Читать книгу Abenteuer auf den Inseln: Nonnis Erlebnisse auf Seeland und Fünen - Jón Svensson - Страница 8

5. Die roten Kühe

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Sobald wir die große Landstraße wieder erreicht hatten, gingen wir mit raschen Schritten auf Roskilde zu.

An beiden Seiten des Weges blühten die herrlichsten Blumen. Wie Perlen und Rubinen leuchteten sie im Sonnenschein und guckten wie glänzende Äuglein aus dem sammetweichen Grase.

Die Wiesen sahen aus wie riesengroße Blumenteppiche, und mitten in dieser Blumenpracht summte und schwirrte ein großes Heer von Käfern und Schmetterlingen aller Arten und Farben.

Wir betrachteten all das Schöne, das uns umgab, und lauschten den Stimmen der zahllosen Künstler und Sänger der Natur, in die wir hier draußen wie in ein Meer eingetaucht waren.

Wir waren beide derart beschäftigt mit all diesem wundervollen Leben und Treiben, daß wir lange nichts miteinander sprachen.

Es ging aber tapfer voran, immer tiefer in die große Insel hinein. Wenn wir uns umdrehten und zurückschauten, konnten wir nichts mehr von der großen Stadt hinter uns sehen. Kopenhagen war längst in weiter Ferne verschwunden. Aber Roskilde, das erste Ziel unserer Wanderung, war noch nicht zu entdecken.

„Wie weit mag es noch sein bis nach Roskilde?“ fragte ich schließlich meinen kleinen Freund.

„Das ist schwer zu sagen, Nonni. Du weißt ja, Roskilde ist ungefähr dreißig Kilometer von Kopenhagen entfernt.“

„Das ist ein langer Weg, Valdemar. Ob wir vor dem Abend Roskilde wohl erreichen werden?“

„Das werden wir kaum, Nonni. Ich habe gehört, daß ein Erwachsener den Weg gut machen kann in einem Tage. Für uns geht es etwas langsamer, weil unsere Beine kürzer sind.“

Ich mußte lachen über den Einfall des kleinen Valdemar. Ich gab ihm aber recht und sagte: „Wenn wir nur doppelt so lange Beine hätten, Valdemar, dann würden wir bald in Roskilde sein. So aber brauchen wir sicher zehn Stunden von Kopenhagen bis dorthin.“

„Und wenn wir noch vorher zu Mittag essen müssen und dazu noch in allerlei Abenteuer geraten, wird es noch viel länger dauern.“

Nach einiger Zeit merkte ich, daß Valdemar nicht mehr so frisch voranging wie bisher.

„Bist du müde, Valdemar?“

„O ja, Nonni, und der eine Fuß beginnt mir wehe zu tun.“

„Das ist wohl eine Blase. Drückt dich vielleicht der Schuh?“

„Ja, ein wenig.“

„Dann mußt du gleich Salbe darauf tun, sonst fängst du an zu hinken.“

Wir bogen etwas vom Wege ab und setzten uns am Straßenrand ins Gras, mitten unter die duftenden wilden Blumen.

Ich nahm aus meinem Rucksack das kleine Gefäß, das die Frau Professor hineingelegt hatte. Es war eine weiße Salbe darin.

Dann half ich Valdemar, seinen wehen Fuß einzureiben.

„Wie geht es jetzt mit dem Fuß, Valdemar?“ fragte ich nach einer Weile.

„Gut! Ich spüre jetzt nichts mehr.“

Die Salbe hatte Wunder gewirkt. Nun ging es weiter und weiter. Immer neue Landschaften, neue Blumen, neue Felder und Wäldchen und neue Bauernhöfe links und rechts. Es war prächtig!

„Nonni, ich spüre argen Hunger“, jammerte der kleine Valdemar nach kurzer Zeit wieder.

