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Kapitel 3

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Natalia

Es hätte die Hauptstraße von irgendeinem wohlhabenden Ort sein können. Saubere und instandgehaltene Gebäude lagen vor uns, überragt von dem hohen Berg, der die Badlands beschattet hätte, wäre Sonnenschein gewesen. Das hier war keine Geisterstadt. Was immer das Calavera Kartell mit den Leuten, die hier einst wohnten, angestellt hatte, die Struktur und die Häuser hatten es nicht nur unbeschadet überstanden, sie sahen sogar aus, als wären sie noch nie besser gepflegt gewesen. Die roten Ziegelsteinfassaden strahlten, die weiß verputzten Wände waren sauber, und im Asphalt war nicht ein Riss sichtbar.

Der Ort war in einem besseren Zustand, als der, aus dem ich stammte.

Nicht länger hüpfend und schwankend begann sich der Wagen langsam auf der Straße in die Badlands zu bewegen, die sich von Schlaglöchern und Steinen in asphaltierte Straßen und Kopfsteinpflasterwege verwandelt hatte. Wir fuhren eine breite Hauptstraße entlang, die von Geschäften gesäumt wurde und sich von den Toren bis zum Fuß des Berges erstreckte.

Ich hob das Kinn von meinen Knien und ließ die Beine los, um näher ans Fenster zu rutschen. Obwohl die Mauern hoch waren, war der Ort so groß, dass ich nicht sehen konnte, wo er anfing oder aufhörte. Unter uns lag das Meer, verspottete die Gefangenen mit salziger Luft und dem Versprechen auf einen Horizont, den sie nicht sehen konnten. Ich fragte mich, ob irgendwer jemals versucht hatte auf diesem Weg zu entkommen und wie weit sie wohl gekommen waren.

Zwei junge Mädchen in T-Shirts und Shorts standen unter dem Vordach eines Delikatessenladens und sahen zu wie wir vorbeifuhren. In den Händen hielten sie Plastikeinkaufstaschen und unter den Armen hatten sie Regenschirme geklemmt.

Man hatte sie der Freiheit beraubt, aber immerhin waren sie trocken, dachte ich sarkastisch. Männer auf Pferden ritten zur Seite, nickten uns zu. Eine Gruppe Frauen mit Obstkörben auf den Schultern stand zusammen und eine schubste eine andere an die Schulter, als wir vorbeifuhren.

Der Regen begann zu fallen und hörte wieder auf. Kaum einer der Passanten hielt nicht an, um uns anzustarren, als wir uns den grünen Bergausläufern näherten, die dicht bewaldet waren. Ich hatte keine Ahnung was ich von dem, was ich gesehen hatte, halten sollte. Verwirrt und ein bisschen schwindelig lehnte ich mich auf dem Rücksitz an.

„Mehr, als man auf Anhieb aufnehmen kann?“ Cristiano ließ die Trennscheibe herunterfahren. Wolken verdunkelten den Himmel aber der Fahrer schaltete die Scheibenwischer aus, als kaum noch Regen fiel. „Du kannst das Haus da vorn sehen“, sagte Cristiano.

Ich versuchte nicht, meine Neugier zu verstecken. Ich duckte mich etwas, um durch die Windschutzscheibe zu blicken und sah es sofort. Ein mehrstöckiges Haus, das in die Bergwand hineingebaut war, mit weißen Wänden, einem roten Terrakottaziegeldach. Torbögen hoben sich in einer klaren Linie ab.

„Von hier habe ich alles gut im Blick“, sagte er.

Ich hatte keinen Zweifel, dass Cristiano seine Augen überall hatte.

Wie sich herausstellte, verlief die Hauptstraße nicht direkt zum Fuß des Berges. Wir umfuhren die Eingrenzung eines großen Platzes, nicht unähnlich dem, von dem wir gerade kamen, in dessen Mittelpunkt ebenfalls eine Kirche stand. Ich ließ mich aber nicht täuschen. Diego und Tepic hatten durchblicken lassen, dass die Geschäfte und harmlosen Büros hier der Geldwäsche dienten. Die Kirche könnte ein Scheingebäude sein oder einfach nur ein grausamer Witz über falsche Hoffnung in einem gottlosen Land.

