Читать книгу Simon Knox und die Prophezeiung Asragurs - Jens Hoffmann - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеPatricia Knox sah dem Zug noch lange hinterher, in den Simon vor ein paar Minuten eingestiegen war. „Was für ein Morgen“, dachte sie und seufzte abgehetzt. Natürlich waren sie wieder einmal viel zu spät dran gewesen. Dennoch hatten sie es, nach dem Überfahren mehrerer roter Ampeln geschafft, dem allmorgendlichen Berufsverkehr ein Schnippchen zu schlagen.
Pünktlich, um 10:23 Uhr, erreichten sie den Bahnhof von Portsmouth Harbour. Und nur wenige Augenblicke später, setzte sich, auf Gleis eins, der Zug, in Richtung Westbury, in Bewegung.
Patricias schlechtes Gewissen, Simon einen Großteil seiner Ferien allein bei Tante Abygale verbringen zu lassen, verflog, nachdem sie erfahren hatte, dass Richard Dawson mit seinem Vater ebenfalls den Sommer in Devon verbringen würde.
***
Abygale Greenwood lebte in einem sehr alten, aber schönen Haus in dem kleinen Fischerörtchen Fiddleton, das sich nur ein paar Meilen östlich der Kleinstadt Ilfracombe, zwischen Strand, hohen Klippen und den Ausläufern des Exmoors in die Landschaft schmiegte. Greenwood Castle, wie sie ihr Zuhause zu nennen pflegte, war ein aus Natursteinen erbautes, altes Gemäuer, mit kleinen Giebeln, einem schiefen Türmchen an der Ostseite und weißen Sprossenfenstern und Türen. Eine wuchtige, hüfthohe und mit Heidekraut bewachsene Mauer, aus groben Felsbrocken, rahmte einen verwilderten Garten ein, der nur durch ein kleines, rotes Tor zu betreten war.
Tante Abygale war eine begeisterte Hobbygärtnerin, auch wenn sich diese Leidenschaft, bei näherer Betrachtung des restlichen Anwesens, scheinbar nur auf die von ihr heißgeliebten Rosen- und Lavendelbeete beschränkte, die eine große Terrasse, an der Südwestseite des Hauses, säumten.
Inmitten eines mit bunten Sommerblumen und hohen Gräsern bewachsenen Gartens, stand eine mehrere hundert Jahre alte, knorrige Eiche, die dem kleinen Anwesen eine verwunschene und mystische Atmosphäre verlieh.
Niemand kannte das genaue Alter von Abygale Greenwood, dieser mitunter etwas schrulligen aber freundlichen und gütigen Dame, da sie auf diese recht unhöfliche Frage, stets das gleiche zu antworten pflegte: „Ach, als wäre das Alter wirklich von Bedeutung. Irgendwo zwischen einhundert und einhundertzwanzig Jahren. Ich fühle mich aber wesentlich jünger“, versicherte sie meist mit einem schelmisch wissenden Augenzwinkern.
Tante Abygale war hellauf begeistert, als sie gegen Mittag der Anruf ihrer Nichte Patricia erreichte, die ihr die Ankunftszeit von Simon in Barnstaple durchgeben wollte.
„15:35 Uhr am Bahnhof. Ach da freu ich mich aber. Ich habe den Jungen ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen“, beschwerte sie sich etwas halbherzig.
„Vielen Dank, Tante Abygale. Du hast wirklich etwas gut bei mir“, bedankte sich Patricia Knox und kurz beschlich sie erneut das schlechte Gewissen vom Morgen.
„Trish, liebes Kind, es ist doch alles in bester Ordnung. Ich freue mich wahnsinnig auf den Jungen“, bekräftigte Abygale Greenwood, rückte ihre Brille zurecht und machte sich nebenbei Notizen auf ihrer wöchentlichen Einkaufsliste.
„Er wird sich hier schon zu beschäftigen wissen, glaub mir“, versicherte sie ihrer Nichte. „Und wenn er dazu noch seinen Freund Richard mitbringt, umso besser, dann kommt hier mal wieder ein bisschen Leben in die Bude“, versicherte sie.
„Den halben Sommer mit so einer alten Schachtel wie mir verbringen zu müssen, das ist doch nun wirklich kein Spaß für einen Jungen in seinem Alter“, fuhr sie fort und schmunzelte in sich hinein.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, ging sie daran, das Zimmer für Simon zu richten und bereitete den Teig für die von ihm so heißgeliebten Blaubeertörtchen vor.