„Ich auch, Valdemar“, bestätigte ich ihm sogleich, „vielleicht könnten wir ein Butterbrot essen? Für das Mittagessen ist es wohl noch zu früh.“

„Du hast recht, Nonni“, sagte Valdemar, ging an den Wegrand und setzte sich ins Gras.

Nun holte sich ein jeder von uns ein Butterbrot aus seinem Rucksack und verzehrte es mit einer wahren Andacht.

Neu gestärkt standen wir wieder auf und gingen noch eine gute Strecke Weges, bis wir an ein schattiges Wäldchen kamen. Ein Dorf lag daneben, und am Rande des Wäldchens fanden wir einen Brunnen.

Hier entschlossen wir uns, Rast zu machen und zu Mittag zu essen.

Wir gingen in das Wäldchen hinein und fanden dort einen großen Baumstamm, der am Boden lag. Dieser Baumstamm diente uns als Stuhl, Tisch und Kochherd zugleich.

Es war ein wundervolles Plätzchen. Die laubreichen Äste, die über unsern Köpfen eine hohe, prachtvolle Wölbung bildeten, verschafften uns eine willkommene Kühlung. Oben in den Zweigen saßen eine Menge kleiner Sänger und Musikanten und gaben uns in liebenswürdigster Weise ein Konzert.

„Wie groß und schön ist unser ,Speisesaal‘, Nonni!“ sagte der Kleine.

„Ja, er ist königlich, Valdemar. Oben die singenden und musizierenden Vögel, und rund um uns im grünen Grase die duftenden Blumen.“

Wir fingen nun an, alles für unser Mittagsmahl herzurichten. Unser Kochtopf mit der brennenden Spirituslampe wurde auf den Baumstamm gestellt.

Das Hauptgericht wurde hineingetan und mit Sorgfalt überwacht.

Valdemar lief mit unsern beiden leeren Bechern an den kleinen Brunnen am Waldrand. Er füllte sie dort und brachte sie zurück voll vom köstlichsten Labetrunk, den es auf der ganzen Welt überhaupt gibt.

Während wir bei „Tisch“ saßen, kamen einige Kinder aus dem Dorfe zu uns her und schauten uns zu. Wir empfingen sie mit der größten Freundlichkeit und schenkten ihnen allerhand gute Dinge aus unsern Rucksäcken.

„Ist es weit bis Roskilde?“ fragte Valdemar die Kinder.

„Ja“, sagten sie.

„Wie weit ist es zu gehen?“

„Wissen nicht“, sagten die Kinder. „Sind nie so weit gewesen.“

Nach der Mahlzeit packten wir alle unsere Sachen wieder zusammen und brachen auf.

Die Rucksäcke waren leichter geworden. Wir selber hatten uns gut erholt und traten nun die Wanderung wieder an.

Unsere Rast hatte ziemlich lange gedauert: die Sonne stand bereits tief am westlichen Himmel, aber es war immer noch sehr warm, und gar bald plagte uns wieder der Durst und die Müdigkeit.

Wir mußten unsern Marsch öfter unterbrechen und setzten uns dann jedesmal auf den weichen Rasen am Wegrand, mitten unter die Blumen.

Das half ein wenig gegen die Müdigkeit, den Durst aber konnten wir nicht löschen; denn es war weit und breit kein Wasser zu sehen.

Schließlich meinte Valdemar, der noch mehr an Durst litt als ich, wir sollten in irgendeinen der Bauernhöfe gehen, die überall zwischen den Feldern und Äckern lagen, und dort um einen Trunk Wasser bitten.

Ich ging gleich auf seinen Vorschlag ein, und so bogen wir vom Wege ab und gingen über einen schmalen Steg, der sich durch blühende Wiesen schlängelte und zu einem einsamen Bauernhof hinführte.

„Gewöhnlich sind die Bauern gute Leute“, sagte Valdemar. „Ich glaube, sie geben uns Milch zu trinken.“

„Das wäre fein“, erwiderte ich ihm. „Milch ist immer gut.“

Wir gingen wohlgemut in der Richtung der Gebäude durch das hohe Gras.

