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Kapitel 1

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„Herein“, rief ich, während ich das Formular, das vor mir auf dem Schreibtisch lag, unterzeichnete.

„Da hat meine kleine Schwester aber noch viel Arbeit vor sich“, bemerkte Sophie, als sie die Tür hinter sich schloss.

Lächelnd hob ich den Kopf, wies auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und sie setzte sich. Während sie sich in meinem kleinen Büro umsah, fragte ich: „Und was führt dich hierher außer der Absicht, deiner kleinen Schwester eine Freude zu machen?“

Sie hob eine Akte hoch, die sie wohl schon die ganze Zeit in ihrer Hand gehalten hatte.

„Noch mehr Arbeit?“, stöhnte ich und griff nach dem Dokument.

„Jenny, du hast den Job seit kaum einer Wochen und klagst schon über zu viel Arbeit?“, neckte mich meine ältere Schwester und ich musste schmunzeln.

Sie hatte recht. Den Job als für das Revier meiner Schwester zuständige Staatsanwältin hatte ich erst vor knapp einer Woche angenommen. Doch leider war dieser Jobwechsel mit sehr viel Papierkram verbunden gewesen. Nach einem prüfenden Blick, den sie über die verheerende Unordnung in meinem neuen Büro schweifen ließ, meinte meine Schwester: „Du bist wohl noch nicht dazu gekommen, deine Kartons auszuräumen.“

Ich schüttelte den Kopf: „Nein. Dieser Jobwechsel hat mir noch viel mehr Akten beschert, als ich gedacht hätte. So viele, dass ich heute wahrscheinlich durcharbeiten muss.“ Dann wandte ich den Kopf von Sophie ab und schlug die Mappe auf, die sie mir gegeben hatte. „Ein Drogenfall?“

Sie nickte. „Ja. Tut mir wirklich leid, dass ich dir noch mehr Arbeit bringe, aber als stellvertretende Leiterin dieses Reviers bleibt mir leider nichts anderes übrig.“

Ich lachte und sah wieder zu meiner Schwester auf. „Immerhin ist das ein ziemlich eindeutiger Fall. Ihr habt die Kerle auf frischer Tat mit fast einem Kilo Heroin erwischt. Die wandern erst mal für lange Zeit hinter Gitter.“

Sophie runzelte die Stirn. „Wird das Gericht das auch so sehen? Immerhin ist einer der Täter der Sohn des Bürgermeisters ...“

Ich zuckte mit den Schultern. „Bei der Beweislage könnte er auch der Sohn des Präsidenten sein. Die Verteidigung wird diesen Beweisen nichts entgegensetzen können.“

Ein Lächeln stahl sich auf Sophies Gesicht, als sie erwiderte: „Na, dann bin ich ja froh, dass ich dich nicht allzu sehr mit diesem Fall belaste. So gern ich noch bei dir bleiben würde, aber ich muss noch einigen Papierkram erledigen.“ Ich nickte lächelnd und Sophie verließ mein Büro.

Es war schon ein wenig drunter und drüber gegangen in den letzten Wochen. Erst war meine Schwester von der Teamleiterin zur stellvertretenden Leiterin des Reviers befördert worden und danach hatte Sophie mich als Staatsanwältin in dieses Revier geholt. Sie hatte dafür gesorgt, dass ich in ihrer Nähe war und gleichzeitig meiner Arbeit nachgehen konnte. Dafür war ich ihr sehr dankbar. Immerhin hatte ich vorher am anderen Ende der Stadt gearbeitet und sie deshalb kaum gesehen. Aber das war mit Sicherheit nicht der einzige Grund für meine Versetzung hierher gewesen. Ich war eine der Staatsanwältinnen mit den besten Aussichten, vor Gericht eine Verurteilung zu erreichen. Zwar arbeitete ich noch nicht lange in dieser Branche, aber ich wusste sehr genau, welche Beweise ich brauchte, um die Grand Jury zu überzeugen. Mein Ruf eilte mir voraus, denn obwohl meine Schwester den Antrag auf meine Versetzung erst vor knapp sechs Tagen abgegeben hatte, saß ich jetzt schon in diesem Büro und machte mich mit den aktuellen Fällen des Reviers vertraut.

