Читать книгу Zeit im Regen, Zeit im Wind - Jeremy Iskandar - Страница 7

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Sophia hatte einen Platz in einer Kabine mit sechs Schlafplätzen. Sie legte ihre Sachen nieder, setzte sich, ließ die angespannten Schultern kreisen. Von überall her waren Geräusche zu hören. Sie hörte die fremden Stimmen einer fremden Sprache von draußen auf dem Gang, hörte die Geräusche der Schiffsmotoren mit ihrem gleichmäßigen Brummen und die knisternde Radiostimme verschiedener Ansagen durch das Lautsprechersystem des Schiffes. Sie fühlte sich einsam, fremd. Gleichzeitig war sie von einer innigen Abenteuerlust beseelt. Ambivalente Züge, die es schon immer in ihrem Wesen gegeben hatte.

Ein wenig unsicher schaute sie zu den anderen Schlafplätzen, stellte Vermutungen darüber an, welche Menschen diese Plätze wohl gebucht hatten und ob es ihr möglich sein würde, mit ihnen in diesem Raum zu schlafen. Sophia war nicht unbedingt menschenscheu, und hatte man einmal ihr Vertrauen gewonnen, so bemühte sie sich stets, loyal und als guter Freund zu handeln, doch im Leben an sich war sie eher eine Einzelgängerin, rastlos, immer unterwegs, aber meist doch alleine.

Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, steckte sie sich ins Haar und nahm das Wörterbuch, das sie sich am Hafen gekauft hatte, aus ihrer Handtasche, um darin zu lesen. In Singapur war sie ganz gut mit ihrem Englisch zurechtgekommen, aber es konnte wohl nicht schaden, wenn sie zumindest die gebräuchlichen Redewendungen des Indonesischen kannte, um sich den Menschen verständlich zu machen. Weit kam sie in ihrer Lektüre allerdings nicht. Schon nach wenigen Seiten wurden ihre Augen schwer. Ihre Schultern sackten nach unten, das Buch glitt aus ihren Händen und der Schlaf legte sich über sie wie ein bleierner Käfig.

Als sie erwachte, lag der Raum in Zwielicht getaucht. Sie schreckte hoch. Im dämmrigen Licht der Kabine hockte der Mann vor ihr. Es war der Japaner, ihr Gesprächspartner von gestern Nacht. Sie blinzelte, aber er blieb.

„Was?“, begann sie, brach ab. Ihr Kopf fühlte sich schwer an. Sie hatte zu lange im Sitzen geschlafen. Ihr Nacken schmerzte und ihr Körper fühlte sich an, als habe man ihn achtlos in die Ecke geworfen.

„Was machen Sie hier?“

„Ich habe Sie beobachtet“, antwortete der Mann ohne erkennbare Mimik.

„Wie… wie bitte?“ Sie versuchte, aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.

„Was…. Was wollen Sie von mir? Warum haben Sie mich beobachtet?“

Sie war total durcheinander, wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, ihren Gesprächspartner wiederzusehen, oder vielmehr fürchten, weil er sie so anstarrte. Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden und erröteten.

„Bitte, schauen Sie doch nicht so. Ich mag das nicht“, stammelte sie.

„Verzeihen Sie“, antwortete er und senkte den Blick, erhob sich.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe einen Schlafplatz in dieser Kabine gebucht, und da habe ich Sie hier gesehen. Sie waren eingeschlafen und es sah so aus, als könnten Sie den Schlaf gut gebrauchen. Ich wollte Sie nicht wecken, aber...“. An dieser Stelle brach er ab. Eine Erklärung, warum er sie beobachtete hatte, lieferte er nicht.

Sie blickte sich um. Draußen war es bereits Nacht. Sie mussten schon seit Stunden unterwegs sein. Hatte sie geträumt? Nein, vermutlich nicht.

Die anderen Schlafplätze waren leer. Auch kein Gepäck lag dort.

„Wo sind die anderen?“, fragte sie.

