Читать книгу Abenteuer auf den Inseln: Nonnis Erlebnisse auf Seeland und Fünen - Jón Svensson - Страница 5
2. Der Brief aus Avignon
ОглавлениеSchon am ersten Tage nach der Schulprüfung wollte ich zu Valdemar hin, um mit ihm die letzten Vorbereitungen für unsern Ausflug zu treffen.
Als ich eben im Begriffe stand, das Grüdersche Haus zu verlassen, hörte ich, daß ein Fenster im zweiten Stock aufgemacht wurde. Gleich darauf ertönte eine kräftige Frauenstimme:
„Nonni, komm schnell zurück! Dr. Grüder will mit dir sprechen. . . .“
Es war Madame Valentin, die Haushälterin des Herrn Doktors.
„Ich komme sofort, Madame Valentin“, rief ich zurück.
Etwas betroffen wandte ich mich also um, lief schnell nach der Eingangstür zurück, schlüpfte ins Haus hinein und flog in wenigen Sätzen die Treppe hinauf. Im nächsten Augenblick stand ich vor der Tür des Herrn Doktors.
„Was hat der Herr Doktor mir wohl zu sagen?“ fragte ich mich — nicht ohne eine gewisse Angst. — „Sollte ich was verbrochen haben?“ Es wurde mir ein wenig schwül. . . .
Ich hielt es nicht für ratsam, sofort anzuklopfen. Es wird wohl sicherer sein, dachte ich, zuerst zu Madame Valentin zu gehen, vielleicht weiß die Bescheid.
Madame Valentin mußte wohl gerade jetzt in der Küche sein. — Ich lief rasch dorthin, klopfte an und fand sie mit der jungen deutschen Küchenmagd am Herde stehen.
„Nicht zu mir solltest du kommen“, fuhr sie mich lebhaft an, „sondern zum Herrn Doktor. Mache, daß du schnell zu ihm kommst. Er wartet auf dich und hat schon mehrere Male nach dir gefragt.“
„Was hat er mir wohl zu sagen, Madame Valentin?“
„Wie könnte ich das wissen, Nonni? — Ich weiß nur, daß er ein sehr ernstes Gesicht machte, als er mich bat, dich zu rufen.“
„Ein ernstes Gesicht? Wirklich, Madame Valentin? Glauben Sie, daß er böse ist?“
„Ob er böse ist, das weiß ich gerade nicht. Daß er aber sehr ernst ist, das weiß ich ganz bestimmt. — Hast du vielleicht etwas angestellt, Junge?“ fragte sie dann, indem sie näher zu mir herkam und mich fest anschaute.
„Ich weiß von nichts. — Wenigstens fällt mir augenblicklich nichts Besonderes ein. Haben Sie vielleicht etwas Unrechtes an mir gemerkt, Madame Valentin?“
Jetzt kam auch die Küchenmagd näher zu mir her, und beide warfen mir forschende Blicke zu.
„Jungens in deinem Alter, Nonni, sind oft sehr leichtsinnig. Ich will aber damit nicht sagen, daß ich jetzt gerade so etwas an dir gemerkt habe. Jedenfalls habe ich nicht über dich geklagt“, sagte Madame Valentin zu mir.
Dann wandte sie sich an das junge Mädchen und fragte: „Maria, ist dir in seinem Betragen etwas aufgefallen?“
Maria schaute mich schelmisch-teilnehmend an und dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie: „Ich habe nur gemerkt, daß er sich etwas stark mit den Schuljungen herumbalgt, wenn sie ihn auf seinem Zimmer besuchen, und das hat der Herr Doktor nicht gern.“
„Wenn das alles ist . . .“, dachte ich, und mein Mut wuchs beträchtlich. „Wir Jungen“, begann ich der Magd dann zu erklären, „können nicht immer so ruhig und artig sein wie ihr Mädchen. Wir spielen hie und da ein wenig laut miteinander, wenn wir oben auf dem Zimmer beisammen sind. Ich hätte nicht gedacht, daß etwas Böses dabei sei.“
Das junge Mädchen lächelte. Madame Valentin aber sagte in strengem Tone: „An anständigem Spielen ist nichts Böses. Das wilde Lärmen und Spektakeln aber, das ihr zuweilen droben macht, das will mir weniger gefallen.“
„Ich wußte nicht, daß man es im Hause hören konnte, Madame Valentin. Ich werde aber dafür sorgen, daß wir in Zukunft ruhiger sind.“
Dann verließ ich die Küche und kehrte ein wenig erleichtert nach dem Zimmer des Herrn Doktors zurück.