Jemand hatte Stände errichtet, genauso wie daheim, obwohl die meisten ihre Waren einpackten und der ein oder andere Stand im Regen alleingelassen wurde. Ein paar Kindern liefen barfuß von Bude zu Bude, hüpften auf und ab mit den Händen wie eine Schale geformt. Sie zogen an den Kleidern der Frauen, die gerade alles einpackten, von angemalten Figuren aus Holz bis hin zu Talavera Kacheln und bunter Kleidung.

„Sie hätten gern Schokolade“, sagte Cristiano.

„Sehr traurig.“

„Traurig?“, fragte er. „Sie wollen doch nur Oster Süßigkeiten.“

Komischerweise trugen die Frauen bunte Kleider und hatten ihre Stände und Buden mit Blumen geschmückt, sowie mit roten, weißen und grünen Krepp-Bändern und dazu passenden Wimpeln. Die Mülltonnen waren randvoll mit Papptellern und Plastiktrinkbechern, sodass es aussah, als kämen wir gerade zum Ende eines Festes an.

„Fahr rechts ran“, sagte Cristiano und der Fahrer parkte am Straßenrand. Cristiano öffnete seine Tür und lief auf die Frau zu, die Kleidung von den Bügeln nahm und sie gefaltet in eine Kiste legte.

Als sie sah, wie er auf sie zukam, trat sie einen Schritt zurück und winkte ihn mit der Hand weg. Er hielt ihr etwas hin, schnappte sich ihre Hand und drückte es in ihre Handfläche, dann ging er von einer gelben Decke in die Hocke, auf der lederne Huarache Sandalen lagen.

Ich hatte keine Ahnung was er da tat, aber die Frau war offensichtlich dagegen.

Cristiano kam zurück, sein Hemd war fleckig von den Regentropfen. Er setzte sich neben mich und reichte mir ein Paar braune Ledersandalen.

„Die sind bequemer“, sagte er.

Ich nahm sie, denn ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich drehte und wendete sie in meinen Händen, bewunderte das detaillierte Handwerk und die gute Lederqualität. Er sah nach vorn, als wir weiterfuhren und sah nicht so aus als ob er einen Dank von mir erwartete.

„Die sind sehr gut verarbeitet“, sagte ich. „Sie sehen teuer aus.“

„Maricela versteht ihr Handwerk. Ich habe ihr gesagt, sie soll mehr verlangen, aber sie weigerte sich, also habe ich ihr das Doppelte bezahlt.“

„Du hast sie bezahlt?“

„Natürlich.“ Er sah herüber und fuhr mit dem Finger über die Ledersohlen. „Sie erinnern mich an die Sandalen, die du getragen hast … als du noch klein warst.“

Ah. Ja. Ich umklammerte den weichen Lederriemen. Sie waren eine subtilere, erwachsene Version der geflochtenen Sandalen, die ich immer getragen hatte, die schon dunkel gewesen waren vor Schmutz und Sonne und von denen sich bereits ein paar Lederfäden gelöst hatten.

„Meine Mutter hat sie nicht leiden können. Sie sagte …“ Ich hielt inne. Ich hatte diese Sandalen an dem Tag getragen, an dem ich Cristiano in ihrem Schlafzimmer vorgefunden und sie sterbend auf dem Boden gelegen hatte.

„Was hat sie gesagt?“

„Nichts.“ Cristiano hatte es nicht verdient, dass ich meine Vergangenheit mit ihm teilte. Ich lehnte mich vor und zog die Sandalen an. Sie waren tatsächlich genau wie die, die ich getragen hatte bis sie sich fast auflösten und meine Mutter mich damit aufgezogen hatte, dass ich nur einen Schritt davon entfernt gewesen wäre, barfuß herumzulaufen. „Gar nichts.“

Das Auto fuhr in Serpentinen die Bergstraße hoch und bog dann auf eine bogenförmige Auffahrt zu Cristianos Haus ab. Bei näherer Betrachtung besaß das weiße, im spanischen Kolonialstil gebaute Haus schmiedeeiserne Fenstergitter, und es gab einen Weg aus Stein, der zu einer Rundbogentür aus massivem, dunklem Holz führte.