Indes saß Simon im Zug und während er vor sich hin träumte und aus dem Fenster schaute, versuchte er abermals, das Rätsel um das merkwürdige Etwas zu lösen, das ihm am Morgen, unter seinem Zimmerfenster, so unerwartet entgegen blinkte.
Er musste in Westbury und Exeter umsteigen und hatte auf der letzten Etappe seiner Reise einen schönen Fensterplatz mit einem Tisch, auf dem er ein paar Comics und sein Fotoalbum mit den Schiffsbildern ausgebreitet hatte. Aber wirklich konzentrieren mochte er sich darauf nicht. Ihm gegenüber saß ein dicker Mann mit rotem Gesicht und Schnurrbart, der, die Hände auf dem runden Bauch verschränkt und mit von der Nase gerutschter Brille, leise vor sich hin schnarchte.
Simon musste leise kichern und fütterte den kleinen, struppigen Hund, der zur Rechten seines schlummernden Herrchens saß. Die Reste seines Schinkensandwiches, nahm ihm der Hund vorsichtig aus der Hand, um sie dann genüsslich schmatzend zu vertilgen.
Tante Abygale war pünktlich um 15:35 Uhr am Bahnhof von Barnstaple, wo der Zug von Simon, auf Gleis zwei, ohne Verspätung, einfuhr.
Simon sah, wie sie am Ende des Gleises stehend, auf ihn wartete. Er freute sich riesig darüber, sie wieder zu sehen. Wie immer war sie akkurat gekleidet; mit weißer Bluse, deren Kragen durch eine alte Elfenbeinbrosche zusammengehalten wurde, einem beigefarbenen Tweedrock und festem, aber nicht plump anmutendem Schuhwerk. Sie wirkte ein wenig abgehetzt, denn ihr sonst so fest auf dem Kopf sitzender Haarknoten begann sich aufzulösen. Auf der Nasenspitze trug sie, wie so oft, eine kleine Brille, die ihr an einer Kette um den Hals hing, damit sie diese nicht verlor.
Mit offenen Armen kam sie Simon entgegen.
„Junge, schön, dass du endlich da bist“, rief sie und drückte ihn fest an sich. Sie roch frisch, nach Rosen und Lavendel, ganz so wie ihr Garten im Sommer.
„Hattest du eine gute Reise?“, wollte sie wissen.
„Hallo Tante Abygale“, erwiderte Simon freudig und ließ sich von ihr durch die zerzausten, roten Haare wuscheln.
„Ja, es hat alles gut geklappt. Wir waren mal wieder zu spät dran, heute Morgen, aber Mum hat richtig Gas gegeben, damit wir es noch rechtzeitig schaffen“, lachte er ihr entgegen.
„Ich hab schon mit ihr telefoniert und von der wilden Jagd zum Bahnhof gehört“, berichtete Tante Abygale halb lachend, halb kopfschüttelnd.
Sie selbst fuhr ein ziemlich altes Auto. Nicht so schnittig und sportlich wie das ihrer Nichte, sondern offensichtlich fast genauso alt wie sie selbst. So dachte Simon jedenfalls immer dann, wenn er das grau-rostige Gefährt sah. Aber Abygale Greenwood dachte nicht im Traum daran, sich in ihrem Alter noch ein neues Auto anzuschaffen. So fuhren sie also nicht ganz so rasant wie auf der Fahrt am Morgen, von Barnstaple ein paar Meilen nordöstlich nach Fiddleton, wo in Greenwood Castle Simons Sommerferien endlich begannen.
Nach ihrer Ankunft im Haus von Tante Abygale tranken sie Tee, und Simon verputzte ein halbes Dutzend der köstlichsten Blaubeertörtchen, die er je in seinem Leben gegessen hatte. Er zeigte ihr die neuesten Schiffsbilder in seinem Album und sie spielten ein paar Runden Scrabble, bis es Zeit war, zu Abend zu essen.
Nachdem Simon zwei große Portionen Hackbraten verschlungen hatte, saßen sie bis zum Einsetzen der Dunkelheit auf der Terrasse, wo Abygale Greenwood ihrem Großneffen eine ihrer fantastischen Geschichten erzählen musste.
Als belesene und gebildete Frau, hatte sie mit Simons Großonkel, Harold Greenwood, fast die ganze Welt bereist und konnte daher immer wieder neue und vor allem abenteuerliche Geschichten aus nahezu allen Erdteilen zum Besten geben.