Mit einem Seufzen senkte ich den Blick und las mir die neue Akte ein weiteres Mal durch. Die Bedenken meiner Schwester waren durchaus nicht unbegründet gewesen. Es war immer schwierig, die Kinder oder Verwandten von angesehenen, politisch bekannten Menschen vor Gericht zu verurteilen. Aber ich behielt auch auf den zweiten Blick recht, denn die Beweislage war mehr als nur eindeutig. Diese Kerle würden für sehr lange Zeit ins Gefängnis gehen. Mein Blick fiel auf den Namen des Anwalts, der den Sohn des Bürgermeisters vertreten würde, und ich sog scharf die Luft ein. Der Verteidiger war Johannes Benett, einer der besten, nein, eigentlich der beste Anwalt in ganz New York. Doch er war nicht nur das, er war auch mein Mentor gewesen. Er hatte schon Mandanten herausgeboxt, bei deren Fällen die Beweislage ähnlich eindeutig gewesen war. Früher hatte er als Staatsanwalt gearbeitet, ebenso wie ich. Als er seine eigene Kanzlei aufmachte, war ich ihm auf seinen Wunsch hin gefolgt.

Ich widerstand dem Drang, mir die Akte ein drittes Mal durchzulesen, sondern versuchte mich stattdessen selbst zu beruhigen. Die Beweislast war eindeutig. Den Sohn des Bürgermeisters konnte nicht einmal Johannes Benett vor dem Gefängnis bewahren.

Ich klappte die Akte zu, widmete mich wieder dem Papierstapel auf meinem Tisch und arbeitete mich Stück für Stück hindurch. Nach einer Stunde war meinem Kugelschreiber schon die Hälfte der Blätter zum Opfer gefallen.

Als es plötzlich an der Tür klopfte, hob ich froh über die Ablenkung meinen Kopf. „Herein.“

Eine Kollegin meiner älteren Schwester öffnete die Tür und sagte: „Hallo Jenny.“

„Hallo Detective Johnson, was gibt’s?“

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass du mich Lena nennen sollst.“ Ich nickte. Was das anging, hatte ich mich schon immer schwergetan.

„Wir haben dich als neue Kollegin noch gar nicht offiziell willkommen geheißen. Wir treffen uns in fünf Minuten im Pausenraum.“

Ich lächelte. Meine Schwester hatte mir schon erzählt, dass neue Kollegen hier auf dem Revier immer mit einem Kaffeetrinken begrüßt und in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. „In Ordnung, in fünf Minuten.“

Die Polizistin nickte und verließ mein Büro. Ich sah noch einen Moment zur Tür und versuchte mich zu erinnern, was Sophie mir über Lena Johnson erzählt hatte. Nach kurzer Zeit fiel es mir wieder ein. Sie war die Kollegin meiner Schwester, die schon am längsten mit ihr zusammenarbeitete, und gemeinsam bildeten sie das beste Team dieses Reviers. Ich füllte noch das Formular fertig aus, an dem ich gerade arbeitete, und stand dann auf, um in den Pausenraum zu gehen. Dort hatte sich schon das ganze Team versammelt und war damit beschäftigt, Kaffee für alle zu machen.

„Hey“, sagte ich, als ich den Pausenraum betrat. Meine Schwester strahlte mich an und auch Lena lächelte mir zu.

„Der Kaffee ist gleich fertig“, meinte Sam Jones, sah kurz von der Maschine auf und widmete sich dann den Tassen, die vor ihm auf einem Tischchen standen.

Interessiert sah ich mich in dem kleinen Pausenraum um. Neben einigen Tischen und Stühlen befanden sich sogar eine Theke und ein Kühlschrank hier drin.

„Pass doch auf, Sam“, lachte Anna Chambers und ich richtete meinen Blick auf die Technikexpertin, die den kaffeekochenden Kollegen gerade spielerisch in die Seite boxte. „Das Shirt ist nagelneu.“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Typisch Frau.“

Anna streckte ihm die Zunge raus und verteilte jeweils eine Tasse an Sophie und mich. Sam nahm die anderen beiden Becher und gab einen davon Lena.

Schließlich ergriff Sophie das Wort, während sie ihre Tasse hob. „Auf meine kleine Schwester Jenny Parker, die ab jetzt unsere Täter hinter Gitter bringen wird.“

Wir anderen hoben unsere Tassen ebenfalls und Anna, Sam und Lena sprachen im Chor: „Auf Jenny Parker.“ Wir prosteten uns zu, wie man es normalerweise, wenn man nicht gerade im Dienst war, mit Sektgläsern machte, und tranken dann.

„Wollen wir uns nicht hinsetzen?“, fragte Anna und wies auf die Tische.

Wir stimmten ihr zu und setzten uns.

