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Kapitel 1

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Alma sitzt in ihrem kleinen Büro an ihrem sorgfältig aufgeräumten Schreibtisch, dem Fenster zugewandt, angespannt mit ihrem Kugelschreiber spielend und schaut in den herbstlichen Regenschauer hinaus. Teedampf quillt aus einer Blümchentasse, mit Schokolade überzogene Kekse liegen unberührt auf einem Blümchenteller. Von ihrem Platz aus sieht Alma (37, schlank, mit kurzem dunklen Pagenkopf, ungeschminkt, bürokonform schlicht gekleidet mit hellorangefarbener Bluse und dunklem engem, knielangem Rock zu bequemen Büro-Pumps) die nass glänzenden Dächer der Großstadt unter schwer grauen Regenwolken, und sie sinniert vor sich hin. Ab und zu schüttelt sie den Kopf über sich selber ...

Die Sonne ist als lichter Fleck im dicken wallenden Wolkengrau sichtbar.

Alma schaut sich um, doch sie ist immer noch allein im Büro, und sie zieht ein Notizbuch aus einer Schreibtischschublade, öffnet es und starrt die Seiten an. “Im Moment, als ich ihn zum allerersten Mal gesehen habe, kam es mir vor, als würde ich herumgewirbelt ... und die Sonne war auf einmal violett.”


... an einem regnerisch-stürmischen Spätsommertag betritt Alma eine Bücherei mitten in der Großstadt, und bringt einen feuchten Windstoß mit sich in die Eingangshalle, schließt eilig die Tür. Sie schüttelt den Kopf, und ihre dunklen Pagenkopfsträhnen bilden sofort gehorsam eine Frisur. Nach Atem ringend knöpft sie in der Hitze des Raumes den Mantel auf und marschiert eilig auf die Regalreihen zu und passiert dabei den Buchrückgabe-Bereich. “Und ich habe sie gesehen, die langen Rinnsale fließenden Honigs.”

Ein hochgewachsener schlanker Mann (Adrian, 34) in buntem losem Hemd und Jeans stapelt Bücher auf einen Sammelwagen, und seine langen honigbraunen Haare fallen in lockigen Kaskaden über seine Schultern. Gerade als Alma vorbeigeht, schaut er kurz auf, und Alma hält den Atem an ...

Geräusche verstummten, Bewegungen verlangsamten sich, das grünlich-weiße Neolicht wurde violett.”

Adrians Blick aus grüngrauen, schläfrig wirkenden Augen mit erstaunlich dunklen Brauen geht durch Alma hindurch, da er nach den Büchern greift und sich gedankenverloren abwendet. Alma sieht, dass er Sandalen trägt und keine Socken. Seine nackten Zehen wirken erschreckend persönlich.

Es war als hätte mich ein Traum am helllichten Tag überfallen, ein lächerlich kitschiges Abenteuer, das gar nicht für mich bestimmt war ...”

Bücherei-Bedienstete Anna, etwa fünfzig Jahre alt, dick und behäbig in einem abgetragenen Hosenanzug und unpassenden Stöckelschuhen schiebt sich an den Bücherausgabe-Tisch vor Adrian ...

Alma wendet sich eilig ab, und ihre Wahrnehmungen normalisieren sich, als sie zwischen die Bücherregale eilt, verlegen, heimlich durchatmend.


In ihrem Büro hält Alma nun ihre Stirn an die kühle Fensterscheibe gepresst, über die Wasser perlt. “Ich hatte ein glänzendes Schmuckstück auf der dreckigen Straße entdeckt, aber es aufzuheben kam nicht in Frage.”


Alma geht zwischen den Regalen und Stellagen hin und her und beobachtet den lockenhaarigen schlaksigen Mann heimlich; Sie erwischt sich dabei, wie sie den Atem anhält, als er die Vorhalle durchquert, denn er hat etwas Katzenhaftes an sich und wirkt zugleich angespannt und geistesabwesend, mit einem übermäßig ernsten Gesichtsausdruck.

Alma schaut sich um, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtet, schüttelt den Kopf über sich selber und geht zur “Musik”-Abteilung.

Ihr fällt auf, dass mehrere Bücherei-Bedienstete sich “eigenartig” benehmen und “verlangsamt” und seltsam “abwesend” wirken; Sie schauen die Kunden nicht mit aufmerksamer Zuvorkommenheit an, sondern distanziert und ernst, fast mürrisch; Zuweilen stehen sie einfach irgendwo herum und starren unverblümt oder murmeln vor sich hin.