Ich klopfte:
„Herein!“ dröhnte es wie aus weiter Ferne vom hinteren Zimmer des Herrn Doktors her.
Ich öffnete leise die Tür und ging in das Vorzimmer hinein. Ich legte meine Mütze auf einen Stuhl und trat zur Tür des zweiten Zimmers vor. Sie stand halb offen. Ich schlüpfte deshalb ganz leise und ohne zu klopfen in das innere Zimmer hinein.
Herr Grüder saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch in emsiger Arbeit. Er schaute auf, warf mir einen raschen Blick zu, zeigte hastig nach einem Stuhle, ohne ein Wort zu sagen, und schrieb weiter.
Ich setzte mich und wartete.
Herr Grüder fuhr in seiner Arbeit fort. Die Feder lief hüpfend und springend über das Papier. „Er schreibt wohl einen Eilbrief“, dachte ich, während ich ihm schweigend und geduldig abwartend zusah.
Endlich richtete sich der Herr Doktor auf, legte den Federhalter langsam auf den Tisch, schaute einige Augenblicke sinnend vor sich hin, griff dann, indem er mir einen raschen Blick zuwarf, nach einigen Papieren, die rechts auf der Tischplatte vor ihm lagen, und entnahm dem kleinen Haufen einen Brief.
Dann drehte er sich auf dem Stuhle nach mir hin, schaute mich diesmal ernst an und sagte:
„Heute morgen ist dieser Brief angekommen, Nonni. Er wird dich interessieren, denn es ist darin die Rede von dir.“
Ich machte gewaltig große Augen und richtete mich auf, um den Brief wenigstens von außen etwas genauer anzusehen. Eine französische Freimarke klebte auf dem Umschlag. . . .
Blitzschnell schossen mir allerlei Gedanken durch den Kopf. . . .
„Das ist ein französischer Brief, Herr Doktor!“ rief ich voll Begeisterung aus.
„Bist du aber schlau, kleiner Schelm! Er kommt tatsächlich aus Frankreich.“
„Und ich weiß noch mehr, Herr Doktor: ich weiß auch, aus welcher Stadt in Frankreich er kommt“, fuhr ich in meiner Begeisterung fort.
„Weißt du auch das!“ lachte Herr Grüder laut auf. „Dann bist du ja ein kleiner Hellseher. — Wo kommt er denn her?“
„Er kommt aus Avignon“, gab ich sofort zur Antwort. „Und ich kann Ihnen auch noch sagen, Herr Doktor, wer ihn geschrieben hat.“
„Wie, auch das noch!“ lachte der Herr Doktor herzlich weiter. „Das wird ja geradezu unheimlich. — Nun, wer hat ihn denn geschrieben?“
„Er kommt vom Herrn Grafen de Foresta“, jubilierte ich, „von dem feinen Herrn, der mich nach Frankreich eingeladen hat.“
„Auch darin hast du recht, Nonni. Er kommt von dem Grafen de Foresta. — Was er aber darin schreibt, das wirst du wohl nicht so leicht erraten können.“
„Doch, Herr Doktor. Ich glaube, ich werde es erraten können. Soll ich es sagen?“
„Ja, ja! Sage es nur!“
„Er schreibt, daß Sie mich gleich nach Frankreich schikken sollen, in die große Schule in Avignon.“
Noch einmal lachte der Herr Doktor laut auf und sagte: „Nonni, du hast fast wieder das Richtige getroffen, du kleiner Wicht. Doch, wie kommst du denn dazu, alles das so zu erraten?“
„Ich habe gehört, daß der Krieg zwischen den Deutschen und den Franzosen jetzt zu Ende ist. Dann kann ich ja auch bald meine Reise nach Frankreich fortsetzen. Deshalb habe ich mir gedacht, daß der Herr Graf Ihnen darüber geschrieben habe.“
„Da hast du ganz richtig gedacht, Nonni“, sagte nun der Herr Doktor in ernsterem Tone. „Es scheint, daß der Krieg nun wirklich zu Ende ist und der Weg nach Frankreich bald wieder frei werden soll. — Willst du aber, daß ich dir den Brief vorlese?“
„O ja, Herr Doktor, das möchte ich sehr gern.“
„Gut, so höre denn.“
