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II

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Batavia war eine florierende Stadt. Das Gebiet um die Mündung des Ciliwung-Flusses war sumpfig und schwer zu bebauen, doch die Niederländer verstanden es, diesem Problem mit der Errichtung eines ausgedehnten Kanalsystems Herr zu werden. Sie hatten Batavia zum Zentrum ihres Insel umspannenden Kolonialreichs gemacht, zum Mittelpunkt ihrer Verwaltung und Handelsunternehmungen. Zwar waren die priyayi, die politische Elite von adliger Herkunft, die seit Jahrhunderten die Geschicke des Inselreiches bestimmten, nicht abgesetzt worden, doch war ihre realpolitische Macht auf Repräsentation und indirekte Herrschaft beschränkt. Der Kraton, einst Mittelpunkt der kosmischen Ordnung im Glauben der Javaner, hatte sich seine überragende kulturelle Stellung erhalten, jedoch jede weltliche Macht verloren. Dies war die Welt, in der ich aufgewachsen war, nicht ahnend, dass auch sie sich ihrem Ende zuneigte. Doch noch deutete nichts daraufhin, dass sich jemals etwas ändern würde.

Das Leben auf den Straßen Batavias ging seinen gewohnten Gang. Die niederländische Kolonialarchitektur verstand es auf wundersame Weise, sich in das traditionelle Gefüge der Marktstände und älteren Gebäude einzureihen.

Das Licht der elektrischen Straßenlaternen, die an den Straßenrändern aufragten, wetteiferte mit den einfachen Lampen der Händler und tauchte die breiten Wege Batavias in einen unwirklichen Schimmer. Batavia war eine Handelsstadt, ein Charakterzug, den man ihr nicht nur am Hafen, sondern an jeder Straßenecke ansah. Es war bereits spät genug, um die Auswüchse des Nachtmarktes am eigenen Leibe zu erfahren. Zwischen den großen Gebäuden im europäischen Stil erstreckte sich ein Meer aus einfachen Verkaufsständen, Wagen und kleinen Karren. In den Auslagen verkauften die Händler ein Sammelsurium an Waren, plauderten miteinander und feilschten geschickt mit ihren Kunden. Europäer und andere Ausländer flanierten auf den breiten Straßen, genossen das bunte Treiben oder ließen sich von Rikschafahrern zu ihren Clubabenden und Partys geleiten. Das grelle Scheinwerferlicht vorbei fahrender Autos durchstach die Nacht und verlieh dem Zauber des pasar, des großen Marktes, etwas Animalisches und Unberechenbares.

Auch Willem und ich saßen in einer Rikscha. Weiter vorne ertönte das Klirren einer Fahrradklingel. Aus dem Halbdunkel kamen mehrere Fahrräder geschossen, auf den Satteln Einheimische mit spitz zu laufenden Strohhüten, die eigentlich gegen die pralle Mittagssonne schützen sollten. Ich blickte auf den Rücken des Mannes, der uns zog. Er musste wohl in seinen Zwanzigern sein, nicht viel älter als ich, aber seine Hände waren von Schlieren gezeichnet, die Haut braun gebrannt, und der Rücken bog sich unter der Last, die er tagtäglich zu bewegen hatte. Unter dem zerschlissenen weißen Hemd konnte ich seine breiten Schulterblätter sehen, und doch kam mir der Gedanke, dass selbst diese kraftvollen Schultern das Leben auf der Straße, das Leben der großen Masse des einfachen Volkes, nicht würden tragen können.

Nachdem der Nachtmarkt hinter uns lag, näherten wir uns langsam, aber sicher den großen Hafenanlagen bei Tanjung Priok, die dort vor rund 60 Jahren errichtet worden waren, um Batavia als Zentrum des niederländischen Handelsimperiums zu etablieren. Der Geruch von Meersalz stieg in meine Nase und vermischte sich mit den Eindrücken des pasar ikan, des Fischmarktes, der nun in unmittelbarer Nähe lag. Doch anstatt weiter in Richtung Norden zu fahren, bog der Rikschafahrer auf ein Kommando von Willem hin nach links ab und führte uns in ein Viertel, von dem ich zwar gehört, es zuvor aber noch nicht betreten hatte.

Die Straßen Glodoks, des chinesischen Viertels von Batavia, waren ungemein verschlungener, enger und unübersichtlicher als das, was ich bisher von der Stadt gesehen hatte. Ältere Chinesen saßen am Wegesrand oder auf Bambusmatten vor den Ständen fahrender Grillküchen und spielten lachend und plaudernd Mah-Jongg, während sie kleine Snacks zu sich nahmen. Leuchtende Papierlaternen hingen in Girlanden von den vorstehenden Dächern und webten chinesische Schriftzeichen wie bunte Muster in die Nacht.