„Na, dann erzähl doch mal, Jenny, wo hast du denn vorher gearbeitet?“

Ich nahm noch einen kleinen Schluck von meinem Kaffee und antwortete dann ausweichend: „Am anderen Ende von New York.“

„Sei doch nicht so bescheiden, Jenny“, meinte Sophie mit einem Schmunzeln. Und an meiner Stelle erklärte sie: „Sie hat in Johannes Benetts Anwaltskanzlei gearbeitet, er war ihr Mentor.“

„Er war dein Mentor?“, fragte Sam ungläubig und sah mich fragend an.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ja, das war er.“

„Er ist der beste Anwalt der Stadt! Du solltest dich wirklich nicht unter Wert verkaufen“, fügte Lena hinzu.

Ich senkte den Kopf und nippte stumm an meinem Kaffee. Dass Johannes Benett gleich in meinem ersten Fall der Verteidiger war, erzählte ich den anderen nicht. Warum auch? Das war mein Problem und Hilfe wollte ich nicht. Ich wollte mich beweisen. Und dafür musste ich, so viel war mir klar, diesen Fall gewinnen. Sophie hätte jetzt gesagt, dass die Beweise eindeutig seien. Und damit hätte sie ja auch recht. Ich musste nur an mich glauben, dann würde ich diesen Fall gewinnen. Ich sollte mir nicht so viele Gedanken darüber machen.

Also nahm ich noch einen Schluck Kaffee und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. „Und wie lange arbeitet ihr jetzt schon zusammen?“

Das Team sah sich an und Anna antwortete als Erste: „Ich bin vor zwei Jahren dazugestoßen. Davor habe ich in einer anderen Abteilung dieses Reviers gearbeitet, die aber aufgelöst wurde. Ich hatte Glück und konnte diesem Team beitreten.“

„Du hattest Glück?“, fragte meine Schwester lächelnd. „Wir hatten Glück, dass du zu uns gestoßen bist!“

Anna lächelte und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Nun sprach Sam weiter: „Ich war bis vor drei Jahren beim Drogendezernat. Dann wurde ich sozusagen befördert und nun ja ... jetzt bin ich hier.“

Ich nickte ihm zu und sah dann Lena an. Diese stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab und begann zu erzählen: „Als ich vor fünf Jahren die Polizeiakademie verließ, wurde ich in dieses Revier versetzt. Von da an habe ich mit deiner Schwester zusammengearbeitet. Irgendwann kamen Sam und Anna dazu und jetzt machst du unser Team komplett.“

Ich lächelte. Es gefiel mir, dass alle so freundlich und respektvoll miteinander umgingen. In der Anwaltskanzlei, bei der ich bisher gearbeitet hatte, waren alle Kollegen knallharte Konkurrenten gewesen. Es ging dort zu wie in einem Haifischbecken, ein ständiger Machtkampf um das Honorar und die Fälle. Ich war froh, dass ich dort raus war, auch wenn ich tatsächlich einen tollen Mentor gehabt hatte. Doch der war jetzt nicht mehr Staatsanwalt, sondern Rechtsanwalt für diejenigen, die es sich leisten konnten.

Ich nippte wieder an meinem Kaffee und ließ meinen Blick über meine neuen Kollegen schweifen. Sie waren alle so unterschiedlich. Lena mit ihren dunkelbraunen, schulterlangen Haaren und braunen Augen. Meine Schwester Sophie mit ihren blonden Haaren und den grünen Augen. Und dann war da noch Sam mit seinen dunkelblonden Haaren und den hellblauen Augen. Gerade als ich ihn musterte, sah er auf und ich entdeckte so etwas wie ein belustigtes Funkeln in seinen Augen, woraufhin ich meinen Blick hastig abwandte. Aber sie alle unterschieden sich nicht nur in ihrem Aussehen voneinander, sondern vor allem in ihrem Charakter.

Während Anna sehr kontaktfreudig und offen war, war Lena eher stiller. Sie war trotzdem nett und hieß mich aufrichtig willkommen, aber sie war nicht der Typ, der anderen leichtfertig vertraute. Meine Schwester war eine Frau, die gerne Befehle erteilte, aber auch im Team arbeiten konnte. Und dann war da noch Sam. Bei ihm war ich mir noch nicht ganz schlüssig. Einerseits war er ziemlich ruhig, aber charmant und offensichtlich einer der besten auf seinem Gebiet.

Alle vier waren so verschieden und doch bildeten sie eine vertraute Einheit. Aber vielleicht war genau das der Grund, warum sie so gut zusammenarbeiteten. Doch das war mir eigentlich egal. Ich wollte nur einem Team angehören, in dem respektvoll miteinander umgegangen wurde. Und dieser Wunsch hatte sich offensichtlich erfüllt.

Ich nahm einen letzten Schluck von meinem Kaffee und stellte die leere Tasse dann vor mir auf dem Tisch ab. „Und was tun wir jetzt?“, fragte ich und sah in die Runde.

