Читать книгу Zeit im Regen, Zeit im Wind - Jeremy Iskandar - Страница 3

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Das Meer glich von der Rooftop-Bar aus gesehen einem schwarzen Spiegel, auf den ein Künstler verschwommene Farbkleckse gezaubert hatte. Zur anderen Seite hin erhoben sich die Wolkenkratzer, stierten kühl und erhaben zum nächtlichen Himmel hinauf. Es war ein atemberaubender Anblick, doch Sophia bekam davon kaum etwas mit. Ihr Blick glitt in die Leere, verhaftete irgendwo in dem dicken Knäuel an unverstandenen Gedanken, das sich in ihrem Kopf angesammelt hatte. Sie hatte von Schlangen geträumt, mehr als einmal. Und von seltsamen Symbolen, die man ihr auf die Zunge geritzt hatte. An diesem Punkt wachte sie stets auf, aber der Traum wiederholte sich, ließ sie nicht mehr in Ruhe. Und das war nur eine von mehreren Begebenheiten, die sich in der letzten Zeit in ihrem Leben zugetragen hatten.

„Brauchen Sie Feuer?“, hörte die junge Frau plötzlich eine Stimme neben sich. Männlich, Englisch, aber mit einem deutlichen Akzent gefärbt. Sophia wandte träge ihre Aufmerksamkeit in das Hier und Jetzt zurück. Neben ihr an der Bar, an der sie sich ein ruhiges Plätzchen ausgesucht hatte, stand ein stattlicher Asiate, den sie wegen der Verbeugung ihr gegenüber für einen Japaner hielt. In seiner halb ausgetreckten Hand befand sich bereits ein Feuerzeug. Dann erst fiel Sophia die Zigarette ein, die sie sich vor einer Weile zwischen die Lippen gesteckt und dann, ihren wirren Gedanken nachhängend, vergessen hatte. Sie neigte leicht den Kopf, nickte. Wortlos, sein Gesichtsausdruck für sie nicht zu deuten, gab der Mann ihr Feuer.

Sie war alleine hier, und auch der Japaner schien ohne Begleitung. Als sie an ihm vorbeiblickte, konnte sie niemanden erkennen, der zu ihm zu gehören schien.

„Darf ich fragen, was Sie lesen?“

Sophia hatte das Buch noch vor sich auf dem Holztresen der kleinen Bar aufgeschlagen. Sie hatte lesen wollen, aber dann waren ihr beim Hinausblicken auf die Skyline Singapurs wieder die Träume eingefallen, die sie in letzter Zeit einfach nicht losließen.

Innerlich musste sie seufzen. Heute würde sie weder mit dem einen noch dem anderen weiterkommen, also konnte sie wohl auch auf die Frage des Fremden eingehen. Sie überlegte, sich ihm erst einmal vorzustellen, aber da auch der Mann noch keine Anstalten gemacht hatte, seinen Namen zu nennen, behielt sie ihren gleichfalls für sich.

„Das wird Sie sicherlich zu Tode langweilen“, gab sie zurück, noch nicht ganz sicher, ob sie überhaupt an einem längeren Gespräch interessiert war. Vielleicht sollte ich einfach aufs Zimmer gehen und schlafen. Morgen sieht bestimmt wieder alles ganz anders aus. Aber bei dem Gedanken an das Hotelbett, so gemütlich es auch war, musste sie direkt wieder daran denken, ob die Träume in dieser Nacht zu ihr zurückkommen würden oder nicht.

„Ich lasse es auf einen Versuch ankommen“, war seine Antwort.

„Also gut… es ist ein Buch über Kulturtheorie, genauer gesagt über etwas, das man das ‚kulturelle Gedächtnis‘ nennt. Es war mein Schwerpunkt an der Uni“, erklärte Sophia und hatte tatsächlich das Gefühl, dass der Japaner ernsthaft darüber nachdachte, auch wenn sie sich nach wie vor außer Stande sah, die Maske des Mannes zu durchdringen und damit aus seiner Reaktion zu deuten, was er davon hielt.