Bei der Biegung des Weges war ein kleiner Hügel. Als wir diesen umgangen hatten, sahen wir uns plötzlich einer Reihe von zehn bis zwölf Kühen gegenüber, schöne rote Kühe, die an Pflöcken angebunden waren und friedlich weideten.

Sie standen allein da, ohne Hirten und ohne Hund. Ich war von Island her daran gewöhnt, Kühe und Schafe, die ich bei meinen Wanderungen auf den Bergen einfangen konnte, kurzerhand zu melken und so meinen Durst mit ein wenig Milch zu löschen. Und um unsern Durst zu stillen waren wir doch vom Hauptweg abgebogen — was Wunder, wenn ich beim Anblick der schönen dänischen Kühe mich rasch entschloß, hier das gleiche zu tun wie in meiner Heimat.

„Valdemar“, sagte ich deshalb, „welch ein Glück für uns! Hier haben wir ja Milchkühe!“

„Was meinst du damit, Nonni?“

„Kannst du denn das nicht verstehen, Valdemar? Wir brauchen ja nur eine der Kühe zu melken. Dann ist unser Durst bald gelöscht.“

Valdemar wurde etwas nachdenklich. „Ob die Leute uns das nicht übelnehmen würden, Nonni?“

„Das glaube ich nicht, Valdemar. Ich habe es ja so oft in Island getan, und niemals sind die Leute mir deshalb böse geworden.“

Durch meine beruhigenden Worte und wohl auch wegen seines brennenden Durstes schienen die Bedenken Valdemars zu schwinden.

„Wenn du es meinst“, sagte er, „können wir es mal versuchen.“

„Wenn wir unsern Durst gelöscht haben, Valdemar, dann gehen wir nach dem Hof und sagen dem Bauern, daß wir ein wenig Milch von seinen Kühen getrunken haben. Da wird er uns das sicher nicht übelnehmen.“

Wir näherten uns den gutmütigen Tieren. Sie hörten alle auf zu grasen, drehten die Köpfe nach uns hin und schauten uns vertrauensvoll an.

Bald waren wir bei der vordersten Kuh angelangt. Sie ließ sich ruhig von uns streicheln und liebkosen.

Ich schnallte meinen Rucksack ab, legte ihn ins Gras und nahm meinen kleinen zinnernen Becher heraus.

„Ich werde ganz allein melken, Valdemar. Ich verstehe das. Du aber sollst bei der Kuh stehen bleiben und sie streicheln, damit sie stillhält.“

Valdemar begann sofort, das gute Tier am Kopfe freundschaftlich zu tätscheln, während ich mich auf die Knie fallen ließ und, den Becher fest in der linken Hand haltend, das Euter mit der rechten Hand anfaßte und die warme Milch herauspreßte.

Die Operation gelang prächtig, und in kurzer Zeit war der Becher zum Überfließen voll.

Ich stand auf, brachte ihn meinem Freunde und bat ihn, den ersten Trunk zu tun.

Freudestrahlend setzte er den vollen Becher an die Lippen und trank in einem Zuge den köstlichen Inhalt aus.

„Wie das gut schmeckt, Nonni!“ sagte er. „Aber wir müssen noch ein paar Becher trinken.“

„Das ist ja ganz klar, Valdemar“, erwiderte ich, indem ich mich anschickte, einen zweiten Becher voll zu melken.

Im Nu war auch der zweite Becher voll. Ich bot auch diesen meinem kleinen durstigen Reisegefährten an. Er nötigte mich aber, selbst zu trinken. Es ist ja noch immer genug da“, sagte er.

Valdemar hatte recht: es war genug da, und die Milch war vorzüglich.

Es sollte nun der dritte Becher voll gemolken werden.