„So wie ich das sehe, hast du noch ziemlich viel Papierkram zu erledigen, oder nicht?“, neckte mich meine Schwester.

Ich seufzte. Das stimmte zwar, aber Akten zu wälzen zählte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. „Ja, du hast recht. Ich sollte mich wieder an die Arbeit machen.“ Also stand ich auf und nickte in die Runde. Dann verließ ich den Pausenraum und begab mich zurück in mein Büro, um dem Papierstapel, der sich noch immer auf meinem Schreibtisch türmte, endgültig den Garaus zu machen.

„Und wie kommst du voran?“, fragte mich Sam, als er wenig später mein Büro betrat.

Ich zuckte leicht zusammen und fuhr ihn etwas lauter als beabsichtigt an: „Kannst du nicht anklopfen?“

Seine Wangen wurden rot und er murmelte eine Entschuldigung.

Ich entspannte mich wieder und erwiderte: „Wenn ich ständig unterbrochen werde, dann werde ich damit wohl nie fertig.“ Aber ich lächelte dabei und Sam nickte. „Also, was gibt’s?“

Er hob ein paar Dokumentenmappen hoch und meinte: „Ich habe einige Akten für dich.“

Ich seufzte. „Offensichtlich. Aber wo kommt denn diese ganze Arbeit nur her?“

Sam lächelte und erwiderte: „Na, dann bin ich ja froh, dass das hier keine Arbeit ist, sondern deine Verträge. Sie wurden soeben von der Chefetage unterschrieben zurückgeschickt.“

Froh darüber, dass ich nicht noch mehr Arbeit zu erledigen hatte, ließ ich meine Schultern sinken und sah Sam erleichtert an. „Danke, dass du mir das persönlich gebracht hast.“

Er nickte mir zu, legte die Papiere auf den Tisch und verließ mein Büro. Ich nahm den Stapel und packte ihn in meine Schublade. Das musste warten, bis der andere Papierkram erledigt war. Also machte ich mich wieder an die Arbeit, doch schon nach kurzer Zeit schweiften meine Gedanken ab. Ich drehte mich mit meinem Schreibtischstuhl um und blickte durch das riesige Fenster auf die Straße hinaus. Auf diesen Straßen war nicht sonderlich viel los und ich arbeitete im ersten Stock, während ich früher in der 15. Etage eines Hochhauses mein Büro gehabt hatte. Wenn ich dort aus dem Fenster gesehen hatte, war in der Tiefe nur geschäftiges Treiben auszumachen gewesen. Die vielen Autos glichen einer Blechlawine, die den Verkehr oft zum Erliegen gebracht hatte. Die Taxen hupten ständig, während die wütenden Fahrgäste, die sich über den Stau auf der Straße aufregten und deshalb beschlossen, nun doch die U-Bahn zu nehmen, ausstiegen und davonhasteten.

So war es mir selbst bis vor einem knappen Jahr gegangen. Damals befand ich mich noch mitten im Jura-Studium und konnte mir kein eigenes Auto leisten. Deshalb musste ich wohl oder übel mit der U-Bahn fahren. Doch an manchen Tagen, wenn ich keine Lust hatte, in einen der überfüllten Waggons zu steigen, hatte ich mir ein Taxi genommen. Das hatte dann aber meist zu dem gleichen Ergebnis geführt, wie ich es von meinem früheren Büro aus häufig beobachtet hatte.

„Ich fahre jetzt mit dem Team los, wir haben einen neuen Fall“, riss mich meine Schwester aus meinen Gedanken.

Ich war so versunken gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie sie mein Büro betreten hatte. Während ich mich mit meinem Stuhl drehte, fragte ich: „Wo geht es hin?“

„Im Kissena Park wurde eine Leiche gefunden.“

„Na, dann lass die anderen lieber nicht warten“, meinte ich.

„Wir melden uns, wenn wir wieder da sind.“

Ich nickte zustimmend und sie verließ mein Büro. Danach lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und lächelte. Das würde mein erster offizieller Fall werden, den ich schon während der Ermittlungen als Staatsanwältin betreute. Mein erster Fall für dieses Revier. Meine erste Gelegenheit, um mich vor den anderen zu beweisen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sich das als viel schwieriger erweisen würde, als ich zu diesem Zeitpunkt annahm.

***

„Anna und Sam, ihr redet mit den Zeugen und nehmt ihre Aussagen auf. Lena, du koordinierst dich mit der Spurensicherung und sorgst dafür, dass wir alle Informationen erhalten“, verteilte Sophie die Aufgaben, als sie endlich mit ihrem Team am Fundort der Leiche eingetroffen war.