„Was genau ist dieses kulturelle Gedächtnis denn?“, fragte er weiter. Er hatte sich noch immer nicht vorgestellt. Auch gesetzt hatte er sich nicht. Ein wenig starr stand er in gebührendem Abstand neben ihrem Barhocker am Tresen, blickte ihr dabei nicht direkt in die Augen, aber zumindest soweit in ihre Richtung, dass eine gewisse Nähe entstand. Nicht, dass das irgendwie von Bedeutung gewesen wäre, denn Sophia war bereits längst in ihre Gedankenwelt abgetaucht. Über manche Dinge, und die Erinnerungskultur gehörte ganz sicher dazu, konnte sie sich stundenlang auslassen, während sie alles um sich herum vergaß. Sie liebte nichts mehr, als darüber nachzudenken und sich mit anderen darüber auszutauschen. Mehr als einmal hatte man ihr vorgeworfen, sie würde in der Vergangenheit leben und nicht im Hier und Jetzt, aber für sie war das belanglos. Die Gegenwart war nur ein Konstrukt, das sich aus den fragmentierten Erinnerungen zusammensetzte, die sich in ihrem Kopf befanden.

Sophia nahm einen Schluck von ihrem Cocktail und formte in ihrem Kopf die Gedanken, welche bald darauf zu Worten wurden, ihr Inneres verließen und damit eine Realität konstruierten, die nicht nur sie, sondern auch ihren Gegenüber miteinschloss.

„Jeder Mensch verfügt mit seinem Gehirn über einen biologischen Gedächtnisspeicher. Darin werden unsere Erinnerungen abgespeichert, die maßgeblich zu unserer Identitätsbildung beitragen, uns zu dem machen, was wir sind. Sie sind allerdings nicht statisch, vielmehr bewegen sie sich wie die Wogen des Meeres, türmen sich zu Wellen auf, die uns hin und wieder mit aller Macht treffen, dann aber auch wieder absolut ruhig und unbemerkt von uns sein können.

Das kulturelle Gedächtnis ist ebenfalls ein Gedächtnisspeicher für Erinnerungen, aber viel größer. Es ist der Speicher einer ganzen Gesellschaft. Durch Dinge, wie Wiederholung, Tradition, Symbolsysteme, entsteht dort eine Form kultureller Identität. Es manifestiert sich in Texten, Bildern, Dingen. Es überdauert die Lebensspanne eines Menschen. Aber es ist genauso wenig statisch wie unser biologisches Gedächtnis. Auch, wenn es viel formaler ist, viel geformter. Texte, Bilder, Dinge, sie mögen sich zwar nicht ändern, wenn die Zeit vergeht, aber sie werden von jeder neuen Generation neu bewertet, anders interpretiert. In diesem Sinne wogt das Meer der Erinnerung auch im kulturellen Gedächtnis mal mehr und mal weniger.“

Sophia ließ ihre braune Haarlocke von ihrem Zeigefinger gleiten. Immer, wenn sie über solche Dinge sprach, trat die Angewohnheit auf, dass sie anfing, mit ihrem Haar zu spielen. Sie mochte das eigentlich nicht. Es wirkte zu verspielt in ihren Augen. Dabei drückte es nur die kindliche Freude über eine Sache aus, die sie für bedeutsam und ernst, und damit alles andere als verspielt, hielt. Es gab für sie kein bedeutenderes Thema als das der Erinnerung und wie sie den Menschen bestimmte und formte.

Ihr Gesprächspartner nickte, aber ob diese Geste nun Zustimmung oder reine Empfangsbestätigung war, ließ sich für Sophia nicht erkennen.

„Ich habe manchmal das Gefühl“, begann er, „dass das kulturelle Gedächtnis meiner Heimat gewisse Lücken aufweist. Oder, um es anders zu sagen, sind meine Leute wohl Meister der Verdrängung.“

Sophia schnippte mit dem Zeigefinger, obwohl sie es sogleich bereute. Auch diese Angewohnheit hatte sich bisher hartnäckig einer Abschaltung wiedersetzt.

„Genauso ist es… also, ich meine, die Verdrängung ist ein wichtiger Aspekt, wenn man sich mit dem Thema der Erinnerung auseinandersetzt. Das Bild, das sie sich von sich selbst machen, ist ein wesentlicher Teil ihrer Wirklichkeit, um mit den Worten von Lèvi-Strauss zu sprechen.“

Sie lächelte. Seit dem Ende ihres Studiums hatte sie sich nicht mehr so über ein Gespräch gefreut. In den letzten Monaten hatte sie kaum noch mit anderen Menschen gesprochen. Mehr und mehr hatte sie das Gefühl gehabt, überhaupt nicht mehr richtig anwesend zu sein, in ihr Inneres gesogen zu werden, eingenommen von den Gedanken, die sich darin befanden. Die Träume waren sicher ein Teil davon, aber das war noch nicht alles. Da gab es noch etwas anderes. Sie war sich selbst ein wenig fremd geworden. Wenn sie morgens in den Spiegel schaute, dann hatte sie mitunter das Gefühl, es sei nicht sie, die dort in den Spiegel blicke, sondern jemand, der sich außerhalb ihrer selbst befand und dennoch mit ihr verbunden war.