Herr Grüder nahm den Brief aus dem Umschlag, entfaltete ihn und sagte: „Der Brief ist französisch geschrieben. Ich will ihn aber für dich ins Dänische übersetzen. Der Graf de Foresta schreibt:
„Wie Sie wohl erfahren haben, geht der Krieg zu Ende. Es wird also bald möglich werden, meinen kleinen Isländer, den Sie nun fast ein Jahr in Ihrem Hause so liebevoll beherbergt haben, nach Frankreich reisen zu lassen. Den Zeitpunkt der Abreise aus Kopenhagen bitte ich Sie selber bestimmen zu wollen. Da aber der Weg von Kopenhagen bis Avignon recht lang und der Klimaunterschied zwischen den beiden Städten groß ist, habe ich die Reise so eingerichtet, daß der kleine Junge auf dem Wege ein paar Wochen wenigstens haltmachen kann, damit er sich sowohl ausruhen als auch an die größere Wärme in Frankreich allmählich gewöhnen kann. Als Haltestelle habe ich mir die Stadt Amiens in Nordfrankreich gedacht. — Es gibt dort eine große Studien- und Erziehungsanstalt für Gymnasiasten, die den Namen ,Ecole libre de la Providence‘ führt. Ich habe mich schon mit dem Direktor der Anstalt verständigt. Der kleine Isländer wird dort die freundlichste Aufnahme finden. Die einfachste Reisestrecke von Kopenhagen nach Amiens würde wohl die folgende sein: Von Kopenhagen nach Dünkirchen mit einem Dampfer. Von Dünkirchen gibt es eine sehr angenehme direkte Eisenbahnverbindnug nach Amiens. Von Amiens wird er dann später über Paris nach Avignon in einem Tage mit der Bahn auf das bequemste fahren können. Für diesen letzten Teil der Reise wird der Direktor der Anstalt ,La Providence‘ in Amiens Sorge tragen. . . .“
Hier machte Herr Grüder eine Pause, legte den Brief auf den Tisch und sagte:
„Und nun, Nonni, was meinst du dazu?“
Es war mir im Augenblick so eigentümlich zumute, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte.
Da unterbrach Herr Grüder das Schweigen:
„Also, mein kleiner Nonni, wenn du den Brief des französischen Grafen verstanden hast, so wird es dir nun wohl klar sein, daß die Tage deines Weilens hier in meinem Hause zu Ende gehen.“
Der Doktor sprach diese Worte in einem so freundlichväterlichen Tone, daß ich tief gerührt wurde.
Ohne ein Wort sagen zu können, warf ich einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Herrn Doktors und sah zu meiner nicht geringen Überraschung, daß seine Augen feucht waren. . . .
Jetzt konnte ich meine Bewegung nicht mehr zurückhalten. Ich drückte meine beiden Hände gegen mein Gesicht und brach in Tränen aus.
Fast ein Jahr hatte ich im Grüderschen Hause schon zugebracht und war immer von dem Hausherrn mit der größten Güte behandelt worden. Jetzt fühlte ich plötzlich, wie schwer es mir sein werde, diese Stätte, wo ich so glücklich gewesen war, nun bald auf immer verlassen zu müssen.
Nachdem ich ein paar Augenblicke so dagesessen hatte, schämte ich mich meiner Weichherzigkeit — ich nahm mich zusammen, wischte rasch meine Tränen ab, faßte die Hand des Herrn Grüder und sagte zu ihm:
„Sie sind immer so gut gegen mich gewesen, Herr Doktor, deshalb tut es mir leid, daß ich Sie nun verlassen muß. Ich werde Sie aber nie vergessen, Herr Doktor.“
Herr Grüder drückte zärtlich meine Hand und sagte, nun auch selber tief bewegt:
„Mein lieber, kleiner Nonni, ich wußte schon, daß du ein gutes Herz hast, ich hätte aber nicht gedacht, daß du so anhänglich und dankbar seiest für das wenige, das ich während dieses Jahres für dich tun konnte.“
„O Herr Doktor, Sie haben nicht wenig, sondern viel für mich getan“, stammelte ich, während ich kräftig gegen die Tränen ankämpfte.