Der Verkehr war, obwohl es schon fast 14 Uhr war, im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch gewesen und so hatten sie statt sechs fast zwanzig Minuten gebraucht. Sofort machten sich alle an die Arbeit und Sophie ging zu der Bank, die durch das gelbe Absperrband als Tatort gekennzeichnet war. Dort kniete der Gerichtsmediziner Jim Conner.

Als sich Sophie neben ihm niedersinken ließ, sah er kurz von seiner Arbeit auf und begrüßte sie. „Ah, Detective Parker. Schön, dass Sie auch endlich hier bist.“

„Der Verkehr hat es leider nicht anders zugelassen, aber du hast offensichtlich schon mal ohne mich angefangen“, bemerkte Sophie und wandte sich dann der jungen Frau zu, die leblos auf der Parkbank lag. „Also, was haben wir?“

Jim blickte auf sein Klemmbrett und erwiderte: „Junges Mädchen, etwa 16 Jahre alt, kein Ausweis oder sonstige Papiere, durch die wir sie identifizieren könnten.“ Er griff neben sich und hob ein kleines Tütchen vom Boden auf, in dem sich zwei Münzen befanden. „Das lag auf ihren Augen, als sie gefunden wurde.“

Mit gerunzelter Stirn nahm Sophie das Tütchen in die Hand und betrachtete seinen Inhalt genauer. Es handelte sich um ganz normale Münzen, wie sie jeder in seinem Geldbeutel hatte.

„Das lag auf ihren Augen?“, fragte sie leicht verwirrt. Jim nickte und widmete sich dann wieder seinem Klemmbrett. „Haben die Zeugen die Münzen angefasst?“, wollte Sophie nach einigen prüfenden Blicken wissen.

Jim sah wieder auf und dieses Mal schüttelte er den Kopf: „Nein, soweit ich weiß nicht.“

„Gut, dann sollen die Forensiker darauf nach Fingerabdrücken suchen.“ Sie steckte das Tütchen ein und wollte nun von dem Gerichtsmediziner wissen: „Was war die Todesursache?“

„Blutverlust aufgrund der vielen Schnittwunden.“

Sophie musterte den Körper des Opfers, der mit Schnittwunden übersät war. „Dieses Mädchen muss schrecklich gelitten haben!“, schoss es ihr durch den Kopf. „War sie noch am Leben, als ihr diese Verletzungen zugefügt wurden?“, fragte sie laut.

„Ja. Keiner dieser Schnitte wurde post mortem ausgeführt“, bestätigte Jim Sophies Verdacht. „Dieses Mädchen hat unglaublich gelitten“, sprach er nun ihren Gedanken aus.

„Der Todeszeitpunkt?“, überging Sophie diese Bemerkung, um die Beklommenheit zu verdrängen, die sie beim Anblick dieses Mädchens überfallen hatte.

„Sie starb etwa um 23 Uhr gestern Abend. Aber diese Schnittwunden sind teilweise schon drei Tage alt.“

„Sie wurde über Tage hinweg gefoltert?“, stellte Sophie ungläubig fest.

„Leider ja“, meinte Jim bedauernd und sah das tote Mädchen traurig an. „Ich sehe jeden Tag solche Leichen, da sollte man doch meinen, dass ich mich an diesen Anblick gewöhnt habe.“ Er schüttelte kaum merklich den Kopf.

Tröstend legte Sophie ihm eine Hand auf den Rücken. „Hey, Jim. Du machst das doch erst seit knapp einem Jahr. Außerdem zeigt das nur, dass du ein Mensch bist. Ich mache diesen Job schon fünf Jahre und ich kann dir sagen, an so einen Anblick gewöhnt man sich nie.“ Sie stand auf und nickte dem Arzt noch einmal aufmunternd zu, bevor sie sich auf den Weg zu Sam und Anna machte, die in einigen Metern Entfernung auf sie warteten.

„Was haben die Zeugen gesagt?“, fragte Sophie, als sie bei ihren Kollegen angekommen war.

„Die Zeugen heißen Maria und Cole Smith. Sie liefen wie jeden Tag ihre Runde im Park und fanden dabei das Opfer.“

„Haben sie sonst noch jemanden gesehen? Irgendeinen Verdächtigen?“

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, das Ehepaar hat niemanden gesehen. Laut ihren Aussagen waren sie ganz allein im Park.“

„Na ja, in einem so großen Park ist es kein Wunder, wenn einem niemand begegnet“, fügte Sam hinzu.