„Du hast kein Tor?“, fragte ich, als wir parkten. Jeder aus dem Ort könnte hier hochwandern und direkt vor der Tür stehen.

„Warte hier“, sagte er, nahm sein Jackett vom Sitz und stieg aus.

Ich lenkte meinen Blick vom Haus und sah zu der Klippe dahinter, auf der es stand. Tönerne Dachflächen, Gebäude aus Stein, Grün und Wüste umgaben den Ort. In der Mitte waren Geschäfte und viel Betrieb rund um die Hauptstraße, über die wir gekommen waren, und von dort aus führten Straßen zu vereinzelten Wohngebieten ab.

Eine schlanke Frau mit zarten, elfengleichen Zügen und langem, rotbraunem Haar kam die Stufen vor der Haustür herab, um Cristiano zu begrüßen. Er übergab ihr sein Jackett, berührte ihre Schulter und zeigte auf das Auto. Sie wickelte ihr außergewöhnlich dichtes Haar zu einem Knoten auf dem Kopf, nickte und ging zum Kofferraum.

Cristiano öffnete die Tür und bot mir die Hand zum Aussteigen an.

„Das ist Jazmin“, sagte er, als ich aus dem Land Rover stieg. „Sie wird sich um deine Sachen kümmern.“

Die Frau und ich sahen uns an. Sie war unbestreitbar schön und ungefähr in meinem Alter. Wie war sie hier hergeraten? Ich suchte nach Anzeichen von Misshandlung. In ihren sauberen, gebügelten Hosen und der weißen Bluse, ohne irgendwelche Anzeichen von Trauma, wirkte sie beinah normal.

Jazmin neigte den Kopf. „Herzlich willkommen, Señora.“

„Ich kann meine Taschen selbst tragen“, sagte ich Cristiano. „Sie muss das nicht machen.“

„Jaz hat in den letzten Tagen alles für dich vorbereitet“, sagte er. Ich schob mir ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren und strich mir das Kleid glatt. Sogar ohne Absätze an den Schuhen ging das Kleid gerade so bis auf den Boden. „Warum trage ich dieses Kleid?“

Cristiano sah von mir zu Jazmin. „Entschuldige. Natalia hat anscheinen ihre Manieren vergessen.“

Meine Wangen wurden heiß. Ich hatte auf ihre Begrüßung nicht reagiert, dabei war sie nicht mein Feind. „Es ist schön, dich kennenzulernen“, sagte ich zu ihr, als sie meine Taschen aus dem Kofferraum holte und sich das Kleid meiner Mutter über den Unterarm hängte.

Cristiano führte mich die Treppen zu der stabilen Tür aus Holz und Eisen hoch. Der geflieste Eingangsbereich hatte eine hohe, mit dunklen Balken durchzogene Decke und die Rundbogenfenster hätten an einem sonnigen Tag den Raum erhellt. Stattdessen war ein von der Decke hängender Kronleuchter aus Schmiedeeisen angeschaltet, der zu dem Treppengeländer passte. Die Setzstufen der Treppe waren blau und orange angemalt.

Jaz betrat hinter uns das Haus. „Wir mussten alle ins Esszimmer bringen, wegen des Regens.“ Sie lächelte ihn ein klein wenig an. „Es ist ein bisschen eng, aber das merken sie gar nicht.“

„Betrunken?“, fragte er.

„Sehr. Aber extrem neugierig.“

„Zweifellos“, sagte Cristiano. „Ich führe Natalia kurz herum und dann kommen wir zur Party.“

Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. „Party?“ Mein Leben zerfiel in Stücke und Cristiano wollte feiern? „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Muss etwas gewaschen werden?“, fragte mich Jaz und schob sich den Riemen meiner Tasche auf ihrer Schulter hoch.