„Auch ich habe dich immer gern gehabt, mein kleiner Nonni“, sagte Herr Grüder, „und auch mir tut die Trennung recht leid. Doch es muß nun einmal sein. . . . Wann möchtest du eigentlich nach Frankreich abreisen?“
Ich schaute den Doktor an und wußte zuerst nicht, was ich antworten sollte. — Andere Gedanken flogen plötzlich heran. . . . Mein Ausflug mit Valdemar schoß mir durch den Kopf. . . . Den mußte ich doch zuerst unbedingt hinter mir haben. . . . Darüber sprechen durfte ich aber nicht. Das hatten wir ja unter uns abgemacht. . . . Nicht einmal dem lieben, guten Doktor durfte ich unsern Plan verraten. Schließlich erwiderte ich:
„Herr Doktor, ich muß darüber noch etwas nachdenken. . . . Meinen Sie nicht, daß der Krieg wieder losbrechen könne? Ich glaube, es wäre gut, noch ein klein wenig zu warten.“
„Du hast recht, mein Lieber. Wir wollen noch ein klein wenig warten. Genieße deine Ferien und ruhe dich von den Mühen und Arbeiten des Schuljahres aus. Später wollen wir dann auf die Sache wieder zurückkommen.“
Ich stand auf, gab dem Herrn Doktor die Hand und verließ das Zimmer.
Noch immer tief bewegt, ging ich diesmal — gegen meine Gewohnheit — ganz langsam die Treppe hinauf. Ich trat in mein Stübchen und schloß die Tür von innen ab.
Seit einigen Tagen war ich der alleinige Bewohner hier, denn mein lieber Landsmann, Gunnar Einarsson, der etwas ältere isländische Junge, der mit mir im Grüderschen Hause geweilt hatte, war nicht mehr da. Er war auf Wunsch seiner Eltern nach Island zurückgekehrt.
Ich setzte mich an meinen Tisch, dachte nach und fühlte, daß ich an einen Wendepunkt meines Lebens gekommen war. Alles hier sollte ich verlassen: Kopenhagen, die glänzende Hauptstadt Dänemarks, das Grüdersche Haus, die König-Knud-Schule, die frisch-fröhlichen dänischen Jungen, meine lieben Schulkameraden, Valdemar und auch Karl, gegen den ich in der Marmorkirche zwar einmal ernstlich gekämpft hatte, der mir inzwischen aber ein Kamerad geworden war. Verlassen sollte ich nun auch den isländischen Professor, Herrn Gisli Brynjúlfsson, das prachtvolle, reizendschöne Land, die großen, geheimnisvollen Buchenwälder, den azurblauen Sund — alles das sollte für mich bald nur noch eine schöne Erinnerung sein . . .! „Wie traurig“, seufzte es in meinem Innern.
Vor einem Jahr hatte ich meine inniggeliebte Heimatinsel Island verlassen müssen, mein trautes Familienhaus, meine Mutter, meine Geschwister, Manni und Bogga, und alle meine Freunde, — o wie hatte ich damals gelitten . . .! Dann war ich hierher nach der Großstadt Kopenhagen gekommen, ganz allein und verlassen. Alles war mir damals hier fremd und neu.
Jetzt war ich aber eingelebt und wie festgewurzelt, und überall um mich herum hatte ich lauter liebe und gute Freunde. . . . Und nun sollte ich wieder von ihnen scheiden; wie schwer und wie hart war doch das!
So saß ich da und weinte. Gerade so wie ich vor einem Jahre in Island auf der stillen Bergeshalde und in der Kajüte des kleinen „Valdemar von Rönne“ beim damaligen Abschied geweint hatte.