Sophie stimmte ihm zu und holte das kleine Tütchen aus ihrer Tasche, das der Gerichtsmediziner ihr gegeben hatte. „Das hat Jim auf ihren Augen gefunden.“

„Auf ihren Augen?“, wiederholte Sam ungläubig.

Sophie nickte. „Ja, der Täter muss sie dort platziert haben. Und da die Zeugen sie wohl nicht angefasst haben, könnten mit etwas Glück Fingerabdrücke unseres Täters drauf sein.“

„Vorausgesetzt, er hat keine Handschuhe getragen oder sich nicht die Mühe gemacht, die Münzen abzuwischen“, fügte Anna hinzu. Sie war oftmals eher eine Skeptikerin, was Beweise an Tatorten anging.

„Ja, das natürlich vorausgesetzt“, meinte Sophie. „Wie sieht es denn mit Videoaufnahmen aus? Ich habe auf dem Weg zwei Kameras gesehen.“

„Ja, ich auch“, stimmte Anna zu. „Sie sind auf Masten befestigt, das bedeutet, dass es Standardüberwachungskameras sind. Sie haben keine Schwenkfunktion, also nehmen sie einen Bereich von etwa 100 Metern nach vorne und in die Breite auf. Soweit ich das richtig erkenne“, sie drehte sich einmal um die eigene Achse, „ist dieser Weg vollkommen videoüberwacht. Von hier wird der Täter wohl nicht gekommen sein.“

„Also kam er durch den Wald?“, hakte Sophie nach.

„Das wäre eine Möglichkeit, aber dann wäre er am Parkeingang von den Kameras erfasst worden. Wenn wir davon ausgehen, dass der Täter von der Videoüberwachung gewusst und deshalb alle Kameras gemieden hat, gibt es nur einen Weg, auf dem er zu der Bank gelangen konnte.“

„Er ist geflogen“, scherzte Sam.

Anna sah ihn mit ihrem Ist-das-dein-Ernst-Gesichtsausdruck an und fuhr dann fort: „Der Täter kam von der Straße, ging zwischen diesen beiden Kameras“, sie deutete auf die entsprechenden Geräte, „hindurch, nutzte ihren toten Winkel und gelangte so ungesehen zu der Bank. Auf dem gleichen Weg wird er auch wieder hinausgelangt sein.“

„Ist denn keine dieser Kameras auf die Bank gerichtet?“, fragte Sophie und sah sich um.

„Mach dir keine Mühe, du wirst keine finden. Die Bank liegt in einem blinden Fleck. Keine Chance, dass der Täter auf den Bändern ist.“

„Vorausgesetzt, dass der Täter von der Kameraüberwachung wusste und die Geräte gemieden hat“, fügte Sam hinzu.

Sophie nickte und meinte dann: „Sam, du organisierst uns trotzdem alle Aufnahmen von diesem Teils des Parks und des Parkeingangs. Nur um sicherzugehen. Anna, du teilst der Spurensicherung mit, wo sie nach Fußspuren suchen müssen, falls der Täter tatsächlich diesen Weg genommen hat.“

Die beiden nickten und machten sich an die Arbeit. Sophie drehte sich um und blickte zu der Bank zurück, neben der gerade ein groß gewachsener junger Mann Lena einen zärtlichen Kuss gab und sie dann verliebt ansah. Sie lachte und drehte sich von ihm weg, um zu Sophie zu gehen.

„Und wie geht es Stan?“, fragte diese, als ihre Freundin bei ihr angekommen war.

Schelmisch grinsend erwiderte Lena: „Nach der gestrigen Nacht bestimmt großartig.“

„Bitte keine Einzelheiten“, lachte Sophie.

Es war schon lange kein Geheimnis mehr, dass Lena und Stanley Miller seit einiger Zeit zusammen waren. Deshalb teilte Sophie ihre Freundin immer der Spurensicherung zu, damit die beiden mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Sie selbst hatte auch schon versucht, eine solche Beziehung zu führen, doch damals hatte ihr niemand geholfen. Deshalb versuchte sie jetzt alles, um die Beziehung zwischen Stan und Lena zu stärken. Sie blickte zu ihrer Freundin, die glücklich lächelnd zu Boden sah. Sophie gönnte Lena dieses Glück von ganzem Herzen. Wenn es jemand verdient hatte, glücklich zu sein, dann sie.

„Hat die Spurensicherung etwas Relevantes gefunden?“, lenkte sie das Thema nun wieder auf den Fall.

„Außer ein paar Fasern an der Bank, die auch vom Opfer oder von Spaziergängern stammen könnten, wirkt der Tatort wie gereinigt“, wiederholte Lena die Fakten, die sie von Stan bekommen hatte.

