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II. Der Stoff des Krimis – das Verbrechen

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Der Krimi hat es seit jeher so gut wie immer mit dem Verbrechen des Mordes zu tun. Das ist, offen gesagt, langweilig und unökonomisch. Das Verbrechensopfer scheidet mit der Tat zwangsläufig aus dem Kreis der handelnden Personen, insbesondere der Verdächtigen, aus. Es ist stumm und kann sich nicht mehr an den Whodunit-Dialogen 9 beteiligen. Auch kann es sich nicht wehren, wenn etwa die Frau des ermordeten Bankdirektors in einem Geständnis alle Schuld auf sich nimmt, was sie aber nur tut, um den mißratenen Sohn zu schützen, der seinen Papa und Erblasser abgemurkst hat. Der Papa, der es besser weiß, kann es nicht mehr richten.

Das Wort »Mord« hat einen Beigeschmack. Wenn Kommissar Bärbeiß im Tatort die erlösenden Worte spricht: »Otto Schnöd, ich nehme Sie vorläufig fest wegen des Verdachtes, Ihren Konkurrenten Franz Leichtfuß ermordet zu haben!« schwillt die Musik an. Etwas Vergleichbares gibt es nur im Arztfilm (»Hinter uns nur die Wand resp. der Herrgott«), wenn Dr. med. Bertram im OP das magische Wort »Trendelenburg« 10 spricht. Auch das Strafgesetzbuch war von dieser Mord-Musik erfasst worden, als es in §211 StGB anordnete, »der Mörder« werde mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft wird. Dabei ist sich das gesamte strafrechtliche Schrifttum darin einig, daß diese Formulierung nichts bedeutet, und daß »der Mörder« nicht für sein Mörder-Sein bestraft wird, sondern dafür, daß er einen Mord begangen hat. Mord ist bei aller Scheußlichkeit eine schlichte Qualifikation des Totschlags, §212 StGB, so, wie der Diebstahl mit Waffen, § 244 StGB, eine bloße schwere Form des Diebstahls, §242 StGB, ist. Die Formulierung »der Mörder« stammt aus der Nazizeit und ist ein Relikt jener unseligen Zeit, in der man Menschen wegen ihrer Rasse, ihrer Herkunft, ihrer Überzeugung oder einfach ihres So-seins verfolgte. Die Strafrechtswissenschaft hatte mit einer sogenannten Tätertypenlehre solchem Ungeist einen pseudowissenschaftlichen Boden bereitet – der Mörder, der Totschläger, der Zuhälter, der Volksschädling ... Den einzigen Anwendungsfall, wo das sachgerecht gewesen wäre, hat die Demokratie nach dem Krieg verschmäht – der »Alte Nazi«. Da hätte man aufräumen müssen, es gab aber zu viele davon.

Die Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag ist in allen Rechtsordnungen und allen Epochen ein Problem gewesen, das bis heute nicht wirklich gelöst ist. Die alten Germanen unterschieden zwischen dem offenen, ehrlichen, »teutschen« Totschlag von vorne (Strafe: Enthaupten) und dem heimlichen, verschlagenen, »welschen« Mord von hinten (Strafe: Rädern). Im alten Rom achtete man auf das Opfer. Mord war es beispielsweise, wenn man einen Verwandten umbrachte, während das Töten eines Sklaven in die Rubrik Sachbeschädigung fiel, und das auch nur bei fehlendem Eigentum. Im angelsächsischen Recht unterscheidet man zwischen der vorbedachten Tötung (Mord) und dem spontanen Handeln (Totschlag). Das heutige deutsche Strafgesetzbuch enthält in § 211 StGB eine Kasuistik (also eine Fallaufzählung) von zehn verschiedenen Mordmerkmalen, die wie jede Kasuistik Zweifelsfragen aufwirft. So ist die heimtückische Tötung Mord; wenn das Opfer aber ein ganz widerwärtiger Zeitgenosse ist, der den Täter in bodenlose Verzweiflung und damit quasi zur Tat gezwungen hat, sucht man nach Wegen, um die bei Mord zwingend vorgeschriebene lebenslange Freiheitsstrafe vermeiden zu können. Dazu soll beispielsweise eine negative Typenkorrektur dienen, bei der man die Existenz eines ungeschriebenen Mordmerkmales »Verwerflichkeit« bejaht, das, da ungeschrieben, nicht positiv zu bejahen ist, sondern nur bei dessen Fehlen negativ zu verneinen ist. Solche Sachen machen wir Strafrechtler. Man braucht mindestens acht Semester Jurastudium, um das zu verstehen. Manchen gelingt es nie.