Ich war sonst immer so frisch und fröhlich, jetzt aber war ich wie in ein Meer von Schmerz und Trauer versenkt. . . .
Ich schämte mich vor mir selber. . . . Aber es war mir für den Augenblick nicht möglich, mich von diesen tieftraurigen Empfindungen loszureißen.
Da auf einmal flogen meine Gedanken, wie so oft schon, in einem Nu den langen Weg über den Atlantischen Ozean nach Island; dort sammelten sie sich alle im Hause meiner Mutter, dem kleinen, schwarzweißen Bau neben der Kirche im reizend schönen Städtchen Akureyri am Eyjafjördur. . . .
Und in demselben Augenblick stand meine liebe Mutter vor mir — so lieb und so gütig lächelnd, aber auch fest und bestimmt, wie sie immer war. Ich sah sie in meinem Geiste ganz deutlich. Sie kam nah an mich heran, preßte beide Hände gegen meine Wangen und drückte einen Kuß auf meine Stirn.
Ich blieb wie erstarrt sitzen und wagte nicht die geringste Bewegung zu machen, um die liebe Erscheinung nicht zu verlieren.
„O Mutter, o Mutter!“ stammelte ich, nicht mit meinen Lippen, sondern tief in meiner Seele drinnen. . . . Und urplötzlich war alles um mich herum verschwunden. Ich war nicht mehr in meinem kleinen Stübchen in Kopenhagen. Ich war in Island, in Akureyri, im Hause meiner Mutter, in ihrer unmittelbaren Nähe, ja, ganz nahe bei ihr. . . .
Und da auf einmal hörte ich ihre Stimme . . ., die wohlbekannte Stimme der lieben Mutter: „Aber Nonni, mein Kind! Was tust du denn! Wie kannst du so traurig dasitzen! Du wolltest ja nach Frankreich reisen, und nun sollst du endlich dorthin. . . . Glaubst du denn, daß Gott dich dort verlassen wird? Hat er dich etwa hier in Kopenhagen verlassen? Hat er dich nicht im Gegenteil, wie ich dir vorausgesagt habe, immerfort auf den Händen getragen? Aber gerade so wird er es mit dir in Frankreich tun, wenn du ihm nur treu bleibst und dich bemühst, ein guter Junge zu sein. Und so wird er überall mit dir verfahren, ja überall, wo du auch immer in der ganzen Welt sein magst. — Du mußt jetzt von hier scheiden. Aber schüttle deine Traurigkeit ab, mein teures Kind, sie lähmt dich nur und macht dich weich. Fahre fort, ein frischer, munterer und fröhlicher Junge zu sein. Gott liebt dich und wird immer mit dir sein. . . .“
So sprach meine liebe Mutter zu mir — und noch vieles andere sagte sie, und je länger sie sprach, desto mehr schwanden all die traurigen, lähmenden und entmutigenden Gedanken aus meiner Seele. Die düsteren Wolken verloren sich in die Ferne, und heller Sonnenschein leuchtete wieder in mein Herz hinein.
Ich erhob mich rasch und wollte mich in die Arme meiner Mutter werfen. . . . Als ich aber die Augen öffnete, wurde ich vom Lichte geblendet, das durch die Fenster in das Zimmer hineinflutete. Meine Mutter war nicht mehr da. Ich stand allein mitten in meinem kleinen Stübchen.
„Mutter, Mutter! o liebe, liebe Mutter!“ rief ich wiederholt aus. Aber sie zeigte sich nicht mehr.
„Sollte denn das alles nur ein Traum gewesen sein?“ fragte ich mich tief enttäuscht. Ich konnte es nicht glauben. Nein, ich war sicher bei meiner Mutter gewesen. Sie hatte wirklich mit mir geredet, es war kein Traum. — Und wenn es dennoch ein Traum gewesen ist, dann war es einer der seligsten Träume meines Lebens. . . .
Ich fühlte mich wie neugeschaffen, voll Kraft und Freude, genau so wie früher zu Hause, wenn sie mich getröstet und ermuntert hatte.