„Die anderen Schlafplätze sind frei.“

„Aber vorhin war das Schiff voller Menschen.“

Er nickte. „Das ist richtig. Aber ich habe alle Schlafplätze gemietet. Alle, bis auf Ihren.“

Sophia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Hatte er sie verfolgt. War er so eine Art Stalker? Aber warum? Gestern an der Bar hatte er nicht im Mindestens versucht, sie anzumachen. Was war das für ein seltsames Spiel?

„Warum? Ich meine, warum haben Sie das gemacht?“

„Wir müssen reden, und es ist besser, wenn wir dabei alleine sind.“

Ihr Blick musste ihm nicht entgangen sein. Sie hielt ihre Tasche, die noch immer auf ihrem Schoß lag, fest umgriffen.

„Es tut mir Leid. Ich wollte Ihnen keinen Angst machen.“ Er kam näher, hielt ihr seine Hand hin, neigte seinen Körper dazu etwas.

„Mein Name ist Hayato. Verzeihen Sie bitte, dass ich mich Ihnen bisher nicht vorgestellt habe.“

Unsicher streckte sie ihre Hand aus, berührte die seine. Seine Hand fühlte sich stark an, aber es war eine Form unaufdringlicher Kraft, die nicht herrschen wollte, sondern im Verborgenen lag.

„Sophia.“

„Die Weisheit.“

Sie nickte. „Worüber wollen Sie denn mit mir sprechen?“

Er setzte sich wieder. Sie hatte diese Sitzhaltung schon einmal gesehen. Sie war japanisch. Die Beine direkt nebeneinander verschränkt, der Hintern ruhte praktisch auf den Fersen. Das musste doch anstrengend sein.

„Über Sie… und über das, was Sie da in Ihrer Tasche haben.“

Sophias Finger verkrampften sich automatisch um ihre Tasche. „Woher wissen Sie, was in meiner Tasche ist?“

Zum ersten Mal lächelte Hayato, doch Sophia sah sich außer Stande, dieses Lächeln zu deuten. Es hatte gleichfalls etwas von dem wissenden Grinsen eines Haifischs, der sich seiner Beute sicher war, und dem verständnisvollen Lächeln ihres Professors an der Uni, das ihr sagen wollte, dass alles halb so schlimm sei und sie es schon hinbekommen würde. Mit noch mehr Arbeitseinsatz, versteht sich.

„Ich bin ein sehr guter Beobachter. Ich sah Sie außerdem darin lesen. Das erste Mal, als ich Sie in der Hotelbar gesehen habe.“

Sophia verzog missmutig ihre Lippen. Wenigstens war er ehrlich.

„Sie beobachten mich also schon seit längerer Zeit“, stellte sie mit einem düsteren Unterton in ihrer Stimme fest.

„Es tut mir Leid. Es war nicht meine Absicht, Sie zu verletzen. Diese ganze Geschichte ist kompliziert, sehr sogar. Ich musste vorsichtig sein. Und Sie müssen es auch.“

„Warum? Was genau ist so gefährlich daran? Was hat das alles mit mir zu tun?“

Hayato entfuhr ein schwacher Seufzer. Er hat also doch Gefühle, dachte sich Sophia.

„Es ist besser, wenn wir das Stück für Stück durchgehen.“

Sophia nickte. „Also gut, Stück für Stück. Ich bin ganz Ohr.“ Sophia war gespannt, wie Hayato fortfahren würde. Es war ihr klar, dass ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen hier unumgänglich war. Aber sie war noch nicht so weit, ihm dieses zu schenken. Seine Antworten kamen direkt, wirkten ehrlich, waren aber auch kryptisch und für sie nur wenig verständlich. Ihr fehlte sozusagen der Kontext, um diese fragmentierten Informationen richtig einordnen zu können.