Ich habe mich oft gefragt, warum es im Krimi so gut wie immer Mord sein muß. Ich glaube, es liegt neben der Schwere der Tat auch daran, daß ein Mord so leicht beschrieben werden kann. Obwohl keiner der Autoren jemals Zeuge eines Mordes geworden sein dürfte, fällt es selbst harmlosen Hausfrauen im Speckgürtel von München leicht, zu beschreiben, wie Otto Grimmig sein Gewehr lädt, damit anlegt, den Zeigefinger krümmt und – peng – den Franz Leichtfuß erlegt. Dinge dagegen, die sie wirklich erlebt haben, wie etwa den Monduntergang über dem Hofoldinger Forst, aufsteigenden Nebel über der Aue, ein wogendes Kornfeld, das Erwachen der ersten Liebe, den ersten Kuss, die Geburt des ersten Kindes, die Beförderung des Ehemannes zum stellvertretenden Abteilungsbeauftragten und das Glücksgefühl bei Vier Richtigen im Lotto vor Bekanntwerden der Quote (34,80 Euro)- so etwas kriegen sie nicht auf das Papier.

Diese Beschränkung auf den Mord ist auch deshalb bedauerlich, weil es so viele andere Verbrechen 11 gibt, daß niemand auch nur ihre Zahl nennen kann. Das Strafgesetzbuch beschreibt einige hundert davon, darunter so exotische Dinge wie die »Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole«, § 90a StGB, die »Wählerbestechung«, § 108b StGB, »exhibitionistische Handlungen«, §183 StGB, die »Förderung des Menschenhandels«, § 233a StGB, die »Gefährdung von Schiffen, Kraft- und Luftfahrzeugen durch Bannware«12, §297 StGB, den »Vollrausch«, § 323a, die »Schiedsrichtervergütung«, §337 StGB und den »Vertrauensbruch im auswärtigen Dienst«13, §353a StGB. In anderen Gesetzen, im sogenannten Nebenstrafrecht, gibt es darüber hinaus noch eine Fülle von weiteren Strafgesetzen. Niemand kennt sie alle. Niemand kann ihre Zahl nennen. Bis vor wenigen Jahren sah beispielsweise ein gültiges Gesetz noch die Todesstrafe für »Veranstalter und Anführer« eines »zum Zweck des Sklavenraubes unternommenen Streifzuges« vor, wenn der »Streifzug« den Tod eines seiner Opfer verursacht habe (BGBl 1969 I 645, 717). So etwas war früher in Hessen üblich gewesen, als Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel seine Landeskinder nach Amerika verkaufte; Schiller hat die Methode in »Kabale und Liebe« beschrieben:

»Lady (wendet sich bebend weg,seine Hand fassend): Doch keine Gezwungenen?

Kammerdiener (lacht fürchterlich): O Gott – Nein – lauter Freiwillige. Es traten wohl so etlich vorlaute Bursch’ vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? – aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganze Armee schrie: Juchhe nach Amerika! –

Lady (fällt mit Entsetzen in den Sofa) Gott! Gott! – und ich hörte nichts? Und ich merkte nichts?«

Ja, unser Dichter, so geht es immer mit den Frauen. Sie hören nichts, sie merken nichts, aber sie wollen geliebt werden. So etwas ist übrigens heute auch in Hessen nicht mehr üblich, ich meine das Hinrichten, obwohl die hessische Verfassung in Artikel 21 Abs. 1 Satz 2 immer noch die Todesstrafe kennt.