Alma schmökert in einem Buch, als Adrian an ihr vorüber geht; Sie erschrickt, als sie ihn so nahe sieht; Ein schwitzender, glatzköpfiger Bücherei-Kunde neben ihr merkt es und runzelt die Stirn, während Adrian unbefangen weitergeht. Der Glatzkopf schaut ihm nach, und Alma wendet sich rasch ab und eilt auf die andere Seite des Regals.

Ein Teil von mir fing an mich zu betrügen und sich nicht mehr darum scheren, was mich erfreuen durfte und was nicht.

Das Seltsame war, dass ich vom ersten Augenblick an gewusst habe, dass etwas nicht stimmt mit ihm. Als würde einem auffallen, dass der Mond auf einmal grün ist, ... ja, es war mir sofort klar, dass etwas anders ist. Anders als üblich, eben. Was üblich ist? Na, das Normale, das, was jeder hat. So wie jeder ist. Aber ich hab’ nicht gleich begriffen, was es ist, das ihn “anders” macht. Melancholisch hat er gewirkt. Versunken. Aber das tun Andere auch. In mir ist eine Art langes Seufzen erklungen, und ich wusste nicht, was es bedeutete. Ich habe ihn viel zu lange angeschaut, diesen Fremden, und warm geworden ist mir, sehr warm. Dabei war mein Inneres sonst so eisig, im Job besonders, da alles immer anstrengender wurde. Wie ein schleichendes Tier habe ich mich gefühlt, das sich harmlos gibt und seine Beute doch nicht aus den Augen lässt. Und obwohl ich bloß schnell ein paar überfällige Bücher zurückbringen wollte, hab’ ich es auf einmal gar nicht mehr eilig gehabt. Obwohl mir Ausruhen bitter nötig war ..

Ich war verwirrt. Er hat nicht blöd geglotzt, er hat nicht geschielt oder anderswie komisch geschaut. Dennoch. Da war etwas. In seinem Blick. In seinem ganzen Ausdruck.”

Alma steht hinter einem Regal und beobachtet Adrian, der in der Kinderbuch-Abteilung hockt und Bücher in einen niedrigen Kasten einräumt.

Attraktiv war er. Reizvoll. Schön, mit seinen Honighaaren. Vielleicht trägt er die Schultern ein wenig mehr hochgezogen als andere Leute, hab’ ich gedacht. Nein, damals hab’ ich das gar nicht so direkt gedacht. Erst später. Damals war ich einfach irgendwie ... verwirrt. Doch von Anfang an war klar: Er fällt in die Kategorie „andersartig“, „fremdartig“ oder so, und eigentlich versucht man das Wort „behindert“ irgendwie zu vermeiden. Es ist aber landläufig so üblich, Menschen, die ihrem Verhalten nach offensichtlich nicht der Norm entsprechen, als „nicht normal“, als „behindert“ gelten. Vielleicht nur ganz, ganz leicht behindert, aber eben “behindert”. Das darf man nicht so sagen, und es klingt auch scheußlich, aber mir fiel damals kein anderer Begriff dafür ein und heute auch nicht. Bloß “anders” oder “andersartig” oder “ungewöhnlich” zu sagen trifft die Sache nicht. In seinem Fall ... er konnte mit einem reden, einen direkt anschauen, und es kam einem doch so vor, als würde man von ihm gar nicht wirklich wahrgenommen werden. Dass er sich nicht so bewegt hätte wie andere Männer seines Alters war auch nicht der Fall. Oder doch? Nicht dass herumgestolpert wäre, nein. Nicht dass er bucklig gewesen wäre. Er hat so gewirkt, als hätte er es eilig, aber auf eine langsame Art. Und die Art von Herzklopfen, die ich empfunden habe, war auch neu.”

Alma schaut fasziniert zu, wie Adrian mit einer ältlichen Bücherei-Kundin spricht, ihr nun zuhört, den Kopf schiefgelegt.

... und ich habe mir gedacht, er schaut eigentlich streng aus und mehr konzentriert als nötig.”

Die Kundin geht weiter, und Adrian zieht Papier aus der Auswurflade eines Druckers, hebt Bücherstapel auf, geht damit herum, schaut Buchrücken an, blättert, stempelt, ordnet Zeitschriften und legt Bücher aller Größen auf beräderte Wägelchen.

Dann hatte ich seinen Gang im Verdacht, leicht schlurfend ... Aber Vierland schlurft weit ärger, und dieser fremde Mann hat sich fast schon stolz aufrecht gehalten. Vielleicht zu stolz? War er zu aufrecht, mit seinen hochgezogenen Schultern?”