Sophia hatte schon während ihres Studiums der Kulturwissenschaften in London Phasen durchlebt, die dem gleichkamen, war aber immer zu sehr von ihren Studien eingenommen gewesen, um sich näher damit zu befassen. Dann, mit dem Abschluss in der Tasche, hatte sie sich plötzlich wie ein Stück Treibgut gefühlt, das ins Meer ihrer Erinnerungen hinausgeworfen worden war. Sie trieb einfach dahin, unfähig, ihren Kurs zu bestimmen. Sie musste weg, weit weg. Nur das hatte sie gewusst. Mit dem Tod ihrer Mutter war ihr das Tagebuch ihrer Großmutter vererbt worden. Es war das Einzige, das ihre Mutter ihr vermacht hatte. Ihre Beziehung war nie besonders gut gewesen. Spätestens seit ihrer Jugend war Sophia davon überzeugt gewesen, dass ihre Mutter sie hasste, dass ihre bloße Existenz in ihrer Mutter Leid verursachte. Doch weshalb, das hatte sie niemals erfahren. Niemals hatte sie begriffen, wie das möglich war, warum ihre eigene Mutter Distanz zu ihr wahrte, eine Aura der Kühle und Unnahbarkeit gegenüber ihrer eigenen Tochter errichtet hatte. Im Studium hatte sie dann schließlich kaum noch Kontakt zu ihrer Mutter gehabt, hatte alleine gelebt und sich, wo immer es möglich war, von ihr ferngehalten. Als sie plötzlich im letzten Jahr verstorben war, gerade zu jener Zeit, als Sophia ihrem Abschluss nahegewesen war, war auch die geringe Hoffnung, dass es jemals zu einem klärenden Gespräch zwischen Mutter und Tochter kommen könnte, dahingeschieden. Zur Beerdigung ihrer Mutter war sie nicht gegangen.

Und nun saß sie hier. Alleine, und in einem fremden Land, das Tagebuch ihrer Großmutter in ihrem Gepäck.

„Glauben Sie an die absolute Erinnerung?“, fragte er sie plötzlich, nachdem sie eine Zeitlang ihren eigenen Gedanken hinterhergehangen hatte.

Mittlerweile hatte er auch ein Glas vor sich stehen. Im dämmrigen Licht der Bar schimmerte der eingeschenkte Whisky wie flüssiges Gold. Sophia drückte ihre Zigarette aus und nippte an ihrem Cocktail.

„Die absolute Erinnerung?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, daran glaube ich nicht. Selbst, wenn es sie gäbe, wie sollten wir jemals Zugang zu ihr erlangen? Alles, was wir erleben, erreicht uns nur durch unsere Sinne. Wir können die Welt gar nicht anders wahrnehmen, als durch unsere eigens für uns gefärbte Brille.“

„Aber die Erinnerungen sind in uns selbst. Sie kommen nicht von außen“, warf der Mann ein. Er besaß tatsächlich einen scharfen Verstand, musste Sophia zugestehen, was das Gespräch für sie umso interessanter machte.

„Da ist was dran“, pflichtete sie ihm bei.

„Aber wir interpretieren unsere Erinnerungen immer wieder neu. Wie erinnern niemals absolut ein und dasselbe.“

Der Mann hob sein Whiskyglas, trank daraus. Er trank in kleinen, gemäßigten Schlucken.

„Und wie sieht es mit einem eidetischen Gedächtnis aus?“, fragte er weiter.

„Das ist umstritten, aber meiner Ansicht nach ist das auch nicht der Punkt. Die Möglichkeit, sich etwas exakt so zu merken, wie es ist, obwohl ich auch darin schon eine Art von Widerspruch sehe, schaltet nicht den Fakt aus, dass wir selbst uns verändern. Wir verändern uns durch die Erfahrungen, die wir machen. Sobald Zeit vergeht, findet auch eine Neubewertung unserer Erinnerungen statt.“

Sie nahm einen weiteren Schluck ihres Cocktails, behielt ihre Finger an der kühlen Oberfläche des Glases, um nicht wieder in Versuchung zu kommen, mit einer ihrer Haarsträhnen herumzuspielen.