Simon hörte fasziniert zu als sie ihm von ihrer Safari in Südafrika erzählte, wo sie mit ihrem Mann und einem Trupp von Großwildjägern auf der Spur von Menschen fressenden Löwen war. Angeblich sei der eine oder andere Teilnehmer dieser Expedition von dem unstillbaren Hunger der Löwen nicht verschont geblieben, schloss sie die heutige Erzählung mit schauerlichem Unterton in ihrer Stimme. Wie viel Handlung seine Großtante ihren ohnehin schon aufregenden Abenteuern hinzudichtete, war Simon ziemlich egal. Er war noch nie jemandem begegnet, der so viele schöne, spannende und fesselnde Geschichten erzählen konnte wie sie. Ihre Südafrika Geschichte brachte Abygale Greenwood dann auf die fantastische Idee, dass Simon und Richie doch in ihrem Zelt campen könnten, in dem sie auf dieser Expedition wochenlang im Busch gelebt hatte. Simon war begeistert. Diese Ferien konnten einfach nur schön werden.
Schon am nächsten Tag machten sich die beiden auf die Suche nach dem Zelt, das in eine Plane gewickelt, irgendwo auf dem Dachboden von Greenwood Castle, zwischen all den vielen Andenken längst vergangener, abenteuerlicher Reisen versteckt war. Simon konnte nur staunen, was seine Großtante über all die Jahre alles zusammengetragen hatte. In der einen Ecke standen imposante Holzfiguren und furchterregende Masken aus Afrika neben kunstvoll geschnitztem Elfenbein. Ein handgearbeitetes Schachspiel aus grüner und weißer Jade, das sie von einer ihrer Reisen nach China mitgebracht hatte, stand auf einem kleinen, mit Gold verzierten, aber ziemlich verstaubten Tischchen, zwischen unzähligen asiatischen Laternen.
Des Weiteren gab es zahllose Schwerter, kunstvoll gearbeitete Dolche und antike Pistolen, die sein Großonkel, nebst einem jetzt mottenzerfressenen Tigerfell, aus Indien und Pakistan mitgebracht hatte.
In einer kleinen, mit eisernen Beschlägen versehenen Truhe, fand Simon vergilbte Land- und Seekarten sowie einen kleinen aufklappbaren Kompass aus angelaufenem Messing, den er zusammen mit einem Fernglas an sich nahm.
„Man weiß ja nie, wozu man diese Dinge noch gebrauchen könnte“, überlegte er.
Nachdem sie das Zelt gefunden und in den Garten geschafft hatten, wo es auslüften sollte, machte Simon sich daran, das rostige Fahrrad, das im Schuppen hinter dem Haus stand, wieder fahrtüchtig zu machen. Viel war an dem alten Rad nicht zu tun. Er flickte den Vorderreifen, gab ordentlich Luft in beide Räder, befreite den Rahmen von Schmutz und Staub und stellte sich den Sattel neu ein. Schließlich plante er mit Richie die eine oder andere Tour durchs Exmoor zu machen.
Einen Teil des Nachmittags verbrachte er mit Tante Abygale in den Rosenbeeten und half ihr beim Unkrautjäten. Die Zeit, in der sie das Abendessen zubereitete, nutzte er, um sich am Strand nach Muscheln und Steinen umzuschauen, die er für sein Leben gern sammelte. Auch wenn er die meisten Steine wieder zurück ins Wasser warf und die Auswahl an Muscheln, die er letztlich mit nach Hause nahm, relativ spärlich ausfiel.
***
„Endlich Mittwoch“, freute sich Simon am nächsten Tag. Richie und sein Vater waren bestimmt schon auf dem Weg nach Ilfracombe, dachte er aufgeregt. Endlich konnte er seinem Freund von dem rätselhaften Fund erzählen, den er vor zwei Tagen gemacht hatte. Vielleicht hatte Richie eine Erklärung für das schuppenähnliche Ding, das ihn, bei jeder weiteren Betrachtung, immer tiefer in seinen Bann zog. Es wirkte heute aber nicht mehr ganz so strahlend und hell wie noch vor zwei Tagen. Er hatte das Gefühl es veränderte sich.
Schnell packte er den Kompass, das Fernglas, etwas Geld und sein mysteriöses Fundstück in seinen Rucksack und stürmte die Treppe hinunter, in die Küche, zu Tante Abygale.
Sie war gerade dabei, Simon ein paar Sandwiches für seinen Ausflug zu machen, als dieser, gut gelaunt, hereingestürmt kam.