Alma löst sich vom Regenfenster und zuckt die Schultern. Sie greift nach der Blümchenteetasse hinter sich auf dem Schreibtisch und nimmt einen Schluck Tee. Jetzt dampft er nicht mehr.

Wenn er den Kopf gehoben hat, um jemandem zuzuhören, hat er ihn nicht vielleicht ein, zwei Sekunden zu lange hoch gehalten? Ach nein. Dieses ein wenig seltsame Lauschen bedeutete einfach besondere Aufmerksamkeit.”


Die Lichter der Stadt glitzern im Nieselregen. Es klopft hart und schnell an der Tür, und Alma’s Kollegin, Marie, eine Schwarzafrikanerin, die nie in Schwarzafrika war, (33, groß, sportlich-elegant mit sehr dunkler Haut und schwarzem Wuschelkopf mit rotblonden Strähnen) steckt den Kopf ins Zimmer, zwinkert Alma zu.

“Brückenbar? Martini? Du, ich und Lian?”

“Heute nicht, Marie. Ich brauche Ruhe und ... Dunkelheit. Frühstart morgen. Sonst killt Vierland mich.”

“Na, dann hab’ Spaß in der Höhle! Bis morgen. Aber ...” Marie droht mit dem Finger, “vergiss nicht, dass du nicht für alles verantwortlich bist.”

Alma seufzt und nicht, während Marie wieder verschwindet. Sie murmelt vor sich hin. “Nach dem zweiten Martini würde ich Sachen ausplaudern, die nie ein Mensch hören darf, liebste Marie.”

Sie legt sich selber die Hand auf den Mund, weil sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hat. “Ich muss damit aufhören.” Sie hält sich auch die andere Hand auf den Mund. Das Notizbuch liegt offen auf dem Schreibtisch, und erschrocken nimmt Alma es auf ...


Von Anfang an war ich hart gefordert in dem Job. Vierland hat seinem Freund, meinem Exmann, einen Gefallen tun und mich bei sich arbeiten lassen. Schön und gut, er hat damit auch mir einen Gefallen getan, und immerhin hat Carl dafür gesorgt, dass ich beruflich wieder fußfassen konnte nach unserer Scheidung. Während unserer Ehe habe ich ja nicht arbeiten dürfen, er wollte das nicht. Mit neunundzwanzig könnte ich doch noch alles anfangen, was mir so vorschwebte, hat Carl gemeint und sich damit von seinem schlechten Gewissen verabschiedet. Und von mir, um mit seiner neuen Freundin eine Weltreise anzutreten. Plötzlich war ich nicht mehr einsame Hausputzfrau, sondern Mädchen für alles mitten im Berufsleben, unter kreative Leuten in einer Branche, wie sie stressiger und schillernder kaum sein kann: im Musik-“Business”. Ich hatte täglich mit klugen, kreativen, ambitionierten Leuten zu tun, und es war wunderbar, sich durch sie auch so elitär und wissend zu fühlen. Es war wie im Film. Ich sah mich gutgekleidet und recht attraktiv täglich durch die Großstadt schreiten und hinter blanken Flügeltüren verschwinden, als inszeniert jemand mein neues Leben als Zeitgeist-Streifen ... Doch dann erhielt ich den Auftrag, zum Haufen Kreativer, Wichtiger auch noch die Genialen zu suchen. Wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, wäre ich aber vielleicht doch lieber Putzen gegangen. Denn ... wo wachsen die Genialen dieser Welt? Auf Bäumen in der Wüste? Wo suchen, hab’ ich mich gefragt, verzweifelt ... Und nirgends ein Licht in Sicht.”


„Wie sieht es aus, Alma?“

Alma sitzt auf ihrem Schreibtisch und blättert in ihrem Notizbuch, als Vierland ihr von hinten seine Hand auf die Schulter, und sie schreit auf und rutscht vom Schreibtisch, presst sich die Faust an den Busen und keucht.

“Willst du mich umbringen?”

“Kommt drauf an.” Vierland deutet auf das Notizbuch. “Kreative Notizen, nehme ich an.”

“Was denn sonst?”

Alma steckt das Notizbuch schnell in ihre Handtasche und grinst ihren Chef an. Vierland (Ende Vierzig, groß, schlank, rothaarig und wie aus dem Ei gepellt) sticht seinen Zeigefinger gegen Alma.

“Wie sieht es also aus?”

„Suche noch.“ Alma murmelte, als könnte sie mit der Lautstärke den Inhalt der Worte abschwächen. “Es ist schließlich nicht gerade leicht. Du weißt nicht, was du willst, also wie sollen wir ...?”