„Ich … was? Ich kann selbst auspacken“, sagte ich und ging einen Schritt auf sie zu. „Ich werde einfach auf mein Zimmer gehen, wenn du es mir zeigst …“

Cristiano nahm meinen Ellbogen und zog mich zurück zu ihm. „Jaz hat alles unter Kontrolle. Ich will dich jetzt an meiner Seite haben. Sie haben sich alle sehr viel Mühe gegeben für diesen Abend. Du wirst mit mir die Runde machen.“

Meine Lippen formten sich zu einer Linie. „Du kannst mich nicht dazu zwingen Spaß auf einer Party zu haben.“

Er drehte sich so, dass ich Jaz nicht mehr sah und legte seinen Mund an mein Ohr.

„Hab Spaß oder nicht“, sagte er leise. „Aber du wirst tun, was ich dir sage und du wirst mich vor niemanden mehr infrage stellen. Jaz hat dich etwas gefragt, antworte ihr.“

Er stellte sich wieder aufrecht hin und ich blickte in Jazs nicht lesbares Gesicht. Das Letzte, was ich wollte, war unhöflich zu jemanden sein, der sich vielleicht in einer noch schlimmeren Situation befand, als ich. Aber nur wenige Stunden nachdem mein Leben zerstört worden war, zu einer Party gezwungen zu werden, fühlte sich grausam an.

„Meine Sachen sind sauber“, sagte ich zu Jaz. Ich hatte daheim alles gewaschen, bevor ich gepackt hatte. „Außer …“ Ich sah zu dem kaputten Hochzeitskleid über ihrer Schulter. Selbst wenn der zarte Spitzenstoff repariert werden könnte, worin lag der Sinn?

„Außer?“, fragte sie nach.

„Schon gut. Es ist alles sauber.“ Ich räusperte mich. „Dankeschön.“

„Sehr gern.“ Jaz ging die Treppe hoch. Oben sah sie noch einmal zurück zu mir, bevor sie durch einen Rundbogen in einem Flur verschwand.

„Es wird das Personal glücklich machen, dass du glücklich bist, hier zu sein. Und wenn mein Personal glücklich ist, bin ich es auch.“

„Aber das bin ich nicht.“

Seine Haltung wurde etwas lockerer, als er ausatmete. Er hob mein Kinn, bis unsere Münder sich so nah waren, dass er mich ganz leicht küssen könnte, wenn er das wollte. „Dann täusche es ihnen zuliebe vor.“

Er benetzte sich die Lippen und mein Blick fiel darauf. Schnell drehte ich meinen Kopf weg.

„Warum sollte ich?“

„Ich habe dir bereits gesagt, warum. Es macht mich glücklich. Und du willst, dass ich glücklich bin.“ Er drehte meinen Kopf zurück und wartete, bis ich ihm wieder in die Augen sah. „Aber wenn das für dich kein guter Grund ist, dann tu es, weil ich es dir befehle.“

Ich hatte das Gefühl, dass ich mich an diese Antwort gewöhnen musste. Aber wenn ich seinen Willen ertragen musste, dann musste er auch mich ertragen. Ich musste nicht einen auf nett machen, wenn wir allein waren. „Einverstanden. Es wird eine gute Übung sein.“

„Für?“

„Vorzutäuschen was ich nicht mag.“

Er verzog die Lippen auf eine Art, die ein Grinsen hätte sein können. Bevor ich entscheiden konnte, ob er amüsiert oder verärgert war, hörte ich Schritte hinter mir. Cristiano ließ mich los und trat einen Schritt zurück.

Die beiden Wachleute, die in der Kirche an Cristianos Seite gestanden hatten, kamen herein. Wir liefen alle einen Flur entlang, vorbei an einer langen hölzernen Bank mit erdfarbenen Sitzkissen, in einen offenen Wohnbereich, der sich zu einem Esszimmer hin öffnete. Aber dort hielt sich niemand auf, also musste es ein anderes Zimmer sein, als das, von dem Jaz gesprochen hatte. Obwohl der kantige spanische Stil der Alten Welt den aufgeräumten Raum dominierte, gaben ihm die Töpferwaren über dem alten Kamin, die gold- und kastanienfarbene Tapete an der Wand zum Esszimmer und die großen Pflanzen in Keramikübertöpfen, ein einladendes Ambiente. An den Balkontüren hingen zarte, durchsichtige weiße Gardinen, die halb zugezogen waren und man konnte eine Terrasse mit bequemen Gartenmöbeln, sowie einen Pool draußen erkennen, auf dessen Wasseroberfläche Regentropfen Kreise formten.

