Читать книгу Die Verlobte seines Bruders - Jessa James - Страница 10
Effie
ОглавлениеEffie hatte gedacht, dass sie sämtliche Tränen vergossen hätte, doch zu dem Zeitpunkt, als sie das Ende der Einfahrt zur Hütte der Smiths erreichte, blendeten ihre Tränen sie.
Ich kann mich auf keinen Fall in der Nähe von so jemandem aufhalten.
Sie musste nicht einmal darüber nachdenken. Effie lenkte den SUV zum Startpunkt der vertrauten Wanderwege, die sie mit King während ihrer gesamten Highschoolzeit erkundet hatte.
Er tröstete sie, der Klang ihrer Schritte in der Wildnis. Genau wie als Teenager konnte sie mühelos die Laute im Wald, der die Außenbezirke der Stadt umgab, auseinanderhalten. Winterammer. Goldzeisig. Roter Kardinal.
Genau an diesem Ort hatte sie King während ihres Junior Years zum ersten Mal erzählt, dass sie Tierarzthelferin werden wollte. Er hatte gelacht und gescherzt, dass es gut sei, dass sich das unermüdliche Auswendiglernen der Vogellaute bezahlt machen würde.
Sie wusste, dass ihre Dansko Arbeitsschuhe mit Matsch verschmiert wurden, aber sie lief dennoch weiter. Dr. Yung würde ihr die Hölle heiß machen, wenn sie sie sähe, aber im Wald schien die Arbeit ein Leben entfernt zu sein. Effie hörte nicht zu laufen auf, bis sie bemerkte, dass die Sonne bald untergehen würde. Sie war erschöpft, aber ruhig.
Als sie sich dem Explorer näherte, begannen die Wolken am Himmel eine bedrohliche tiefgraue Farbe anzunehmen. Effie schaffte es kaum von dem verlassenen Parkplatz, bevor die ersten Regentropfen fielen.
Frierend hämmerte sie auf den Knopf für die Sitzheizung, bis diese auf voller Pulle lief. Sie brauchte eine Meile, bis sie in eine Gegend mit Handyempfang kam und ihr Handy erbebte zum Leben unter einer Flut angestauter SMS.
Die von Thorne löschte sie, ohne sie zu lesen. Ihre Mom hatte widerwillig zugestimmt, sich um Yaya zu kümmern.
„Wir haben keinen Thymian mehr“, hatte ihre Mom hinzugefügt.
„Dann kümmre dich drum“, schimpfte Effie leise, ehe sie mit einem schlichten gereckten Daumen antwortete.
Da waren keine Nachrichten von King.
Keine große Überraschung. Er war noch nie ein großer Fan von Handys gewesen, nicht einmal bevor er ihr ein Ultimatum gestellt und dann allein nach L.A. verschwunden war.
Der Regen hatte sich zu einer wahren Sturzflut entwickelt. Obwohl die Scheibenwischer auf die höchste Stufe gestellt waren, konnte Effie nicht weiter als ein paar Meter sehen.
Sie bog um eine Ecke, nur um von einem wild schwankenden Sedan mit Fernlicht begrüßt zu werden. Er hupte laut, während Effies Herz erstarrte. Instinktiv steuerte sie an den Straßenrand und stoppte nur Zentimeter von einer steilen Böschung entfernt, die zu einem Bach führte.
„Vergiss das“, sagte sie. Bei diesem Wetter würde sie Stunden brauchen, um nach Hause zu kommen – vorausgesetzt, sie brachte die Fahrt sicher hinter sich.
Nachdem sie das Auto gewendet hatte, fuhr sie langsam zurück zur Hütte.
„Bitte sei fort“, flüsterte sie, während sie den SUV auf die lange Einfahrt der Hütte lenkte. „Bitte sei fort.“
Was machte King überhaupt hier oben bei der Hütte? Laut ihren letzten Informationen hatte er die Kurve gekriegt und arbeitete in einem normalen, professionellen acht Stunden Job. Sie hatte sich auf die Zunge beißen müssen, um nicht los zu prusten, als sie davon erfahren hatte.
Effie wusste, dass er unter keinen Umständen eine solche Scharade würde aufrecht halten können. Das war er einfach nicht. Aber sie hatte nicht gehört, dass er gekündigt hätte.