Wie immer auch – ein riesiges Reservoir an potentiellen Verbrechen steht zur Verfügung. Und was geschieht in den Krimis? Otto Schnöd erschießt Franz Leichtfuß. Nicht einmal die Todesart wird wirklich variiert. Es wird geschossen, gestochen, erschlagen oder in der Badewanne per Elektroföhn gemeuchelt. Schon der klassische Giftmord, den frühere Generationen zu wahren Kunstformen des Verbrechens entwickelt hatten, ist heutzutage so gut wie ausgestorben. Wer kennt noch den Unterschied zwischen Amanita caesarea, dem harmlosen Kaiserling, und Amanita phalloides, seinem bösen Zwilling, dem tödlich giftigen Grünen Knollenblätterpilz? Die Wälder sind voll von Fingerhut und Eisenhut, aber wer weiß schon, daß man aus Fliegenfängern soviel Arsen gewinnen kann, wie man nur will. Und dann die Kräuter im Reformladen – Nieswurz, Alraun, reines Wermutöl ... Die Borgia wären in Tränen ausgebrochen. Das Wermutöl verkaufen sie dort als organisches Insektenabwehrmittel, als ob es damit ungefährlicher wäre als das Zeug aus dem Supermarkt. Mit einer Flasche könnte man eine Armee umbringen. Und hat jemand eine Ahnung davon, daß das in der Tollkirsche enthaltene Atropin das Nervensystem beschleunigt – schneller Herzschlag und soweiter –, und daß Amatoxine es bremsen? Ein paar selbstgepflückte Pilze, ein paar schlechte, die daruntergemischt sind, und Herr Direktor Köttendreier wird sterben, während Frau Köttendreier zwar ebenfalls schrecklich krank wird, aber mit dem Leben davonkommt und die Erbschaft antreten kann. Da hätte Kommissar Haverstroh etwas zu knacken, vorausgesetzt, er nascht nicht an den Resten des Pilzgerichts.

Stattdessen: DNA-Spuren an der Pistole und zur Sicherheit ein Geständnis in den letzten fünf Minuten. Das ganze Giftwissen, über das schon die alten Perser verfügten, und das in der Renaissance seinen Höhepunkt erreicht hatte, ist dahin. Damals war der natürliche Tod eines Potentaten ein Grund, die Polizei zu verständigen. Es musste sich um eine neue, besonders raffinierte Form des Giftmordes handeln, die schon aus staatspolitischen Gründen von höchstem Interesse war. Und heute? Um es mit dem Eintrag Ludwigs IVI. angesichts der französischen Revolution in sein Tagebuch zu sagen: »Rien!«