„Soll ich dich nicht doch lieber fahren, Junge?“, fragte sie etwas besorgt. „Ich fahre später sowieso noch nach Ilfracombe rein und könnte dich bei Mr. Twiggles Eissalon absetzen.“
„Nein, nein, Tante Aby“, lehnte Simon dankend ab. „Richie wird sein Fahrrad auch dabei haben. Wir wollen vielleicht noch ins Exmoor fahren“, fügte er freudig hinzu.
„Gut, wie du meinst“, seufzte sie. „Aber, dass ihr mir ja vorsichtig seid und nicht zu nah an die Klippen heranfahrt. Es geschehen jedes Jahr aufs Neue schreckliche Unfälle, weil die Menschen, die hier ihre Ferien verbringen, einfach zu unachtsam sind“, ermahnte sie ihn, wickelte die Sandwiches ein und drückte ihm noch einen Apfel in die Hand.
„Also los, schwirr ab! Und vergiss nicht, um sieben Uhr essen wir und du wolltest mit Richard noch das Zelt aufbauen. Sonst wird das heute nämlich nichts mehr mit eurem Safaricamp. Und solltest du Professor Dawson noch sehen, dann bestell ihm bitte schöne Grüße von mir. Richard ist herzlich willkommen. Es macht auch keine Umstände. Ich begreife bis heute nicht, wie man annehmen kann, dass ein Junge von elf Jahren Spaß daran findet, mit seinem Vater, auf allen vieren, durchs Moor zu kriechen, nur um irgendeinen Pilz zu finden“, sinnierte sie vor sich hin.
„Flechte!“, verbesserte Simon sie.
„Was?“, fragte Tante Aby verdutzt nach.
„Er sucht nach einer bestimmten Flechten- oder Moosart, hat Richie mir erzählt.
„Wie dem auch sei“, winkte Abygale ab. „Ob Pilz, oder Moos, oder was auch immer, alles Mumpitz! Kinder sollten ihre Ferien genießen können. Der Ernst des Lebens kommt schon noch früh genug“, beendete sie ihren kleinen Vortrag und verabschiedete Simon, der sich im Nu den Rucksack auf den Rücken schnallte, sich auf sein Fahrrad schwang und davon sauste.
Sie sah ihm lächelnd hinterher und entschied sich, da sie bis zum Tee noch etwas Zeit hatte, ein Mittagschläfchen im Schatten der alten Eiche zu halten.
Simon trat in die Pedale, was das Zeug hielt. Er wollte auf gar keinen Fall zu spät kommen und raste, in halsbrecherischem Tempo, die Küstenstraße entlang. Er ließ das Pier Hotel am Hafen hinter sich und bog links in die Quayfield Road ab. Geradewegs schoss er auf die nächste Kreuzung zu, überquerte die Victoria Street, um dann scharf rechts, in die Highfield Road zu fahren.
Etwas aus der Puste aber pünktlich erreichte er Mr. Twiggles Eissalon, der in der Highfield Road, Ecke Castle Hill lag.
Richard saß bereits auf den Stufen vor Mr. Twiggles Eis- und Süßwarengeschäft. Er hatte sein Fahrrad gegen die Mauer des kleinen roten Klinkerhäuschens, mit dem großen Schaufenster gelehnt. Seinen Rucksack auf den Knien, sah er Simon schon von weitem um die Ecke schießen, während ihm der Duft von frisch gebackenen Schokoladenkeksen, den verschiedensten Eissorten und allerlei anderer Leckereinen verführerisch in die Nase stieg.
Mit einer scharfen Bremsung kam Simon direkt vor Richies Füßen zum Stehen.
„Hallo Richie. Puh, was für eine Fahrt!“, schnaufte er. „Wo sind denn deine Sachen, oder hast du nur den Rucksack?“, wollte er atemlos wissen.
„Nein, nein“, antwortete Richie und erhob sich von den Stufen, um Simons Fahrrad neben das seine zu stellen.
„Die sind wohl schon auf dem Weg zu deiner Tante“, freute sich Richie. „Sie hat meinen Vater zum Tee eingeladen und ihn darum gebeten, meine Sachen gleich mitzubringen. Schließlich sollten Kinder ihre Ferien genießen und nicht auf allen vieren im Moor herumzukriechen. Das sei wohl nicht das Richtige für einen Jungen in meinem Alter…“, schloss Richie immer noch fröhlich grinsend.