„Wir haben die Überwachungsbänder“, meinte Sam, der sich gerade mit Anna im Schlepptau wieder zu der kleinen Gruppe gesellte.

„Die Spurensicherung sucht jetzt gezielt nach Fußspuren in dem toten Winkel der Kameras“, berichtete jene.

„In Ordnung“, meinte Sophie. „Dann gibt es für uns hier nichts mehr zu tun. Wir sollten zurück zum Revier fahren und mit den Ermittlungen beginnen.“ Das Team stimmte ihr zu und sie gingen zu den Autos, um sich auf den Rückweg zu machen.

Auf dem Revier angekommen rief Sophie sofort bei der Gerichtsmedizin an, um Jim anzuweisen, ihr die Fingerabdrücke des Opfers zukommen zu lassen, damit es identifiziert werden konnte.

Als sie aufgelegt hatte, sagte sie zu Lena: „Jim schickt uns die Fingerabdrücke der Toten rüber, wir beide nehmen uns die Vermisstenmeldungen der letzten zwei Wochen vor.“

„Geht klar“, meinte Lena und setzte sich an den Schreibtisch, um ihrer Aufgabe nachzugehen.

„Sam“, fuhr Sophie fort, „du bringst die Münzen, die wir auf den Augen des Opfers gefunden haben, in die Forensik und machst denen mal ein bisschen Dampf, damit wir erfahren, ob Fingerabdrücke darauf sind. Anna, du siehst die Überwachungsbänder durch. Du weißt ja, wonach du suchen musst.“

Die Angesprochene nickte. Als Technikexpertin des Teams fielen Überwachungsbänder immer in ihren Aufgabenbereich. Das erleichterte allen die Arbeit und so kamen sie viel schneller voran.

Sophie setzte sich an ihren Computer und druckte als Erstes das Foto des Opfers aus. Sie lehnte es an ihren Bildschirm, um die tote junge Frau mit der Vermisstendatei abzugleichen. Sie seufzte, als sie sah, dass es fast 200 Vermisstenanzeigen in den letzten zwei Wochen gegeben hatte. Sie konnte diese zwar aufgrund des vermutlichen Alters von etwa 16 Jahren und der Tatsache, dass das Opfer weiblich war, eingrenzen, doch danach blieben immer noch 34 vermisste Mädchen übrig. In solchen Momenten wünschte sich Sophie wirklich, sie könnte einfach die Fingerabdrücke einscannen und warten, bis das System einen Treffer fand. Doch solche Spielereien, wie Captain Reynolds es nannte, lagen weit über ihrer Gehaltsklasse. Also blieb Sophie nichts anderes übrig, als sich durchzuklicken.

Sie rief die erste Akte auf. Es war ein 14-jähriges Mädchen, das allerdings schwarze und keine blonden Haare hatte. Also schloss Sophie die Datei wieder und klickte auf die nächste. Doch dieses Mädchen hatte blaue Augen und keine grünen. Und so arbeitete sie sich voran.

Bei der 13. Vermisstenanzeige hielt sie abrupt inne.

„Na endlich!“, dachte Sophie, als sie erkannte, dass dieses Mädchen zweifellos das Opfer war. Der Name war Nancy Tanner und sie war 16 Jahre alt.

Sophie druckte auch dieses Foto aus, heftete die beiden Bilder an die Pinnwand des Büros und schrieb in Großbuchstaben das Wort OPFER darunter.

„Hast du sie identifiziert?“, hörte sie hinter sich eine Stimme und drehte sich daraufhin zu Lena um.

„Ja, ihr Name ist Nancy Tanner, 16 Jahre.“

Lena ging zurück an ihren Computer und rief besagte Akte von Nancy Tanner auf. „Sie war nicht vorbestraft und ist der Polizei noch nie aufgefallen. Sie ging auf die Gesamtschule und wird seit drei Tagen vermisst“, berichtete sie und Sophie wies sie an, alles aufzuschreiben und auszudrucken, damit sie es an die Pinnwand heften konnten.

„Ich geh mal zu Anna, vielleicht hatte sie ja auch schon Glück“, verkündete Sophie und machte sich auf den Weg zum Medienraum, in dem sich alles Technische abspielte. Unterwegs begegnete sie einem jungen, ziemlich attraktiven Mann, der gezielt auf sie zuging.

„Detective Parker?“ Sophie blieb stehen und musterte ihn, bevor sie antwortete.