Auch aus scheinbar harmlosen Delikten kann man große Geschichten machen. Nehmen Sie etwa die Ohrfeige. Sie ist eine körperliche Mißhandlung und daher eine Körperverletzung, § 223 StGB, also eine Straftat, die immerhin mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist. Der zu Unrecht vergessene Schriftsteller Hermann Mostar (1901-1973) führte in seinem 1966 erschienen Buch »Weltgeschichte höchst privat« wesentliche Teile der neueren Geschichte auf sechs Ohrfeigen zurück. Seine Deutung leuchtet in hohem Maße ein, weshalb ich sie zur Ehrenrettung der Ohrfeige hier zusammenfasse (bitte kein Eintrag in Vroniplag – die Formulierungen stammen von mir): Die erste Ohrfeige knallte nach Mostar anno 1400 in Dresden, als der Burggraf Jeschko von Dohna dem Markgrafen zu Meißen während eines sächsischen Adelstanzes eine Ohrfeige verpasste, nachdem der Markgraf der süßen Burggräfin einen Kuss versetzt hatte. Darob kam es zur Fehde, die der Dohna ungerechterweise verlor. Er floh zum Kaiser Sigismund, der es aber ebenfalls auf die Burggräfin abgesehen hatte, und der auf Empfehlung des Markgrafen dem Dohna den Kopf vor die Füsse legen ließ, womit er gleich zwei Fliegen schlug, nämlich die Burggräfin, die sein wurde, und Dresden, das der Markgraf für seinen guten Ratschlag erhielt. Die Nachfahren des Dohna aber flohen zum Kurfürsten von Brandenburg und sahen ihre Lebensaufgabe sowie die künftiger Dohnageschlechter verständlicherweise darin, gegen die Sachsen und den Kaiser zu wüten, was schon alsbald, nämlich zweihundert Jahre später zum Erfolg führen sollte. Die zweite Ohrfeige knallte anno 1575, als der Herzog Heinrich von Liegnitz aus dem Geschlecht der Piasten seine süße Mätresse namens »Kittlitzin« bei einem Bankett neben seine hässliche Frau setzen wollte. Die aber war eine geborene Hohenzollern und erhob Einwände gegen diese Nachbarschaft an der Tafel, worauf Durchlaucht seiner Durchlauchtin eine klebte. Die Geklebte wandte sie sich empört an ihren Bruder, den Markgrafen von Ansbach, der wandte sich wiederum an den Kaiser, und der tat, was alle Beoachter für ebenso unmöglich unmöglich gehalten hatten wie wir Heutigen etwa den Rücktritt eines Bundespräsidenten wegen eines zinsgünstigen Darlehens. Er erklärte den kinderlosen Herzog in die Reichsacht. Das wirkte, Heinrich musste sein Land an seinen Bruder abtreten und verkam im Elend. Brandenburg aber, das von den Hohenzollern regiert wurde und natürlich mit dem Erbe gerechnet hatte, hatte das, was wir Historiker das Nachsehen nennen. Das Geschlecht der Piasten herrschte in Liegnitz noch hundert Jahre. 1585 nahm Österreich auch noch Schlesien, und Brandenburg hatte erneut das Nachsehen. Auch diesmal dauerte es fast zweihundert Jahre, bis die Hohenzollern die Ohrfeige rächen konnten. Die dritte Ohrfeige knallte 1613. Anno 1609 war das Geschlecht der Herzöge von Jülich, Cleve und Berg in der Hauptstadt Düsseldorf erloschen, weil der letzte Jülich, Cleve und Berg ohne Nachfahren dahingeschieden war. Um das Erbe, immerhin das heutige Bundesland NRW, balgten sich die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen sowie der Graf von Pfalz-Neuburg mit jeweils mehr oder weniger guten Erbansprüchen. Die Verhandlungen für Brandenburg führte ein Dohna, der die erste Ohrfeige nicht vergessen hatte, lag diese doch erst zweihundert Jahre zurück. Er bewirkte eine Einigung nach dem Prinzip »Halbe-Halbe«, wie sie heute noch manche Zivilrichter bei Vergleichsvorschlägen bevorzugen. Diese fand zwischen dem Kurfürsten von Brandenburg und dem Pfalzgrafen statt, was bedeutete, daß der Sachse nichts bekommen sollte. Nach alter Kuchenvergrößerungsart hatte der Dohna dem Pfalzgrafen, um diesem die Sache schmackhaft zu machen, die Tochter des Brandenburgers als Eheweib zugedacht. Darob kam es zu einem Besäufnis, und als der Pfalzgraf seine nicht gerade reizvolle Braut näher besah, soweit ihm dies in seinem Zustand möglich war, kam er auf die Idee, als Ausgleich für soviel Hässlichkeit das ganze Erbe, sprich ganz NRW, zu fordern. Daraufhin erhob sich sein Schwiegervater in spe, Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg, schwankend zu voller Schwiegervatergröße und klebte ihm eine. Am nächsten Morgen reisten die Herren beleidigt ab. Der Pfalzgraf suchte Unterstützung beim Herzog von Bayern, dessen Tochter er dann auch heiratete, wozu er freilich katholisch werden und der katholischen Liga beitreten musste. Der Brandenburger fand seinerseits Unterstützung bei den Holländern, wofür er vom lutherischen zum reformierten Glauben übertreten musste, was damals ungefähr so schlimm war wie wenn heute ein Muslim Mormone würde, und was die lutherische Front schwächte. Die Katholiken fühlten sich gestärkt, die Protestanten waren geschwächt und so kam es zum Dreißigjährigen Krieg, in dem die Protestanten zunächst unterlegen waren. Der Retter der Protestanten war König Gustav Adolf von Schweden. Er verpasste die vierte Ohrfeige seinem Pagen, dem Prinzen Franz Albert von Lauenburg. Was der Pagenprinz angestellt hatte, ist nicht überliefert. Der König handelte jedenfalls nach dem alten Spruch, demzufolge eine Ohrfeige noch niemandem geschadet hat. Das sollte sich jedoch als Irrtum erweisen. Der Page war nämlich ein nachtragender Mensch, und Jahre später, anno 1633, als Gustav Adolf, der die katholische Liga zuvor in die Schranken gewiesen hatte, in die Schlacht bei Lützen ritt, knallte der nachtragende Prinz den König in der Schlacht hinterrücks ab. (Ich komme auf diese Überlieferung zurück.) Womit der Siegeszug der Protestanten gestoppt und der Begriff »Friendly Fire« in der Welt war. Die Katholiken hatten wieder Oberwasser – zunächst. Bald danach knallte die fünfte Ohrfeige, und zwar in Paris. Dort lenkte Kardinal Richelieu im Dreissigjährigen Krieg die Geschicke Frankreichs. Sein Katholizismus hinderte ihn nicht, sich mit den Protestanten gegen das katholische Habsburg zu verbünden. König Ludwig XIII. von Frankreich war kinderlos und hatte nach menschlichem Ermessen keinen Nachwuchs mehr zu erwarten. Sicherer Thronerbe war sein Bruder Gaston, der sich in die hübsche Nichte des Kardinals verliebte. Richelieu überschätzte seine Rolle daraufhin und schlug Gaston bei einem Hoffest vor, die Nichte zu heiraten. Das empörte den adelsstolzen Gaston so sehr, daß er dem Kardinal vor dem versammelten Hofstaat eine fürchterliche Ohrfeige verpasste. Richelieus Rache hierfür war ebenso fürchterlich wie katholisch. Er vermittelte ein Verhältnis des in Paris bekannten Frauenflüsterers Graf von Rivière mit der Königin Anna, die an ihrer trüben Tasse von Ehemann, dem König Ludwig XIII., wenig Freude hatte. Und schon ein Jahr später genas die Königin eines Thronfolgers, der später als Ludwig XIV. Geschichte machen sollte. Gaston aber war aus dem Rennen. Und die von Richelieu unterstützten Protestanten entschieden den Dreißigjährigen Krieg zu ihren Gunsten. Die sechste Ohrfeige verpasste Lieselotte von der Pfalz, die Nachfahrin des erwähnten Pfalzgrafen und Ehefrau des Bruders von Ludwig XIV., ihrem Sohn, und zwar vor dem ganzen französischen Hofstaat, als der sich einverstanden erklärte, eine der unehelichen Töchter des Königs zu heiraten. Es war eine mütterliche Ohrfeige, aber sie nützte nichts. Der Junge musste heiraten, wen der König wollte. »Die geschichtsbildende Kraft der Ohrfeigen war vorbei«, merkt Hermann Mostar an. Lest Mostar, Leute, und druckt seine Bücher wieder, ihr Verleger. Das bringt mehr Nutzen als Werke, in denen Sie erfahren, wer Sie sind und wieviele, ob Deutschland sich abschafft oder wo die weiblichen Feuchtgebiete zu finden sind. Ihre geschichtsbildende Kraft mag vorbei sein. Die krimibildende Kraft der Ohrfeige liegt dagegen noch vor uns.

