitz und landete auf dem warmen, staubigen Erdboden.

Es fällt mir schwer, die Fremdheit meiner Eindrücke zu beschreiben. Klar, ich war mitten in Brasilien angekommen, doch die Umgebung hätte genausogut ein Landstrich auf dem Mars sein können. Alles um mich her roch, klang, staubte und schmeckte wie auf dem roten Planeten. Jedenfalls vermutete ich das, ich bin ja noch nicht dort gewesen. Tauben gurrten in einem fremden Dialekt. Das rote Abendlicht hüllte die Gegend in ein blutiges Laken. Grillen zirpten, als bestritten sie eine Wette darum, welche von ihnen meine Trommelfelle zuerst platzen lassen könnten. Die Sprache der Menschen klang wie Gesang, der Orangensaft schmeckte so lecker, dass ich gern darin gebadet hätte. Die Luft roch staubig trocken, doch bereits auch ein wenig nach abendlich feuchtem Dunst. Sie bewegte sich sanft und duftete nach Kräutern und Abenteuern. Die zentralbrasilianische Abendbrise strich wie Samt über die nackte Haut meiner Arme.

Eine unbezähmbare Entdeckerlust bemächtigte sich meiner. Sie paarte sich mit galoppierender Euphorie, gemeinsam durchstreiften und eroberten beide Empfindungen meinen für jedes Abenteuer bereiten Körper. Die Woge entstand in den Zehen, kribbelte durch die Füße und rollte die Beine hinauf. Dann, sich teilend, ausbreitend und dabei noch verstärkend, raste sie unaufhaltsam und sich abermals vergrößernd durch den Bauch, erfasste das freudig springende, nein: das tanzende Herz. Sie rauschte, vom Herzen mit weiterem Schwung versorgt, an den Ohren vorbei, diese auf ihrem Weg betäubend, um im nächsten Augenblick irgendwo im Hirn laut jubelnd zu zerbersten: in Millionen, den Regenbogen reflektierende Billanten. Ich konnte nicht anders als wie ein kleiner Junge zu gackern, mich um mich selbst zu drehen, zu rennen, einen Baum hinaufzuklettern, durchs Unterholz zu streunen, Tiere aller Arten aufzustöbern, bizarre Früchte und Samen einzusammeln, die Erde anzufassen, diesen tennisplatzroten Sandboden, der staubte, wenn man ihn dem Wind übergab und der einen roten Film auf die Haut legte, durch den hindurch Erobererschweißtropfen sich karminrote Flussläufe gruben.

Matis Reise in den Bauch der Erde

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