Die Küche sah bewohnter aus. Und weniger zu Cristiano passend. Dunkelorangene Wände, kornblumenblaue Jalousien und ein Holztisch in der Farbe von grünem Tee. Eine untersetzte Frau griff nach einem Tablett mit Häppchen auf der Arbeitsplatte und es war nicht möglich die schlimmen Brandnarben entlang ihrer Arme zu übersehen. Kurz warf sie mir einen Blick zu, bevor sie einem Mann mit einer Kochmütze auf dem Kopf Platz machte.

Cristiano zeigte mit einer Geste in den Raum und ratterte Namen herunter die mir in ein Ohr hinein und zu anderen wieder herausrauschten. Mein Verstand war am Limit seiner Kapazität für heute angelangt.

„Fisker ist der Chefkoch“, fügte er hinzu.

Ein dürrer, blonder Mann stand an einem riesigen Topf und nickte mir zu.

„Fischeintopf?“, fragte er.

Ich sah zu Cristiano, der mich fragte: „Bist zu hungrig?“

„N… nein“, sagte ich zu Fisker. Er sah nicht gesund aus. Niemand hier sah gesund aus. Wo kamen sie nur her? „Aber, Danke.“

Cristiano wandte sich ab, um zu gehen, aber beugte sich zu mir. „Lass dich von seiner mageren Erscheinung nicht täuschen. Er war Fischer in Dänemark und kennt sich genauso gut mit Essen aus, wie jeder andere renommierte Küchenchef, den ich getroffen habe.“

Cristiano deutete mir mit einem Nicken an, ihm zu folgen und wir waren wieder in Bewegung. Einen anderen Flur entlang, vorbei an Türen und kleinen Fenstern. Ich meinte Stimmen und Musik wahrzunehmen, doch erst als Cristiano eine der Türen öffnete und eine Kakofonie aus Singen, Rufen und Mariachi erklang, fühlte ich mich überwältigt.

„Schalldichte Zimmer“, erklärte Cristiano den rapide angestiegenen Lärmpegel. „Eine meiner besten Investitionen in diesem Haus. Die Party kann wüten und toben, während ich, oder wir, schlafen. Oder wir können wüten und toben, während sie dinieren.“

Sein Ton war neckend, aber ich bezweifelte, dass er einen Witz gemacht hatte. Er legte seine Hand auf meinen unteren Rücken und geleitete mich in eine dunkle Nische. Wir gingen durch einen Türbogen auf die oberste Ebene einer Treppe, als würden wir uns auf den Weg in einen Keller begeben. Auf halbem Weg nach unten hielten wir an und konnten den ganzen Saal überblicken. Alte Holzbalken formten ein X an der hohen Decke und Wandleuchter warfen Schatten an die weißen Wände. In der Mitte des Raums standen lange, stabile Tische, an denen Leute saßen und von einem Buffet wie in einem Restaurant, aßen.

Auf der einen Seite eines großen Tisches saß eine Gruppe von Frauen zwischen Kindern vor Tellern mit Torte darauf. Ihre langen Röcke und Kleider ähnelten denen der Frauen in meinem Ort, in der Kirche heute früh. Sie stibitzten Kuchen von den Tellern der Kinder und lachten miteinander über den Tisch.

Cristiano drängte mich an meinem Rücken voran. Und auch wenn meine Hände jetzt nicht wirklich zusammengebunden waren, fühlte es sich an, als schritt ich über die Schiffsplanke.

„Das ist jetzt dein Zuhause“, sagte er und nahm seine Hand von mir. „Diese Menschen sind deine Leute.“

Wie sind sie nur in diese Situation geraten?