Nehmen Sie Bankier, nein, Banker, oder noch treffender, Bankster Gütenkron, den Chef der Gier-Bank, und nehmen Sie dazu seinen Geschäftspartner Kuttendreier vom Happy-Money-Hedge-Fonds, und lassen Sie Bankster Gütenkron mit der Gattin von Kuttendreier, einer geborenen von Schnaps aus der bekannten Rüdesheimer Dynastie derer von Schnaps-zu-Hochprozent, ein Weekend im Golf Resort North Sea Peace auf Sylt verbringen, wo Kuttendreier die beiden überrascht, und lassen Sie Kuttendreier, statt den Gütenkron im Affekt abzuknallen, dem Gütenkron eine Ohrfeige verpassen, die vom Finanzplatz London bis zur Wall Street homerisches Gelächter auslöst und den Lombardsatz ins Wanken bringt – das könnte doch der Beginn eines wunderbaren Krimis zu sein. Statt den Tatort durch die KTU untersuchen zu lassen, indem alle in weißen Overalls herumrennen und Schmauchspuren an der Hand von Kuttendreier sichern und Geschosse aus der Wand kratzen, und statt Kuttendreier die Frage aller Fragen zu stellen – »Wo waren Sie gestern abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«, was der Kriminalassistent Harry wie stets übersetzt: »Ich meine, wo sind sie in der letzten Nacht gewesen, vor Mitternacht, zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«, welche Fragen wiederum auf den Doc von der Gerichtsmedizin zurückgehen, der die Leiche am Tatort untersucht und gesagt hat: »Ich schätze, der Tod ist zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht eingetreten«, was er aber stets mit dem Zusatz versieht: »Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen« – statt all diese Krimiödnis auszubreiten (und das in Sylt, wo all die Beautifuls zu dieser Zeit im Go-Go-Gärtchen Champagner saufen und sich gegenseitig falsche Alibis geben), könnten Sie einen Rachefeldzug des Gütenkron schildern, der es darauf anlegt, den Kuttendreier zu ruinieren, was wiederum voraussetzt, daß er am Leben bleibt und eben nicht zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht vom Leben zum Tode befördert wurde. Und so ein Bankster, der einen Mittelständler zur Strecke bringt (oder wäre es umgekehrt? Egal!) – das hätte schon etwas.

