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Willem van der Wiesen war ein gutherziger und aufrechter Mann, der über einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügte und den ich niemals in Rage erlebte. Er erhob niemals die Stimme, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er jemals die Fassung verloren hätte, die er stets in meiner und der Gegenwart anderer zu wahren wusste. In dieser Hinsicht kam er dem javanischen Ideal, das mir durch das Leben am Hofe vermittelt worden war, angenehm nahe.

Als ich ihn kennenlernte stand die Regenzeit bereits kurz vor ihrem Einzug. Eine graue Wolkenwand bedeckte den Horizont, türmte sich am Himmelsgewölbe auf und ließ den Regen erahnen, der bald die Erde tränken würde. Es war das Jahr 1938, und das Hereinbrechen des Monsuns hatte mich wie so oft in eine nachdenkliche, melancholische Stimmung versetzt. Gefühle zu zeigen, Emotionen zuzulassen, widerspricht dem javanischen Ideal, doch kann ich nicht leugnen, dass dieser Wesenszug mich wohl auf ewig begleiten wird.

Geboren wurde ich in Yogyakarta, der alten Sultansstadt im Herzen der Insel Java, im Jahre 1916. Als Sohn eines Hofmusikers wuchs ich am Kraton, dem kulturellen und politischen Mittelpunkt der Insel, auf und fügte mich in die jahrhundertealten Strukturen und ihr komplexes Netz aus Traditionen. Doch Java gehörte nicht mehr allein den Einheimischen, sondern war Teil einer gewaltigen Handelsmacht, die sich die Europäer in Südostasien errichtet hatten. Nusantara, der alte, erhabene Archipel, hatte sein Antlitz mit der Ankunft der Europäer für immer verändert. Doch heißt es nicht in der Lehre des großen Kosmos, das alles stets von neuem beginnt, der Kreis sich schließt und damit die Zyklen gebiert, die alles umschließen?

Als ich Willem zum ersten Mal traf, wehte ein kräftiger Wind, welcher der Regenwand vorausging, über die wie Terrassen angelegten Reisplantagen, die sich entlang der Hänge erhoben. Willems Familie, eine gut situierte Kaufmannsfamilie, der mehrere Plantagen in der Nähe des Dorfes Bogor gehörten, bewohnte ein ansehnliches Haus am Ende der Straße, die letztendlich in das Bergland mündete. Dämmerung kroch über die Bergspitzen, legte sich über das Tal wie ein feines Tuch, das alles unter sich begräbt. Die menschenleeren, windgepeitschten Reisfelder erweckten Trauer in mir und stimmten mich nachdenklich. Gleichzeitig erfüllten sie mich aber auch mit Neugier auf die Dinge, die da kommen würden.

Ein Dienstbote führte mich in das Haus, dessen Vorderseite von einer großen Veranda gesäumt wurde. Mein Blick glitt über die Gemälde an den hölzernen Wänden; Grachten und Segelboote, Fahrräder und Menschen, die sich im Licht eines lauen Sommertages badeten. Es waren Motive aus den Niederlanden, Willems Heimat. Als ich eintrat war Willem über einer Partitur vertieft. Er saß an einem Klavier, einem Instrument, das ich nur aus Beschreibungen und von Fotografien her kannte, die man mir gezeigt hatte. Für einen Moment lang herrschte Stille, dann stand er auf und bedeutete mir näherzutreten. Der Blick seiner hellblauen Augen traf in das Dunkel der meinen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Willems Familie nutzte ihren Wohlstand, um das zu erforschen, was sie die ‚javanische Kultur‘ nannten. Auch in Europa, so hieß es, würde man sich in zunehmendem Maße für die Erlesenheit der javanischen Kunst und ihrer alten Traditionen und Bräuche interessieren, Forschungen betreiben und Aufzeichnungen anfertigen. Aus diesem Grunde war ich von Willems Vater, einem einflussreichen Mann, der im javanischen Adel viele Kontakte pflegte, in das Anwesen bestellt worden, um Willem bei seinen Forschungen zu unterstützen. Willem wollte die javanische Musiktradition kennenlernen und verstehen, in ihre Geheimnisse vorstoßen und ihr Innerstes ergründen.