„Sie feiern einfach nur Ostern.“

Ich sah zu ihm und mir war nicht klar, ob ich laut gesprochen hatte. „Ostern? Hier?“

„Es ist ja nicht so, als hätten wir das Land verlassen. Wir feiern immer noch die Feiertage hier.“

Aber alles, was über das grundsätzliche Überleben hinausging, wäre Luxus für Menschen, die gegen ihren Willen festgehalten und zum Arbeiten gezwungen waren. Und sie waren gefangen hier, oder? Die Alternative wäre, dass sie freiwillig in den Badlands lebten. Als eines von Cristianos Opfern konnte ich einfach nicht verstehen, wie das sein konnte.

„Glaubst du Menschen in Not essen Kuchen?“, fragte er, als könne er meine Gedanken lesen.

Vielleicht, wenn es das Beste war, was sie aus ihrer Situation machen konnten.

Das Herz wurde mir schwer. Ich sollte bei meinem Vater sein, mich gerade zum Osterfest hinsetzen oder in einem Flugzeug zurück zu meinen Freunden und meinem Leben in Kalifornien sitzen. Stattdessen war ich umringt von den Verlorenen und Vergessenen.

Mein Blick blieb an einem älteren Mann hängen, der hochblickte und mir in die Augen sah. Mit einem Stirnrunzeln stellte er seinen Bierkrug ab. Die Leute wurden nach und nach stiller, je mehr sie sich unserer Anwesenheit bewusst wurden. Die Musik stoppte. Große Augen starrten uns an. Die Menge an Kindern und Frauen machte mich traurig. Mütter zogen Kinder an ihre Seiten. Männer stellten sich aufrechter hin. Sie fürchteten sich vor Cristiano aber ihre Blicke lagen auf mir. Hatten sie auch vor mir Angst? Oder um mich?

„Ich kann kein Teil hiervon sein“, wisperte ich.

„Aber das bist du.“

„Warum?“ Am liebsten wäre ich hinter Cristiano getreten, um der Intensität ihrer Blicke zu entfliehen. Und das war lächerlich. Er war derjenige vor dem ich mich verstecken wollte. „Warum führst du mich so vor?“ Ich fragte es leise. „Du brauchst mich doch gar nicht.“

„Du wirst lernen, was ich brauche. Bald schon, hoffe ich. Doch noch weißt du nicht genug, um mir zu sagen, was ich brauche.“ Er hielt eine gewisse Distanz, sprach jedoch nur zu mir. „Heute Abend wirst du deine Leute kennenlernen. Und sie werden sehen, dass sie keine Angst haben müssen.“

„Angst?“, fragte ich. „Vor mir?“

Ein rundlicher Mann hob ein kaltes Bier und rief: „Ist an den Gerüchten was dran, Patrón?“

Auch wenn er aussah, als käme er geradewegs vom Feld, musste der Mann zu Cristianos innerem Kreis gehören, bei so einer unförmlichen Anrede.

„Ja“, sagte Cristiano bewegte sich etwas von mir weg. „Ich habe eine Allianz geschlossen, von der beide Parteien profitieren werden.“

Ein aufgeregtes Murmeln ging durch die Menge. Der Mann knallte seinen Bierkrug so laut auf den Tisch, dass ich einen Schritt rückwärts machte und gegen Cristiano prallte. Er griff nach meinen Schultern und ließ sie so schnell wieder los, als hätte er sich an dem Spitzenstoff verbrannt.

Andere Männer knallten ihre Bierkrüge auf und Schaum lief über die Ränder, tropfte auf die Tische, während sie feierliche Rufe von sich gaben.

„Es sollte ein erfolgreiches Jahr werden …“, fing Cristiano an.

„Wer schert sich schon ums Geschäft“, sagte ein anderer. „Wer ist das Mädchen?“

Cristiano lachte leise, als wäre das sein Insider Witz. „Um den Deal abzuschließen, habe ich mir eine Frau genommen.“

Über die Schulter hinweg sag ich ihn an, aber behielt seinen Blick auf die Leute gerichtet, als wäre ich gar nicht da.

Auch wenn ein paar der Männer und Frauen lächelten, und die Kinder beeindruckt aussahen, verließ der Enthusiasmus ein wenig den Raum.