Sie schaltete die Lichter aus, während sie zum Haus rollte. Die Außenlichter waren hell genug, um den gesamten, großzügigen Parkbereich zu erhellen. Es war keine Spur von Kings Auto zu entdecken, aber sie hatte ihn gestern Nacht auch nicht gesehen.
„Hallo?“, rief sie, während sie die Tür sachte aufstieß. „Irgendjemand da?“
Sie kräuselte die Nase, als sie bemerkte, dass King die wenigen Dinge, die sie mit in die Hütte gebracht hatte, aufgeräumt hatte. Er hatte ihre Tasche neben die Tür gestellt und den Cardigan gefaltet obenauf gelegt.
„Ordnungsfanatiker“, sagte sie flüsternd.
„Du weißt sehr gut, dass ich hier bin“, hörte sie King aus der Küche rufen. „Wessen Haus denkst du, ist das hier?“
Effie öffnete den Mund, um eine giftige Antwort zurück zu feuern, doch klappte ihn wieder zu. Sie war am Verhungern, sie war am Erfrieren und der Geruch von Steak, der aus der Küche wehte, war unwiderstehlich.
King sah nicht einmal zu ihr, als sie sich in der Tür zur Küche herumdrückte. Stattdessen hob er die Pfanne, um die Fleischstücke in der Butter zu schwenken.
„Also, was ist hier los?“, fragte er, die Augen nach wie vor auf die Pfanne geheftet. „Du tauchst in meiner Hütte auf – genau genommen, bist du eingebrochen –“
„Entschuldige bitte, aber ich habe einen Schlüssel?“, sagte sie, sofort wütend. „Und es ist nicht deine Hütte, sie gehört deiner Familie –“
„Tatsächlich wird sie in meinem Namen geführt. Außerdem dachte ich, dass du inzwischen der ganzen Nummer, dir von meiner Familie zu nehmen, was und wie du es willst, entwachsen wärst.“
Effie schaute ihn giftig an. Damals, als sie miteinander Schluss gemacht hatten, hatten sie nie die Art heftigen Streit geführt, der sich hätte abspielen sollen. Als King ihr den Laufpass gegeben hatte, war es ein sauberer Schnitt gewesen und schnell gegangen. Effie dachte oft, dass sie in Schock und unfähig, zu reagieren, gewesen war. Als sie schließlich angefangen hatte, mit seinem Bruder auszugehen, war King in L.A. gewesen, praktisch auf der anderen Seite des Staats.
Der nahtlose Übergang von King zu Thorne war beinahe zu einfach gewesen.
„Ich –“, begann sie, doch King hielt seine Hand hoch.
„Vergiss es. Also, hast du ihn aus deinen Gedanken gekriegt?“
„Wen?“, fragte sie, nur um Zeit zu schinden.
Sie betete, dass er seinen Namen nicht aussprechen würde. Allein Thornes Namen zu hören, würde eine erneute Zorneswelle durch ihren Körper schicken, aber sie war wie eine Strömung. Tief vergraben. Vielleicht hatten all die Tränen und der Spaziergang durch den Wald ihr wirklich beim Heilen geholfen.
King ließ ein grausames Lachen verlauten. „Dreimal darfst du raten.“
„So einfach ist das nicht“, widersprach sie.
„Das habe ich auch nie behauptet.“
Das gedämpfte Gemurmel des örtlichen Nachrichtensenders im Wohnzimmer wurde plötzlich drängender.
„Das ist eine Notfallankündigung“, sagte eine mechanische Stimme.
Ohne zu sprechen, eilten sie beide ins Wohnzimmer. Durch die Panoramafenster konnten sie sehen, dass dicke Schneeflocken wütend gegen das Glas prasselten.
„Oh mein Gott“, wisperte Effie.
„… Reisewarnung ausgesprochen…“, warnte der Fernsehsprecher.
„Er bleibt bereits liegen“, stellte King fest, als er aus dem Fenster spähte. „Scheiße.“
„Nein, nein, nein“, sagte Effie. „Das kann nicht sein, das kann nicht –“
„Worüber zum Teufel regst du dich auf?“, fragte King. „Du bist diejenige, die einfach hoch in den Wald gefahren ist, obwohl du weißt, dass das der Ort ist, der den ersten Schneefall abbekommt –“
„Ich konnte nirgendwo anders hin!“, brüllte Effie.