„Und deshalb meine ich, dass die Frage nicht lauten muss, ob es so etwas wie eine absolute Erinnerung gibt, sondern, ob wir überhaupt jemals Zugang zu ihr erlangen könnten. Wir befinden uns hier vor demselben Dilemma, ob es uns möglich ist, die objektive Wirklichkeit, sofern sie denn existiert, wahrzunehmen. Die Dinge also so zu erkennen, wie sie wahrhaftig sind. Wie aber, wenn alles durch den Filter unserer Sinne verläuft?“

„Und die Zeit?“, fragte er.

„Die Zeit?“

„Wenn man den Faktor Zeit ausschalten würde? Zumindest die lineare Vorstellung von Zeit, die in unserer Zeit vorherrscht.“

Sophia legte ihr Kinn in die aufgestützte, offene Handfläche. Ein interessanter Gedankengang.

Sie lächelte verschmitzt, fast kindlich. „Ja… Ja, warum nicht? Das könnte vielleicht funktionieren“, gab sie nach einem kurzen Moment des Nachdenkens zurück.

Sie griff nach der Schachtel Zigaretten, die sie neben ihr Buch gelegt hatte.

„Brauchen Sie wieder Feuer?“

„Diesmal habe ich selbst eins zur Hand“, lächelte sie, hielt das Feuerzeug hoch.

„Es sei denn, Sie haben dieses Gentleman-Gen und sind unfähig, es abzustellen“, scherzte sie, aber der Japaner ging nicht darauf ein.

Ein wenig steif, der Gute, dachte sie, während sie sich ihre Zigarette anzündete. Andererseits wusste sie auch noch immer nicht, worauf das Ganze hier eigentlich hinauslaufen sollte. Für eine interessante, wenn auch etwas langatmige Anmache, hielt sie es mittlerweile nicht mehr. Der Mann machte keine Anstalten, das Gespräch vom Thema der Erinnerung zu etwas Ungezwungenem zu bewegen. Auch seine Körpersprache, die in Sophias Augen einfach nichts auszudrücken schien, oder die Art und Weise, wie er sie anblickte, weder direkt ihren Blickkontakt suchend noch irgendwie verstohlen ihre weiblichen Attribute erforschend, ließen darauf schließen, dass er an mehr interessiert war, als an einem reinen Gedankenaustausch. Warum auch nicht. Sie war ohnehin zu müde dafür, obwohl sie nichts gegen einen spannenden Flirt einzuwenden hatte.

„Sie sind hier auch fremd, oder?“, versuchte sie dann aber doch, das Gespräch etwas mehr auf die Person dieses mysteriösen Fremden zu lenken.

Er hielt das Whiskyglas in seiner Hand, ließ seinen Inhalt kreisen. „Ja, ich bin nur auf der Durchreise.“

„Sind Sie Gast im Hotel oder besuchen Sie nur die Bar?“

„Ich bin Gast hier. Sie auch, nehme ich an.“

Sie nickte. „Ja, aber bald reise ich ab.“

„Ich auch.“

Ok, das führt zu nichts, dachte Sophia und musste innerlich sogar etwas über sich lachen. Plötzlich überkam sie wieder das Gefühl der Müdigkeit, das durch das plötzliche Erscheinen des Fremden für eine Weile von ihr gewichen war. Wie eine schwere Decke glitt es über sie, hüllte sie ein. Sie hatte schon länger nicht mehr friedlich geschlafen. Hin und wieder, und in letzter Zeit immer häufiger, meldete sich deshalb ihr Körper mit erhobenem Zeigefinger zu Wort. Zeit, das hier zu beenden. Sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückte sie dann aus.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen, aber ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen. Ich bin müde. In letzter Zeit schlafe ich nicht so gut.“

Der namenlose Japaner nickte, machte ihr Platz. „Ich hoffe, Sie können in dieser Nacht besser schlafen.“

Ja, das hoffe ich auch, dachte sie, sagte es aber nicht. Sie lächelte nichtssagend, nickte dem Mann noch einmal zu, packte ihre Sachen in ihre Tasche und verließ die Bar.

Zeit im Regen, Zeit im Wind

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