Obwohl einige priyayi, wie der Adel Javas genannt wurde, der Neugier der Europäer ablehnend gegenüberstanden, wurde der Umstand, dass man sich für die Hofkünste in zunehmendem Maße interessierte, mit Wohlwollen aufgenommen. Als Absolvent eines Zweiges des ‚Het Instituut voor de Javaansch Taal the Soerakarta‘, einem Sprachinstitut, das vornehmlich dem Zweck diente, niederländische Beamte in der javanischen Sprache auszubilden, erschien ich dem Adel als geeignet, dem Willen der einflussreichen Kaufmannsfamilie nachzukommen. Ich sprach ein fließendes Niederländisch, außerdem Deutsch und Englisch, und hatte durch den Kontakt zu meinen europäischen Lehrern die Denkweise und Kultur der Niederlande kennengelernt. Aber am ausschlaggebendsten war vielleicht mein Interesse für die wissenschaftliche Tradition Europas, die analytische Vorgehensweise, mit der die Fremden, die in unser Land gekommen waren, die Welt zu erklären versuchten. Dieses Denken war gegenüber dem der Javaner absolut andersartig, faszinierte mich aber im selben Maße wie die europäischen Einwanderer selbst.

Als Willem mich anblickte, erweckten seine ebenmäßigen Züge und die spitzzulaufende Nase Erinnerungen in mir. Im wayang kulit, dem traditionellen Schattenspiel, das seit Jahrhunderten mit flachen, ledernen Puppen vom dalang, dem Puppenspieler, geführt wurde, besaßen all jene Figuren ebenmäßige, glatte Gesichtszüge und spitze Nasen, deren Wesen von edler und reiner Gesinnung erfüllt war. In Willems Augen blitzte die Neugier auf, und für einen Moment spürte ich die Unsicherheit in mir keimen, die Angst davor, die Fragen dieses wissbegierigen Mannes nicht beantworten zu können und dadurch mein Gesicht zu verlieren. Doch im nächsten Moment empfing mich dieses warme Lächeln, das Verständnis und Güte offenbarte. Es war eine Frage, mit der Willem mich begrüßte.

„Die große Erhabenheit der abendländischen Kunstmusik ist es, dass sie notiert ist. Werk und Aufführung existieren dadurch in zwei voneinander getrennten Sphären. Das Werk ist die Notation, ist durch sie bewahrt und damit in gewissem Sinne ewig. Warum habe ich nie Notationen des Gamelan gesehen, die aus der Zeit vor der Ankunft europäischer Forscher datieren?“

Kaum waren Willems Worte verklungen, deutete er mit einer Handbewegung auf den Sessel ihm gegenüber. Schweigend blickte ich den Sessel an und setzte mich, strich mit meinen Fingern über den glatten Stoff meines Sarong, der mit roten und goldenen Batik-Mustern versehen war. Da Willem nicht den Eindruck machte, er verlange eine sofortige Antwort, ließ ich mir etwas Zeit, über den seltsamen Gesprächseinstieg, den mein Gegenüber gewählt hatte, nachzudenken. Meine Herkunft als Hofmusiker am Kraton hatte mir einen tiefen Einblick in die Tradition des Gamelan verschafft. Aber mehr noch, hatte ich durch die wissenschaftliche Denkweise, die meine Lehrer mir nähergebracht hatten, einen neuartigen Blickwinkel auf das Gamelan, Javas erhabene Musiktradition, erlangt. Doch auch mir stellten sich Fragen, mehr noch, je länger ich darüber nachdachte, weshalb meine Vorfahren eben diese Art der Musik hervorgebracht hatten und keine andere. War unsere Kultur nur dazu fähig, eine Musik hervorzubringen, die ihrer angemessen war? Während meine Gedanken wanderten, dachte ich an die vielen Gongspiele und Klangschalen, die es in einem Gamelan gab, an die ritualisierten Bewegungen der Hofmusiker, die niemals für sich selbst, sondern für die strikt festgelegten Anlässe am Kraton ihre Instrumente bespielten und damit das alte Java lebendig machten.

Ich senkte leicht den Kopf und blickte Willem nicht direkt an, als ich ihm antwortete. Anders als das aufgebrachte Feuer der Neugier, das in Willems Stimme mitschwang, blieb die meine wie immer ruhig und gezügelt.

„Jedes Gamelan-Stück dient einem festgelegten Zweck. Es existiert in diesem Sinne nur während seiner Aufführung.“

Willem lächelte. Die Kürze meiner Antwort stimmte ihn nicht missmutig, sondern schien seine Freude an der heranwachsenden Diskussion entfacht zu haben.