Unfähig, die Kanji, die chinesischen Zeichen, über dem Eingang zu entziffern, folgte ich Willem in das namenlose Gebäude. Ein Deckenventilator mühte sich damit ab, die schwüle, verrauchte Luft durch den Raum zu bewegen. Die unterschiedlichsten Gerüche, Parfüm, Alkohol und der würzige Duft javanischer kretek, Nelkenzigaretten, erfüllten den Innenraum des Establishments. Chinesische Angestellte bedienten europäische Nachtschwärmer. Der junge Chinese hinter dem langen, rustikalen Tresen trug einen schnittigen Anzug im westlichen Stil und vollführte kleine Kunststücke mit den Gläsern und Utensilien, die vor ihm auf dem Holz ruhten. Männer spielten Karten, plauderten in voller Lautstärke, rauchten kretek, streiften mit ihren großen Händen über die nackte Haut chinesischer Frauen in engen, schimmernden Qipao, chinesischen Kleidern, die den Liebreiz der Frauen betonen sollten.

Willem blieb stehen. Meine Knie zitterten und ich spürte, wie mir die Scham ins Gesicht stieg. Dies war kein Ort für einen javanischen Hofmusiker. Was hatte sich Willem nur dabei gedacht, mich hierher zu bringen? War er sich nicht darüber im Klaren, dass ich mein Gesicht verlieren würde, wenn ich ihm nun den Rücken zukehrte? Willem musste dies gewusst haben. Sein Wissen über die javanischen Bräuche war von erstaunlicher Tiefe, wie unsere zahlreichen Gespräche in den letzten Wochen gezeigt hatten. Doch Willems Aufmerksamkeit glitt an dem Trubel der Bar vorbei, durchforstete den von Begierde und Lust durchtränkten Raum nach etwas Bestimmtem, und fand es.

Die Frau saß auf einem der Hocker an der Bar. Sie trug einen Hut und ein enges schwarzes Kleid, dessen Schnitt die Haut ihrer schlanken Beine entblößte. Ihr gebräunter Teint machte deutlich, dass sie viel unterwegs war, vielleicht auf Reisen im Archipel oder gar zu ganz anderen Teilen der Welt, von denen ich niemals zuvor gehört hatte.

Ihr braunes Haar, das mich an die Färbung von Tropenholz erinnerte, war zu einem Knoten gebunden und halb unter ihrem Hut versteckt, so als versuche sie, etwas zu verbergen. Es war diese Widersprüchlichkeit, diese Ambivalenz aus Geheimnis und Offenheit, die mich neugierig machte. Ein Wesenszug, der – so schien es mir – auch die javanische Kultur tief ergriffen hatte. Noch bevor wir die Frau erreicht hatten, wandte sich Willem mir zu. Sein Blick war nun völlig klar, nicht mehr gefesselt durch die Anwesenheit der Frau, die uns zu erwarten schien.

„Es tut mir Leid, mein Freund, dass ich dich an diesen Ort gebracht habe. Ich weiß, er bereitet dir Unbehagen. Aber ich möchte, dass du sie kennenlernst und dies ist der einzige Weg. Es ist wichtig, dass auch sie die Geheimnisse des Gamelan erfährt, den faszinierenden Hauch kostet, aus dem deine Welt gewebt ist.“

Willems Worte glichen einem Rätsel, doch ich beschloss, ihm zu vertrauen und die fremde Frau kennenzulernen. Am Hofe selbst hatte ich nur wenig Kontakt zu Frauen gehabt, und als ich nun Willem an die Bar folgte, fühlte ich mich trotz meines Wissens verloren und fehl am Platze.

Willem machte uns bekannt. Seine Worte machten mich größer, als ich erscheinen wollte, doch Willem sprach taktvoll und angemessen. Erst im weiteren Verlauf des Abends lockerte sich die Atmosphäre zunehmend, und mit ihr unsere Sprache. Fasziniert versuchte ich, das Verhältnis zwischen Willem und der Frau zu ergründen. Niemals zuvor hatte ich einen Mann auf diese Weise mit einer Frau sprechen hören. Es schien ungezwungen, offen, bar jeder Konvention. Ihr Name war Sophia und sie bezeichnete sich selbst als Weltenbummlerin. Schnell wurde mir klar, dass Konventionen sie nicht interessierten, vielmehr, sie Form und Tradition gar nicht zu beachten schien, als wären sie bloße Luft an einem lauen Sommertag. Und doch wirkte ihr Verhalten nicht kränkend, nicht beschämend oder verletzend, sondern natürlich und ihrem Wesen entsprechend. Sophia besaß die Kraft, jenseits von Bräuchen, Begeisterung zu entfachen und sich im selben Maße, begeistern zu lassen. Genau wie Willem, war sie auf der Suche nach etwas im tiefsten Inneren einer ihr fremden Wesenheit. Doch warum waren sie geflüchtet? Warum hatten sie ihrem eigenen Selbst den Rücken zugekehrt?