Als er halb mit Milch gefüllt war, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine fürchterliche dänische Dogge in gewaltigen Sprüngen auf uns zugerannt. . . . Und hinter ihr her ein junger, etwa zwanzigjähriger Bauernbursche mit einem dicken Stock in den Fäusten. . . .

Sie kamen vom Hofe des Bauern her und sahen sehr bedrohlich aus. . . . Ja, es machten sowohl die Bestie wie auch der junge Mann so grimmige Gesichter, daß Valdemar und mir angst und bange wurde.

Der erste, der uns erreichte, war der Hund. Er sprang wütend auf mich zu, wie ich eben dastand mit dem halbgefüllten Becher in der linken Hand. Ich wollte mich durch einen Seitensprung vor ihm retten. Dazu ließ er mir aber keine Zeit. Keuchend riß er den Rachen auf, packte meinen rechten Oberarm und biß so fest zu, daß seine Zähne durch die Kleider und die Haut bis tief auf den Knochen drangen.

Ich schrie laut auf vor Entsetzen und schleuderte die ganze Milch, die im Becher war, der furchtbaren Bestie direkt in die Augen.

Geblendet durch die weiße Flüssigkeit ließ der Hund mich los, so daß ich mich durch einen Sprung neben Valdemar stellen konnte.

In diesem Augenblick war nun auch der Bauernbursche da.

Er faßte den wütenden Hund am Halsband und hielt ihn fest.

Meine Aufregung war so groß, daß ich im Augenblick gar keinen Schmerz von meiner Wunde am Arm verspürte.

Bei diesen Schrecknissen stand die große rote Kuh gelassen da, wie wenn die ganze Sache sie nicht im mindesten anginge. — Sie schien sowohl den Mann wie den Hund zu kennen.

Sobald der junge Bursche den großen Hund in seiner Gewalt hatte, kamen wir an die Reihe. Er warf uns böse Blicke zu und sagte:

„So, jetzt seid ihr abgefangen, ihr Diebe. Ihr kommt nun sofort mit mir nach dem Hof. Dort wird der Bauer noch ein paar Wörtlein mit euch zu reden haben; ihr sauberen Herren, ihr!“

Die letzten Worte sprach er mit einem solch höhnischen Lachen aus, daß wir nichts Gutes zu ahnen begannen.

Im ersten Augenblick wußten wir nicht, was wir antworten sollten. Aber bald kam ich doch so weit zu mir selbst, daß ich erwidern konnte:

„Wir sind keine Diebe. Wir wollten nur ein wenig Milch trinken, weil wir so durstig waren.“

Bei dieser Antwort lachte der junge Bauernbursche laut auf.

„So, so — ohne jede Erlaubnis die Milch aus unsern Kühen zu trinken, das ist kein Diebstahl? Sagt das nur dem Bauern im Hof. Das weitere wird dann schon kommen.“

„Wir hatten von vornherein die Absicht, hernach zum Bauern zu gehen und ihm zu sagen, daß wir ein wenig von seiner Milch getrunken haben.“

Bei dieser Antwort lachte der junge Bursche noch viel ärger und sagte: „Famos, mein Junge! Sag auch das dem Bauern! Das wird ihm Spaß machen. — Übrigens kann ich euch eine sehr erfreuliche Nachricht bringen: Als der Bauer mich mit dem Hund fortschickte, euch hier abzuholen, da war er eben damit beschäftigt, sich eine Birkenrute zurechtzuschneiden.“

Es entstand eine Pause.

Valdemar schaute mich entsetzt an.

Dann flüsterte er mir ganz leise ins Ohr:

„Was mag er mit der Rute vorhaben?“

„Ich will den Burschen fragen“, flüsterte ich ihm zurück.