Sie überraschte sie beide damit und schlug sich die Hand vor den Mund, während King die Augen aufriss.
„Okay, ich kapier’s ja. Meine Fresse“, sagte er.
Der Fernseher flackerte kurz und wurde dann schwarz.
„Der Strom –“, setzte sie an, doch King schüttelte den Kopf.
„Das Licht brennt noch, es ist nur der Fernseher. Ich werde das Notfallradio holen.“
Effie kämpfte sich aus ihrem Mantel und ließ ihn auf einen der dicken Ledersessel fallen. Sie trat ihre Schuhe aufs Geratewohl von ihren Füßen. King, das Radio in der Hand, stoppte und reihte ihre Schuhe unter viel Aufhebens fein säuberlich an der Wand auf.
„Wir haben einen Schrank für die Mäntel. Nur für den Fall, dass du es vergessen hast“, sagte er und schaute bedeutungsvoll auf den Mantel.
„Es tut mir leid, wie unhöflich von mir. Ich wollte nicht dein blitzsauberes Cottage ins Chaos stürzen, während wir hier mitten in einem verflixten Blizzard festsitzen.“
Dennoch hob sie den Mantel auf und stapfte zum Schrank im Flur. Sie wusste, dass sie sich wie eine verwöhnte Göre benahm, aber sie konnte einfach nicht anders.
Zuerst hatte King sie stinksauer gemacht, indem er sie heute Morgen dermaßen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Indem er sich wie ein selbstgerechtes Arsch aufgeführt hatte, wo sie doch so verletzlich gewesen war.
Aber sie wusste, dass es in Wahrheit Thorne war, der ihren Zorn verdiente, auch wenn sie nicht sagen konnte, dass sie überrascht war. Es hatte Anzeichen gegeben, sie hatte sie nur ignoriert.
Er hatte beispielsweise ständig sein Handypasswort gewechselt und es mit sich ins Bad genommen. Er hatte Kellnerinnen unverhohlen abgecheckt oder ihr nie sofort zurückgeschrieben, wenn er auf einer so genannten Geschäftsreise gewesen war.
Ich bin eine Vollidiotin und Ignoranz ist wirklich ein Segen. Oder zumindest ist es leichter, als aufzupassen.
Sie konnte die Worte ihrer Mutter einfach nicht aus dem Kopf kriegen.
„Thorne ist so respektvoll!“, hatte ihre Mutter stets geschwärmt. „Stell dir das nur vor. Er hat angeboten, sich um uns alle zu kümmern. Was für ein Gentleman –“
„Würg“, sagte Effie, während sie sich auf die Couch sinken ließ.
King drehte an den Radioknöpfen auf der Suche nach dem besten Empfang. „…ermutigen diejenigen im Chicagoer Bereich, insbesondere in höheren Lagen, mindestens die nächsten vierundzwanzig Stunden die Schotten dichtzumachen…“
„Tja“, meinte King, während er aufstand. „Sieht so aus, als gäbe es jetzt nur dich und mich, Kleines. Es ist zu spät, um jetzt noch irgendwohin zu fahren“, erklärte er und schaute zurück zum Fenster. „Dort draußen schneit es wirklich wie verrückt.“
„Ich soll morgen um sieben Uhr auf der Arbeit sein“, sagte sie. „Die Tierärztin wird stinksauer sein, wenn ich nicht auftauche –“
„Dann hättest du vielleicht nicht in die Berge flüchten sollen“, entgegnete er und schaute über seine Schulter zu ihr. „Wenn ich du wäre, würde ich deinen Boss anrufen und Bescheid geben, dass du mindestens ein paar Tage hier festsitzen wirst.“
Das Letzte, das ich will, ist hier mit dir festzusitzen, dachte sie. Gott. Und der ganze Mist, über den ich mir in der echten Welt klarwerden muss. Yaya, meine Mom, Thorne…
Allein der Gedanke an all das machte sie müde.
Sie kaute auf ihrer Lippe und betrachtete seinen breiten Rücken, während er sich von ihr abwandte und nach draußen auf den Blizzard starrte. Es war so lange her, seit sie ihn einfach nur auf diese Weise begutachtet hatte. Er war zugleich vertraut und fremd.