„Meine Braut wird der Einfachheit halber hier bei uns bleiben“, sagte er, und fügte murmelnd hinzu: „Wenn auch widerwillig.“

Cristiano ging die Treppe weiter herunter und ließ mich allein stehen. Bis zu diesem Moment war er nicht so abweisend gewesen. Im Gegenteil. Sogar als ich gezwungen gewesen war zum Altar zu ihm zu gehen, hatte er mich mit neugierigem und hungrigem Blick angesehen. Im Auto hatte er Interesse und ein Mindestmaß an Wärme gezeigt, als er sich nach dem Befinden meiner Füße erkundigte.

Und er hatte behauptet eifersüchtig zu sein. Also war ich ihm nicht total egal. Oder? Vorhin hatte er noch behauptet mich an seiner Seite haben zu wollen. Jetzt schien es ihm gleich zu sein, ob ich mit ihm zusammen zu den Leuten ging, oder nicht.

Mir war die Wärme seiner Aufmerksamkeit nicht bewusst gewesen, bis er sie mir entzog. Insbesondere in einem Raum voller fremder Leute.

Vielleicht war ich jetzt, wo ich in der Falle saß, nicht mehr, als ein Nebenprodukt einer Fusion. Und genau das, war es doch auch, was ich wollte, nicht wahr? Ihm egal zu sein? Von ihm in Ruhe gelassen zu werden?

Plötzlich standen die Wachleute hinter mir und ich konnte nur durch sie hindurch zurück, oder die Treppen heruntergehen. Sie sahen sogar noch unfreundlicher aus, als er.

Ich folgte Cristiano.

Unten angekommen lief ein kleiner Junge auf Cristiano zu, ohne zu zögern. Ich machte mich auf etwas gefasst. Auf was, wusste ich nicht. Vielleicht darauf, dass Cristiano sauer werden würde, dass man so auf ihn zulief.

„Schau mal“, sagte der Kleine öffnete den Mund und zeigte auf die fehlenden Schneidezähne.

Cristiano hielt an. „Was sehe ich da, Felix?“

Der Junge grinste noch breiter. „Ich hab noch einen verloren.“

„Das ist aber schade“, antwortete Cristiano. „Dann kannst du ja gar keinen Kuchen essen.“

„Doch, kann ich“, verkündete der Kleine. „Ich hab schon einen gegessen.“

Eine Frau, ich vermutete Felix‘ Mutter, nahm seine Hand und zog ihn beiseite. „Entschuldigung“, sagte sie zu Cristiano und sah mich an. „Er ist einfach nur so aufgeregt, ob el Ratoncito Pérez, die kleine Zahnratte, ihm ein Geschenk unter das Kopfkissen legen wird.“

„Wer wäre das nicht? Sie wird kommen, Teresa“, sagte Cristiano und warf einem Mitglied seines Sicherheitsteams einen Blick zu.

Der Mann nickte und humpelte davon, um etwas in sein Funkgerät zu sprechen.

„Vielen Dank“, sagte Teresa und dankte ihm noch einmal bevor sie mich wieder ansah. „Sie ist wunderschön.“

„Brauchst du noch etwas für das Projekt, das wir besprochen haben?“, fragte Cristiano.

„Nein.“ Teresa schüttelte den Kopf. „Aber es war gut, dass ich sie selbst gesehen habe.“

Bei jeder anderen Gelegenheit hätte ich verlangt, dass man nicht über mich spricht, als wäre ich nicht anwesend. Aber ich konnte mir nicht sicher sein, wer Freund oder Feind war. Oder wer für Cristiano arbeitete und wer sich in der gleichen Position, wie ich befand.

Teresa führte ihren Sohn davon und ich fand ein ganzes Meer an unlesbaren Gesichtern vor mir.

„Esst und trinkt“, rief Cristiano ihnen zu und zeigte auf die Tische. „Lasst euch nicht von uns beim Feiern unterbrechen.“

Die Musik begann wieder zu spielen und die Leute wendeten sich wieder ihrem Essen, ihren Getränken und ihren Gesprächen zu. Es fühlte sich falsch an zu trinken und zu singen. Die Menschen sahen fast so aus als fühlten sie sich wohl. Ich konnte sehen, dass sie gut genährt waren und sich so verhielten, als befänden sie sich in Sicherheit. Auf die eine oder andere Weise mussten sie Angestellte des Kartells und deren Familien sein. Was das hier zu einer Geschäftsfeier machte.