„Ja, mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Mann schüttelte ihre Hand. „Liam Coleman. Ich bin ein ehemaliger Kollege Ihrer Schwester Jenny und muss ihr noch ein paar Akten vorbeibringen.“ Zum Beweis hob er einen Stapel Dokumente hoch, den er sich unter den Arm geklemmt hatte. „Wo finde ich denn ihr Büro?“

Sophie drehte sich um und erklärte: „Sie gehen hier den Gang hinunter und am Ende nach links. Sie stehen dann in einem Großraumbüro, dort ist es die erste Tür rechts. Klopfen Sie lieber vorher, Jenny hasst es, wenn man einfach so reinplatzt, aber das wissen Sie sicher.“

Liam lachte, bedankte sich und ging den Gang hinunter. Sophie sah ihm noch kurz nach und dachte: „Warum hat Jenny mir denn nie erzählt, dass sie mit einem so netten jungen Mann zusammenarbeitet?“ Sie schmunzelte bei dem Gedanken, dass da vielleicht mehr gewesen war. Doch den Gedanken verwarf sie ganz schnell wieder. Sophie war sich sicher, dass ihre Schwester ihr davon erzählt hätte. Also setzte sie ihren Weg zum Medienraum fort.

Als sie an der Tür angelangt war, klopfte sie und von drinnen ertönte Annas Stimme: „Herein.“

Sophie kam der Aufforderung sogleich nach und betrat den Raum. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, drehte sie sich zu Anna um, die mit einer Fernbedienung in der Hand vor einem Flachbildschirm saß. „Fehlt nur noch das Popcorn“, bemerkte sie und Anna nahm schnell die Füße von dem Tisch vor sich.

„Ja, und ein guter Film. Diese Überwachungsbänder sind so langweilig.“

Sophie stellte sich neben ihre Kollegin. „Du hattest also kein Glück.“

„Nein, so wie ich es vermutet habe, muss der Täter den toten Winkel der Kameras zu seinem Vorteil genutzt haben.“

Sophie blickte auf den Bildschirm, auf dem aus fünf verschiedenen Kamerawinkeln der dunkle Park zu sehen war.

„Aber ich bin auch noch nicht ganz durch. Vielleicht passiert doch noch was“, meinte Anna, klang allerdings nicht sehr zuversichtlich.

„In Ordnung. Ich wollte dich darüber informieren, dass wir das Opfer mittlerweile identifizieren konnten. Lena sucht gerade nach Informationen über die Familie des Mädchens.“

Anna nickte, aber ihre Aufmerksamkeit richtete sich voll und ganz auf die Videos, die immer noch im Zeitraffer auf dem Bildschirm abliefen.

„Dann will ich dich mal nicht weiter stören“, sagte Sophie, verließ den Raum und machte sich auf den Weg zurück zu Lena, als ihr Sam entgegenkam.

„Ah, da bist du ja.“

„Gibt es schon was Neues von der Forensik?“, wollte Sophie im Gehen wissen.

Sam drehte sich um und folgte ihr, indem er erwiderte: „Nein. Ich bin denen, wie du gesagt hast, auf die Füße getreten. Aber sie haben mich gewarnt, dass ich, wenn ich noch länger bliebe, die Untersuchung eher behindern als vorantreiben würde.“

Sophie lachte. Sam nahm immer alles wörtlich, egal, was sie sagte. Aber das war wahrscheinlich der Grund, weshalb er so ein guter Ermittler war.

„Hat Anna schon etwas gefunden?“, wollte Sam wissen.

Sophie schüttelte den Kopf: „Nein, aber wir haben das Opfer identifiziert. Lena sucht nach Informationen über die Familie.“

In dem Moment betraten sie gemeinsam das Großraumbüro und gingen direkt zu Lenas Schreibtisch, die mit gerunzelter Stirn vor ihrem Computer saß.

„Hast du die Familie von Nancy Tanner schon überprüft?“, fragte Sophie und stellte sich hinter ihre Kollegin.

Doch diese schüttelte den Kopf und erklärte: „Es gab da ein Problem mit der Akte.“

„Ein Problem mit der Akte?“, wiederholte Sam.

Lena nickte. „Ja, ich musste mich mit dem Captain unterhalten und der musste einige Kollegen anrufen, um mir das Dokument zugänglich zu machen.“

„Haben wir jetzt Zugriff?“, wollte Sophie wissen.

„Ja, ich wollte mir die Datei gerade ansehen.“ Sie tippte ein paar Befehle in ihren Computer ein. Die Akte öffnete sich und Lena fing an, die Fakten abzulesen: „Ihre Mutter, Claudia Tanner, ist Krankenschwester und ihr Vater, Richard Tanner, ist ...“ Sie stockte, dann sah sie noch einmal genauer hin.

„Was ist?“, fragte Sophie.

„Er ist einer von uns. Richard Tanner ist Polizist.“

109th

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