Dann nahm ich mir ein Herz und fragte den Burschen:

„Was hat er mit der Rute vor?“

Das will ich dir sagen, mein Junge: Er hat vor, euch beiden eine Züchtigung zu geben, die ihr nicht so bald wieder vergessen werdet. Und das kann ich euch sagen: er versteht sich auf so was.“

Der junge Mann schien Freude zu haben an unsern verdutzten Gesichtern. Er fuhr fort:

„Ja, er versteht sich darauf: Vor kurzem faßte ich auch zwei Jungen in eurem Alter hier ab. — Milch hatten sie zwar nicht gestohlen, wie ihr, so schlimme Kumpane waren es nicht einmal. Sie haben nur die Kühe gefoppt und einige Steinchen nach ihnen geworfen. Als ich die beiden Burschen aber erwischt hatte und sie unserem Bauern nach dem Hof brachte, hat er sie dermaßen mit einer Birkenrute durchgeprügelt, daß man sie dort drüben noch schreien hörte.“ Dabei zeigte er mit der Hand nach einem Hof, der wohl eine halbe Stunde Weges entfernt war.

Das waren schlechte Aussichten für uns. Wir waren wie zerschmettert. Was war nun zu tun? Es kam mir der Gedanke, uns beide durch die Flucht zu retten.

Ohne ein Wort zu sagen, hob ich meinen Rucksack vom Boden auf, schnallte ihn rasch an meinen Rücken mit der Absicht, mit Valdemar davonzulaufen.

Aber der schlaue Bursche schien meine Gedanken zu erraten. Er sagte ganz gelassen:

„Ich gebe euch einen Rat: versucht nicht davonzulaufen; denn wenn ihr das tut, werde ich den Hund zum zweiten Male auf euch loslassen. Und — ihr wißt! — der hat gute Beine und kann euch unter Umständen gefährlich werden.“

Ich verstand sogleich, daß jeder Fluchtversuch aussichtslos sei. — Es blieb nichts anderes für uns übrig, als unser Geschick abzuwarten.

Der Bauernbursche hob den Becher, den ich vorher auf den Boden hatte fallen lassen, auf, betrachtete die Milch, die daran klebte, und sagte:

„Der könnte ja als Beweis gegen euch dienen, doch das ist nicht notwendig. Wir haben ja vom Hof aus alles gesehen.“

Dann steckte er den Becher unter vergnügtem Pfeifen in meinen Rucksack hinein. Und so konnten wir nun den Weg nach dem Hof antreten.

Die Aussicht auf die Züchtigung mit der Birkenrute hatte mich bis jetzt alles andere vergessen lassen — selbst die Wunden, die mir der Hund am Oberarm beigebracht hatte. Jetzt aber brannten und schmerzten sie mich von Augenblick zu Augenblick immer mehr.

Da schoß mir plötzlich ein glücklicher Gedanke durch den Kopf:

Einige Wochen vorher hatte ich in Kopenhagen gesehen, wie ein Junge einen großen Hund geneckt und von diesem gebissen worden war. Die Eltern des verwundeten Jungen zeigten die Sache an; sie kam vor Gericht, und der Eigentümer des Hundes wurde verurteilt, dem Jungen nicht nur die zerrissenen Kleider zu ersetzen, sondern ihm auch Schmerzensgeld zu bezahlen. Und das, trotzdem der Junge nicht ganz unschuldig war.

Das war ja gerade mein Fall hier. Auch ich war nicht ganz unschuldig, da ich von der Milch der Kuh getrunken hatte. — Auch ich war, wie jener Junge, von dem Bauernhund gebissen worden.

Nun denn: wenn das Hundebeißen in Kopenhagen strafbar ist, dann muß es auch hier auf dem Lande strafbar sein!

Also konnte ich klagen, und der Bauer konnte dazu verurteilt werden, meine vom Hund zerrissenen Kleider mir zu ersetzen und mir dazu noch Schmerzensgeld zu bezahlen.

In unserer schrecklichen Lage und in meiner Furcht vor der Züchtigung, die uns drohte, klammerte ich mich an diesen Gedanken wie an eine Rettungsplanke.