„O mein Gott!“ rief ich aus, „segne und tröste meine liebe, gute Mutter und hilf mir, daß ich sie nie enttäusche.“
Es hing ein Spiegel vor mir an der Wand. Mein Blick fiel darauf, und ich sah die Spuren meiner Tränen. Sofort wusch ich mich sorgfältig und setzte mich dann auf den Stuhl, um zu überlegen, was jetzt zu tun sei.
Da kam mir sogleich der geplante Ausflug mit Valdemar in den Sinn. Ein gutes Mittel, dachte ich, um die kleinmütigen, düsteren Gedanken zu verscheuchen.
O ja, dieser Ausflug mußte unbedingt stattfinden.
Das würde wohl der letzte Ausflug sein, den ich durch die schönen dänischen Buchenwälder machen würde. Bald würde ich in dem großen fremden Lande sein, wohin ich nun reisen sollte. Dort würde ich dann mit munteren kleinen französischen Freunden Ausflüge machen durch die herrlichen Gegenden des sonnigen Südens, durch Wälder ganz anderer Art, wo süße Feigen, Orangen, Pfirsiche und Aprikosen an allen Ästen hingen!
Wie schön war doch meine Zukunft! Wie töricht, mich von Trauer und Mutlosigkeit überwältigen zu lassen!
Voll Freude und Zuversicht stand ich auf, nahm meine Mütze, machte mich zurecht und ging aus dem Zimmer.
Als ich die Treppe hinuntersprang, begegnete ich Madame Valentin.
„Wohin so rasch, Nonni?“ fragte sie in einem strengen Tone.
„Ich muß in die Stadt hinaus, zu einem Freund, Madame Valentin.“
„Bist du auch beim Herrn Doktor gewesen?“
„Ja, Madame Valentin.“
„Alles gut abgelaufen?“
„O ja, sehr gut, Madame Valentin. Der Herr Doktor hat mir eine große Neuigkeit erzählt.“
„Wie! eine große Neuigkeit?“ fragte Madame Valentin jetzt auch mit einem freundlichen Lächeln. Es war mir klar, daß sie die Neuigkeit gern zu erfahren wünschte.
„Ja, Madame Valentin, eine sehr, sehr große Neuigkeit.“
„Ja was ist denn das für eine Neuigkeit, mein lieber kleiner Nonni?“
„Es ist etwas außerordentlich Wichtiges, Madame Valentin“, sagte ich ein bißchen boshaft.
Es fiel mir nämlich plötzlich ein, daß ich ein paar Tage vorher einen Mann hatte sagen hören, die Frauen seien neugieriger als die Männer, und sie könnten schlecht ein Geheimnis bewahren. Ich hatte es damals nicht recht glauben wollen; nun aber schien es mir, als wäre etwas daran. Und ich dachte: jetzt habe ich eine gute Gelegenheit, es zu erfahren: ich brauchte ja nur die etwas strenge Madame Valentin auf die Probe zu stellen.
Unterdessen schaute mich die würdige Haushälterin sehr interessiert an. Dann sagte sie:
„So . . ., also etwas sehr Wichtiges, Nonni! Das hätte ich doch nicht gedacht. . . . Dann wäre es doch wohl besser, daß du es mir hier im kleinen Zimmer sagst, als auf der Treppe, wo jeder dich hören kann. — Man muß immer mit solchen Sachen vorsichtig sein. — Komm nur mit mir hinein. . . .“ Sie schob mich freundlich vor sich her in ein kleines Zimmer in der Nähe, trat hinter mir ein und schloß die Tür von innen ab.
„Also eine sehr wichtige Neuigkeit, Nonni! Was ist es denn?“
„Aber Madame Valentin“, sagte ich unverbesserlicher kleiner Schelm, „ich hatte nicht vorgehabt, es Ihnen zu sagen.“
„Wie? Was sagst du?“ erwiderte Madame Valentin anscheinend sehr erregt.
„Ich meine nur, Madame Valentin, daß ich nicht ganz sicher bin, ob ich es auch sagen darf. Denn es ist so wichtig“, fügte ich hinzu, um die Spannung der guten Hausmutter immer noch größer zu machen.