Gewisse Dinge, die tief in ihrem Gedächtnis vergraben waren, tauchten urplötzlich wieder an der Oberfläche auf, wie der kleine Leberfleck hinter seinem rechten Ohr. Oder die unglaubliche V-Form, die seine Hüften einrahmten und die noch deutlicher zu Tage getreten war, je erwachsener er geworden war.
Es gab auch neue Dinge. Details, die ihr beinahe den Atem raubten. Er hatte schon in der Highschool immer einen leichten Bartwuchs gehabt, doch der hatte sich zu einem vollständigen und permanenten Bartschatten ausgewachsen. Sein Kiefer war sogar noch kantiger geworden.
Wenn das nicht King wäre, der gleiche King, der ihr das Herz gebrochen hatte, würde sie sofort hinter ihm her lechzen.
Reiß dich zusammen, Effie, schalt sie sich. Du liest zu viele Liebesromane.
Das behaupteten zumindest ihre Mom und Yaya.
Bei Beziehungen geht es nicht nur um zwei Leute, rief sie sich ins Gedächtnis. Vielleicht hatten sie recht. Sie war jemand, der sich schnell verliebte und ausmalte, zu welcher Sorte Märchen die Wahl eines bestimmten Pfades führen könnte.
Und wohin hatte sie das gebracht? Zu ihren Mittzwanzigern und Beziehungen mit nur zwei Männern – zwei Brüdern, um genau zu sein.
Sie hatte zugesehen, wie ihre Collegefreundinnen zwanglose Affären und One-Night-Stands gehabt hatten. Sie hatten sich immer über sie lustig gemacht wegen ihrer stabilen Fernbeziehung, aber als sie Thorne kennengelernt hatten, hatte sie das zum Schweigen gebracht.
Wie viele von ihnen hatten einen umwerfenden, reichen Goldjungen gedatet? Keine von ihnen.
„… bis zu ein Meter zwanzig in höheren Lagen…“, fuhr das Radio fort.
Plötzlich fühlte sie ein Gewicht auf ihren Schoß fallen. Effie hatte gar nicht bemerkt, dass sich King an sie angeschlichen hatte.
„Du kannst genauso gut die Zeit mit etwas Unterhaltsamem verbringen“, sagte er. Sie blickte nach unten und sah einen der Liebesromane, die sie aus Thornes Wohnung mitgenommen hatte, auf ihrem Schoß. „Ich kann nicht fassen, dass du diesen Scheiß noch immer liest.“
„Hey“, sagte sie aufgebracht. Effie sah hoch in diese stahlgrauen Augen. „Wenigstens lese ich.“
King lachte. „Du weißt nichts über mich, Effie. Nicht mehr.“
„Und du denkst, du kennst mich?“
„Ich weiß, dass du immer noch den gleichen Schund liest wie schon in der Highschool. Ich weiß, dass du den Tag damit verbracht hast, die Wege am Bach entlangzulaufen –“
„Woher weißt du das?“
„Weil ich dich kenne“, erwiderte er spitz.
King beugte sich nach unten. Das sorgte dafür, dass Effie der Atem stockte, aber sie weigerte sich, wegzurücken oder wegzuschauen.
„Und ich weiß, dass keiner von uns überrascht davon ist, was mein Arschloch von einem Bruder getan hat. Du verdienst etwas Besseres.“
„Du kennst mich nicht“, widersprach sie. „Du kanntest ein kleines Mädchen, vor langer Zeit.“
King betrachtete sie einen langen Moment.
„Das spielt keine Rolle“, sagte er schließlich und erhob sich langsam.
„King?“, fragte sie. „Ich, ähm. Ich weiß, du schuldest mir nichts, okay? Aber ich wäre wirklich dankbar, wenn du niemandem erzählen würdest, dass ich hier war.“
„Wem sollte ich es schon erzählen?“, wollte er wissen. „Und wie? Denkst du, ich werde eine Brieftaube in die Stadt schicken?“
King begann, in dem schwindenden Orange im Kamin herumzustochern, während Effies Augenlider schwer wurden. Als das Feuer schließlich wieder hell loderte und ihr Gesicht in Hitze hüllte, fühlte sie sich beinahe wie unter Drogen.
Der Wald, der Blizzard und King hatten ihr alles abverlangt.
Während sie fühlte, wie sie ins Vergessen glitt, meinte sie, eine warme Decke zu spüren, die über ihren Körper drapiert wurde.