Valdemar, der aus Furcht vor den Prügeln helle Tränen weinte, mußte sofort mit diesem Plane bekannt gemacht und dadurch getröstet werden.

Wir gingen nebeneinander. Der Bursche ging hinter uns her. Der Hund schritt an der Spitze und wies uns den Weg.

Ich ergriff den weinenden Valdemar am Arme, neigte mich unauffällig zu ihm hin und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Laß das Weinen sein, Valdemar!“

Der arme Junge schaute mich an. Das Entsetzen stand ihm im Gesicht. Dann flüsterte auch er ganz leise zurück:

„Und die Prügel?“

„Die bekommen wir nicht.“

Wie ein Ertrinkender, der plötzlich einen Halt gefunden hat, faßte er meine Hand, schaute mich ungläubig an und sagte leise:

„Wie . . .? Was, Nonni? . . . Was sagst du da?“

„Wir bekommen keine Prügel, Valdemar. Weine also nicht mehr. Du kannst ganz ruhig sein.“

„Aber er hat doch die Rute schon zugeschnitten“, lispelte Valdemar, immer noch sehr untröstlich.

„Das ist wahr, aber ich habe ein Mittel gefunden, um ihn zu hindern. Er wird es nicht wagen, uns anzurühren. . . .“

Valdemar war so verblüfft, daß er in seiner Angst und plötzlichen Hoffnung nichts anderes zu sagen fand als die Worte:

„Wieso, Nonni . . .? Wie . . .? wie . . .?“

Ich erzählte ihm ganz leise in gebrochenen Sätzen die Geschichte von dem Jungen in Kopenhagen, den ein Hund gebissen hatte, und schloß mit den Worten:

„Ich werde dem Bauern drohen, ihn wegen meiner Bißwunden zu verklagen, sobald er mit der Birkenrute kommt. . . .“

„Ja, aber Nonni, dann werde ich allein die Prügel bekommen. Denn ich bin ja nicht gebissen worden.“

„Nein, Valdemar“, beruhigte ich meinen erschreckten kleinen Freund. „Und wenn er dich mit der Rute auch nur anrührt, werde ich ihm drohen, ihn zu verklagen.“

„Ob es helfen wird, Nonni? Und ob er durch deine Drohungen nicht noch viel wütender werden wird . . .? Sei vorsichtig, Nonni!“

„Hab keine Angst, Valdemar! Wir werden ihm ganz sicher bange machen. Nur darfst du keine Furcht zeigen. Wir müssen mutig gegen ihn auftreten, sonst gelingt es nicht.“

Jetzt gab sich der furchtsame kleine Junge alle Mühe, seine Angst zu bekämpfen. Er trocknete seine Tränen ab und versuchte — leider mit wenig Erfolg —, eine unerschrockene Miene aufzusetzen.

„Was schwätzt ihr da miteinander?“ rief plötzlich der Bauernbursche hinter uns.

Mit lauter Stimme und so unerschrocken, wie es mir bei meiner geheimen Furcht möglich war, erwiderte ich:

„Wir haben von meinen Bißwunden gesprochen. Sie sind schrecklich und tun mir sehr weh!“

„Da lügst du was, mein Freundchen! Du hast gar keine Wunden!“

Ich hielt diesen Augenblick für sehr günstig, die Rollen sofort zu vertauschen und ihn zum Angeklagten, uns aber zu den Anklägern zu machen:

„Wie können Sie so eine Unwahrheit sagen? Sie haben doch den wilden Hund auf uns gehetzt. Er hat mich ganz fürchterlich in den Arm gebissen. Es tut mir sehr weh, und es ist mir, wie wenn er den Knochen durchgebissen hätte.“

Um meinen Worten noch mehr Nachdruck zu geben, blieb ich stehen, schnallte meinen Rucksack los, warf ihn auf den Rasen, zog mit Hilfe Valdemars meine Jacke aus und schob den Hemdärmel nach oben.