„Wie! du bist nicht sicher, ob du es mir sagen darfst! Meinst du vielleicht, daß ich ein Geheimnis nicht bewahren kann? Mir kannst du es ganz ruhig sagen, Nonni. Bei mir bleibt es in Sicherheit.“
„Ich will es Ihnen ganz gern sagen, Madame Valentin. — Aber der Herr Doktor . . .! Meinen Sie nicht, daß er vielleicht böse wird?“
„Das wird er sicher nicht, Nonni. Er wird ja auch nichts davon erfahren.“
„Meinen Sie aber nicht, daß ich ihn zuerst um Erlaubnis bitten sollte?“
„Wie bist du doch einfältig, Nonni! Das brauchst du doch gar nicht. Sage es nur ganz einfach.“
Jetzt war es mir so ziemlich klar geworden, daß, wenn nicht alle Frauen neugierig seien, Madame Valentin doch etwas von dieser Schwäche an sich haben müsse. Ob sie auch ein Geheimnis nicht bewahren könne, das wollte ich später schon noch erfahren. — Ich hielt sie nun nicht länger mit meinen Bemerkungen hin, sondern sagte ihr schließlich geradeheraus:
„Madame Valentin, die große Neuigkeit ist dies: ich werde bald dieses Haus verlassen.“
„Wie, du wirst das Haus verlassen?“
„Ja, und auch die Stadt.“
„Auch die Stadt! Du wirst Kopenhagen verlassen?“
„Ja, Madame Valentin, und nicht nur das, sondern sogar auch das Land.“
„Wie! du gehst fort, Nonni?“
„Ja, Madame Valentin. Und ich komme nie mehr zurück.“
„Nie mehr zurück!“ rief sie aus und schlug die Hände zusammen. „Und wo gehst du denn hin?“
„Nach Südfrankreich, Madame Valentin.“
„Oh, richtig, dort solltest du ja schon vor einem Jahre hin — auf ein Schloß, wenn ich nicht irre.“
„Jawohl, zu einem großen Mann, einem Grafen in Avignon.“
„Ja, ja, richtig. Das habe ich auch damals gehört. — Und dort sollst du studieren, nicht wahr?“
„Ja, Madame Valentin, in einem sehr großen Kolleg, wo viele hundert französische Knaben in meinem Alter studieren und erzogen werden.“
„Ja, das ist wahrhaftig eine große Neuigkeit! Und welch ein Glück für dich, Nonni! Da wirst du ja zu einem gelehrten und feinen Mann gemacht.“
„Ja, Madame Valentin, das soll ein sehr feines Kollegium sein, wo die Kinder aus den vornehmen Familien erzogen werden.“
„Oh, was nicht gar! Das ist ja herrlich, Nonni. Und wann wirst du abreisen?“
„Das ist noch nicht abgemacht, Madame Valentin. Ich soll noch etwas warten und zuerst hier Ferien machen.“
„Ja, ja, das ist recht. Du mußt dich ausruhen. — Und ist das nun auch die ganze Neuigkeit, Nonni?“
„Ja, Madame Valentin. Ist die nicht groß genug?“
„Sicher ist sie groß genug. Sie ist ja für dich von ungeheurer Wichtigkeit. Es wird ja für dich ein ganz neues Leben anfangen. — Und jetzt danke ich dir, mein kleiner Freund, daß du mir das alles anvertraut hast. Das war nett von dir.“
„Aber Sie sagen es keinem Menschen, nicht wahr, Madame Valentin?“
„Was das angeht, kannst du dich auf mich verlassen. Durch mich wird kein Mensch etwas erfahren.“
Wir verließen das kleine Zimmer, ich gab Madame Valentin munter die Hand und lief dann eilig die Treppe hinunter.
Ein paar Minuten später war ich auf dem Wege zu Valdemar. Während ich mit leichten Schritten die Breitstraße hinunterhüpfte, kam mir mein Gespräch mit Madame Valentin wieder in den Sinn.
Ich war nicht ganz mit mir selber zufrieden. Mein Experiment war freilich geglückt: Madame Valentin war wirklich in hohem Grade wißbegierig. Und daß ich diese Tatsache so klar herausgefunden hatte, das machte mir Spaß. Aber immer kam mir der Gedanke wieder: War es nicht häßlich von mir, die gute Frau so zu behandeln? Was würde meine Mutter dazu sagen?