“Wir haben ...” Vierland hebt den Arm und hält sich die schwere, glänzende Uhr vor die Augen, zieht die Brauen hoch, „noch einen Monat Zeit.“

Er schiebt den Kopf ruckartig nach vorne, wie ein Hahn, der nach etwas pickt und hebt die Augenbrauen noch weiter. Alma nickt und zuckt die Schultern, ein wortloses “Es ist wie es ist” ausdrückend. Vierland starrt sie an, dreht sich um und lässt die Tür hinter sich zuknallen. Alma nickt sich selber zu, rückt die Telefonanlage und einen Kugelschreiberhalter zurecht, wischt über den Computerschirm und holt tief Luft.

“Der Hut brennt, Boss, alles klar, Boss, aber wir können ja niemanden aus dem Ärmel schütteln.”

Das Telefon läutet, und Alma hebt schnaubend ab, lauscht dann, grinst.

“Bei dir auch? Tja ...” (Lauscht.) “Genau, Marie. Und woher solle ich den begnadeten Songschreiber nehmen? Vielleicht bin ich fehlbesetzt in dem Job! Ach ja, übrigens, ich bin neu in der Musikbranche. Aber ich soll Wunder wirken?!” Sie schnaubt ärgerlich und setzt sich wieder auf den Schreibtisch.

“Klar müssen wir jemanden vorstellen. Ich weiß, dass die anderen schon auf Tournee sind! Die haben aber auch kein Star-Drama am Hals!”

Vierland tritt wieder in Alma’s Büro, und sie schaut ihn etwas erbost an, das Telefon umklammernd.

“Sag’ Marie, dass der Verlag die Klappentexte haben will!“

Alma furcht die Stirn. “Marie weiß das. Und die Entwürfe sind längst fertig. Wenn die Titel dann stehen ... Übrigens ... Jerry hat angerufen und –“

Vierland winkt wild ab. „Kein Wort mehr von diesem Arschloch! Er hat uns in den Sumpf gestoßen. Besser, er verhält sich ganz still, sonst lasse ich ihn suchen und – ...“


Vierland wusste, dass Jerry um seine Ehe zu retten die Produktion verlassen hatte müssen. Keinem im Betrieb war das Drama entgangen. Fünfzehn Jahre Musikbusiness hatten den Mann ausgelaugt. Drei Kinder und eine verzweifelte, wunderbare, stets stockbesoffene Ehefrau waren Jerry endlich mehr wert gewesen als das neue Projekt. Vielleicht hätte es ihm ermöglicht, durch außergewöhnliche Songtexte endlich international berühmt zu werden. Vielleicht auch nicht. Aber der geniale Jerry hatte plötzlich nichts mehr zustandegebracht. Jedenfalls nichts, das Vierland gefallen hätte.

Und ehe der Druck noch größer, seine kreative Leistung noch geringer werden konnten, hatte er das Handtuch geworfen.”


Vierland stapft aus Alma’s Büro, und Alma zischt ins Telefon.

“Ich gehe jetzt, Marie, sonst ...”

Vierland tritt wieder ins Büro und fuchtelt von der Tür aus zu Alma hinüber.

„Das mit den Girls am Strand können wir lassen .... oder leicht umschreiben?“ Er sucht in ihrem Gesicht, die Hände erhoben und die Handflächen nach oben gedreht als sollte sie etwas hineinlegen. Sie zieht die Schultern hoch.

„Und wer soll schreiben?“

„Ach, zum Teufel!“ Vierland schlägt erneut die Tür hinter sich zu, und Alma hört seine Schritte durch den Gang poltern.

Alma schnaubt ins Telefon. “Könnte ich mir schöne Texte ausdenken, ich würd’s tun, alter Sklaventreiber! Marie, ich gehe jetzt. Viel Spaß in der Brückenbar.”


Vierland hat schon viel Geld investiert, den Boygroups und Girlie-Conventions Eintagsfliegen wirklich gute Musik mit tiefschürfenden Texten entgegenzusetzen und einen neuen Star zu erschaffen. Timber heißt er, kann wunderschön singen, seine Stimme ist tief und wendig, und er sorgt für Aufsehen in den Medien. Ein androgyner Typ, der Männer wie Frauen fasziniert. Aber Timber, der eigentlich Elvin heißt, trauert um Jerry. Die beiden hatten sich sehr gemocht. Die Krise ist wie ein Unwetter einfach über alle hereingebrochen.”


Regenlicht

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