„Hi, Hi, dein armer Vater“, kicherte Simon. „Ich kann mir schon vorstellen, wie sich dieser Vortrag angehört hat. Mir hat sie heute nämlich genau das gleiche erzählt. Und glaub mir, Abygale Greenwood kann sehr überzeugend sein. Da hat selbst ein Professor Dawson keine Chance, etwas Gegenteiliges zu behaupten“, lachte Simon und konnte sich den armen Professor fast bildlich vorstellen, wie er einen Vortrag zur korrekten Kindererziehung über sich ergehen lassen musste.
„Wusste ich es doch, dass Tante Aby etwas im Schilde führt“, sagte er zu Richie und freute sich auf ein paar unbeschwerte Tage mit seinem Kumpel.
„Ja, Gott sei Dank! Ich habe mich tatsächlich schon, tagein tagaus, durch die Büsche des Exmoors kriechen sehen. Deine Tante ist echte Klasse“, lachte Richie und sie betraten den Eissalon von Mr. Twiggles.
Mr. Twiggles Eissalon war das ultimative Süßwarenparadies für alle Schleckermäuler der Stadt, der näheren Umgebung und natürlich auch für jene, die hier nur ihre Ferien verbrachten. Simon liebte diesen Laden. Wann immer er bei Tante Abygale zu Besuch war, musste er diesem Schlaraffenland mindestens einen Besuch abstatten. Richard, der zum ersten Mal das süße, klebrige Vergnügen hatte, betrat nach Simon den Eissalon und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Mit weit aufgerissenen Augen blieb er in der Mitte des Ladens stehen und wusste gar nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. So unscheinbar das zweistöckige Haus von außen auch anmuten mochte; von innen war es ein Traum für jede Naschkatze, egal ob groß oder klein.
Es herrschte wie immer Hochbetrieb. Auf der rechten Seite, neben der Tür, war ein großes Schaufenster, in das weiße breite Regale eingelassen waren. In großen, mit schweren Deckeln versehenen Gläsern, standen hier die unterschiedlichsten und köstlichsten Kekse, Plätzchen, Waffeln und Makronen, die ihren Duft im gesamten Laden verströmten. An das Schaufenster schloss sich das Herzstück von Mr. Twiggles Geschäft an, die Eistheke. Über dreißig verschiedene Sorten Eis wurden hier angeboten und es kamen jedes Jahr neue und immer raffiniertere Kreationen hinzu.
„Wow! Das ist der absolute Wahnsinn!“, rief Richie. Er löste sich langsam wieder aus seiner Starre, in die dieser bonbonfarbene Schleckerpalast ihn versetzt hatte und bahnte sich seinen Weg zu Simon. Richie ging vorbei an ebenso erstaunten und verzückten Gesichtern, die, wie er, nicht wussten, ob sie nun Brausedrops, Geleebohnen oder vielleicht doch Ingwerplätzchen und Eis kaufen sollten.
„Simon, das ist hier ja total abgefahren“, begeisterte sich Richie.
„Freut mich, dass es dir hier gefällt“, lachte Simon und wartete an der Eistheke darauf, bedient zu werden.
„So einen coolen Laden haben wir in Portsmouth nicht“, erkannte sein Freund neidisch, der immer noch nicht glauben konnte, dass es so viele verschiedene Eis- und Kekssorten gab.
Nach längerem Anstehen entschied sich Simon schließlich für eine Monsterkugel Rhabarber-Marzipan-Eis. Dazu gönnte er sich noch eine große Tüte gemischter Kekse, während Richie sich mit einer Kugel Erdbeereis und einer Tafel Pfefferminzschokolade den Nachmittag versüßen wollte. Sie verließen den Laden und setzten sich auf eine alte Bank, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite, im Schatten eines alten Baumes stand.
„Ach, da fällt mir ein, du wolltest mir doch irgendetwas unheimlich wichtiges erzählen“, erinnerte Richie seinen Freund schmatzend und schleckte genussvoll an seinem Eis.
„Richtig“, fiel es Simon ein. „Halt mal“, forderte er Richie auf und hielt ihm seine Waffel entgegen, auf der die Eiskugel in gefährliche Schieflage geraten waren. Richie nahm ihm das Eis ab und Simon fing an, in seinem Rucksack zu kramen. Nachdem er das Plättchen gefunden hatte, nahm er Richie das Eis wieder ab und drückte ihm das magisch schimmernde Ding erwartungsvoll in die Hand, das dieser sofort aufmerksam untersuchte.