Auch die reichhaltige Rechtsprechung um Straftatbestand der Beleidigung, § 185 StGB, bietet einen noch ungehobenen Schatz an Material, dessen Bearbeitung in Beleidigungskrimis eine reizvolle Aufgabe wäre. Ich komme darauf zurück

Der französische Jurise François Gayot de Pitaval (1673-1743) veröffentlichte zwischen 1734 und 1743 eine zwanzigbändige Sammlung von »causes célèbres et intéressantes«. Friedrich Schiller gab eine vierbändige Auswahl der von Pitaval zusammengestellten Fälle heraus. Es kam zu Nachfolgeveröffentlichungen, so 1842-1890 »Der neue Pitaval« von Julius Eduard Hitzig und Willibald Alexis, so 1931 der »Prager Pitaval« von Egon Erwin Kisch und so 1963 ff. »Der neue Pitaval« von Herrmann Mostar und Robert Adolf Stemmle. Der letztere enthielt in vier Bänden Kriminalfälle aus den Bereichen Giftmord, Todesurteil, Raub und Betrug.

Bekannte derartige Sammlungen von Kriminalfällen sind weiter etwa die 1808/11 veröffentlichten »Merkwürdigen Rechtsfälle« von Paul Johann Anselm von Feuerbach, dem Vater der modernen Strafrechtswissenschaft. 1858/62 veröffentlichte Avé Lallemant sein Werk »Das deutsche Gaunertum«. Und 1949 veröffentlichten Gustav Radbruch und Heinrich Gwinner ihr Werk »Geschichte des Verbrechens«; es war das letzte Werk, das Gustav Radbruch kurz vor seinem Tod veröffentlichte.

Das waren die Vorläufer der heutigen Krimis.

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