„Sind Sie je in Europa gewesen?“

Sie legte den Kopf leicht schief, als sie mir die Frage stellte, und ihre Lippen zierte ein Lächeln, das enorme Tiefe ausstrahlte. Sachte schüttelte ich den Kopf.

„Ich kenne es nur von Bildern, Fotografien, und aus Erzählungen.“

„Und dennoch vermag er es, analytisch wie ein Europäer zu denken“, warf Willem in das Gespräch ein und brachte Sophia zum Lachen.

„Die Welt ist doch ein verrückter Ort.“

„Lasst uns etwas trinken, meine Freunde. Ich lade euch ein.“ Willems Angebot kam von Herzen. Es wäre nicht höflich gewesen, es abzulehnen, obwohl ich den Alkohol mied.

Willem hob sein Glas zu einem Toast und leerte es dann in einem Zuge.

„Willem, übertreib es nicht“, neckte Sophia und fuhr ihm mit den Fingern über die Wange.

„Große Fragen erfordern einen großen Einsatz“, gab er zurück, lachte dann aber.

„Immer zu Scherzen aufgelegt, der gute Willem.“

„Wisst ihr, ich glaube, wir leben in einer gänzlich neuen Zeit, die bald ihr wahres Gesicht zeigen wird. Die Zukunft gehört nicht den Waffen und Kriegen, nicht den Soldaten und Kämpfern, sondern denen, die die neue Kultur heranwachsen lassen, sie verstehen, sie in sich aufnehmen.“

„Willem, welche Kultur ist es, die du siehst?“, fragte ich, während ich an die allumfassende Form dachte, die mich seit langer Zeit beschäftigte. Willem gab dem chinesischen Kellner einen Wink und orderte einen weiteren Drink.

„Mein Freund, es ist eine allumfassende Kultur, ohne Grenzen. Denn wir alle kommen uns immer näher, die einzelnen Völker vermischen sich, gehen ineinander auf.“

„Und wenn die Völker, ihre Identität zu erhalten versuchen?“

„Oh, das werden sie. Natürlich. Und es wird keinen direkten Übergang geben. Und doch werden sie sehen, dass Identität nicht verloren geht, sondern sich neu bildet, neu heranwächst. Eine größere, ungleich dichtere Identität, die alles umfasst, was die menschliche Seele zu bieten hat.“

Willem verstand es geschickt, zwischen mir und Sophia zu vermitteln, das Gespräch langsam von den Barrieren unserer verschiedenen Verhaltensmuster zu befreien. Als sie ein Etui öffnete, das vor ihr auf dem Holz des Tresens lag, kam ich nicht umhin, ihre Finger zu betrachten. Sie waren von ästhetischer Feinheit, zerbrechlich wie die Lederpuppen des wayang. Sophia öffnete das Etui und entnahm dem kleinen Kästchen eine Zigarette, die sie sich von Willem mit einem kunstvoll verzierten Feuerzeug anzünden ließ. Als sie den Rauch zwischen ihren Lippen hervorstieß, musste ich wieder an das wayang kulit denken, die beiden Welten, die es verband. Unsere Blicke trafen sich durch den treibenden Rauch hinweg. Zwei Welten, getrennt durch einen Schirm. Im wayang versinnbildlichte der Schirm die Grenze zwischen der Ebene der Menschen, die eigentlich nur der Schatten der wahren Welt war, und dem alam gaib, dem Schattenreich, das als das wahre Dasein betrachtet wurde. Es war die Heimat der mächtigen Geister, Dämonen und edler Gestalten, wie die heldenhaften pandawa und ihre Diener. War es möglich, den Schirm zu durchqueren, auf die andere Seite zu gelangen? Und wenn es möglich war, wer wäre ich, wenn ich die andere Seite betreten hätte? Noch länger ich selbst, oder würde ich wie ein Fremder auf mich selbst herabblicken, auf mein Wesen, das auf der anderen Seite verblieben war? Und würde ich jemals zurückfinden? Zurück wollen?

Zeit im Regen, Zeit im Wind

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