„Das ist aber eine große Fischschuppe. Hast du die hier am Strand gefunden?“, fragte er Simon und blinzelte ihn über den Rand seiner Brille hinweg an.
„Nein, hab ich nicht. Die war am Montagmorgen, unter meinem Fenster, im Dach eingeklemmt. Ich hatte das Gefühl, als sei nachts jemand an meinem Fenster gewesen. Und stell dir vor, meine Mum hatte auch etwas gehört. Aber vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein und es gibt eine ganz einfache Erklärung dafür, wie dieses Teil auf unser Dach gelangt ist“, erzählte er und knabberte an seiner Eiswaffel.
Richie spielte mit dem Plättchen in seiner Hand und sah Simon nachdenklich an.
„Es war also unter deinem Fenstersims? Ok, lass mich mal überlegen. Eines kann ich dir jedenfalls jetzt schon sagen. Es handelt sich definitiv um die Schuppe eines Tieres. Einen Fisch können wir wohl ausschließen. Der springt nicht mal so eben aus dem Hafen und klettert ein paar Straßen weiter auf ein Dach.“
Simon kratzte sich ratlos am Kopf. „Aber was könnte es denn sonst gewesen sein?“, fragte er. „So viele schuppige Tiere gibt es doch nicht, oder?“
„Nein, sicher nicht“, entgegnete Richie in Gedanken vertieft.
„Mir fallen da nur Eidechsen, Schlangen oder…“
Er machte eine Pause und sah Simon mit weit aufgerissenen Augen an. „Drachen!“, stieß er plötzlich hervor.
„Drachen in Portsmouth?“ entfuhr es Simon und er sah Richie belustigt an.
„Ja, sicher, Rich. Die einleuchtende Erklärung überhaupt! Genauso wahrscheinlich wie auf Dächer kletternde Fische“, lachte Simon.
„Das war nur so eine Idee“, knurrte Richie beleidigt.
Sie verputzten die Reste ihrer Eiswaffel.
„Es hat die Farbe verändert“, ergänzte Simon. „Am Montag war es noch strahlendweiß und schimmerte wie Perlmutt. Seit heute Morgen ist es eher hellblau“, fügte er noch hinzu. Allerdings wusste er, dass Richie mit dieser Information genauso wenig etwas anfangen konnte wie er selbst. Und so steckte er die Schuppe vorerst zurück in seinen Rucksack.
Nachdem sie aufgegessen hatten, entschieden sie sich, ihren Ausflug, zu den Klippen im Moor, auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie waren spät dran, wollten Tante Abygale nicht mit dem Essen warten lassen und das Zelt für die Nacht aufbauen. Also schnappten sie sich ihre Rucksäcke, schlenderten zurück zu den Fahrrädern und radelten in aller Ruhe zurück nach Greenwood Castle.
Als sie am Haus von Tante Abygale ankamen, sahen sie, dass Professor Dawson die Sachen seines Sohnes gebracht hatte. Denn diese standen, ordentlich aufgereiht, rechts neben dem Treppenabsatz, im Flur. Wie Tante Aby ihnen mitteilte, haben sie und der Professor sich bei einer Tasse Tee und ein paar Gurkensandwiches ausgesprochen gut unterhalten. Nachdem er ihre Rosenbeete bewundert und ein paar höflich formulierte Ratschläge zur kindgerechten Feriengestaltung mit auf den Weg bekommen hatte, ging sie, zufrieden mit sich und dem Rest der Welt, in ihre Küche und bereitete ihren kleinen Gästen das Abendessen zu.
Es gab einen Riesenberg Lammkoteletts, Maiskolben mit Butter, frisch gebackenes Brot, Salat und zum Nachtisch ihren berühmten Pfirsichpudding.
Schon bald nach dem Essen und einer spannenden Geschichte von Tante Abygale, trollten sich die beiden, versorgt mit Proviant, Schlafsäcken, Decken, Taschenlampe und Laternen in Richtung Garten, wo sie ihr Lager unter der knorrigen Eiche aufschlugen.
Das alte Zelt hatte seine besten Tage bereits hinter sich, soviel war schon einmal sicher, stellten sie gemeinsam fest. Es roch etwas modrig, war fleckig und hatte den einen oder anderen geflickten Riss. Aber es würde Wind und Regen genauso zuverlässig standhalten, wie schon vor so vielen Jahren, als Simons Großtante, zusammen mit ihrem Mann, um die Welt gereist war.