Cristiano nickte zum Buffet. „Dort solltest du etwas finden, das du magst.“

„Ich bin nicht hungrig.“ Ich verschränkte die Arme vor meinem Bauch und hoffte, dass er nicht zu knurren anfing. Für mich fühlte es sich nicht nach der Zeit an um Tamales oder Kuchen zu essen. „Was war das mit der Mutter des Jungen? Eine Art von Code?“

„Ein Code für was?“

„Du erwartest, dass ich glaube, diese Unterhaltung drehte sich wirklich darum, dass el Ratoncito Pérez etwas unter das Kopfkissen von dem Kind legt? Hast du gerade befohlen, jemandem den Kopf abzuhacken, oder so was?“

Sein Mundwinkel zuckte, als er mich zum Essen führte. „Nein, meine Liebe. Nur um etwas gekümmert. Das werde ich auch für dich tun, wenn du nicht isst.“

Mein Magen verknotete sich. „Essen ist das Letzte, an was ich gerade denke.“

„An was denkst du denn?“

„Ich bin müde“, log ich. „Ich sehe auch keinen Sinn darin hier herumgeführt zu werden, vor Leuten, die mich anscheinend nicht hier haben möchten. Kann ich mich irgendwo hinlegen gehen?“

„Ja“, antwortete er. „In meinem Bett.“ Belustigung zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab. Er testete meine Grenzen aus. Versuchte mir Angst zu machen.

„Okay, ich esse etwas.“

„Gut zu wissen, dass mein Bett als Druckmittel bei dir funktioniert.“ Er reichte mir einen Pappteller mit aufgedruckten Ballons. „Während Felix und seine Mutter hier sind, wird Eduardo einhundert Pesos unter sein Kopfkissen legen. Außerdem hatte ich sie für etwas Persönliches engagiert, aber es ist nichts Hinterlistiges. Nicht so aufregend, wie Köpfe abhacken, nur ein kleiner Gefallen.“

Ich betrachtete Cristiano auf der Suche nach Anzeichen für Sarkasmus, fand aber nur ein lockeres Schulterzucken.

Ein junger Mann kam herüber und streckte die Hand aus. „Herzlichen Glückwunsch“, gratulierte er Cristiano und schüttelte ihm die Hand, bevor er sich an mich wandte. „Für Sie ebenfalls. Sie sind eine wunderschöne Braut.“

Ich konnte nicht sagen, ob der Mann mich aufzog, indem er auch mir gratulierte. Cristiano hatte allen klar und deutlich gemacht, dass unsere Ehe nur ein Arrangement war.

„Nicht wahr?“, merkte Cristiano an, als ob ich ein preisgekröntes Schwein wäre. Er sah mich kaum an, als er sagte: „Geh, und mach dir einen Teller zurecht.“

Ich verstand seine Anordnung als das, was sie war. Die Männer wollten unter sich sein. Diego und mein Vater hatten mich viele Male auf diese Weise entlassen. Irgendwie war Cristianos wahres Ich eine Erleichterung. Das war die Eiseskälte, die ich von meinem frischgebackenen Ehemann erwartete. Es war ein Wunder, dass sie in der Hölle nicht schmolz.

Ich wendete mich ab und Cristiano berührte mich am Arm. Er lehnte sich vor, sodass nur ich ihn hören konnte. „Aber geh nicht zu weit weg. Ich muss jederzeit in der Lage sein nach dir zu greifen und dich zu berühren, wann immer mir danach ist.“

Er drehte sich wieder um, ließ mich zurück in seinem sauberen Duft und mit der versprochenen Hitze und einer Gänsehaut, die mir den Rücken hochkroch.

Es dämmerte draußen und bald würde es dunkel sein. Und wenn das passierte, dann würde Cristiano mich berühren, wann immer ihm danach war.

Violent Ends - Die Kartell-Königin

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