„Wie bleiben die Stücke im Repertoire der Hofmusiker?“

„Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Mein Vater, selbst Hofmusiker, hat mich bereits als Kind in das Gamelan eingewiesen. Ich habe seine Essenz verinnerlicht.“

Willem lehnte sich zurück. Ein Diener kam herein und servierte Tee auf einem Tablett. Ich dankte nickend und nahm mir eine der kunstvollen Porzellantassen, nach dem mich Willem mit einem Wink dazu aufgefordert hatte. Willem nahm die andere Tasse, rührte den Tee aber nicht an, ganz in unsere Diskussion vertieft.

„Ich hatte die Möglichkeit, den Festkalender des Kraton von Soerakarta zu sehen. Was du sagst, ergibt Sinn. Das Gamelan scheint mir enorm fest in den höfischen Aufführungsrahmen eingebettet zu sein“, führte Willem weiter aus und wechselte mit seiner Anrede auf eine persönliche Ebene. Obwohl ich mir der Einfachheit der niederländischen Sprache in dieser Hinsicht bewusst war, war ich froh, dass Willem den ersten Schritt gemacht hatte. Das Javanische verfügte, anders als die europäischen Sprachen, die ich bisher kennengelernt hatte, über zahllose Höflichkeitsebenen, die ein Gespür für die gesellschaftliche und soziale Stellung des Gesprächspartners erforderlich machten. Besonders in Bezug auf Ausländer war es nicht immer ganz einfach, die richtige Anrede und Höflichkeitsebene zu finden. Ich war deshalb innerlich froh darüber, dass wir uns nicht des Javanischen bedienten und dass Willem allem Anschein nach keinen besonderen Wert auf die sprachliche Etikette legte.

„Das Gamelan wird niemals um seiner selbst willen gespielt. Es erfüllt den Zweck, die höfischen Traditionen zu erhalten und das Weltbild des Kraton zu stützen.“

Willem schien diese Aussage zu faszinieren. Seine Hand glitt über seinen gestutzten Bart, während er – in Gedanken versunken – nach seiner Teetasse griff, zu trinken ansetzte, sie dann aber wieder auf das Tablett stellte, als ihm ein neuer Gedanke gekommen war. Die Emotionalität, die Begeisterung, die Willem und andere Europäer in ihre Gespräche einfließen ließen, erstaunte mich ein jedes Mal von neuem.

„Demnach ist es eine logische Schlussfolgerung, dass sich im Gamelan keine Solomusiker herausgebildet haben, keine bevorzugten Instrumente“, eröffnete Willem einen neuen Diskussionsstrang, den ich, noch immer ruhig und entspannt dasitzend, annahm und weiterflocht. Ich konnte nicht leugnen, dass Willem das Gamelan bereits ausführlich betrachtet hatte, und tief in meinem Inneren erwuchs in mir die Hoffnung, Willem könnte gleichfalls mir helfen, meine eigenen Fragen zu beantworten, die allgegenwärtige Form zu ergründen, deren Umrisse ich gerade erst zu erahnen begonnen hatte.

„Du hast Recht. Jeder einzelne Musiker trägt seinen Teil zur Gesamtheit hinzu. Das Gamelan verfügt zwar über eine Hierarchie, doch würde das Versagen selbst des einfachsten Teiles dazu führen, dass die Funktion des Gamelan scheitern würde. Jeder Musiker besitzt deshalb eine große Verantwortung für sein Handeln, nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auf die Gruppe im Ganzen. Genauso, wie es der Javaner für seine Familie tut. Eine zu rasche Bewegung, eine Störung des Gefüges, führt zum Verlust der Harmonie, zum Gesichtsverlust. Harmonie ist nichts, das man erst erreichen muss, sie ist bereits allgegenwärtig, muss aber erhalten werden.“

Willem lächelte breit, nahm seine Tasse und begann zu trinken.

Die Regenzeit begleitete unsere Gespräche. Um meine Anreisezeit zu verkürzen, hatte Willems Familie mir ein Zimmer in Bogor zur Verfügung gestellt. Das Haus gehörte der Handelsgesellschaft und verfügte über mehrere Gästezimmer für neu angereiste Angestellte und deren Familien aus Europa. Hier traf ich zum ersten Mal auf eine größere Gruppe Europäer, zukünftige Gutsverwalter, Plantagenaufseher, die mit ihren Familien vor kurzem auf Java angekommen waren, um hier ihre Dienstzeit von einigen Jahren zu absolvieren.