Viel Blut war zwar nicht zu sehen, aber ein paar unheimliche blaue Löcher am oberen Armmuskel. Ich unterdrückte die Schmerzen und preßte die Wunden, und gleich floß reichlich Blut.

„Sie sehen“, fuhr ich nach einer Weile siegesgewiß fort, „wie wütend er mich gepackt hat. Und da sagen Sie noch, ich sei gar nicht gebissen worden!“

Der Bursche wurde unsicher und erwiderte:

„Das hätte ich mir doch nicht gedacht.“

Die Lage schien sich wesentlich zu unsern Gunsten wenden zu wollen. Ich entschloß mich daher, die Bestürzung des Burschen möglichst auszunützen und der Begegnung mit dem Bauern ein wenig vorzuarbeiten, und fuhr fort:

„Ich hätte auch nicht gedacht, daß Sie es wagen würden, einen so gefährlichen Hund auf uns zu hetzen. Sie wissen doch, daß das sehr strenge bestraft wird.“

„Bestraft wird! Von wem denn?“

„Von der Polizei. Dafür kommt man ins Gefängnis und muß Buße zahlen. Viel Geld!“

Der junge Mann schaute mich erst etwas betroffen an, dann sagte er:

„Oh, Polizei und Gefängnis! Das gibt es hier auf dem Lande nicht. Es sind hier keine Polizisten, die sich in unsere Sachen einmischen.“

„Ja, das tun sie nicht, wenn man nichts sagt. Ich werde es aber der Polizei in Kopenhagen sagen.“

Der junge Mann schmunzelte:

„Erzähle du, was du willst. Damit machst du mich nicht bange. Übrigens habe ich nur getan, was der Bauer mir befohlen hat. Ihn allein geht das an, nicht mich.“

Es freute mich, daß er die Verantwortung auf den Bauern abzuwälzen suchte. Denn nur vor ihm waren wir bange, und es galt, gerade ihm Furcht vor der Polizei einzuflößen, um ihn mit seiner Birkenrute milde zu stimmen.

„Übrigens“, fuhr ich fort, „wenn das den Bauern allein angeht, dann ist er in Gefahr. Es wundert mich, daß er befohlen hat, den Hund auf uns zu hetzen.“

Der Bursche schwieg, und ich konnte gut merken, daß er noch verlegener war als vorher.

Nach einer Weile kam er auf mich zu, nahm meinen Arm und untersuchte genau die Wunden. Ich merkte, daß er nicht recht wußte, was er tun solle.

Schließlich fragte er:

„Tut es dir sehr weh?“

„Ja, es tut mir furchtbar weh. Es ist, wie wenn Gift in die Wunde gekommen wäre.“

Der junge Mann schien jetzt ernstlich bange zu werden. Er sagte:

„Nein, Gift ist das nicht, es ist nur etwas Schmutz. Unsere Hausfrau wird das schon waschen und einen Verband anlegen.“

Ich zog die Jacke an, nahm den Rucksack und wollte ihn wieder auf den Rücken schnallen. Der Bauernbursche bot sich an, ihn für mich zu tragen. Ich nahm diesen Dienst aber nicht an, sondern bat wiederum Valdemar, mir behilflich zu sein.

„Siehst du, Valdemar, dem Burschen ist bange geworden“, flüsterte ich Valdemar ins Ohr.

„Ich merke es auch“, sprach der Kleine leise zurück. „Aber wie wird es mit dem Bauern gehen?“

„Wenn wir beide mutig sind, wird es ihm geradeso gehen wie dem Burschen.“

„Gut, Nonni“, sagte Valdemar, „ich werde versuchen, mutig zu sein.“

Abenteuer auf den Inseln: Nonnis Erlebnisse auf Seeland und Fünen

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