„Wie ich schon sagte, mein Name ist Hayato. Ich stamme aus Japan. Einer meiner Vorfahren, genauer gesagt mein Großvater, hat im zweiten Weltkrieg, wie so viele damals in meinem Land, in der Armee gedient. Er war Offizier. Er war bei der Eroberung Britisch Malayas dabei, das, was heute Malaysia ist. Auch bei den Kämpfen um Singapur. Im Februar 1942 wurde die Stadt, die wichtigste Bastion der Alliierten in Südostasien, von den japanischen Streitkräften eingenommen. Eine Zeitlang verblieb er dort, aber dann führte ihn eine Mission nach Java. Dorthin, wo auch Ihre Großmutter war. Ich weiß, dass mein Großvater und Ihre Großmutter aufeinandergetroffen sind, und dass sie ein gemeinsames Schicksal verband. Ich bin auf der Suche nach diesem Schicksal. Die Informationen, über die ich verfüge, sind aber ab diesem Punkt nur noch lückenhaft. Ich hoffte, wir könnten uns einander helfen, unsere Informationen teilen. Immerhin befinden wir uns anscheinend auf demselben Weg.“

Nach dieser längeren Erklärung musste Sophia erst einmal nachdenken.

„Das ist ziemlich viel Stoff zum Nachdenken, aber es macht einiges klar. Sie wissen also von dem Tagebuch meiner Großmutter?“

Hayato nickte. „Ich halte es für die beste Informationsquelle, die uns derzeit zur Verfügung steht. Ihnen zur Verfügung steht“, fügte er noch hinzu.

Sophias Herz pochte. Konnte es wirklich sein? Bestand diese Verbindung, von der Hayato gesprochen hatte? Innerlich wusste sie, dass Hayato den Test bestanden hatte. Er hatte mit seiner Erklärung versucht, Vertrauen aufzubauen. Anstatt ihr weitere Fragen zu stellen oder direkt auf das Tagebuch zu sprechen zu kommen, das er bei ihr wusste, hatte er sich ihr geöffnet und ihr einen Teil seiner Informationen anvertraut. Es lag nun an ihr, eine Entscheidung zu treffen.

Zögernd, aber sicher, dass es das Richtige war, holte sie das Tagebuch aus ihrer Tasche.

Hayatos Blick fiel auf das kleine, ledergebundene Buch, das mittlerweile ihr wichtigster Besitz war. Ein Hort voller Erinnerungen.

„Warum sind Ihre Informationen ab diesem Punkt lückenhaft?“

Hayato holte ein kleines Büchlein unter seiner schwarzen Windjacke hervor, derer er sich trotz der Schwüle bisher nicht entledigt hatte.

„Das Tagebuch Ihres Großvaters, nehme ich an“, kommentierte Sophia.

Hayato nickte. „So ist es. Es enthält viel über seine Zeit in Malaya und Singapur, endet aber mit seiner Ankunft in Batavia und der Beschreibung einer Frau, bei der es sich meines Wissens nach um Ihre Großmutter handelt.“

Sophia dachte nach. Mit einem Mal war die Geschichte gewachsen, hatte eine zusätzliche Dimension hinzugewonnen. Sie reichte Hayato das Buch. Bevor er es in seine Hände nahm, hielt er ihr seines hin. Wortlos tauschten sie die Bücher aus.

„Wenn die Informationen dort enden, woher können Sie sich so sicher sein, dass es meine Großmutter gewesen ist, die er traf? Und woher wissen Sie, dass ich Ihre Enkelin bin? Ich habe niemandem jemals erzählt, was in dem Buch steht. Ich habe es erst vor kurzem erhalten und selbst nur den Anfang davon gelesen“, fragte sie weiter, wissend, dass sie vielleicht zu schnell vorpreschte. Aber sie konnte nicht anders. Die Fragen brannten ihr auf der Zunge und sie konnte sie nicht zurückhalten.

Hayato kam nicht dazu, die Woge ihrer Fragen zu beantworten. Plötzlich sprang er auf, so als folge er einem inneren Instinkt, einer Art sechstem Sinn. Dann füllte sich der Raum mit Nebel. Rasend schnell wurde er geflutet, viel schneller, als Sophia es jemals für möglich gehalten hätte, und bei weitem schneller, als sie darauf reagieren konnte.

Doch Hayato war anders als sie.

Zeit im Regen, Zeit im Wind

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