Die Geräusche spielender und lachender Kinder wärmten mir das Herz, während mein Blick durch das Fenster auf die Regenschleier fiel. Sturzbäche ergossen sich aus den Wolken und rissen, sobald sie auf der Erde angekommen waren, all jenes mit sich, das ihnen nicht widerstehen konnte. Doch nicht nur materielles Gut, so schien es mir, wurde davon hinfort gespült, auch meine Gedanken sanken auf diesem Strom dahin und trieben fort, unerreichbar für mich. Flüchtig ist das, was wir in unseren Händen halten.

Regelmäßig sorgte Willems Diener, Pak Raman, für meine sichere Reise zum Familienanwesen. Pak Raman war bereits ein älterer Mann, doch seine Erscheinung zeugte immer noch von Stärke und Ausdauer. Es war das erste Mal, dass ich längere Gespräche mit einem Diener führte. Für Raman war es ein Glück, im Haushalt der Wiesen dienen zu dürfen, denn dort wiederfuhr ihm eine gute Behandlung. Anders als in seinem Leben zuvor, musste er sich nicht mehr darum sorgen, ob er auch am kommenden Tag genug zu essen haben würde.

Raman stammte aus Bandung. Die Stadt der Blumen, wie sie genannt wurde, lag ungefähr 100 Kilometer von Bogor entfernt, weiter im Westen der Insel. Die Europäer hatten Bandung zum Zentrum ihrer Plantagenwirtschaft ausgebaut, und wegen ihrer Art-Déco-Architektur, den bunten Flaniermeilen und dem stark europäisch geprägten Ambiente wurde sie auch ‚Paris des Ostens‘ geheißen. Von Paris hatte ich bisher nur Bilder gesehen, die ein betagter Lehrer der Sprachschule mir in seinem Fotoalbum gezeigt hatte. Natürlich hatte Raman, wie die meisten seiner Landsleute, nicht vom glitzernden Prunk Bandungs profitiert, sondern fristete sein Dasein, gemeinsam mit seiner Familie, in einem der Dörfer, die nun von den Plantagen umschlossen waren. Das Leben auf den Feldern war hart. Die schwüle Hitze drückte auf die Lungen, die Sonne brannte tagtäglich stundenlang auf die halbnackten Körper der Plantagenarbeiter, deren Knochen durch das ständige Bücken und die krumme Haltung schnell verschlissen.

„Mein Bein ist nicht mehr gut. Ich spüre es, vor allem in der Regenzeit. Immer, wenn es regnet, kommt das Pochen zurück, und eine Taubheit breitet sich in meinem Bein aus, tuan. Der dukun aus meinem kampung hat mir eine Salbe gegeben, tuan. Es hilft gegen die Taubheit, aber auf den Plantagen arbeiten kann ich nicht mehr. Ich wollte meiner Familie nicht zur Last fallen, sie kann sich selbst kaum ernähren. Ständig fehlt es an etwas. Deshalb bin ich an die Küste gekommen. In Batavia, dachte ich mir, werde ich schon irgendetwas finden. Zum Glück kann ich Autofahren. Ich habe es damals gelernt, als die Straßen gerade neu ausgebaut wurden. Sie suchten Fahrer für ihre Lastkraftwagen und Transporter und bildeten einige Männer aus den umliegenden Dörfern darin aus. Ich war unter ihnen und lernte es schnell. Als ich das erste Mal einen der großen Wagen sah, fing mein Herz an zu pochen. Niemals zuvor hatte ich einen motorisierten Wagen gesehen. Er schien mir wie ein Ungetüm. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie ein toter Gegenstand, ein kleiner Motor, einen so großen Wagen ziehen kann. Tuan van der Wiesen hat mich eingestellt, weil ich fahren konnte. So wurde ich Hausdiener und Fahrer. Ich versuche, immer etwas von meinem Lohn zu sparen und schicke ihn dann mit der Post nach Bandung, wo meine Familie ihn abholen kann. So trage ich meinen Teil dazu bei, tuan“, erzählte mir Raman bei unserer ersten Fahrt.

Wie die Tage zuvor, regnete es auch an diesem Nachmittag in Strömen, und dicke Regentropfen prallten einem Crescendo gleich auf das Dach des Autos. Raman fuhr langsam und konzentriert. Ich war zuvor nur wenige Male in einem Auto mitgefahren und dass auch nicht während der Regenzeit. Trotzdem fühlte ich mich in Pak Ramans Anwesenheit sicher und geborgen. Raman war ein einfacher Mann, der sich niemals Gedanken über die Tiefe des Gamelan oder den Aufbau des Kosmos gemacht hatte, und doch kannte er seinen Platz, fügte sich seinem Schicksal und sprach von seinem Leben nicht in Worten der Scham oder Verzweiflung, sondern der Dankbarkeit. Während der Wagen über die verregnete Straße rumpelte, Sturzbäche zu unseren Seiten, lauschte ich im Polster zurückgelehnt Pak Ramans ruhiger Stimme und ließ meine Gedanken vom Regen davontragen.

Mehrmals in der Woche war ich Gast in Willems Haus. Unsere Begegnungen liefen stets ähnlich ab. Willem saß zumeist am Klavier oder seltener auf der Veranda. Die Gewitter schienen ihn zu faszinieren. Wenn die gleißenden Blitze, einem unendlich komplizierten Muster gleich, über den düsteren Himmel zogen und die Macht der Berge herausforderten, saß er gedankenverloren auf der Veranda und starrte in Richtung des grauen Horizonts. Es waren jene Momente, in denen er mich bat, ihm etwas über die javanische Kosmologie zu erzählen, die Zyklen der Zeit, den Ort, den jeder Javaner zu erreichen suchte.

„Dieser Ort ist ein Ort der Ambivalenz. Gleichzeitig ist er aber bereits an einem Punkt, der jenseits jeder Ambivalenz liegt, denn alle Widersprüche lösen sich in ihm auf. Er ist die absolute Konzentration aller kosmischen Kraft. Im wayang kulit ist es die Figur des semar, die an der höchst möglichen Nähe zu diesem Ort steht. Semar ist einerseits Lehrer der heldenhaften pandawa, andererseits ist er ihr Diener. König und Diener in ein und derselben Person. Die Konsubstantion von Gott und Mensch. In den alten Märchen ist es die Meditation, die geringste mögliche Bewegung, die absolute Verharrung in einem bewegungslosen Zustand, die letztendlich zu diesem Ort führt. Und wenn die pandawa, versunken in ihre Meditation, alle kosmische Energie auf sich konzentrieren und an den Punkt gelangen, der alle Widersprüche unseres Universums vereint, dann bebt die Erde und die Vulkane erwachen, spucken ihr gleißendes Feuer in die Welt. Jeder Javaner strebt nach rasa, dem Feingefühl für seinen Platz in der Welt. Es ist uns nicht gegeben, diesen Platz zu verlassen. Es ist wie absolute Finsternis, die uns umgibt, und wir können nur kleine Schritte machen, um unseren Weg zu gehen, aber am besten verharren wir dort, denn wir könnten die kunstvollen Schätze zerstören, die in der Dunkelheit um uns herum aufgebaut sind und damit die Ordnung durcheinander bringen. Es ist wie im Gamelan. Jeder Musiker muss das rasa in sich tragen, das Feingefühl, damit er seinen Platz im Gefüge kennt, weiß, in welchem Zyklus er sich befindet, wohin er seine Sinne zu richten hat.“

Nachdem ich geendet hatte, erfüllte unser Schweigen die Dunkelheit, während das Grollen aus den Bergen und das Rauschen der Nacht Welten entfernt schien. Ich hörte, wie Willem seine Teetasse auf den hölzernen Beistelltisch abstellte und seufzte. Es war ein seltsamer Laut, der Sprache vorhergehend und doch stärker im Ausdruck als es tausend Worte hätten sein können. Ohne, dass Willem mich dazu aufgefordert hätte, sprach ich weiter, verlor mich in den Gedanken, die in mir schlummerten, seit ich ein Kind gewesen bin.

„Die Zyklen sind Sinnbild der kosmischen Ordnung, an die wir glauben. Der Hof des Kraton bewahrt diese Erinnerungen. Der gong ageng, der große und ehrwürdigste Gong im Gamelan, webt den ausgedehntesten dieser Zyklen, dem sich alle anderen unterordnen, der alle anderen umschließt, mit ihnen koinzidiert. Die Musik hat keinen Anfang und kein Ende, denn sie ist ewig, zirkulär.“

„Und doch wissen wir selbst nicht recht, wo wir stehen…“, war Willems Stimme in der Dunkelheit zu vernehmen. Seine Worte rissen mich in die bodenlose Tiefe, in den Abgrund meiner Selbstzweifel. Wie viele Male hatte ich über die Zyklen nachgedacht, über die kosmische Ordnung der javanischen Weltanschauung gegrübelt, und doch nicht herausfinden können, wo ich selbst, dieser unendlich kleine Teil des großen Ganzen, mich befand.

Zeit im Regen, Zeit im Wind

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